Mein Vater blutet Geschichte: Neue Formen der Erinnerung und der Holocaust mit Katzen und Mäusen

Auch in dem Comic des New Yorker Autors und Zeichners Art Spiegelman, der im Jahr 1986 erscheint, geht es um die Vergangenheit und um unser Bild von ihr; es geht darum, wie die Gegenwart geprägt wird von der Geschichte, wie man diese Geschichte erzählt und erinnert – und wie die Vergangenheit der Eltern und Großeltern das eigene Leben bestimmt.

Art Spiegelman zeichnet die Leidensgeschichte seines Vaters Wladek, geboren 1908 im polnischen Tschenstochau, während der nationalsozialistischen Herrschaft. Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen wird Wladek in ein Ghetto deportiert. Er entkommt und versteckt sich in einem Verschlag; er wird entdeckt, interniert und entkommt wieder; beim Versuch, über die ungarische Grenze zu gelangen, fasst ihn die Gestapo; schließlich wird er nach Auschwitz gebracht. Dort sieht er die Leichenberge und die Schornsteine – «Ich war ein Augenzeuge», sagt er später zu seinem Sohn. Bei der Zwangsarbeit ist er oftmals dem Tode nah, aber es gelingt ihm zu überleben. Nach dem Ende des Krieges findet er in einer langen Odyssee zu seiner Frau Anja zurück. Die beiden emigrieren zunächst nach Schweden, wo 1948 der zweite Sohn Art geboren wird (den ersten Sohn, Richieu, hat seine Tante vergiftet, um ihn vor den Gaskammern zu bewahren). Anfang der fünfziger Jahre geht die Familie in die USA. 1968 nimmt sich Anja das

«My Father Bleeds History»: So heißt der erste von zwei Bänden, die Art Spiegelman unter dem Namen «MAUS – A Survivor’s Tale» herausbringt; in Fortsetzungen ist die Geschichte schon seit 1980 in dem Comicmagazin «RAW» veröffentlicht worden. Die Protagonisten dieser Geschichte sind, wie der Titel andeutet, Mäuse in Menschengestalt. Oder genauer gesagt: Alle jüdischen Menschen, die in «MAUS» auftreten, sind als Mäuse gezeichnet und alle nichtjüdischen Deutschen als Katzen. Damit variiert Spiegelman eine Idee, die sich vielfach in der Geschichte der Comics findet. Schon die erste populäre Comic- und Zeichentrickmaus, Mickey Mouse von Walt Disney, hat ihren Erzfeind in einem Kater, dem einbeinigen Peg-Leg Pete, auf Deutsch: Kater Karlo. Von den Vierzigern bis in die sechziger Jahre erfreuen sich die kurzen Zeichentrickfilme der «Tom-and-Jerry»-Serie großer Beliebtheit, in der ein fieser und hungriger Kater ebenso unablässig wie erfolglos einer kleinen Maus nach dem Leben trachtet. In der Ära der Underground Comix, in der Spiegelman seine Karriere als Zeichner begonnen hat, werden Tierfiguren wie Fritz the Cat von Robert Crumb zu Verkörperungen der moralischen und politischen Entfesselung: Sie leben ungehindert ihre animalischen Triebe aus, was normalen Menschen durch die Konventionen der Gesellschaft versagt scheint.

In «MAUS» sind es zunächst ästhetische Konventionen, die gebrochen werden. Dass das undarstellbare Grauen der Shoah in Form eines Comics dargestellt werden soll, erscheint manchen Zeitgenossen in den achtziger Jahren zunächst als Trivialisierung und Obszönität. In einem der ersten Interviews zu «MAUS» wird

In Wahrheit geht es Spiegelman um etwas anderes, wie man beim Betrachten und Lesen von «MAUS» schnell bemerkt. Denn er zeichnet nicht einfach die Deutschen als Katzen und die Juden als Mäuse. Er zeichnet sich auch selber dabei, wie er über diese Zuordnungen nachdenkt und über die Paradoxien, die sie notwendig erzeugen: Wie zeichnet man einen Juden, der sich vor seinen Verfolgern erfolgreich als Deutscher ausgibt? Wie zeichnet man einen Deutschen, der für einen Juden gehalten wird und «irrtümlich» im Konzentrationslager landet? Wie soll er seine Frau Françoise zeichnen, die gebürtige Französin ist? Als Frosch? Oder als Maus, weil sie Arts Vater zuliebe vor ihrer Hochzeit zum Judentum konvertiert ist? Und wie soll er, Art Spiegelman, sich selber zeichnen? Zeit seines Lebens hat er versucht, der Festlegung auf seine «jüdische Identität» zu entkommen. In einer Szene des zweiten Bands von «MAUS» erzählt Spiegelman davon, wie er mit dem unerwarteten Erfolg des ersten Bands konfrontiert wird. Reporter befragen ihn zur «Botschaft» seines Comics, zum «Judentum heute», zu seinem Verhältnis zum Staat Israel. So ist er zu dem geworden, was er nie werden wollte: zu einem Vorzeigejuden. Er zeichnet sich selber nun nicht mehr als Maus, sondern als Menschen, der eine Maus-Maske vor dem Gesicht trägt.

In dieser Szene findet sich der Schlüssel zum gesamten Werk

Dem Rassisten und Antisemiten erscheint der als minderwertig erachtete Mensch nicht als Individuum, nicht als Person mit einer Vielfalt von individuellen Merkmalen, sondern lediglich als Exemplar seiner Rasse. Die rassistische Identifizierung überdeckt all das, was sonst noch zur Identität eines Menschen gehört. Wer sich davon befreien will, der muss versuchen, die Maske abzulegen, die ihm der Rassismus aufgesetzt hat. Aber was hinter der Maske ist: Das wird von Spiegelman in «MAUS» nicht sichtbar gemacht, weil dieser Comic eben auch davon handelt, dass man der Geschichte nicht entkommen kann. Man kann lediglich versuchen, sie in ihrer Bedeutung für die eigene Gegenwart zu verstehen. Immer wieder zeigt Spiegelman sich darum selbst bei dem Versuch, die Erinnerungen seines Vaters, die ihm dieser auf Tonband gesprochen hat, in Zeichnungen umzusetzen; er nutzt historische Fotografien als Folien, Lagepläne von Konzentrationslagern, alte Familienbilder. Und lässt doch nie einen Zweifel daran, dass er kein authentisches Bild der Vergangenheit abzuliefern vermag, sondern lediglich eine Annäherung. Man kann die Geschichte nicht in realistischer Weise dokumentieren und archivieren. Man kann nur versuchen, sie für die Gegenwart und die Zukunft aufzuheben und zu bewahren: So versucht Spiegelman, das Trauma zu verstehen und durchzuarbeiten, das die Identität der Opfer bis in die folgenden Generationen prägt.

 

Auf Deutsch erscheint «MAUS» 1989; ein Jahr später treffe ich Spiegelman zum ersten Mal, als er beim Comic-Salon Erlangen

Entsprechend reserviert wird Spiegelman vom Publikum aufgenommen. Doch hat das Ressentiment noch einen anderen, tieferen, politischen Grund. Bei seiner Dankesrede sagt Spiegelman: «Es ist eine sonderbare Sache für mich als Juden: hier in Deutschland zu sein, um einen Preis entgegenzunehmen dafür, dass ich beschreibe, wie Ihre Eltern und Großeltern dazu beigetragen haben, meine Großeltern und ihre Familie zu ermorden.» Um mich herum erhebt sich im Saal Gemurre. «Oh, jetzt fühle ich mich aber schuldig», sagt ein Mann. Und ein anderer: «Was haben wir denn noch damit zu tun?» – «Damit muss doch jetzt endlich einmal Schluss sein.»

Die deutsche Ausgabe des Comics «MAUS», in dem der New Yorker Zeichner Art Spiegelman vom Leidensweg seines Vaters Wladek erzählt. Spiegelman zeichnet die Juden als Mäuse und die Deutschen als Katzen. Ob er das nicht geschmacklos finde, fragt ihn ein Interviewer. «Nein», antwortet Spiegelman: «Wenn etwas geschmacklos war, dann war es der Holocaust.»

Dass mit der Erinnerung an die industrielle Massenvernichtung «jetzt endlich einmal Schluss sein muss»: Zu dieser Auffassung sind weite Teile der deutschen Bevölkerung schon unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelangt. Die FDP fordert im Bundestagswahlkampf 1949 auf einem Plakat «Schlussstrich drunter» und meint damit: «Schluss mit Entnazifizierung,

Für die Mehrheit der Deutschen, für die konservativen und natürlich erst recht für die rechtsradikalen Parteien gilt bis in die achtziger Jahre, was Ralph Giordano in seinem 1986 erschienenen, gleichnamigen Buch als «zweite Schuld» bezeichnet hat: «die Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld unter Hitler nach 1945 beziehungsweise 1949, samt ihren Folgen bis in unsere Gegenwart». Unterdessen wird auf der linken Seite des politischen Spektrums zwar viel moralische Empörung laut, um die Generation der Väter und Großväter als nationalsozialistische Mörder abzuurteilen oder jedenfalls als Mitläufer und willige Untertanen des Nationalsozialismus. Doch auch hier folgt daraus wenig oder keine Empathie für die Überlebenden des Holocaust. Man ist viel zu beschäftigt damit, «die Juden» ein weiteres Mal zur Speerspitze des Finanzkapitalismus, des Kolonialismus und Imperialismus zu erklären. Dass der «Zionismus», der zur Gründung des Staates Israel geführt hat, nichts anderes ist als ein «neuer Faschismus» und entsprechend mit allen Mitteln bekämpft werden muss, ist eine allgemein geteilte Grundannahme in der deutschen Linken der

Wie wenig sich die Generation der 68er in Wahrheit für das Leid jüdischer und anderer Menschen unter der nationalsozialistischen Herrschaft interessiert hat, sieht man daran, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung in den Siebzigern keineswegs intensiver betrieben wurde als in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten. «Trotz der Eichmann- und Auschwitz-Prozesse waren Ausstellungen zur Judenverfolgung, öffentliche Erinnerungen an die Opfer oder Bücher dazu rar», resümiert der Historiker Frank Bösch die Situation am Ende der Siebziger in seinem Buch «Zeitenwende 1979»; auch habe es «außerhalb der KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen und Dachau noch kaum Lernstätten» gegeben. Auf den Gedanken, eine zentrale Gedenkstätte für die Verfolgten und Ermordeten zu errichten, ist seit Gründung der Bundesrepublik noch keine Bundesregierung gekommen, auch keine sozialdemokratische; aus der linken Gegenkultur werden ebenso wenig entsprechende Forderungen erhoben. Die Erfahrungen, die Geschichten der Opfer, die Erinnerungen der Überlebenden spielen weder links noch rechts eine Rolle.

Das ändert sich erst an der Wende zu den achtziger Jahren, und auch dafür muss der Impuls erst von außen kommen. Die vierteilige US-amerikanische Fernsehserie «Holocaust» erzählt in seriengerechter Dramaturgie und melodramatischer Form vom Leidensweg und von der Ermordung einer jüdischen Arztfamilie sowie von der Karriere eines SS-Manns, dessen Schicksal mit dem der Familie verflochten ist. Bei der Erstausstrahlung 1978 in den USA schalten

Die Serie soll im Ersten Programm der ARD laufen. Da aber der von der CSU beherrschte Bayerische Rundfunk damit droht, aus dem Senderverbund auszusteigen, werden die vier Folgen dann zeitgleich in den Dritten Programmen gezeigt. Einige Tage vorher verübt eine Gruppe mit dem Namen «Internationale revolutionäre Nationalisten» zwei Anschläge auf Fernsehsendemasten, woraufhin Hunderttausende Zuschauer kurzzeitig keinen Empfang haben. Beim Sendetermin werden viele Masten gesondert geschützt, wie auch das Funkhaus des WDR, der für die Ausstrahlung verantwortlich ist.

Zur allgemeinen Überraschung wird «Holocaust» zu einem enormen Erfolg: Über zwanzig Millionen Menschen sehen sich eine Folge oder mehr an und 5,3 Millionen die gesamte Serie. Im Anschluss laufen Diskussionssendungen, an denen die Zuschauer sich telefonisch beteiligen können; der WDR verzeichnet «mehrere zehntausend Anrufe». Der Tenor ist positiv, viele Zuschauer und Zuschauerinnen berichten von Erschütterung, Scham und davon, dass man das ja alles nicht gewusst habe. Bei einer Umfrage der Bundeszentrale für politische Bildung, die im folgenden Mai veröffentlicht wird, werten 41 Prozent der Befragten die Serie als «wichtiges Erlebnis». 64 Prozent geben an, sie hätten

So gelingt einer vermeintlichen trivialen Serie, woran Politiker, Historiker und auch alle Kritiker der Vergangenheits- und Schuldverdrängung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gescheitert sind – oder woran sie schlicht kein Interesse hatten. «Holocaust» entfacht einen «Geschichtssturm», wie es der Philosoph Günther Anders in seinen «Tagesnotizen» 1979 formuliert: «Nun erst sind die Deutschen in die Nach-Hitler-Ära eingetreten. Reiter über den Bodensee hatte es nicht gegeben, im Jahre 45 sind sie nicht erschrocken. Weder durch Trauer noch durch Reue noch durch Kritik haben sie an die zwölf Jahre, die hinter ihnen lagen, angeknüpft. Das Jahr 78 ist eigentlich das Jahr 45, da der Schock, der im Jahre 45 hätte eintreten müssen, nun erst eingetreten ist.»

Jetzt wird auch der Ausdruck «Holocaust» zum sprachlichen Allgemeingut in Deutschland, nachdem bis dahin meist noch – in Übernahme der nationalsozialistischen Terminologie – von der «Endlösung» die Rede war. Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählt «Holocaust» 1980 zum «Wort des Jahres»; bis es in den Duden aufgenommen wird, dauert es wiederum noch einige Zeit, bis 1986. In den folgenden Jahren kommt es zu einer «Inflation neu errichteter Mahnmale und Gedenkstätten», wie der Historiker Andreas Wirsching in seinem Buch «Abschied vom Provisorium» schreibt. «Die Gedenkstätte Dachau erfuhr einen nie dagewesenen Besucherzulauf; die Gedenkstätten Bergen-Belsen und Neuengamme wurden erweitert und konzeptionell neugestaltet. Und in unzähligen Großstädten, kleineren Zentren und Dörfern konkretisierten lokale Initiativen, Schülergruppen und ‹Geschichtswerkstätten› die örtliche NS-Vergangenheit, entwanden die Opfer der

 

Die christlich-liberale Bundesregierung, ab Oktober 1982 geführt von Helmut Kohl, betrachtet diese Entwicklung eher reserviert. Zwar versucht Kohl, anders als seine Vorgänger, gerade auch in der Geschichtspolitik eigene Akzente zu setzen; doch bemüht er sich vor allem darum, den Nationalsozialismus als vorübergegangene Epoche in der deutschen Geschichte einzuordnen. «Eine junge deutsche Generation begreift die Geschichte nicht als Last, sondern als Auftrag für die Zukunft. Sie ist bereit, Verantwortung zu tragen. Aber sie weigert sich, sich selbst kollektiv für die Taten der Väter schuldig zu bekennen.» So sagt Kohl es ausgerechnet bei seinem ersten Staatsbesuch in Israel im Januar 1984, und bei einer Rede vor der Knesset fügt er hinzu: «Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die Gnade der späten Geburt und das Glück eines besonderen Elternhauses gehabt hat.»

Ein Jahr später, am 5. Mai 1985, kurz vor dem vierzigsten Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945, legt Kohl gemeinsam mit dem US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof im rheinland-pfälzischen Bitburg Kränze nieder. In der Nähe von Bitburg gibt es einen amerikanischen Luftwaffenstützpunkt, hier kam es in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu vielen Kontakten zwischen den Besatzern und der einheimischen Bevölkerung, viele deutsch-amerikanische Ehen wurden geschlossen, deswegen hat Kohl den Friedhof als Ort der Versöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern gewählt. Im Vorfeld der Veranstaltung wird jedoch öffentlich, dass auf dem Friedhof auch Angehörige der Waffen-SS liegen. Kohl besteht darauf, die Zeremonie durchzuführen, trotz erheblicher Kritik aus Deutschland, den USA und aus Israel. Ronald Reagan willigt schließlich

Nachdem sich Helmut Kohl in Israel auf die «Gnade der späten Geburt» berufen hat, besucht er aus Anlass des vierzigsten Jahrestages der deutschen Kapitulation im Mai 1985 gemeinsam mit Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS liegen. Dieser symbolische Akt sorgt weltweit für Empörung.

Der Philosoph Jürgen Habermas hat diesen Besuch als exemplarisch für jenen historischen «Revisionismus» beschrieben, der die konservative Geschichtspolitik in den achtziger Jahren prägt. Dabei gehe es darum, die deutsche Geschichte so umzudeuten, dass der Nationalsozialismus sich zu einer Episode verkleinert – und die Deutschen auf diese Weise «nationales Selbstvertrauen zurückgewinnen» können. So formuliert es Habermas in einem Essay

Diesem geschichtspolitischen Revisionismus entspricht der Versuch konservativer Intellektueller, den Holocaust zu einem unter vielen Ereignissen in einer langen Geschichte der Gewalt und des Krieges zu erklären und damit zu relativieren. Schon 1980 klagt der Philosoph und Historiker Ernst Nolte in einem Beitrag für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» darüber, dass die Stilisierung des Dritten Reichs zum «negativen Mythos» eine unvoreingenommene historische Beschäftigung erschwere; es sei an der Zeit, das Dritte Reich «gleichwohl im Ganzen in eine neuartige Perspektive hineinzustellen». Man müsse einen «Schlussstrich» ziehen unter seine «Isolierung, Instrumentalisierung und Dämonisierung» und es stattdessen als Episode in der «universalen Unterdrückungsgeschichte der Menschheit» betrachten. Schließlich trage «jede gegliederte und herrschaftsmäßig organisierte Gesellschaft einen

In einem sechs Jahre später ebenfalls in der FAZ erschienenen Text mit dem Titel «Vergangenheit, die nicht vergehen will» führt Nolte die historische Revision und Relativierung noch weiter. Nunmehr erscheinen Nationalsozialismus und Holocaust nicht mehr bloß als ein Gewaltereignis unter vielen – sondern sogar lediglich als eine Reaktion auf eine andere, ursprünglichere Katastrophe: den «Klassenmord der Bolschewiki». «War nicht der ‹Archipel GULag› ursprünglicher als Auschwitz?», fragt Nolte. «Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‹asiatische Tat› vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‹asiatischen Tat› betrachteten?»

Dieser Text erscheint sieben Jahre nach der Ausstrahlung der Serie «Holocaust» und inmitten der neu erwachten Beschäftigung der Westdeutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Er erscheint im selben Jahr wie Art Spiegelmans «MAUS» und kurz nach der Premiere des Films «Shoah» von Claude Lanzmann, in dem Zeitzeugen der Vernichtung, Überlebende aus den Ghettos und Konzentrationslagern befragt werden. «Das kollektive Gedächtnis erzeugt ungerührt auf der Täterseite andere Phänomene als auf der Seite der Opfer», schreibt Jürgen Habermas dazu in einem Essay mit dem Titel «Vom öffentlichen Gebrauch der Historie», der im November 1986 in der «Zeit» erscheint. «Saul Friedländer hat beschrieben, wie sich in den letzten Jahren eine Schere öffnet zwischen dem Wunsch auf deutscher Seite, die Vergangenheit zu normalisieren, und der noch intensiver werdenden Beschäftigung mit dem Holocaust auf jüdischer Seite.» In «Eine Art Schadensabwicklung» reagiert Habermas ausdrücklich auf Ernst Noltes revisionistische Version der Geschichtsschreibung und wirft ihm vor, mit der Relativierung des Holocaust die Deutschen

Aus diesem in Leserbriefen und weiteren Artikeln fortgeführten Schlagabtausch zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas entspinnt sich eine Debatte, die rückblickend als «Historikerstreit» bezeichnet wird. Zahlreiche andere Historiker und auch einige Journalisten beteiligen sich daran; Frauen sind dabei noch weniger zugegen als bei dem eingangs erwähnten Comic-Salon, genau genommen keine einzige. Für die Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wird der Historikerstreit zu einer bewusstseinsprägenden Auseinandersetzung. Es geht hier nicht nur um gegensätzliche Geschichtsbilder, sondern auch um die Frage, ob die nachgeborene Generation der Deutschen für die Taten ihrer Väter und Mütter verantwortlich ist oder ob sie sich, wie Helmut Kohl es gern möchte, auf die «Gnade der späten Geburt» herausreden kann. Daneben geht es noch einmal um das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver, in diesem Fall nationaler Identität – und um die Frage, ob die Menschen nicht auch ohne die Identifikation mit einer Nation glücklich und selbstbestimmt werden können.

Denn die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen zielt ja auf nichts anderes als auf die Wiederherstellung eines unbelasteten Nationalgefühls und Patriotismus. Für Habermas hingegen ist der einzige Patriotismus, der angesichts der deutschen Geschichte noch denkbar ist, ein «Verfassungspatriotismus»: also einer, der nicht mehr auf ethnischen oder nationalistischen Symbolen und Traditionen, Mythen und kollektiven Identifizierungen gründet – sondern vielmehr auf gemeinsamen Werten wie Pluralismus und Demokratie. Entscheidend sei «eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien», wie Habermas in «Eine Art Schadensabwicklung» schreibt. «Wenn

Werde die Schuld der Elterngeneration anerkannt, so hofft Habermas, könnten sich ein für alle Mal auch die Gespenster des Nationalismus bannen lassen, die zum Zivilisationsbruch des Holocaust geführt haben. Wir wissen heute, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllt hat, im Gegenteil: Der ethnisch begründete Patriotismus, die «naiven Identifikationen mit der eigenen Herkunft» sind mit Macht zurückgekehrt. In Deutschland wollen die neuen Rechten und Rechtspopulisten die Shoah zu einem «Vogelschiss» in der nationalen Geschichte erklären. Der linke Antisemitismus hat in Gestalt seiner «postkolonialen» Revision einen neuen Anlauf genommen; ganz im Sinne Ernst Noltes soll die Shoah hier nur noch als eine Episode unter vielen in der «universalen Unterdrückungsgeschichte der Menschheit» betrachtet werden. Wie so oft beim Blick in die achtziger Jahre hat man auch hier das Gefühl, dass die Debatten und ideologischen Fronten sich seither in keiner Weise verändert haben.

Aus Art Spiegelmans Comic «MAUS» kann man lernen, dass die Frage nach der eigenen Identität unauflöslich verbunden bleibt mit der Geschichte. In diesem Fall: mit den Traumata der vorangegangenen Generationen und mit der bleibenden Realität des Rassismus. An dieser findet aber auch die in den Achtzigern so verbreitete Utopie der Befreiung von Identitätszuschreibungen ihre Grenze. Selbst wenn man weiß, dass Identität nichts anderes ist als ein Maskenspiel, hat man damit noch lange nicht den Kampf mit jenen Mächten gewonnen, die einem immer neue Masken aufsetzen wollen – weil eine Welt ohne Identitäten und Identifizierung das Ende ihrer eigenen Privilegien und Herrschaft bedeuten muss.