Auch sonst ist es verfrüht, bereits 1988 vom «Tod der Yuppies» zu sprechen, wie Hendrik Hertzberg es in seinem Artikel im «Esquire» tut. Denn auf vielerlei Weise zeigt sich in ihnen eine kulturelle Verschiebung, die bis in unsere Gegenwart reicht: die Entstehung einer Gesellschaft, in der Wissen, Information und Kommunikation zu entscheidenden Gütern aufsteigen, und damit auch jene besondere Form der Individualisierung, in der die wesentliche Erbschaft der achtziger Jahre besteht. Am Beginn der begrifflichen Karriere des Yuppies stehen die «Social-Networking»-Abende, die Jerry Rubin in New York organisiert. Seither ist uns Networking – oder neudeutsch auch: Netzwerken – als wesentlicher Bestandteil des biographischen Fortkommens erhalten geblieben. Mit den «sozialen Netzwerken» im Internet, mit Facebook und Instagram, Xing und LinkedIn, hat sich diese Bedeutung noch einmal vergrößert, bis hin zu der – allen beruflichen Karriereabsichten vorgängigen – flächendeckenden Selbstinszenierung der Menschen in jeder nur denkbaren, auf Portalen wie Tinder etwa auch erotischen Vernetzungshinsicht.
«Der wichtigste Gebrauchsgegenstand, den ich kenne, ist die Information», sagt Gordon Gekko 1987 in «Wall Street». «Kontakte sind wichtiger als jedes Wissen», lautet dreißig Jahre später das Credo der Internet-Networking-Seite LinkedIn. Schon in den Achtzigern haben zwei der wichtigsten Statussymbole mit Vernetzung und Selbstinszenierung, mit Kommunikation und Organisation zu tun: der Filofax und das Mobiltelefon. Letzteres ist heute allgegenwärtig, der Filofax hingegen ist inzwischen weitgehend vergessen. Aber auch in diesem Gadget zeigt sich der epochale Umbruch, der von der Kultur der Yuppies und ihren Lifestyle-Accessoires ausgeht.
Zunächst handelt es sich beim Filofax um ein einfaches Ringbuch, in das Einlagen unterschiedlichster Art eingeheftet werden können: Tages-, Wochen- und Monatskalender; Adressverzeichnisse und Plastikhüllen für die Visitenkarten, die man bei Networking-Veranstaltungen einsammelt; schlicht linierte oder karierte Seiten für die Aufzeichnungen aus dem letzten Meeting oder die «To-do-Listen» für die kommenden Tage; ausfaltbare Leporellos mit der Weltkarte und ihren Zeitzonen, damit man auch bei den internationalen Geschäftstelefonaten immer weiß, wie viel Uhr es am anderen Ende der Leitung ist. Mit dem Filofax kann man das berufliche Leben ebenso planen und «organisieren» wie das private; es zeigt sich darin aber auch – und das ist das Interessante –, wie die Grenze zwischen dem privaten und dem beruflichen Leben in den Achtzigern zu verschwimmen beginnt.
Denn der Filofax ist nicht nur ein Instrument der individuellen Planung und Zeitgestaltung, sondern auch Ausdruck und Spiegel einer zunehmend geplanten und gestalteten Individualität. Im Lauf der Achtziger wird der Kernbereich der Ringbucheinlagen durch solche Varianten ergänzt, in denen vor allem der besondere Geschmack, die besonderen Talente des Filofax-Besitzers zur Geltung gelangen. Großer Beliebtheit erfreuen sich zum Beispiel Weinverkostungseinlagen; hier kann man notieren, auf welcher Party man welchen Wein getrunken hat, wer einem dabei Gesellschaft leistete und wie der Wein schmeckte. Auf die gleiche Weise lässt sich der Filofax aber auch mit Bewertungen von Restaurants, Bars, Galerien und Museen füllen, sodass er sich zu einem vollständigen biographischen Profil – oder eben auch: Wunschprofil – seines Besitzers oder seiner Besitzerin aufrüsten lässt. In vielerlei Hinsicht fungieren die Filofaxe also als Frühformen jener «öffentlichen Profile», mit denen die Menschen sich zwanzig Jahre später in den sozialen Netzwerken des Internets präsentieren werden.
Je wichtiger die Yuppies als gesellschaftliches Phänomen werden – und je mehr Menschen sich mit den Insignien der urbanen Eliten schmücken wollen, ob sie selber nun dazugehören oder nicht –, desto mehr Filofaxe werden verkauft. Im Jahr 1980 macht das in London ansässige Unternehmen Filofax, Ltd. einen Umsatz von 100000 britischen Pfund (was damals etwa 450000 D-Mark entspricht), im Jahr 1986 sind es schon sechs Millionen Pfund (etwa neunzehn Millionen D-Mark). Dass der Filofax inzwischen zum Statussymbol geworden ist, zeigt sich an den extravaganten Luxus-Ausführungen: Der konventionelle Kunstledereinband wird durch echtes Leder ersetzt oder auch – je nach Zielgruppe und Absatzmarkt – durch Straußen-, Eidechsen- oder Krokodilleder (Kostenpunkt für letztere Variante: 940 US-Dollar). Ein Reporter der Nachrichtenagentur AP berichtet 1987 von Filofaxen, die in die Haut der Javanischen Warzenschlange eingebunden werden oder «in ein Rentierfell, das aus einem vor zweihundert Jahren gesunkenen dänischen Schiff geborgen wurde und das noch nach dem Teerpapier riecht, in dem es konserviert wurde».
In dem Film «Filofax – Ich bin du und du bist nichts» (im Original «Taking Care of Business») aus dem Jahr 1990 spielt James Belushi einen entflohenen Sträfling, der den Filofax eines erfolgreichen Yuppies findet und mit dessen Hilfe für ein paar Tage komplett die Identität seines Besitzers übernimmt. Er geht zu Geschäftsterminen und mietet sich in der Luxusvilla eines Werbemanagers ein – während der echte Besitzer ohne den Terminkalender und die Adressdateien in seinem Filofax nicht mehr in der Lage ist, sich zurechtzufinden. Auf den heutigen Betrachter wirkt der Film gleichermaßen antiquiert wie aktuell. Dass sich die Identität eines Menschen vollständig in einem lederbezogenen Ringbuch aufbewahren lässt – bis hin zum Identitätsverlust bei Verlust dieses Buches –, wirkt dreißig Jahre später so befremdlich, dass man manche Szenen des Films kaum noch versteht. Andererseits ist die Idee, dass sich die Identität eines Menschen in Kontakten und Listen, in einem Datensatz also, erfassen lässt, heute gegenwärtiger denn je; nur dass an die Stelle des Filofax eben das Mobiltelefon getreten ist.
Wobei man wiederum auch dessen erste Prototypen bei den Yuppies der achtziger Jahre antrifft. Nur dass es sich dabei um Geräte handelt, mit denen man ausschließlich das tun kann, wozu Telefone einmal gedacht waren – telefonieren –, und die sich von späteren Mobiltelefonen durch ihre im Vergleich geradezu gewaltige Größe unterscheiden. So sieht man Charlie Sheen als Bud Fox in «Wall Street» auf dem Höhepunkt seines Erfolgs mit einem solchen Gerät telefonieren. Es ist etwa so groß wie ein Schenkelknochen und sieht aus, als ob man es eigentlich mit zwei Händen festhalten müsste. «Knochen» wird denn auch zur verbreiteten umgangssprachlichen Bezeichnung dafür. Das Modell, das Bud Fox und auch sein Yuppie-Vorbild Gordon Gekko benutzen, ist das Motorola DynaTAC 8000x, das erste allgemein erhältliche Mobiltelefon; es kommt im Jahr 1984 auf den Markt und kostet zu diesem Zeitpunkt stolze viertausend US-Dollar. Das DynaTAC 8000x wiegt ein knappes Kilo und ist – ohne seine Antenne – fünfundzwanzig Zentimeter lang, der Akku reicht gerade einmal für eine halbe Stunde und muss danach einen halben Tag lang wieder aufgeladen werden. Auf dem schmalen Display leuchten lediglich die gerade gewählten Ziffern, und in den Speicher passen maximal dreißig Rufnummern.
Was heute geradezu paläolithisch wirkt, erscheint den Zeitgenossen Mitte der Achtziger wie die äußerste Ausprägung des technischen Fortschritts, darum etabliert sich das DynaTAC 8000x zügig als Statussymbol. Trotz des hohen Preises werden schon innerhalb des ersten Jahres 300000 Stück davon verkauft. Man sieht es nicht nur in «Wall Street», auch in einer «Dallas»-Folge aus jener Zeit lässt sich J. R. Ewing einen solchen Knochen zum Telefonieren an den Swimmingpool reichen; und natürlich zählt der elegant gekleidete Edel-Ermittler Sonny Crockett aus der Fernsehserie «Miami Vice» zu den «early adopters». Wobei er und sein Kollege Ricardo Tubbs (gespielt von Don Johnson und Philip Michael Thomas) sich zum Zweck der mobilen Kommunikation zunächst noch des überdimensionierten Autotelefons bedienen, das in Crocketts Ferrari eingebaut ist. Erst in späteren Folgen wird das DynaTAC 8000x zu Crocketts ständigem Begleiter; geradezu ikonisch sind die Bilder, die ihn beim Mobiltelefonieren auf seiner Yacht zeigen, während er gedankenverloren in die Ferne blickt und zugleich die Schnauze seines Haustier-Alligators Elvis streichelt.
Für die Yuppies wird das Mobiltelefon schon deswegen zum beliebtesten Gadget, weil es Reichtum und Exklusivität demonstriert. Doch wird es auch zum Symbol einer Elite, die sich bewusst über räumliche Beschränkungen erheben will – einer Elite, die sich an jedem beliebigen Ort der Welt aufhalten kann und doch immer nur mit ihresgleichen kommuniziert, also mit all jenen Menschen, die ebenso wohlhabend sind wie man selber und sich daher auch ein Mobiltelefon leisten können. Wir haben uns inzwischen längst daran gewöhnt, dass Menschen mit Smartphones am Ohr oder vor den Augen mit ihrer Aufmerksamkeit gerade ganz woanders sind als an dem Ort, an dem sie sich körperlich aufhalten; dass sie, wie vor ihnen nur Sonderlinge oder Autisten, blind für ihre reale Umgebung sind und sich, scheinbar mit sich selbst sprechend, in virtuellen Räumen aufhalten. In der zweiten Hälfte der Achtziger ist dies noch ein ganz neues Phänomen. Wer hier in sein Mobiltelefon spricht, zieht damit deutlich einen Kreis um sich und gegen seine Umgebung und beweist Macht über seine räumliche Gebundenheit. Diese Geste entspricht der besonderen Weise, in der die Yuppies den urbanen Raum erobern: Sie wollen in den Zentren der Städte leben – aber nicht, um in der Vielfalt der dort bereits ansässigen Menschen aufzugehen, sondern um sich in diesen Zentren eigene Räume, eigene soziale Netzwerke zu schaffen, in denen sie von der Außenwelt genauso abgeschirmt sind wie in den luxuriösen Landsitzen, in die sie sich am Wochenende zurückziehen.
Dieser Kosmopolitismus schlägt sich auch in den Ernährungsgewohnheiten der Yuppies nieder. Die von ihnen bevorzugten Lebensmittel sollen möglichst international und weltläufig wirken. Nicht umsonst illustriert der «Esquire» seinen Abgesang auf die Yuppiekultur, wie schon erwähnt, mit einem Bild von Michael J. Fox vor einer opulent angerichteten Platte mit Sushi. Als Bud Fox in «Wall Street» endlich in der luxuriösen Dachwohnung mit Blick auf den Central Park angelangt ist, gehören zur Grundausstattung seiner Kücheneinrichtung zwei Apparaturen, von denen die eine zur Zubereitung von Sushireis dient und die andere zum Selbermachen von Spaghetti oder – wie man in den gehobenen Kreisen in dieser Zeit zu sagen beginnt – Pasta. Bud und seine neue Freundin zelebrieren den Einzugsabend mit einer Platte selbstverfertigter Sushi. «Das ist so schön, dass man es gar nicht essen möchte», sagt er zu ihr. «Komm, wir schauen es uns einfach nur an.» Danach gehen sie miteinander ins Bett.
Farbliche Vielfalt, ästhetisches Erscheinungsbild und geschmackvolle Darbietung werden in dieser Zeit zu wesentlichen Kriterien für die ambitionierte Küche. Die Portionen werden kleiner, der Weißraum auf den Tellern wird größer, das ideale Dinner besteht aus einer kleinen Scheibe Fleisch, ein paar Karottenschnitzen, vielleicht noch der einen oder anderen Erbse und ein paar geschwungenen Linien Balsamico drumherum. In einer Szene aus Tom Wolfes «Fegefeuer der Eitelkeiten» wird ein typisches Geschäftsessen beschrieben: Ein Gericht nennt sich «Kalbfleisch Boogie Woogie, und wie sich herausstellte, bestand es aus Kalbfleisch-Rechtecken, kleinen Quadraten aus sehr aromatischen Äpfeln und Linien aus pürierten Walnüssen, die so angeordnet waren, dass sie wie Piet Mondrians Gemälde ‹Broadway Boogie Woogie› aussahen». Ein anderes Gericht heißt «Médaillons de selle d’agneau Mikado; das waren vollkommen rosafarbene Lammrücken-Ovale mit winzigen Spinatblättchen und geschmorten Selleriestengeln, die zur Form eines japanischen Fächers arrangiert waren».
Der gereichte Käse stammt bevorzugt von Tieren, die das breite Publikum bis dahin nicht als Käseproduzenten betrachtet hat, zum Beispiel von Ziegen: Kein Yuppie-Menü kommt ohne Ziegenkäse aus, am besten in Gestalt eines kleinen Klackses auf einem sehr großen Teller, über den ein wenig roter Pfeffer geraspelt wird. Büffel werden als milchgebende Tiere entdeckt; ein auch als Caprese bezeichneter Salat aus Büffelmozzarella, Tomatenscheiben, Basilikumblättern und Olivenöl wird – bis dahin undenkbar – zu einer vollwertigen Mittagsmahlzeit erhoben. Dies ist vielleicht, weit über das Ende der Yuppie-Ära hinaus, die nachhaltigste kulinarische Innovation jener Zeit – zusammen mit einer weiteren, ebenfalls aus Italien stammenden Lebensmittelidee: dem sogenannten Pesto. Dabei handelt es sich um eine Sauce aus Basilikum, Parmesan, Pinienkernen, Olivenöl und variablen anderen Zutaten, deren Geschichte sich bis zu den alten Römern zurückverfolgen lässt. Zwar ist in den USA schon Frank Sinatra als Werbeträger für sie aufgetreten, doch verlässt sie das engere Gehege der italoamerikanischen Küche erst in den Achtzigern, als die Yuppies sie als «authentisch» italienische Zutat entdecken und entweder mit Pasta oder – den als solchen bis dahin ebenfalls weithin unbekannten – getrockneten Tomaten und grünem Spargel zu Salat kombinieren. «Restaurants sind für die Menschen in den Achtzigern, was Theater für die Menschen in den Sechzigern war», so formuliert es der Yuppie-Journalist Jess in dem 1989 erschienenen Film «Harry und Sally», «und Pesto ist die Quiche der Achtziger.»
Während das Abendessen in geselliger, sozial und professionell relevanter Networking-Runde also theatralisch inszeniert und überhöht wird, schwindet die Bedeutung des Mittagessens, das in früheren Generationen noch selbstverständlich den Tag strukturierte. Das gilt nicht nur für die Yuppies, aber für diese besonders: «Mittagessen? Nur Flaschen essen zu Mittag!», herrscht Gordon Gekko in «Wall Street» seinen jungen Adlatus an. In der Hektik des Börsentags ist keine Zeit für eine längere Unterbrechung, und wer den Gipfel des Erfolgs noch nicht erreicht hat und kein Hauspersonal besitzt, der muss sich auch abends, während der bis tief in die Nacht reichenden Überstunden, noch selber mit warmen Mahlzeiten versorgen. In der Öffentlichkeit werden die Mahlzeiten auch in zeitlicher Hinsicht immer verschwenderischer; im häuslichen Rahmen kann es mit dem Kochen und Essen gar nicht schnell genug gehen. Dabei helfen Pizza-Services und andere Lieferdienste, die in den Achtzigern einen enormen Aufschwung erleben; selbst in dem kulinarisch immer etwas rückständigen Deutschland wird 1984 mit «Call A Pizza» das erste Unternehmen dieser Art gegründet. Aber auch der Umsatz mit Fertiggerichten wächst in den Achtzigern stetig – wobei neben die klassischen Dosengerichte und die seit den Siebzigern etablierten Tiefkühlpizzen neue vorgekochte Mahlzeiten treten, zum Beispiel Instant-Suppen und andere Instant-Gerichte. Dabei handelt es sich um Krümel und Brocken in Plastikgefäßen, die einen hohen Anteil des Geschmacksverstärkers Mononatriumglutamat aufweisen. Gießt man heißes Wasser darüber, entsteht eine – wie man in Deutschland sagt – «Terrine». Die «Fünf-Minuten-Terrine» der Firma Maggi erfreut sich ab 1980 jedenfalls breiter Beliebtheit, mit Instant-Gerichten, die durch den Aufdruck auf der Verpackung zum Beispiel als «Hühner-Nudeltopf», «Kartoffelbrei mit Fleischklößchen» oder «Reis in Champignonsoße» ausgewiesen sind.
Da diese Mahlzeiten bloß mit kochendem Wasser aufgeschäumt werden müssen, ist ihre Zubereitungszeit weit geringer als etwa bei einer Tiefkühlpizza, die in einer Backröhre erhitzt wird. Noch schneller geht es nur, wenn man das Fertiggericht in einen Mikrowellenofen schiebt. Dieser ist – viel mehr noch als die Pasta- und die Sushi-Maschine – ein weiteres Statussymbol für die Kücheneinrichtung der Yuppies und anderer wohlhabender Menschen in den Achtzigern. Dabei ist das Gerät an sich nicht neu. Der erste «Radarherd» wird 1946 von dem US-amerikanischen Ingenieur Percy Spencer gebaut, nachdem er zufällig bemerkt hat, dass ihm bei der Arbeit an einer Vakuum-Laufzeitröhre zur Erzeugung elektromagnetischer Wellen die Schokoladentafel in der Hosentasche geschmolzen ist. Der Mikrowellenofen, der sich aus dem Radarherd entwickelt, geht in den Fünfzigern kommerziell in Serie. Aber erst in den Achtzigern sind die Geräte so klein geworden, dass sie sich ohne weiteres in eine gewöhnliche Kücheneinrichtung einfügen, und auch ihr Preis ist so weit gesunken, dass sie wenigstens für bessergestellte Bevölkerungskreise erschwinglich sind.
Im Mikrowellenofen lassen sich Fertiggerichte in rasender Geschwindigkeit servierfertig machen, weswegen die dazugehörigen Fernsehspots aus den frühen Achtzigern auch durch besonders hektische Schnittfolgen glänzen oder Männer und Frauen zeigen, denen bei der Essenszubereitung die Zeit aus den Fugen zu geraten scheint. In Deutschland dauert es bis zum Ende des Jahrzehnts, bis sich die Mikrowelle bei einem kleineren Teil der Bevölkerung durchzusetzen beginnt. Hier sind die Vorbehalte – wie stets, wenn es um technische Innovationen geht – wesentlich größer als in den USA. Zahlreiche mahnende Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge befassen sich mit vermeintlichen Gesundheitsrisiken. Es drohen Gefahren vom Gehirntumor bis zur Zeugungsunfähigkeit; auch hört man von fatalen Bedienungsfehlern, etwa von jungen Müttern, die ihre Säuglinge in der Mikrowelle zu trocknen versuchen, oder von älteren Damen, die das Gleiche mit ihren Schoßhunden tun.
Diese Diskussionen sind jenen nicht unähnlich, die später über die schädlichen Auswirkungen von Mobiltelefonen geführt werden. In gewisser Weise stecken Mikrowellenöfen und Mobiltelefone ohnehin unter einer Decke: Beides sind technische Innovationen, die Mitte der achtziger Jahre geradezu symbolisch für die Zukunft stehen – und das, obwohl oder gerade weil ihre Technik auf jenen unsichtbaren Wellen und Strahlen beruht, vor denen sich weite Teile der Menschheit zugleich so fürchten, in Gestalt der drohenden Verstrahlung nach einem Atomkrieg oder nach einem Unfall in einem Atomkraftwerk. Zukunftsangst und -euphorie sind in den Achtzigern ebenso verschränkt wie die Angst vor dem Unsichtbaren und die Faszination mit ihm; dafür sind Mikrowellen und Mobiltelefone exemplarische Technologien.
Und noch in einer anderen Hinsicht zeigt sich in ihnen eine Dialektik, die sich dann erst in den folgenden Jahrzehnten vollständig entfaltet: zwischen dem immer wichtigeren «social networking» und der gleichzeitig zunehmenden Individualisierung, zwischen der Verlagerung des Sozialen in berufliche und virtuelle Räume und der schwindenden Relevanz traditioneller Gemeinschaftsformen wie etwa der Familie. Denn je günstiger sie werden, desto mehr werden gerade die Mikrowellenöfen auch zu essenziellen Utensilien für den Ein-Personen-Haushalt; ihr wachsender Absatz korreliert mit der wachsenden Zahl an urbanen Singles. So sind sie gleichermaßen ein Symbol für das beschleunigte Leben, für Existenzen, die nicht mehr zur Ruhe kommen – und für die Einsamkeit, die diese verspüren, wenn sie nach dem Büroalltag, der ihr ganzes sonstiges Dasein auffrisst, dann doch einmal alleine zu Hause sind.
Das erfolgreichste Kochbuch, das in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in den USA erscheint, trägt den Titel «Microwave Cooking For One» und stammt von der Autorin Marie T. Smith. Gezeigt wird darin, wie sich mit dem Mikrowellenofen sämtliche Mahlzeiten herstellen lassen, die der Mensch über den Tag hinweg braucht, vom Frühstück über Suppen, Sandwiches und Eiergerichte bis zu vollwertigen Ein-Personen-Dinners mit Fleisch, Salat und Pudding zum Nachtisch. Marie T. Smith hat, wie sie im Vorwort erläutert, all diese Rezepte aus der eigenen Erfahrung heraus selber entwickelt. Dies allerdings nicht, weil sie beruflich so beschäftigt ist, dass ihr die Zeit für die herkömmliche Essenszubereitung fehlt, sondern weil ihr erwachsener Sohn inzwischen in einer anderen Stadt wohnt und ihr Ehemann viel auf Dienstreisen unterwegs und darum selten zu Hause ist. Für sich allein mag sie aber nicht aufwendig kochen, darum ist der Ofen mit der unsichtbaren Strahlung darin zu ihrem bevorzugten Küchengerät geworden.
Bis zu ihrem frühen Tod 1987 ist Marie T. Smith ein gefragter Gast in den gerade erblühenden Fernseh-Kochshows; in den letzten Jahren wurde ihr zwischenzeitig vergessenes Werk in den Foren der neuen «sozialen Netzwerke» im Internet wiederentdeckt. Hier firmiert es nun als «saddest cookbook in the world», als das traurigste Kochbuch der Welt.