Im Januar 1980 findet in Karlsruhe der Gründungsparteitag der Grünen statt. Wie bei der Demonstration im Bonner Hofgarten versammeln sich auch hier viele Menschen, um gemeinsam ihr Dagegensein auszudrücken. Wobei sich das Dagegensein nicht auf die zivile Nutzung der Atomenergie und die nukleare Aufrüstung beschränkt. In der neuen Partei treffen sich politische Strömungen, die in den siebziger Jahren noch getrennt verlaufen sind. Neben den Friedens- und Umweltbewegten finden sich Aktivistinnen aus der Neuen Frauenbewegung, aber auch Dritte-Welt-Initiativen, die gegen den Hunger in unterentwickelten Ländern kämpfen oder dortige Befreiungsbewegungen gegen die kapitalistische Ausbeutung unterstützen. Und schließlich wechseln die letzten noch aktiven Protagonisten aus dem zerfallenden Milieu der K-Gruppen in die Partei. Eine Abspaltung des Kommunistischen Bundes, die Gruppe Z, bemüht sich schon auf dem Gründungsparteitag darum, die generelle politische Orientierung der Grünen nach links zu verschieben.
Dabei wollen sich diese anfangs ausdrücklich nicht im herkömmlichen politischen Koordinatensystem positionieren. «Nichts links, nicht rechts, sondern vorn» – so lautet einer der Slogans, die man in Karlsruhe auf Plakaten und Spruchbändern findet. «Weder Kapitalismus noch Kommunismus. Wir brauchen neue Wege» – heißt es dann auf einem Plakat für den Bundestagswahlkampf im Herbst 1980. Eigentlich möchten die Grünen auch gar nicht als Partei verstanden werden; vielmehr sehen sie sich als Anti-Partei, als Anti-Parteien-Partei oder – wie es im ersten Wahlkampfprogramm heißt – als «Alternative zu den herkömmlichen Parteien». Sie treten bei diesem und den folgenden Wahlkämpfen entsprechend auch nicht als Partei im Singular an, sondern als «Die Grünen» im Plural oder in Form von «Listen»: als «Grüne Liste», «Alternative Liste» oder auch «Grün-Alternative Liste». So wollen sie zum Ausdruck bringen, dass sie keine hierarchische Organisation sind, sondern ein «Sammelbecken» von außerparlamentarischen Strömungen. Mit einem später etablierten Begriff würde man sagen: Es geht um die Vernetzung von Menschen, die aus unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Traditionen kommen, zum Teil auch sehr unterschiedliche politische Ziele verfolgen – und doch in der Auffassung übereinstimmen, dass die drängendsten Probleme der Gegenwart von den etablierten Parteien ignoriert oder gar erst erschaffen werden.
Die Eröffnungsrede auf dem Karlsruher Parteitag wird, wie schon erwähnt, von dem konservativen Ökologen und ehemaligen CDU-Abgeordneten Herbert Gruhl gehalten; er trägt bei seinem Auftritt, wie es für Politiker damals üblich ist, Anzug und Schlips. Damit steht er in der Karlsruher Stadthalle beinahe alleine da. Der einzige andere prominente Anzugträger ist der Westberliner Anwalt Otto Schily, der in den siebziger Jahren dadurch bekannt geworden ist, dass er die Mitglieder der RAF im sogenannten Stammheim-Prozess verteidigte. Zu Beginn seiner Zeit bei den Grünen wird er sich vor allem dem Vorhaben widmen, die Angehörigen weltanschaulich eher konservativer Strömungen wieder aus der Partei zu drängen – wie zum Beispiel eben Herbert Gruhl, der die Grünen darum zwei Jahre später verlässt.
Abgesehen von den beiden verfeindeten Anzugträgern Schily und Gruhl, sind die grünen Männer in Karlsruhe mehrheitlich informell, schluffig und schlampig gekleidet. Sie tragen grob gestrickte, gern auch zu weit geschnittene Pullover – sogenannte Schlabberpullover –, dazu Cordhosen und manchmal Cordjacketts mit großen Lederaufnähern an den Ellbogen. Das lange Haupthaar fällt oft in fettigen Strähnen in die Stirn, wenn es nicht zu einem – bis dahin im wesentlichen Frauen vorbehaltenen – Pferdeschwanz zusammengebunden wird oder aber, je nach Spannkraft und Haartyp, als voluminöses Wuschelgebilde um den Kopf schwebt. Die Bärte der grünen Männer sind ebenfalls grundsätzlich unbeschnitten und ungepflegt, weswegen sie auch als Fusselbärte firmieren. Die Bekleidung der weiblichen Grünen-Mitglieder wird ebenso von selbstgestrickten Pullovern beherrscht sowie von weiten Maxiröcken, die bis auf den Boden fallen; wenn Hosen getragen werden, dann handelt es sich um weite, sehr bequeme und die Körperform verhüllende Pluderhosen oder um die noch aus der Neuen Frauenbewegung stammenden Latzhosen. Röcke, Hosen und auch Blusen werden gerne selber genäht und gefärbt, Letzteres am liebsten im Batikverfahren, bei dem man durch das Zusammenknüllen der Textilien während des Färbeprozesses knittrige Muster erzeugt, die wahlweise exotisch oder psychedelisch wirken oder beides.
Diese Art der negativen Uniformierung ist interessant, gerade angesichts der Beschwörung von Vielheit und Individualismus. Wenn die Grünen sich am Anfang der achtziger Jahre auch als Sammelbewegung verstehen, so kann man ihre Mitglieder und Sympathisanten doch auf den ersten Blick an ihren Frisuren und an ihrer Bekleidung identifizieren. Aus der scheinbaren Verweigerung gegen Modestile jeglicher Art entsteht eine eigene, äußerst prägnante Mode. Zu der wesentlich gehört, dass man zwischen formellen und informellen Bekleidungsstilen nicht mehr unterscheidet, weswegen bei politischen Versammlungen dasselbe schluffige Zeug getragen wird wie zu Hause oder beim Demonstrieren. Als besonders wichtig wird es angesehen, sich auch in bürgerlichen Institutionen, für deren Besuch man sich bis dahin feinzumachen pflegte, den herrschenden Bekleidungskonventionen zu widersetzen. Das gilt für die Oper und das Theater ebenso wie für die Parlamente. Als die Grünen – die beim ersten Anlauf im Herbst 1980 nur 1,5 Prozent der Stimmen erhalten und damit an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern – im März 1983 erstmals in den Deutschen Bundestag einziehen, genießen sie sichtlich die Verstörung, die sie bei Plenardebatten auslösen: als chaotischer, bunter und offensiv ungepflegter Haufen in einer ansonsten uniformen und grauen Menge von Anzugträgern.
«Man betonte das Unfertige, Spielerische, Lässige und Gestaltungsoffene gegenüber einer normierten und formierten Gesellschaft», so hat der Kulturhistoriker Sven Reichardt diese Stilistik des Dagegenseins in seinem Buch «Authentizität und Gemeinschaft» charakterisiert. «Den antibürgerlichen Effekt erzielte man dadurch, dass die Kleidung Löcher aufwies oder nachlässig mit Flicken versehen war. Sauberkeits- und Ordnungsvorstellungen wurden durch nachlässige Pflege und achtlose Handhabung herausgefordert.» Man ist ja auch dagegen, große Mengen umweltschädlichen Waschpulvers zu verwenden, darum stört man sich nicht an kleinen oder auch größeren Flecken auf der Kleidung. In einem sauberen und eventuell sogar gebügelten Anzug herumzulaufen gilt als Ausweis der Spießigkeit und Ressourcenverschwendung. Die mit der Umwelt- und Friedensbewegung durchaus sympathisierende Kölner Rockgruppe BAP besingt diese Ästhetik 1982 in ihrem Lied «Müsli-Man» folgendermaßen: «Lange blonde Hoor, bläcke Fööß met nur Sandale draan, / Schweb hä op mich zo, speut messjanisch op ming Currywoosch / Ich saare: Hühr ens, wer bess do? / Typisch, dat do mich nit kenns, ich benn dä Müsli-Män.» Auf Hochdeutsch etwa: «Lange blonde Haare, nackte Füße mit nur Sandalen dran, / Schwebt er auf mich zu, spuckt messianisch auf meine Currywurst. / Ich sage: Hör mal, wer bist du? / Typisch, dass du mich nicht kennst, ich bin der Müsli-Man.»
Dass die Angehörigen der Alternativkultur als Müsli-Männer und -Frauen bezeichnet werden, hängt natürlich mit ihrer Neigung zum Müsli-Essen zusammen. Auch ansonsten ist ihre Ernährung durch den Willen zu Natürlichkeit und Authentizität geprägt. So wie die Liedermacherinnen und Liedermacher sich zum Zeichen ihres Protests gegen die moderne Gesellschaft an alten und traditionellen musikalischen Formen orientieren, so werden in der grünen Kulinarik vor allem vergessene und traditionelle Lebensmittel und Rezepte wiederentdeckt. Zum Beispiel die Weizenart Dinkel, die sich bis ins 19. Jahrhundert in Deutschland großer Beliebtheit erfreute, dann aber wegen ihrer schlechten Ernteerträge kaum noch angebaut wurde. In der grünen Naturkostbewegung rückt der Dinkel wieder ins Zentrum, auch dank seiner spirituellen Qualitäten – er wurde schon von der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen als gesundheitsförderndes Getreide empfohlen.
In dem Buch «Der grüne Zweig. Ernährung und Bewusstsein», das von 1973 bis 1981 in diversen Auflagen und Fassungen zum Hauptwerk der Naturkostbewegung wird, ist der Wiederentdeckung des Dinkels ein ganzes Kapitel gewidmet, ebenso wie den in der deutschen Küche bis dahin eher übersehenen Sprossen und Keimen. Eine ausführliche Darstellung widmet sich der Technik des Einmachens, also dem Haltbarmachen von Gemüse und Früchten durch luftdichtes Erhitzen. Wobei gerade diese Technik in den Achtzigern eigentlich noch gar nicht verschwunden ist, sondern sich wenigstens im ländlichen Raum gut gehalten hat – überall dort, wo die ersten Nachkriegsgenerationen in ihren Einzel- und Reihenhaussiedlungen noch genug Platz für einen Gemüsegarten besitzen, dessen Ernte dann durch das Einmachen über den Winter hinweg haltbar gemacht wird. In der Leidenschaft für das Einmachen trifft sich daher das ganz traditionelle Milieu der CDU-Stammwählerschaft (zu dem zum Beispiel meine Eltern gehörten) mit den Angehörigen der Alternativkulturen und den Wählern der Grünen; beiden Kohorten ist diese kulinarische Verwandtschaft aber nur selten bewusst.
Darüber hinaus verfügen Ökos, Späthippies und Friedensbewegte über keine nennenswerte Ess- oder Trinkkultur. Dafür sind sie fast durchweg begeisterte Raucher und Raucherinnen. Was sie rauchen und wie sie es rauchen: Darin versuchen sie sich von ihrer Umwelt wiederum deutlich zu unterscheiden. Zigaretten sollen etwa nicht in fertiger Form und in Verpackungen aus Pappe gekauft werden, als sogenannte Industrie- oder Fabrikzigaretten. Stattdessen wird «Halfzware Shag», also loser Tabak, den man in Beuteln erwirbt, in Zigarettenpapiere gerollt. Das Selberdrehen verleiht einen Zug von ökologischer Bewusstheit und Autonomie. Der Verpackungsmüll wird reduziert, und da selbstgedrehte Zigaretten in den Achtzigern noch durchweg ohne Kunststofffilter auskommen, bleiben auch diese nicht als Restmüll zurück. Das Selberdrehen ist individualistisch – aber gleichzeitig gemeinschaftsbildend, weil es zum guten Ton gehört, den Tabakbeutel in der Kleingruppe kreisen zu lassen; und es ist natürlich die unabdingbare Grundlage für das «Bauen» von Joints.
Beim Bekleiden, Essen und Rauchen herrscht also der Geist des «Do it yourself»; wobei dies im Falle der Kleidung nicht zwangsläufig bedeutet, dass man alles selber schneidern, nähen und färben muss. Man kann den Willen zur Nachhaltigkeit auch dadurch unter Beweis stellen, dass man in Secondhandläden kauft. Auf diesem Weg kommen die Angehörigen der Alternativkultur massenhaft zu einem Bekleidungsstück aus einer von ihnen eigentlich abgelehnten Institution: zum Bundeswehr-Parka. Das ist ein gefütterter, olivgrün gefärbter Anorak mit Kapuze, wie er bei den westdeutschen Streitkräften zur Grundausstattung gehört. Der Parka ist robust und hält auch bei winterlichen Anti-AKW-Demonstrationen im norddeutschen Flachland warm; wenngleich man, sobald man in den Strahl eines Wasserwerfers gerät, schnell feststellt, dass es mit seiner feuchtigkeitsabweisenden Imprägnierung nicht sonderlich weit her ist. Dafür symbolisiert er mit seiner militärischen Gesamtanmutung immerhin, dass der Träger oder (seltener) die Trägerin zum entschlossenen Widerstand gegen die Staatsmacht bereit ist. Bundeswehr-Parkas werden mit aufgestickten kleinen Deutschlandfahnen ausgeliefert, die vor dem ersten Tragen natürlich abgetrennt werden müssen. Wer das nicht tut, geht das Risiko ein, bei Demonstrationen in Diskussionen verwickelt zu werden über die Frage, ob man das, wofür diese Fahne steht, etwa gut findet; wer sich hingegen – wie es damals noch verbreitete Sitte ist – mit einem roten Stern an der Mütze oder mit einem Aufnäher der sowjetischen Hammer-und-Zirkel-Fahne schmückt, hat vergleichbare Diskussionen nicht zu befürchten.
Bessere Dienste in der direkten Konfrontation mit Wasserwerfern leistet das zweitbeliebteste Oberbekleidungsteil jener Zeit: der Friesennerz. Dabei handelt es sich um eine Regenjacke, die dank ihres Überzugs aus synthetischem Kautschuk oder PVC besonders wind- und wasserabweisend ist. Der Friesennerz hat üblicherweise ein kräftiges Gelb, während die Innenseite blau ist und bei Bedarf nach außen gestülpt werden kann. Im Unterschied zum klassischen Ölzeug der Seeleute, das hierfür Pate gestanden hat, reicht diese Jacke nur bis zu den Oberschenkeln hinunter, ist also eher wie ein Parka geschnitten. So wie dieser von umwelt- und friedensbewegten Menschen seiner militärischen Bestimmung entwendet wird – die auf der symbolischen Ebene kenntlich bleibt –, so wird auch der Friesennerz nicht nur zum Schutz gegen widriges Wetter oder Wasserwerfer getragen, sondern auch bei milden Temperaturen und Sonnenschein, also: als Zeichen. Wer einen Friesennerz trägt, demonstriert damit, dass er oder sie, unter welchen klimatischen Umständen auch immer, für die Rettung des Planeten einzustehen gedenkt. Kombiniert wird der Friesennerz gern mit einer Jeans des deutschen Herstellers Mustang, dessen Hosen zwar nicht so robust und gut geschnitten sind wie die amerikanischen Originale – aber dafür auch nicht belastet mit der Symbolik des US-amerikanischen Wirtschafts- und Kulturimperialismus, wie er den Angehörigen der alternativen Bewegungen Anfang der achtziger Jahre immer noch als bevorzugtes Feindbild dient.
Einen ausgeprägt antiimperialistischen Charakter hat auch das beliebteste Oberbekleidungs-Ergänzungsstück in dieser Zeit: das Palästinensertuch, kurz «Palituch» oder nur «Pali» genannt. Manchmal firmiert es auch als «Arafat-Schal» oder – wie in einer anderen Strophe des BAP-Songs «Müsli-Man» zu hören – als «Schal von Al-Fatah». Das weiße Baumwolltuch mit Quastenrand ist mittig mit einem schwarzen oder roten Karomuster bedruckt; an den Rändern sind lange Streifen in jeweils derselben Farbe eingestickt. Es geht auf die Kufiya zurück, eine nach der irakischen Stadt Kufa benannte Kopfbedeckung von Beduinen und Bauern, die zum Schutz vor der Wüstensonne und vor Sandstürmen dient. Entsprechend gut kann das Palästinensertuch bei Demonstrationen dazu gebraucht werden, sich gegen Tränengas und Wasserwerfer zu wappnen.
Der wesentliche Grund für die Palituch-Mode ist aber nicht praktischer, sondern symbolischer Art. Als Trendsetter für das Tuchtragen wirkt seit Ende der sechziger Jahre der bei deutschen Öko- und Friedensbewegten ausgesprochen populäre palästinensische Politiker Jassir Arafat; er zeigt sich in der Öffentlichkeit niemals ohne Kufiya, die er mit einer schwarzen Kordel am Kopf befestigt. Als Vorsitzender der Fatah-Partei und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) kämpft Arafat für die «Ausrottung der ökonomischen, politischen, militärischen und kulturellen Existenz» des Staates Israel, wie es in der Verfassung der Fatah aus dem Jahr 1964 heißt. Das ist ein Ziel, dem sich schon die linke Avantgarde des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) gerne angeschlossen hat. 1969 reist eine Delegation des SDS zu einer PLO-Konferenz nach Algier, auf der Arafat den baldigen «Endsieg» über Israel und den Zionismus ankündigt, «ein rassistisches, expansionistisches und kolonialistisches System, das untrennbar ist vom Welt-Imperialismus mit den Vereinigten Staaten an der Spitze». Zu den Mitreisenden gehört der damals einundzwanzigjährige Joschka Fischer, der 1982 dann den Grünen beitritt und 1985 als erstes Mitglied dieser Partei ein Ministeramt bekleiden wird. Bei seiner Vereidigung zum hessischen Staatsminister für Umwelt und Energie in der ersten rot-grünen Landesregierung sorgt Fischer dadurch für Aufsehen, dass er ein zu großes, schlabbriges Sakko trägt, eine ausgebeulte Jeans und weiße Turnschuhe; von der Presse wird er daraufhin als «Turnschuhminister» bezeichnet.
Während die Grünen im Verlauf der achtziger Jahre den Marsch durch die Institutionen antreten, steigt das Palituch zum Lieblingsaccessoire der Alternativkultur auf. Wer es trägt, bekundet damit nicht nur seine Solidarität mit Arafat und der PLO, sondern darüber hinaus auch mit den «antiimperialistischen Befreiungskämpfen» in aller Welt. Besonders beliebt sind in dieser Zeit etwa auch die Sandinisten in Nicaragua, die man unter anderem mit dem kollektiven Kauf von fair gehandeltem Kaffee, der «Sandino-Dröhnung», unterstützt. Aber auch die kubanische Revolutionsregierung unter dem Diktator Fidel Castro und die baskischen Separatisten der ETA werden von westdeutschen Linken als gerechte Kämpfer für die Freiheit und Selbstbestimmung ihrer Völker verehrt. Lediglich dem Volk der Juden gesteht man weder das eine noch das andere zu; wer Anfang der Achtziger ein Palituch trägt, unterstützt damit willentlich oder auch nicht das – erst in den neunziger Jahren widerrufene – Ziel Jassir Arafats und der PLO, im «Endkampf» gegen den Staat Israel diesen ein für alle Mal von der Landkarte zu tilgen.
Diese Idolisierung des antiisraelischen Kampfes passt gut in die lange Tradition des linken Antisemitismus in Westdeutschland. Doch gibt es noch eine weitere Bedeutungskomponente darin: die alternativkulturelle Sehnsucht nach Authentizität. Mit dem Palituch verwandelt sich der Träger, jedenfalls auf symbolischer Ebene, in den Angehörigen eines einfachen (Wüsten-)Volkes, das auch unter widrigen Naturbedingungen zu leben und zu kämpfen versteht, nicht so entfremdet ist wie das eigene – und sich auch noch im revolutionären Kampf gegen eine niederträchtige Besatzungsmacht befindet. Wer sich mit der Kufiya zum ideellen Palästinenser oder zur ideellen Palästinenserin erklärt, wird damit Teil eines globalen Kampfes gegen kolonialistische Mächte oder jedenfalls gegen zwei bestimmte kolonialistische Mächte, nämlich die USA und Israel. (Der russische und der chinesische Imperialismus gelten unter westdeutschen Linken als irgendwie nicht so schlimm; zumindest wird dagegen nicht protestiert.)
Diese Aneignung einer politisch aufgeladenen ethnischen Symbolik ist nicht neu und auch nicht exklusiv mit den Alternativkulturen verbunden; man findet sie in Westdeutschland schon lange vor der Ausbreitung des Palituchs, und zwar in der großen Leidenschaft für Indianerkostüme und das Cowboy-und-Indianer-Spielen. Bis in die siebziger Jahre verkleiden sich nicht nur Kinder beim Fasching gerne als Indianer, es gibt unzählige Wildwest-Vereine, in denen auch Erwachsene als Trapper und Apachen posieren. Die erfolgreichsten Filme der Sechziger sind die «Winnetou»-Filme mit Pierre Brice, zu den meistbesuchten Theaterinszenierungen zählen bis in die achtziger Jahre und darüber hinaus die Karl-May-Spiele im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg. Wenn dort in jedem Sommer die «Winnetou»-Romane in Freilichttheater-Fassungen aufgeführt werden, kostümieren sich nicht nur die Schauspieler, sondern auch viele Zuschauer und Zuschauerinnen als Cowboys und Indianer.
Die Parallelen zur Palästinenserverkleidung liegen auf der Hand: Auch wer sich zum Indianer macht, identifiziert sich mit einem Volk, das authentisch und naturverbunden ist – und zugleich von der Ausrottung durch eine unbarmherzige Kolonialmacht bedroht wird. Darum begeistern sich die Deutschen gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit so sehr für die Indianer. Nachdem sie sich selber gerade noch an der Ausrottung eines ganzen Volkes versucht haben, können sie im Indianerkostüm aus der Rolle der Täter in jene der Opfer wechseln. Hinzu kommt, dass bei Karl May die guten Cowboys und «Westmänner» immer Deutsche im Ausland sind, die als strahlende Helden den bedrängten Indianern beistehen. Das heißt: Man befindet sich, in welche Kostüme auch immer man schlüpft, auf der richtigen Seite der Geschichte und kann sich von der eigenen historischen Schuld befreien.
So ist Jassir Arafat der Winnetou der achtziger Jahre und das Palituch die alternativkulturelle Version des Indianerkopfschmucks. Wobei den Palituchträgern und -trägerinnen sogar noch jene Vollendung der Vergangenheitsverdrängung gelingt, an der die restaurativen Kräfte der Nachkriegszeit trotz intensiven Bemühens doch scheitern mussten: nämlich sich als Deutsche wieder in die Position einer politischen und moralischen Überlegenheit über die Juden zu begeben.
Der linke Antisemitismus ist uns, wie wir wissen, bis in die Gegenwart des Jahres 2021 erhalten geblieben; hingegen wird die Verwendung symbolisch aufgeladener ethnischer Bekleidungsstücke mittlerweile mehrheitlich als «cultural appropriation» abgelehnt. Dies gilt für den Indianerschmuck wie für die Kufiya; aber auch für die Dreadlocks, also die aus Jamaika stammende Zopffrisur, die an der Wende zu den achtziger Jahren nach dem Vorbild des Reggae-Sängers Bob Marley besonders beim alternativkulturellen Nachwuchs populär wurde. In alldem sieht man heute vor allem illegitime Formen einer Aneignung und Ausbeutung von unterdrückten Kulturen durch Angehörige einer überlegenen Kultur.
Im Faible für ethnische Stammesbekleidung zeigt sich noch etwas anderes: nämlich dass ihre Träger sich eben als Angehörige eines Stammes betrachten, als Mitglieder einer Gemeinschaft, die in einer feindlichen Welt gemeinsam einen sicheren Platz für sich suchen. Das ist ein Unterschied zu dem Selbstverständnis der Alternativkultur in den Siebzigern, zumindest noch zu Beginn des Jahrzehnts. Im Nachklang von Woodstock und 68er-Bewegung sahen sich die Angehörigen der neuen sozialen Bewegungen als Erfinder und Schöpfer, als Avantgarde einer globalen Weiterentwicklung der Menschheit. In den Achtzigern ist diese Gegenkultur defensiv geworden und fragmentiert; es geht ihr nicht mehr darum, etwas Neues zu erschaffen, sondern darum, Schlimmeres abzuwenden; man bildet Stämme, um sich von der Welt abzugrenzen und sich im gemeinsamen Dagegensein vor ihr zu schützen.
Als «Stadtindianer» bezeichnen sich – nach dem Vorbild der italienischen «indiani metropolitani» – noch in den Achtzigern Gruppen von rebellischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in den Innenstädten leerstehende Häuser besetzen, um dort «autonome» Jugend- und Kulturzentren zu gründen oder sich in Wohngemeinschaften gleich häuslich einzurichten. Unter den vielen Gruppen, die sich im Januar 1980 beim Gründungsparteitag der Grünen versammeln, gibt es ebenfalls eine mit dem Namen «Stadtindianer». Sie hat eigentlich nur ein politisches Anliegen, nämlich die «Legalisierung aller zärtlichen sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern».