Fight the Power: Hip-Hop als Kultur der schwarzen Selbstermächtigung und der Wiederaneignung der Geschichte

Angst vor einem schwarzen Planeten: So könnte man die Schlusspointe dieses bedeutendsten, allerdings auch einzigen Zeitreisefilms im deutschen Kino der achtziger Jahre umschreiben. «Fear of a Black Planet»: So heißt das dritte Album der New Yorker Hip-Hop-Crew Public Enemy, das zwei Jahre später erscheint; die erste Single daraus, «Fight the Power», wird im Sommer 1989 veröffentlicht. Auch diese Musik schlägt einen Bogen aus der Gegenwart zurück in die Geschichte, sie ist durchsetzt mit Motiven aus der Vergangenheit. Doch ist sie – anders als «Zurück in die Zukunft» – nicht von nostalgischen Gefühlen geprägt, sondern von dem Wunsch, die Geschichte der Kultur anders zu erzählen, als sie bislang erzählt worden ist, oder besser gesagt: die Geschichte einer Kultur zu erzählen, die in den offiziellen Historiographien bis dahin gar nicht vorgekommen ist, weil sie zum Schweigen gebracht wurde.

«1989 the number another summer / Sound of the funky drummer», so lauten die ersten Zeilen des Songs, die der Kopf der Crew, Carlton Ridenhour alias Chuck D, im Sprechgesang vorträgt. Wir befinden uns also im Sommer 1989, aber auch in diesem Jahr wird die Musik vom Sound des «Funky Drummer» getragen; dabei handelt es sich um ein Stück des afroamerikanischen Soulsängers James Brown, das seit den Anfängen der Hip-Hop-Kultur in den siebziger Jahren zu ihren wesentlichen musikalischen Leitmotiven

Und das ist nicht die einzige Referenz an die Vergangenheit. Daneben ist eine schier unüberschaubare Vielzahl an Zitaten aus der afroamerikanischen Musikgeschichte zu hören, während Chuck D vom Kampf gegen den weißen Rassismus und gegen die rassistische Geschichtsschreibung der weißen Popkultur rappt. Es gibt Anleihen aus Soul-, Funk- und Disco-Stücken der sechziger und siebziger Jahre, von Sly & the Family Stone und den Isley Brothers, von Wilson Pickett und Bobby Byrd; man hört einen Ausschnitt aus einer Rede des Predigers und Bürgerrechtlers Jesse James auf dem als «schwarzes Woodstock» titulierten Wattstax-Festival in Los Angeles 1972, aber auch Fragmente aus frühen Hip-Hop-Stücken, etwa aus «Planet Rock» von Afrika Bambaataa & the Soulsonic Force oder aus «AJ Scratch» von Kurtis Blow. Außerdem: Kirchenglocken, Straßengeräusche, Reden und Publikumsbekundungen auf Demonstrationen, verzerrte Gitarren; schließlich ein Selbstzitat aus einem älteren Public-Enemy-Song, «Yo! Bum Rush the Show» vom gleichnamigen Debütalbum aus dem Jahr 1987.

Diese Musik, das ist also: eine Polyphonie aus Beats und nichtmusikalischen Sounds, aus musikalischen und nichtmusikalischen Verweisen auf die Geschichte der afroamerikanischen Kultur und ihres niemals endenden Kampfes gegen die rassistische Unterdrückung. «Most of my heroes don’t appear on no stamps», rappt Chuck D: «Sample a look back you look and find / nothing but rednecks for 400 years if you check.» Die meisten seiner Helden

Hip-Hop ist eine Kultur der Selbstermächtigung und des demonstrativen Widerstands gegen eine von Weißen beherrschte, rassistische Gesellschaft. In dem Video zu «Fight the Power», das der Filmregisseur Spike Lee inszeniert hat, posieren die Mitglieder von Public Enemy auf einer Bühne inmitten einer politischen Demonstration von schwarzen Menschen. Die Bilder lassen offen, ob sie als Musiker hier sind oder als Redner oder ob es dazwischen überhaupt einen Unterschied gibt. Durch die demonstrierende Menge patrouillieren soldatisch uniformierte Gruppen von Männern, die in ihrem Habitus an die Militanz der Black-Panther-Bewegung der sechziger Jahre erinnern. «Fight the Power», das heißt hier aber eben nicht nur, dass man eine Polizeimacht bekämpft, die Schwarze drangsaliert. Die Macht – das ist auch die Macht über die Geschichtsschreibung und über die Überlieferung kultureller Traditionen; es ist eine Macht, die etwa Musikgeschichte als eine Kette von Innovationen weißer Superstars erzählt – ganz so, wie in «Zurück in die Zukunft» der weiße Zeitreisende Marty McFly als Erfinder jenes Rock- ’n’ -Roll-Stils erscheint, der in Wahrheit von schwarzen Musikern wie Chuck Berry entwickelt wurde. Unablässig wird die Geschichte im Sinne der weißen Macht umgeschrieben, das ist eine der Botschaften, die man in «Fight the Power» findet. Diese Umschreibung muss rückgängig gemacht werden, mit den

«Fight the Power», skandiert die New Yorker Hip-Hop-Crew Public Enemy 1989. Hier Flavor Flav (links) und Chuck D (rechts) mit dem Regisseur des gleichnamigen Videos Spike Lee (Mitte). In den Songs von Public Enemy finden sich unzählige Zitate aus der afroamerikanischen Musikgeschichte.

 

Die Technik des Sampling in ihrer elementaren Gestalt steht denn auch ganz am Beginn der Geschichte des Hip-Hop. Die Wurzeln des Genres liegen in der Disco- und DJ-Kultur der siebziger Jahre; bei den Disco-Partys, die in dieser Zeit zunächst in aufgelassenen Lofts in den New Yorker Innenstadtvierteln gefeiert werden, beginnen die Plattenaufleger damit, ihre Songs so ineinanderzumixen, dass daraus ein endloser musikalischer Fluss entsteht. 1973 übernimmt ein junger DJ, der aus Jamaika kommende Clive Campbell alias DJ Kool Herc, diese Technik zur Erzeugung von Beats. Er spielt auf zwei Schallplattenspielern dasselbe Stück von James Brown – das von Public Enemy in «Fight the Power» eingangs zitierte «Funky Drummer» – und montiert einen Break, einen Rhythmuswechsel,

Die von klanglichem Beiwerk weitgehend befreiten rhythmischen Schlaufen laden dazu ein, darüber zu «toasten», wie man damals noch sagt, in Anlehnung an die Sprechgesangstechnik, die sich seit den Fünfzigern auf den jamaikanischen Dancehall-Reggae-Partys etabliert hat. Später wird diese Technik als «Rap» bezeichnet werden. Im Laufe der Siebziger emanzipiert sie sich von der reinen Publikumsaufmunterung zu ausufernden, assoziativen, oft komplex gereimten Texten; auch ist der Rapper bald nicht mehr mit dem DJ identisch, sondern wird zu einer eigenständigen musikalischen Figur. Bei Kool Herc geht es aber einstweilen noch darum, die Besucher und Besucherinnen der Partys zu euphorisieren und zum Tanzen zu bringen: «B-boys are you ready? B-girls are you ready?», ruft er über die Beats. Dann stürzen sich die Break-Boys und die Break-Girls in jene akrobatischen Choreographien hinein, die zunächst als «top rockin’» bezeichnet werden und später als «Breakdance».

Der Begriff Hip-Hop wird ebenfalls Mitte der siebziger Jahre

Mit Afrika Bambaataa wird Hip-Hop also politisch – auch deswegen, weil er darin den Soundtrack für eine genuin schwarze Kultur sieht, für einen schwarzen Nationalismus im Sinne der Black-Panther-Bewegung. Schon 1975 hat er die Universal Zulu Nation gegründet, eine religiöse, mythische und politische Gemeinschaft, als deren Oberhaupt er bis heute firmiert. «Zulu Nation Throwdown» heißt der erste eigene Track, den Bambaataa 1980 herausbringt. Berühmt über die junge New Yorker Hip-Hop-Szene hinaus wird er dann mit seiner dritten Single, «Planet Rock» aus dem Jahr 1982. Hier werden die inzwischen schon typisch gewordenen Breakbeats erstmals mit elektronischen Rhythmen kombiniert, die Bambaataa und sein Ko-Produzent Arthur Baker mit dem damals gerade auf den Markt gekommenen Roland TR-808 Rhythm Composer erzeugen, einem der ersten programmierbaren Drumcomputer der Geschichte.

Der Sound dieses Stücks wirkt bis heute unerhört futuristisch. Die Beschwörung der afroamerikanischen Tradition verbindet

Was die Musiker von Kraftwerk freilich nicht daran hindert, umgehend eine Urheberrechtsklage gegen Bambaataa und Baker anzustrengen. Man einigt sich dann zwar außergerichtlich, aber nur gegen eine hohe Beteiligung Kraftwerks an den Einnahmen aus der «Planet-Rock»-Single, von der binnen kurzem immerhin 700000 Exemplare verkauft werden. «Eine verdammt große Menge Geld haben wir denen zahlen müssen», hat Arthur Baker später gesagt. Womit ein zweiter Aspekt der in den Achtzigern entstehenden Sampling-Kultur ins Blickfeld gerät: die Tatsache, dass es sich bei der Aneignung der Rhythmen und Sounds anderer mithin nicht nur um einen Akt des Zitats oder der Hommage handelt, sondern

Bis diese Frage zu einem größeren Problem wird, werden allerdings noch einige Jahre vergehen. Die heute gängige Praxis, dass jeder, der etwas sampelt, zuvor die Urheberverhältnisse klärt und entsprechende Lizenzgebühren zahlt, etabliert sich erst in den neunziger Jahren. Große, bis heute beeindruckende Werke wie Public Enemys «Fight the Power» am Ende der Achtziger wären sonst auch gar nicht denkbar gewesen.

 

Weit über den erblühenden Hip-Hop hinaus wird das Sampling in den Achtzigern zu einer der prägenden Techniken des Pop, was wesentlich auch am Fortschritt in den elektronischen Produktionsmitteln liegt. Ende der Siebziger kommt das erste elektronische Sample-Gerät auf den Markt: Mit dem Fairlight-Synthesizer kann man musikalische Klänge von Schallplatten, aber auch jede andere Art von Geräuschen kopieren und absolut originalgetreu wiedergeben. Zunächst dient dieses Instrument – wie schon seine analogen Vorgänger aus den Sechzigern und Siebzigern, etwa das bei Progressive-Rock-Gruppen beliebte Mellotron – vor allem dazu, Personalkosten zu sparen. Man kann damit zum Beispiel schwelgende Streicher unter ein Arrangement legen, ohne dafür ein Streichorchester engagieren zu müssen. Aber man kann damit auch Sounds nichtmusikalischer Art einbringen. So kommen etwa Depeche Mode mit Hilfe des Fairlight zu den schon an anderer Stelle in diesem Buch erwähnten Kettengerassel- und Peitschenschnalzgeräuschen, die man in Songs wie «Master and Servant» hört, wie auch zu den Beats, die aus metallischem Schlagwerkgedengel zusammengesetzt werden.

Im Song «Master and Servant» feiern Depeche Mode 1984 die erkenntnisstiftende Kraft von sadomasochistischem Sex. Die Musik dazu besteht aus gesampeltem Schlagwerkgedengel, Kettengerassel- und Peitschengeschnalzgeräuschen. Hier von links nach rechts in einer Fabrikruine in Westberlin: Alan Wilder, Andy Fletcher und Dave Gahan.

Auf ästhetisch besonders interessante Weise nutzt die neue Technik – zu der neben Instrumenten wie dem Fairlight CMI auch die etwas primitiveren, aber dafür wesentlich billigeren

Bei Art of Noise geht es also weder um die Imitation eines vorgefundenen Instrumentenklangs noch um die Aneignung historischen Materials. Der ästhetische Reiz dieser Musik liegt vielmehr

Das erinnert an Arthur Bakers Absicht, mit «Planet Rock» etwas zu erschaffen, «das etwas Neues ist und in dem die Elemente, aus denen es besteht, doch erkennbar bleiben». Nur dass Art of Noise sich nicht an der Kunst des Plattenauflegens orientieren, sondern vielmehr an den europäischen Avantgarden vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon der Name des Projekts zitiert den italienischen Futuristen Luigi Russolo und sein 1913 erschienenes Manifest «L’arte dei rumori», deutsch: «Die Kunst der Geräusche». Das Label, auf dem die Platten von Art of Noise erscheinen, nennen Trevor Horn und sein Kompagnon Paul Morley ZTT, eine Abkürzung für «Zang Tumb Tumb» – was wiederum der Titel eines von Russolo in seinem Manifest zitierten Gedichts ist, in dem der italienische Schriftsteller und Autor des Futuristischen Manifests, Filippo Tommaso Marinetti, die Geräusche einer Schlacht in lautmalerische Formen zu bringen versuchte.

«Into Battle with the Art of Noise» heißt denn auch das erste Stück, mit dem Art of Noise 1983 die Bühne betreten. Es klingt, so beschreibt es der Pop-Historiker Simon Reynolds in seiner Postpunk-Geschichte «Rip It Up and Start Again», «als befände man sich in einer Trickkistenfassung des von Marinetti beschriebenen Schlachtfelds». Ein grelles Stakkato, das einerseits produktionstechnisch begründet ist: Der Fairlight-Sampler kann keine Sounds

Paul Morley begleitet die Veröffentlichungen von Art of Noise und den anderen Künstlern und Gruppen auf dem Zang-Tumb-Tumb-Label mit ästhetischen Programmschriften, ganz nach Art des Futuristischen Manifests. Oder auch jenes Dadaistischen Manifests, das Richard Huelsenbeck 1918 bei der ersten Sitzung des Club Dada verliest: «Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird.» Wie es das Ideal der dadaistischen Kunst war, so will auch die Geräuschmusik von Art of Noise Musik und Nichtmusik zugleich sein; sie öffnet sich für die nichtmusikalischen Klänge des Alltags und versucht, sie zu einer musikalischen Form zu fügen; oder um noch einmal Simon Reynolds zu zitieren: «The Art of Noise klangen wie Hip-Hop, wäre dieser 1916 in Europa erfunden worden.»

 

Für den Hip-Hop sind Art of Noise mit ihrem Gebrauch des Sampling tatsächlich in einer entscheidenden Hinsicht wegweisend: Sie wenden diese Technik erstmals auch auf die Erzeugung von Breakbeats an. Bis dahin sind diese ausschließlich von DJs oder später von Live-Schlagzeugern erzeugt worden. Art of Noise verwenden als Erste dazu einen Sampler – was sie natürlich auch deswegen tun können, weil sie, anders als die Hip-Hop-Pioniere aus der Bronx,

Zwischen der sampelnden Wiederaneignung der afroamerikanischen Musikgeschichte im Hip-Hop der späten Achtziger und den – nun einmal im ganzen Sinne des Wortes – retro-futuristischen Experimenten von Art of Noise gibt es natürlich erhebliche Unterschiede. Doch es gibt, vom Sampling abgesehen, auch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Beide Bands zeigen, dass sich ein wahrer Blick auf die Zukunft nur im Rückgriff auf die Vergangenheit erringen lässt; und dass sich wahrhafte ästhetische Gegenwart nur in einer Form finden lässt, die offen ist für das Vergessene, Unabgegoltene, den Bruch.

Wenn die frühen Hip-Hopper von DJ Kool Herc über Afrika Bambaataa bis zu Public Enemy und den Native-Tongues-Rappern nach einem Ausdruck der afroamerikanischen Identität in der Musik suchen, dann tun sie dies, indem sie in ihre musikalischen Formen immer auch etwas Nichtidentisches einpflegen; sie öffnen ihre Songs für historische Referenzen, die aus der in sich geschlossenen Dramaturgie, aus dem Fluss der Rhythmen und Reime hinausführen in eine Welt, die jenseits der Musik liegt. Wenn Art Of Noise den selbstgefälligen Firnis des nostalgischen Pop der mittleren Achtziger zerreißen wollen, dann tun sie dies, indem sie den Bogen noch weiter zurück in die Geschichte schlagen; sie erhöhen die Intensität ihrer Musik dadurch, dass sie in sehr hohem Tempo sehr viele verschiedene Arten und Quellen des Klangs zu einem –  wie es in der Terminologie des Dadaismus geheißen hätte –

Binnen kurzem findet sich die Technik des Sampling in kommodifizierter, konventionalisierter Form auch im Mainstream der Hitparadenmusik (in Deutschland etwa bei Modern Talking, von denen schon die Rede war). Doch für einen Moment erscheint darin eine Kunst des Fragments und des Zitats, die mit der Gegenwart bricht, indem sie sich der Erinnerung zuwendet, dem Archiv und der Archäologie. Hier sieht man noch einmal, wie der Geist der achtziger Jahre sich von jenem der Siebziger unterscheidet: Die Zukunft ist nichts mehr, in das man sich vorbehaltlos zu stürzen vermag, sondern etwas, das man nur erobern kann, indem man die utopischen Kräfte der Vergangenheit gegen eine als unerträglich scheinende Gegenwart mobilisiert.