Angst vor einem schwarzen Planeten: So könnte man die Schlusspointe dieses bedeutendsten, allerdings auch einzigen Zeitreisefilms im deutschen Kino der achtziger Jahre umschreiben. «Fear of a Black Planet»: So heißt das dritte Album der New Yorker Hip-Hop-Crew Public Enemy, das zwei Jahre später erscheint; die erste Single daraus, «Fight the Power», wird im Sommer 1989 veröffentlicht. Auch diese Musik schlägt einen Bogen aus der Gegenwart zurück in die Geschichte, sie ist durchsetzt mit Motiven aus der Vergangenheit. Doch ist sie – anders als «Zurück in die Zukunft» – nicht von nostalgischen Gefühlen geprägt, sondern von dem Wunsch, die Geschichte der Kultur anders zu erzählen, als sie bislang erzählt worden ist, oder besser gesagt: die Geschichte einer Kultur zu erzählen, die in den offiziellen Historiographien bis dahin gar nicht vorgekommen ist, weil sie zum Schweigen gebracht wurde.
«1989 the number another summer / Sound of the funky drummer», so lauten die ersten Zeilen des Songs, die der Kopf der Crew, Carlton Ridenhour alias Chuck D, im Sprechgesang vorträgt. Wir befinden uns also im Sommer 1989, aber auch in diesem Jahr wird die Musik vom Sound des «Funky Drummer» getragen; dabei handelt es sich um ein Stück des afroamerikanischen Soulsängers James Brown, das seit den Anfängen der Hip-Hop-Kultur in den siebziger Jahren zu ihren wesentlichen musikalischen Leitmotiven gehört. Genau genommen geht es um ein rhythmisches Leitmotiv, denn es ist ein markanter, leicht zu erkennender Rhythmuswechsel – ein Break –, den James Browns Schlagzeuger Clyde Stubblefield in diesem Stück spielt. Als Fragment isoliert, zu Schleifen geflochten und in endlosen «Loops» aneinandergereiht, liegt er nun unter vielen Stücken der Hip-Hop-Frühphase als rhythmisches Fundament. So also auch an dieser Stelle in «Fight the Power» unter dem Gesang von Chuck D.
Und das ist nicht die einzige Referenz an die Vergangenheit. Daneben ist eine schier unüberschaubare Vielzahl an Zitaten aus der afroamerikanischen Musikgeschichte zu hören, während Chuck D vom Kampf gegen den weißen Rassismus und gegen die rassistische Geschichtsschreibung der weißen Popkultur rappt. Es gibt Anleihen aus Soul-, Funk- und Disco-Stücken der sechziger und siebziger Jahre, von Sly & the Family Stone und den Isley Brothers, von Wilson Pickett und Bobby Byrd; man hört einen Ausschnitt aus einer Rede des Predigers und Bürgerrechtlers Jesse James auf dem als «schwarzes Woodstock» titulierten Wattstax-Festival in Los Angeles 1972, aber auch Fragmente aus frühen Hip-Hop-Stücken, etwa aus «Planet Rock» von Afrika Bambaataa & the Soulsonic Force oder aus «AJ Scratch» von Kurtis Blow. Außerdem: Kirchenglocken, Straßengeräusche, Reden und Publikumsbekundungen auf Demonstrationen, verzerrte Gitarren; schließlich ein Selbstzitat aus einem älteren Public-Enemy-Song, «Yo! Bum Rush the Show» vom gleichnamigen Debütalbum aus dem Jahr 1987.
Diese Musik, das ist also: eine Polyphonie aus Beats und nichtmusikalischen Sounds, aus musikalischen und nichtmusikalischen Verweisen auf die Geschichte der afroamerikanischen Kultur und ihres niemals endenden Kampfes gegen die rassistische Unterdrückung. «Most of my heroes don’t appear on no stamps», rappt Chuck D: «Sample a look back you look and find / nothing but rednecks for 400 years if you check.» Die meisten seiner Helden wurden nie auf Briefmarken verewigt; wenn man zurückblickt, dann besteht die offizielle Geschichte der letzten vierhundert Jahre nur aus «Rednecks», weißen Männern. «Elvis was a hero to most / But he never meant shit to me you see / Straight up racist that sucker was / Simple and plain»: Elvis Presley, der damals (und noch heute) als Erfinder des Rock ’n’ Roll gefeiert wird, als erster großer Rock ’n’ Roller – er war nichts anderes als ein weißer Junge, der den Schwarzen ihre Musik gestohlen und es damit zu Reichtum und Ansehen gebracht hat. «Motherfuck him and John Wayne / ’cause I’m black and I’m proud.»
Hip-Hop ist eine Kultur der Selbstermächtigung und des demonstrativen Widerstands gegen eine von Weißen beherrschte, rassistische Gesellschaft. In dem Video zu «Fight the Power», das der Filmregisseur Spike Lee inszeniert hat, posieren die Mitglieder von Public Enemy auf einer Bühne inmitten einer politischen Demonstration von schwarzen Menschen. Die Bilder lassen offen, ob sie als Musiker hier sind oder als Redner oder ob es dazwischen überhaupt einen Unterschied gibt. Durch die demonstrierende Menge patrouillieren soldatisch uniformierte Gruppen von Männern, die in ihrem Habitus an die Militanz der Black-Panther-Bewegung der sechziger Jahre erinnern. «Fight the Power», das heißt hier aber eben nicht nur, dass man eine Polizeimacht bekämpft, die Schwarze drangsaliert. Die Macht – das ist auch die Macht über die Geschichtsschreibung und über die Überlieferung kultureller Traditionen; es ist eine Macht, die etwa Musikgeschichte als eine Kette von Innovationen weißer Superstars erzählt – ganz so, wie in «Zurück in die Zukunft» der weiße Zeitreisende Marty McFly als Erfinder jenes Rock- ’n’ -Roll-Stils erscheint, der in Wahrheit von schwarzen Musikern wie Chuck Berry entwickelt wurde. Unablässig wird die Geschichte im Sinne der weißen Macht umgeschrieben, das ist eine der Botschaften, die man in «Fight the Power» findet. Diese Umschreibung muss rückgängig gemacht werden, mit den Begriffen unserer Gegenwart würde man sagen: Der kulturellen Aneignung (cultural appropriation) von Typen wie Elvis muss mit einer Gegen-Aneignung (counter appropriation) begegnet werden. Darum trägt einer der Angehörigen von Public Enemy, William Jonathan Drayton Jr. alias Flavor Flav, der den Rapper Chuck D als «Hype Man» mit skandierenden Rufen und publikumsbefeuernden Call-and-Response-Aufforderungen unterstützt, stets eine große Uhr um den Hals: Er will zeigen, was die Stunde geschlagen hat – dass es jetzt darum geht, die Zeit zurückzudrehen und die von der weißen Macht verfälschte Geschichte noch einmal von vorne und neu zu erzählen.
Womöglich entspringt die politische Durchschlagskraft von Public Enemy gar nicht so sehr ihren Texten, sondern vielmehr ihrem Sampling und ihren Sounds. Für den Hip-Hop der späten achtziger und auch noch der frühen neunziger Jahre ist der Gebrauch von Samples – also von Klang- und Musikzitaten, die direkt von der Originalquelle einer Schallplatte übernommen werden – ein wesentliches Kunst- und Produktionsmittel. Besonders erfindungsreich sind die Rapper des sogenannten Native-Tongues-Genres wie De La Soul, Gang Starr und A Tribe Called Quest, die ihre Stücke fast ausschließlich mit Samples aus Jazzstücken grundieren; so wollen sie sich vor ihren musikalischen Ahnen verneigen und vor allem auch deren Erbe in die Gegenwart retten. Die jungen Hörerinnen und Hörer, die auf diese Weise vielleicht zum ersten Mal enger mit dem Jazz, Soul und Funk früherer Generationen in Verbindung kommen, sollen dazu angeleitet werden, tiefer in der Geschichte zu graben («Crate-Diggin» heißt der Begriff, der sich dafür etabliert) und sich die Originale selbst anzuhören. Es geht hier also auch darum, etwas aufzuheben und zu bewahren, das vom Vergessen bedroht ist.
Die Technik des Sampling in ihrer elementaren Gestalt steht denn auch ganz am Beginn der Geschichte des Hip-Hop. Die Wurzeln des Genres liegen in der Disco- und DJ-Kultur der siebziger Jahre; bei den Disco-Partys, die in dieser Zeit zunächst in aufgelassenen Lofts in den New Yorker Innenstadtvierteln gefeiert werden, beginnen die Plattenaufleger damit, ihre Songs so ineinanderzumixen, dass daraus ein endloser musikalischer Fluss entsteht. 1973 übernimmt ein junger DJ, der aus Jamaika kommende Clive Campbell alias DJ Kool Herc, diese Technik zur Erzeugung von Beats. Er spielt auf zwei Schallplattenspielern dasselbe Stück von James Brown – das von Public Enemy in «Fight the Power» eingangs zitierte «Funky Drummer» – und montiert einen Break, einen Rhythmuswechsel, von Clyde Stubblefield dergestalt zu einer endlosen Schlaufe, dass der Beat unaufhörlich zu brechen scheint: dass er sich also in jedem Moment an der Stelle der höchsten Intensität befindet, im Zustand der musikalischen «high energy». Ein Break, das ist der Teil eines Hip-Hop-Stücks, «that grabs you and makes you emotional and wild», so hat es ein anderer Pionier dieser Musik, Afrika Bambaataa, später einmal formuliert: jener Moment, der dich packt und leidenschaftlich und wild werden lässt. Auf den Partys von Kool Herc wird diese Intensität und Wildheit noch dadurch gesteigert, dass er die Musik von einem gewaltigen Soundsystem mit sehr großen Bassboxen abspielt. «Es war wahnsinnig laut, der Sound hat dich schlicht umgeworfen», so hat sich später ein Besucher von Kool Hercs ersten Partys erinnert, «es war wahnsinnig voll, eine reine Schwitzbude, und Herc war am Mikro und rief Sätze wie ‹Rock the House› oder die Namen von Partybesuchern.»
Die von klanglichem Beiwerk weitgehend befreiten rhythmischen Schlaufen laden dazu ein, darüber zu «toasten», wie man damals noch sagt, in Anlehnung an die Sprechgesangstechnik, die sich seit den Fünfzigern auf den jamaikanischen Dancehall-Reggae-Partys etabliert hat. Später wird diese Technik als «Rap» bezeichnet werden. Im Laufe der Siebziger emanzipiert sie sich von der reinen Publikumsaufmunterung zu ausufernden, assoziativen, oft komplex gereimten Texten; auch ist der Rapper bald nicht mehr mit dem DJ identisch, sondern wird zu einer eigenständigen musikalischen Figur. Bei Kool Herc geht es aber einstweilen noch darum, die Besucher und Besucherinnen der Partys zu euphorisieren und zum Tanzen zu bringen: «B-boys are you ready? B-girls are you ready?», ruft er über die Beats. Dann stürzen sich die Break-Boys und die Break-Girls in jene akrobatischen Choreographien hinein, die zunächst als «top rockin’» bezeichnet werden und später als «Breakdance».
Der Begriff Hip-Hop wird ebenfalls Mitte der siebziger Jahre erstmals gebraucht, die Urheberschaft des Ausdrucks ist umstritten. Zu den ersten Benutzern gehört jedenfalls der schon erwähnte Afrika Bambaataa, geboren 1957 in der Bronx unter dem Namen Lance Taylor. Als Sechzehnjähriger hört er zum ersten Mal ein DJ-Set von Kool Herc und wird zu einem begeisterten Anhänger, ab 1977 arbeitet er selber als DJ und veranstaltet Partys. Anders als Herc hat er dabei eine klare politische Perspektive: Er will Jugendliche aus den schwarzen Innenstadtvierteln von der Straße holen. Sie sollen einander nicht mehr mit Waffen bekämpfen, sondern ihre Konkurrenz auf künstlerische Weise austragen, beim Rappen und beim Breakdancen. Oder beim Graffitisprayen, das in den frühen Achtzigern zur dritten wesentlichen Ausdrucksform der Hip-Hop-Kultur wird, in prägender Weise dokumentiert in dem auch in Deutschland vielgesehenen Film «Wild Style!» aus dem Jahr 1982.
Mit Afrika Bambaataa wird Hip-Hop also politisch – auch deswegen, weil er darin den Soundtrack für eine genuin schwarze Kultur sieht, für einen schwarzen Nationalismus im Sinne der Black-Panther-Bewegung. Schon 1975 hat er die Universal Zulu Nation gegründet, eine religiöse, mythische und politische Gemeinschaft, als deren Oberhaupt er bis heute firmiert. «Zulu Nation Throwdown» heißt der erste eigene Track, den Bambaataa 1980 herausbringt. Berühmt über die junge New Yorker Hip-Hop-Szene hinaus wird er dann mit seiner dritten Single, «Planet Rock» aus dem Jahr 1982. Hier werden die inzwischen schon typisch gewordenen Breakbeats erstmals mit elektronischen Rhythmen kombiniert, die Bambaataa und sein Ko-Produzent Arthur Baker mit dem damals gerade auf den Markt gekommenen Roland TR-808 Rhythm Composer erzeugen, einem der ersten programmierbaren Drumcomputer der Geschichte.
Der Sound dieses Stücks wirkt bis heute unerhört futuristisch. Die Beschwörung der afroamerikanischen Tradition verbindet sich mit dem Willen zum Aufbruch in die Zukunft. Zwei zentrale Klangzitate in «Planet Rock» verweisen auf jene Band, die seit ihrer ersten Tournee durch die USA im Jahr 1975 auch dort als Inbegriff der Science-Fiction-Musik und der technischen Fortschrittlichkeit gilt: Kraftwerk aus Düsseldorf. Als Hommage an die Ästhetik der Roboterdeutschen flicht Arthur Baker die Melodie aus ihrer Single «Trans Europa Express» und ein rhythmisches Muster aus dem Stück «Numbers» in «Planet Rock» ein. «Ich wollte das Stück wie einen DJ-Mix komponieren», hat er später erklärt. «Ich wollte so arbeiten, wie ein DJ es tut. Das heißt: Ich wollte aus verschiedenen musikalischen Elementen etwas erschaffen, das etwas Neues ist und in dem die Elemente, aus denen es besteht, doch erkennbar bleiben.» Hier kann man schon die Technik des Sampling erkennen, die am Ende des Jahrzehnts bei Public Enemy zum prägenden künstlerischen Mittel wird. Allerdings übernehmen Bambaataa und Baker die Kraftwerk-Zitate nicht eins zu eins von Schallplatten; vielmehr werden die Melodie von «Trans Europa Express» auf einem Synthesizer nachgespielt und der Beat von «Numbers» auf dem Roland TR-808 nachgebaut. Es handelt sich also nicht eigentlich um Samples, sondern um Zitate in einem traditionelleren Sinn.
Was die Musiker von Kraftwerk freilich nicht daran hindert, umgehend eine Urheberrechtsklage gegen Bambaataa und Baker anzustrengen. Man einigt sich dann zwar außergerichtlich, aber nur gegen eine hohe Beteiligung Kraftwerks an den Einnahmen aus der «Planet-Rock»-Single, von der binnen kurzem immerhin 700000 Exemplare verkauft werden. «Eine verdammt große Menge Geld haben wir denen zahlen müssen», hat Arthur Baker später gesagt. Womit ein zweiter Aspekt der in den Achtzigern entstehenden Sampling-Kultur ins Blickfeld gerät: die Tatsache, dass es sich bei der Aneignung der Rhythmen und Sounds anderer mithin nicht nur um einen Akt des Zitats oder der Hommage handelt, sondern auch um eine Überführung fremden Eigentums in das eigene Werk, und das heißt möglicherweise: um einen Akt des Diebstahls.
Bis diese Frage zu einem größeren Problem wird, werden allerdings noch einige Jahre vergehen. Die heute gängige Praxis, dass jeder, der etwas sampelt, zuvor die Urheberverhältnisse klärt und entsprechende Lizenzgebühren zahlt, etabliert sich erst in den neunziger Jahren. Große, bis heute beeindruckende Werke wie Public Enemys «Fight the Power» am Ende der Achtziger wären sonst auch gar nicht denkbar gewesen.
Weit über den erblühenden Hip-Hop hinaus wird das Sampling in den Achtzigern zu einer der prägenden Techniken des Pop, was wesentlich auch am Fortschritt in den elektronischen Produktionsmitteln liegt. Ende der Siebziger kommt das erste elektronische Sample-Gerät auf den Markt: Mit dem Fairlight-Synthesizer kann man musikalische Klänge von Schallplatten, aber auch jede andere Art von Geräuschen kopieren und absolut originalgetreu wiedergeben. Zunächst dient dieses Instrument – wie schon seine analogen Vorgänger aus den Sechzigern und Siebzigern, etwa das bei Progressive-Rock-Gruppen beliebte Mellotron – vor allem dazu, Personalkosten zu sparen. Man kann damit zum Beispiel schwelgende Streicher unter ein Arrangement legen, ohne dafür ein Streichorchester engagieren zu müssen. Aber man kann damit auch Sounds nichtmusikalischer Art einbringen. So kommen etwa Depeche Mode mit Hilfe des Fairlight zu den schon an anderer Stelle in diesem Buch erwähnten Kettengerassel- und Peitschenschnalzgeräuschen, die man in Songs wie «Master and Servant» hört, wie auch zu den Beats, die aus metallischem Schlagwerkgedengel zusammengesetzt werden.
Auf ästhetisch besonders interessante Weise nutzt die neue Technik – zu der neben Instrumenten wie dem Fairlight CMI auch die etwas primitiveren, aber dafür wesentlich billigeren Emulatoren zählen –, der Londoner Produzent Trevor Horn. Mit seiner Gruppe Art of Noise beginnt er 1983 damit, Alltags- und Technikgeräusche aus allen nur erdenklichen Quellen zu sampeln, um daraus aberwitzige Songs zu basteln. So etwa «Close (to the Edit)», das im Jahr 1984 erscheint: Beginnend mit den Sounds startender Automotoren, die in den unterschiedlichsten Geschwindigkeiten und Tonhöhen abgespielt werden, steigert sich das Stück zu einer rhythmischen Kakophonie aus vorwärts- und rückwärtslaufenden Gesangsfragmenten und klitzeklein gehackten Orchestertutti.
Bei Art of Noise geht es also weder um die Imitation eines vorgefundenen Instrumentenklangs noch um die Aneignung historischen Materials. Der ästhetische Reiz dieser Musik liegt vielmehr gerade in ihrer Inkohärenz. Art of Noise fügen Klänge zusammen, die nicht zusammengehören, und erschaffen daraus eine Musik, die einerseits konventionellen Strukturen zu folgen scheint – es gibt durchgehende Rhythmen und wiedererkennbare Melodien –, die aber andererseits auf ganz unkonventionelle Weise innerlich zerrissen ist. Man hört die Gemachtheit und die Zusammengesetztheit der Musik immer mit, weil die zusammengesetzten Sounds als solche erkennbar und also autonom bleiben. Wie in einer Collage, also einem Bild, das aus unterschiedlichen Fragmenten aus wiederum unterschiedlichen Quellen und Materialien zusammengesetzt ist.
Das erinnert an Arthur Bakers Absicht, mit «Planet Rock» etwas zu erschaffen, «das etwas Neues ist und in dem die Elemente, aus denen es besteht, doch erkennbar bleiben». Nur dass Art of Noise sich nicht an der Kunst des Plattenauflegens orientieren, sondern vielmehr an den europäischen Avantgarden vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon der Name des Projekts zitiert den italienischen Futuristen Luigi Russolo und sein 1913 erschienenes Manifest «L’arte dei rumori», deutsch: «Die Kunst der Geräusche». Das Label, auf dem die Platten von Art of Noise erscheinen, nennen Trevor Horn und sein Kompagnon Paul Morley ZTT, eine Abkürzung für «Zang Tumb Tumb» – was wiederum der Titel eines von Russolo in seinem Manifest zitierten Gedichts ist, in dem der italienische Schriftsteller und Autor des Futuristischen Manifests, Filippo Tommaso Marinetti, die Geräusche einer Schlacht in lautmalerische Formen zu bringen versuchte.
«Into Battle with the Art of Noise» heißt denn auch das erste Stück, mit dem Art of Noise 1983 die Bühne betreten. Es klingt, so beschreibt es der Pop-Historiker Simon Reynolds in seiner Postpunk-Geschichte «Rip It Up and Start Again», «als befände man sich in einer Trickkistenfassung des von Marinetti beschriebenen Schlachtfelds». Ein grelles Stakkato, das einerseits produktionstechnisch begründet ist: Der Fairlight-Sampler kann keine Sounds speichern, die länger als zwei Sekunden dauern. Andererseits folgt der militärische Charakter des Stücks einer ästhetischen Absicht. In der Pop-Landschaft der mittleren achtziger Jahre, die Trevor Horn und seine Gefährten als nostalgisch und zukunftsmüde, als weichgespült und gleichgeschaltet ansehen, wollen sie mit ihrem aggressiven und destruktiven Auftreten für Veränderung sorgen.
Paul Morley begleitet die Veröffentlichungen von Art of Noise und den anderen Künstlern und Gruppen auf dem Zang-Tumb-Tumb-Label mit ästhetischen Programmschriften, ganz nach Art des Futuristischen Manifests. Oder auch jenes Dadaistischen Manifests, das Richard Huelsenbeck 1918 bei der ersten Sitzung des Club Dada verliest: «Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird.» Wie es das Ideal der dadaistischen Kunst war, so will auch die Geräuschmusik von Art of Noise Musik und Nichtmusik zugleich sein; sie öffnet sich für die nichtmusikalischen Klänge des Alltags und versucht, sie zu einer musikalischen Form zu fügen; oder um noch einmal Simon Reynolds zu zitieren: «The Art of Noise klangen wie Hip-Hop, wäre dieser 1916 in Europa erfunden worden.»
Für den Hip-Hop sind Art of Noise mit ihrem Gebrauch des Sampling tatsächlich in einer entscheidenden Hinsicht wegweisend: Sie wenden diese Technik erstmals auch auf die Erzeugung von Breakbeats an. Bis dahin sind diese ausschließlich von DJs oder später von Live-Schlagzeugern erzeugt worden. Art of Noise verwenden als Erste dazu einen Sampler – was sie natürlich auch deswegen tun können, weil sie, anders als die Hip-Hop-Pioniere aus der Bronx, finanziell dazu in der Lage sind, sich eines der enorm teuren Fairlight-Instrumente zu leisten. Erschwinglicher wird die Technik erst mit der nächsten Generation von Geräten, zum Beispiel mit dem Akai MPC 60, einem kleinen Instrument, mit dem die auf dem Fairlight entwickelte Cut-and-Paste-Ästhetik zum Allgemeingut der musikalischen Produktion wird. Das erste Hip-Hop-Stück, auf dem sich diese neue Technik des Sampelns in voller Blüte anhören lässt, ist tatsächlich Public Enemys «Fight the Power».
Zwischen der sampelnden Wiederaneignung der afroamerikanischen Musikgeschichte im Hip-Hop der späten Achtziger und den – nun einmal im ganzen Sinne des Wortes – retro-futuristischen Experimenten von Art of Noise gibt es natürlich erhebliche Unterschiede. Doch es gibt, vom Sampling abgesehen, auch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Beide Bands zeigen, dass sich ein wahrer Blick auf die Zukunft nur im Rückgriff auf die Vergangenheit erringen lässt; und dass sich wahrhafte ästhetische Gegenwart nur in einer Form finden lässt, die offen ist für das Vergessene, Unabgegoltene, den Bruch.
Wenn die frühen Hip-Hopper von DJ Kool Herc über Afrika Bambaataa bis zu Public Enemy und den Native-Tongues-Rappern nach einem Ausdruck der afroamerikanischen Identität in der Musik suchen, dann tun sie dies, indem sie in ihre musikalischen Formen immer auch etwas Nichtidentisches einpflegen; sie öffnen ihre Songs für historische Referenzen, die aus der in sich geschlossenen Dramaturgie, aus dem Fluss der Rhythmen und Reime hinausführen in eine Welt, die jenseits der Musik liegt. Wenn Art Of Noise den selbstgefälligen Firnis des nostalgischen Pop der mittleren Achtziger zerreißen wollen, dann tun sie dies, indem sie den Bogen noch weiter zurück in die Geschichte schlagen; sie erhöhen die Intensität ihrer Musik dadurch, dass sie in sehr hohem Tempo sehr viele verschiedene Arten und Quellen des Klangs zu einem – wie es in der Terminologie des Dadaismus geheißen hätte – simultanistischen Gedicht verbinden. Ihre «high energy» speist sich aus der rasenden Verschränkung von Musik und Nichtmusik und von unterschiedlichsten Schichten der künstlerischen Tradition.
Binnen kurzem findet sich die Technik des Sampling in kommodifizierter, konventionalisierter Form auch im Mainstream der Hitparadenmusik (in Deutschland etwa bei Modern Talking, von denen schon die Rede war). Doch für einen Moment erscheint darin eine Kunst des Fragments und des Zitats, die mit der Gegenwart bricht, indem sie sich der Erinnerung zuwendet, dem Archiv und der Archäologie. Hier sieht man noch einmal, wie der Geist der achtziger Jahre sich von jenem der Siebziger unterscheidet: Die Zukunft ist nichts mehr, in das man sich vorbehaltlos zu stürzen vermag, sondern etwas, das man nur erobern kann, indem man die utopischen Kräfte der Vergangenheit gegen eine als unerträglich scheinende Gegenwart mobilisiert.