Kann man rückblickend vielleicht sagen, dass Arnold Schwarzenegger eine geheime Leitfigur der achtziger Jahre ist? Jedenfalls taucht er immer wieder dort auf, wo sich Signaturen des Jahrzehnts zeigen. Als Bodybuilder hat er schon in den Siebzigern jene Fitnesskultur vorweggenommen, die in den Achtzigern dann prägend wird für das Verhältnis vieler Menschen zu ihren Körpern. Als «Conan der Barbar» gibt er dem verbreiteten Wunsch, der Gegenwart zu entfliehen, ein Gesicht – oder sagen wir vielleicht besser: wiederum einen Körper. Als Terminator wird er zum Symbol für die Technisierung des Lebens und für die neu aufgeworfene Frage, wo eigentlich die Grenzen zwischen Biologie und Technik, zwischen der Schöpfung und dem von Menschen Geschaffenen verlaufen. Und schließlich: Als mit Energydrinks aufgeputschter Geschäftsmann ist er der perfekte Repräsentant für die neuen Yuppies und ihre High-Energy-Welt des entfesselten Kapitalismus.
Wobei von allen Figuren, die Schwarzenegger in den Achtzigern spielt, diese letzte die wirkmächtigste ist. Der Geschäftsmann, der sich mit Entschlusskraft, Intelligenz und Flexibilität in einer vom Wettbewerb geprägten Welt durchzusetzen versteht, steigt am Ende der Achtziger nicht nur zur zeitgemäßen Variante des kühnen Abenteurers und Helden auf, sondern generell zu einem Leitbild für ein gelungenes Dasein. Auch wenn die Yuppies als Lifestyle-Kohorte bald für tot erklärt werden und der «Schwarze Montag» des 19. Oktober 1987 die erste Überhitzung des Investmentbanker-Handels einstweilen abkühlen lässt (eine Entwicklung, die, wie wir heute wissen, ohnehin bloß vorübergehend ist) – so bleibt doch der Eindruck, dass mit der Ankunft der Yuppies wenigstens die westlichen Gesellschaften in eine neue Phase eingetreten sind. Wirtschaftliches und unternehmerisches Handeln wird zum existenziellen Ideal, zu einer neuen Form der Selbstverwirklichung und des Individualismus. Nun herrscht auch nicht mehr die Furcht vor der Zukunft, sondern ein neuer Optimismus und Aufbruchsgeist; der wirtschaftliche Aufschwung, neue berufliche Chancen, und das heißt: neue Möglichkeiten zur Selbstneuerschaffung locken, und vergessen scheinen die Zweifel und Sorgen, mit denen die Welt sich bis dahin herumgeschlagen hat.
Die in den frühen Achtzigern so bestimmenden Ängste richten sich, wie wir gesehen haben, auf die bevorstehende Apokalypse durch einen Atomkrieg oder die Verschmutzung und Verseuchung der Umwelt. Sie sind aber auch grundiert durch eine Rezession: eine globale Wirtschaftskrise, in der sich – wiederum – eine Wende anbahnt, die die Struktur unserer Gesellschaft bis heute prägt. Die Siebziger enden mit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan und dem NATO-Doppelbeschluss, aber auch mit der islamischen Revolution im Iran, deren langfristige Konsequenzen für den Fortgang der Weltgeschichte man damals nicht einmal annähernd abzusehen vermag. Eine sofort spürbare Wirkung gibt es jedoch, und das ist der dramatische Anstieg des Ölpreises. Im Zuge des Umsturzes in Teheran und des ein Jahr später beginnenden Ersten Golfkriegs zwischen dem Iran und dem Irak gehen die Fördermengen zurück, und es ist unklar, ob sich die Lage nicht noch weiter verschärft. Anfang der siebziger Jahre hat ein Barrel (159 Liter) Öl etwa drei Dollar gekostet; beim ersten «Ölpreisschock» im Jahr 1973 ist der Preis auf zwölf Dollar gestiegen; Ende 1981 sind es nun fünfunddreißig Dollar.
Öl ist der Rohstoff, den die Industriegesellschaft braucht, um mit ihren Stahlhütten und Hochöfen, Kohlezechen und Gießereien, Schiffswerften und Chemiewerken zu funktionieren. Deren Produktion wird jetzt immer teurer und weniger profitabel, die Unternehmen bauen Arbeitsplätze ab oder verlagern sie in Länder mit geringeren Löhnen. In den alten Industrienationen wächst die Zahl der Arbeitslosen, die Inflation steigt, die Staatsschulden nehmen immer weiter zu, und in den Regierungen setzt sich die Auffassung durch, dass man die Steuern senken und zugleich die Unternehmer entlasten muss; also werden die Leistungen des Wohlfahrtsstaates gekürzt.
Der zweite «Ölpreisschock» am Beginn der Achtziger forciert freilich nur eine Entwicklung, die schon seit Anfang des vorangegangenen Jahrzehnts währt: Mit der Krise der überkommenen Schwerindustrie, mit der «Deindustrialisierung» der kapitalistischen Staaten des Westens geht der Boom der Nachkriegsjahre zu Ende. In den USA nimmt dieser Wandel besonders dramatische Ausmaße an, am sichtbarsten im Niedergang der klassischen Industrieregionen im Nordosten des Landes. Aus dem «manufacturing belt», der von Chicago über Detroit bis an die Ostküste reicht, wird nun ein «rust belt», geprägt von Arbeitslosigkeit, urbanem Verfall und eskalierendem Rassismus. In Westdeutschland sind die Konsequenzen weniger dramatisch, aber auch hier steigt die Zahl der Arbeitslosen stark. Im Jahr 1971 liegt die Quote bei 0,8 Prozent; bis 1981 erhöht sie sich auf 5,5 Prozent; 1983 sind es schließlich 9,1 Prozent – ein Wert, der bis zum Ende des Jahrzehnts fast unverändert bleibt.
Die ökonomische Unsicherheit trägt zu der pessimistischen Stimmung bei, die Anfang der achtziger Jahre herrscht. Neben die Ängste vor dem Atomkrieg, vor radioaktiven Strahlen aus Endlagern und AKWs und anderen ökologischen Katastrophen tritt die ganz unmittelbare Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder – unter jungen Menschen – davor, überhaupt keine Ausbildung und Anstellung mehr zu bekommen. In den westdeutschen Industrieregionen wie insbesondere dem Ruhrgebiet und dem Saarland gehen bis Mitte der Achtziger zwei Millionen Arbeitsplätze verloren, und damit verschwinden auch ganze Lebenswelten und jahrzehntelang bestehende soziale Milieus, wie der Historiker Lutz Raphael in seiner 2019 erschienenen Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung, «Jenseits von Kohle und Stahl», dargelegt hat.
Dies ist die Situation, in der Helmut Kohl die «geistige» und «politische Wende» ausruft. Mit dieser Wende soll das Land nicht nur aus der moralischen Krise herausgeführt werden, sondern auch aus der Krise der Wirtschaft. Wobei Kohl Letztere wiederum moralisiert: In seinen programmatischen Reden kurz vor und kurz nach dem Beginn seiner Kanzlerschaft macht er nicht den generellen Strukturwandel der Deindustrialisierung für die Rezession verantwortlich, sondern vielmehr die wirtschaftspolitischen Versäumnisse der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt. Sozialdemokraten könnten eben nicht mit Geld umgehen, so eine verbreitete Ansicht unter Konservativen, sie hätten den Wohlfahrtsstaat aufgebläht und damit die Leistungsbereitschaft der Menschen geschwächt: Unter den gegebenen Umständen sei es eigentlich egal, ob man sich anstrengt oder nicht, man finde schon ein Plätzchen in der «sozialen Hängematte».
Neben Helmut Schmidt im Besonderen werden für diese Fehlentwicklung im Allgemeinen die 68er und ihr Erbe verantwortlich gemacht. Mit den von ihnen ausgehenden gesellschaftlichen Veränderungen seien elementare «bürgerliche Tugenden» verloren gegangen, die für das Funktionieren einer Gesellschaft und gerade auch für ihr ökonomisches Wohlergehen wesentlich seien: «Redlichkeit und Augenmaß, Treue zu Gesetzen, Menschlichkeit und Toleranz, Pflichtgefühl und Fleiß, Sparsamkeit und Gemeinsinn, Selbstdisziplin und Eigeninitiative», so Kohl auf dem Mannheimer Parteitag der CDU im März 1981, von dem schon in der Einleitung zu diesem Buch die Rede war. Zu der «geistigen» und «politischen Wende», die er sich als programmatisches Ziel gesetzt hat, gehöre es also wesentlich, wieder den «Mut zur Selbständigkeit» zu fördern und die «Bereitschaft zur Leistung».
Darum setzt die christlich-liberale Koalition, die im Oktober 1982 durch das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt an die Macht kommt, auf einen «schlanken Staat», auf Steuersenkungen für Unternehmen und auf Kürzungen der Sozialleistungen, mit denen wiederum die Arbeitskosten sinken und der «Anreiz zur Arbeitsaufnahme» erhöht werden soll. Das Arbeitslosengeld wird gekürzt, ebenso die Sozialhilfe und das Mutterschaftsgeld; die staatliche Unterstützung für Studenten mit ärmeren Eltern, das Bafög, wird eingeschränkt und auf ein Darlehen umgestellt. Kurzfristig scheint diese Strategie aufzugehen, mit den Ausgaben des Staates sinkt die Inflation, die Gewinne der Unternehmen steigen ebenso wie das Bruttosozialprodukt («Ja, ja, ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt / wir steigern das Bruttosozialprodukt», lautet der Refrain eines sehr populären Songs der Neue-Deutsche-Welle-Gruppe Geier Sturzflug aus dem Jahr 1983). Doch führen diese Entwicklungen nicht dazu, dass die Lage am Arbeitsmarkt sich entspannt. Die Arbeitslosenquote bleibt, wie schon erwähnt, bis zum Ende des Jahrzehnts bei etwa 9 Prozent. Denn die klassischen Industrieunternehmen nutzen die Steuererleichterungen und die wachsenden Gewinne nicht dafür, neue Arbeitsplätze zu schaffen oder alte zu sichern. Vielmehr investieren sie in neue Techniken, die Produktionsabläufe automatisieren und Arbeiter und Arbeiterinnen damit überflüssig machen. Die «Rationalisierung» der Arbeit wird in der zweiten Hälfte der Achtziger zu einem Leitbegriff, begleitet von der neuen Angst davor, durch den Einsatz von Maschinen «wegrationalisiert» zu werden.
Dennoch gibt es einen Aufschwung, der sich ab Mitte der achtziger Jahre vollzieht – zunächst natürlich vor allem in jenen Branchen, die für das Verschwinden der alten Arbeitsplätze verantwortlich sind. Es boomen die neuen Informationstechnologien, die Büro-, Kommunikations- und Nachrichtentechnik und all jene Ingenieursunternehmen, die Verfahren zur Automatisierung und Rationalisierung entwickeln. «Tatsächlich bildeten Erstellung, Angebot und Nachfrage der Dienstleistungen, die auf den industriellen Basisrevolutionen der Mikroelektronik beruhten, dasjenige Segment, in dem sich der Wandlungsprozess zur ‹postindustriellen› Dienstleistungs- oder auch ‹Informationsgesellschaft› am nachhaltigsten abzeichnete», schreibt Andreas Wirsching in seinem Buch «Abschied vom Provisorium». «Die in den achtziger Jahren häufig gehörte Rede von ‹Aufschwung› und Modernisierung, ein darauf gründender neuer Zukunftsoptimismus, aber auch eine ganze Reihe neuer Berufs- und Erwerbschancen bezogen aus diesem Prozess ihre wichtigsten Triebkräfte.»
Das andere Feld, in dem sich der wirtschaftliche Aufschwung vollzieht, ist jenes, in dem sich die Yuppies tummeln: Das Investmentbanking und generell das Finanz-, Kredit- und Versicherungswesen profitiert von der beginnenden Globalisierung, von der Internationalisierung der Märkte, vom Abbau der Kapitalrestriktionen. Dieser Boom zieht angeschlossene Bereiche wie Marketing, Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung mit, allein die Zahl der Steuerberatungsgesellschaften in der Bundesrepublik verdreifacht sich zwischen 1980 und 1990. So werden der «Abschied vom Malocher» und die Deindustrialisierung mit ihren ökonomischen und sozialen Folgen (unter anderem erhöht sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen dramatisch) von einem Aufschwung im «tertiären Sektor» begleitet. Was sich am Anfang des Jahrzehnts als Abschwung darstellt, erweist sich in dessen Verlauf als Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Noch Mitte der siebziger Jahre stellen Industriearbeiter und -arbeiterinnen die größte Berufsgruppe in der Bundesrepublik dar; am Ende der Achtziger findet sich nur noch etwas mehr als ein Drittel der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe – während fast 60 Prozent im «tertiären Sektor» beschäftigt sind. (Bis ins Jahr 2020 wird dieser Anteil noch weiter steigen, auf 75 Prozent.)
Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat diesen Strukturwandel in seinem «Postskriptum über die Kontrollgesellschaften» aus dem Mai 1990 beschrieben: «In der aktuellen Situation ist der Kapitalismus nicht mehr an der Produktion orientiert, die er oft in die Peripherie der Dritten Welt auslagert, selbst in komplexen Produktionsformen wie Textil, Eisenverarbeitung, Öl. Es ist ein Kapitalismus der Überproduktion. Er kauft keine Rohstoffe und verkauft keine Fertigerzeugnisse mehr, sondern er kauft Fertigerzeugnisse oder montiert Einzelteile zusammen. Was er verkaufen will, sind Dienstleistungen, und was er kaufen will, sind Aktien. Dieser Kapitalismus ist nicht mehr für die Produktion da, sondern für das Produkt, das heißt für Verkauf oder Markt.»
In dieser neuen Phase des Kapitalismus wandeln sich auch die Arbeitsprozesse und das Verhältnis der Menschen zu ihrer Arbeit. In den Fabriken flexibilisiert man die Arbeitszeiten. In den Dienstleistungsbranchen werden die Angestellten zu Unternehmern, die – wie Sherman McCoy in «Fegefeuer der Eitelkeiten» oder Bud Fox und Gordon Gekko in «Wall Street» – in eigener Verantwortung unermüdlich ihre Leistung steigern und die Profite erhöhen müssen. Die Firmenlenker fühlen sich nicht mehr ihren Mitarbeitern verpflichtet, sondern den Aktionären, die eine optimale Dividende erwarten. Die Arbeit in den Firmen wird zusehends in «flachen Hierarchien» organisiert, in denen nicht mehr die Aufträge von Chefs ausgeführt, sondern Leistungs- und Renditeziele erreicht werden müssen, bei deren Erfüllung die Angestellten sich gegenseitig überwachen. Auch werden immer mehr Bestandteile der Arbeit an Subunternehmer ausgelagert oder, wie man später sagt, «outgesourct». Der Staat zieht sich unterdessen aus wesentlichen Teilen der Infrastruktur und der Wirtschaft zurück: In Deutschland werden die Post und das Fernmeldewesen privatisiert, die Bundesregierung verkauft ihre Anteile an Großunternehmen wie VW und der Lufthansa; 1984 nehmen die ersten privaten Fernsehsender den Betrieb auf – wobei es noch bis in die neunziger Jahre dauert, bis das Publikum flächendeckend in den Genuss von Programmen wie RTL plus und Sat.1 kommen kann.
Generell vollzieht sich der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland langsamer als in anderen westlichen Staaten. Dennoch beginnen sich auch hier schon jene deregulierten und prekarisierten Arbeitsverhältnisse abzuzeichnen, die in den folgenden Jahrzehnten immer stärker zunehmen. In den Achtzigern wird diese neue Phase des Kapitalismus als «Postfordismus» beschrieben; in den Neunzigern bürgert sich dafür der ältere, noch aus den zwanziger Jahren stammende Begriff des «Neoliberalismus» neu ein. Beide sind gleichermaßen unscharf, aber beschreiben jedenfalls in ähnlicher Weise die Entfesselung und Individualisierung der Arbeitsverhältnisse.
Der Politikwissenschaftler Joachim Hirsch nennt in seinem Essay «Auf dem Wege zum Postfordismus?» aus dem Jahr 1985 die wesentlichen Merkmale der neuen Wirtschaftsform: «eine ‹Flexibilisierung› der Arbeitszeiten bei gleichzeitigem Übergang zu kontinuierlicher Produktion, eine räumliche Entkoppelung von Arbeit und Maschinerie (z.B. durch neue Formen computerisierter Heimarbeit), eine radikale Individualisierung der Arbeitsplätze, der Lohngestaltung und der arbeitsvertraglichen Bedingungen». Durch all das werde, so Hirsch, «ein neuer Typ des Massenarbeiters entstehen, der gerade nicht räumlich konzentriert und vereinheitlicht ist und unter homogenen Arbeitsbedingungen steht, sondern sich als hochgradig individualisiert, flexibilisiert und parzelliert erweist. (…) ‹Flexibilisierte›, periphere und unsichere Arbeitsplätze, Teilzeit-, Heim- und Leiharbeit werden nicht nur bestehen bleiben, sondern sich sogar noch ausdehnen.» Wir können vielleicht erst heute, über drei Jahrzehnte später, ermessen, wie visionär diese Prognosen gewesen sind.
1987 wird Helmut Kohl als Bundeskanzler im Amt bestätigt. Zwar muss die christlich-liberale Koalition gegenüber den vorangegangenen Wahlen leichte Verluste hinnehmen, gleichwohl kommt sie auf insgesamt 53 Prozent der Zweitstimmen. Die Grünen können sich von 5,6 auf 8,3 Prozent steigern: Der parlamentarische Arm der Bürgerrechtsbewegungen hat sich im Parlament etabliert, doch ist er immer noch weit von einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung entfernt. Die große Mehrheit der Deutschen zeigt sich mit der Arbeit von CDU/CSU und FDP zufrieden – und das, obwohl die Gesellschaft im Ganzen sich keineswegs im Sinne der konservativen Vorstellungen gewandelt hat, die Kohl zu Beginn seiner ersten Amtszeit formuliert. Es ist den Regierenden nicht gelungen, die klassische Kleinfamilie zu stärken. Die Zahl der Scheidungen, der alleinerziehenden Menschen, der wiederverheirateten oder ohne Trauschein lebenden Paare wächst im Verlauf der Achtziger weiter. Immer mehr Frauen entschließen sich dazu, nach der Familiengründung und der Geburt von Kindern weiterzuarbeiten – auch wenn die christlich-liberale Koalition es ihnen dabei so schwer wie möglich zu machen versucht, indem sie den vielfach geforderten Ausbau von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen ausdrücklich blockiert. Schließlich ändert die von Helmut Kohl – wie schon von seinen Vorgängern Willy Brandt und Helmut Schmidt – aufgestellte Maxime, dass Deutschland «kein Einwanderungsland» sei, nichts an der Tatsache, dass immer mehr Migrantinnen und Migranten in das Land kommen und es prägen. Die Bundesrepublik wird im Verlauf der Achtziger immer diverser, die etablierten Institutionen verlieren weiter an Selbstverständlichkeit.
Das heißt aber nicht – und das ist das Fazit, das man im Rückblick auf dieses Jahrzehnt ziehen muss –, dass die von Helmut Kohl geforderte «geistige» und «politische Wende» gänzlich ausgeblieben wäre. Man findet sie gerade in der neuen Welt der Dienstleistungsgesellschaft, der deregulierten Wirtschafts- und Unternehmenskultur, der Informationstechnologie und des Managerwesens: Hier wird jene Eigenverantwortung, Flexibilität und Leistungsbereitschaft zur Norm, die Kohl 1981 gegen die Trägheit der Post-68er-Generation und ihr «Anspruchsdenken» eingefordert hat. In dieser Welt ist der ideale Untertan einer, der sich «kreativ, flexibel, eigenverantwortlich, risikobewusst und kundenorientiert» verhält, wie es der Soziologe Ulrich Bröckling im Anschluss an die Theorien des späten Michel Foucault formuliert hat.
Foucault beschreibt die kapitalistische Gesellschaft, wie sie sich bis in die siebziger Jahre zeigt, als «Disziplinargesellschaft». Darin werden die Menschen durch feste Institutionen – die Familie, die Schule, das Militär, die Fabrik, das Gefängnis – auf ihren angestammten Platz im Gefüge des Ganzen verwiesen. Die Lebenswege sind vorgezeichnet; wer sich den gesellschaftlichen Normen entsprechend verhalten will, der versucht, die an ihn gestellten Erwartungen so gut wie möglich zu erfüllen. Das ändert sich in den Achtzigern, nun verwandelt die Disziplinargesellschaft sich in jene Kontrollgesellschaft, die Gilles Deleuze in seinem «Postskriptum» beschreibt. Vorgezeichnete Lebenswege, feste Plätze im sozialen Gefüge verschwinden. Stattdessen wird das Individuum dazu angehalten, «lebenslang zu lernen», sich stetig neu zu erfinden. «In den Disziplinargesellschaften», schreibt Deleuze im «Postskriptum», «hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.» Die Individuen, so Deleuze, seien «dividuell» geworden. In einer instabilen Welt der «schwankenden Wechselkurse» erfahren sie auch ihre eigene Identität als schwankend und instabil.
Viele beschwören in den achtziger Jahren das Glück einer solchen instabilen Identität, weil diese ihnen gleichbedeutend mit der Befreiung von überkommenen Rollenmodellen und Daseinsvorschriften erscheint. Michel Foucault möchte, wie schon zitiert, die «Beziehungen, die wir zu uns selbst unterhalten», aus den Klammern der «Identitätsbeziehungen» befreien – weil es eben «sehr langweilig» sei, «immer derselbe zu sein». Doch wird auf der anderen Seite auch schon die Tatsache sichtbar, dass in dieser Freiheit neue Zwänge stecken. Denn das Konzept einer niemals vollendeten oder eben auch deregulierten Identität passt allzu gut zu den Anforderungen der entstehenden Kontrollgesellschaft. In dieser kann man nur erfolgreich bestehen, wenn man unaufhörlich an sich selber arbeitet und sich neuen Situationen anpasst – oder besser noch: wenn man durch seine Selbstneuerfindung der Entwicklung der Dinge immer schon einen Schritt voraus ist. Wer solchen Imperativen zu folgen hat, der empfindet die Destabilisierung der eigenen Identität bald nicht mehr als Befreiung, sondern vielmehr als Stress. Während Foucault unter Langeweile leidet, wenn er immer derselbe sein muss, wünschen viele Menschen sich bald schon ein wenig von dieser Langeweile zurück.
Wenn die Achtziger also eine Zeit der Individualisierung gewesen sind – waren sie dann vor allem ein Jahrzehnt der Befreiung oder eines der neuen Zwänge? Im Rückblick wird mal der eine, mal der andere Aspekt betont; tatsächlich scheinen mir beide Antworten, jede für sich, zu kurz zu greifen. Die Deregulierung des Daseins der Menschen, ihrer Selbstverhältnisse und Vergemeinschaftungsformen kann sowohl einen befreienden wie auch einen repressiven Charakter annehmen. Diese Transformation ist eine dialektische, und man kann diese Dialektik nur dann zur Gänze erfassen, wenn man versteht, wie der Wunsch des Konservatismus nach einer «geistigen» und «politischen Wende» mit dem scheinbar so progressiven Faible für instabile Identitäten verbunden ist. Beide teilen dieselben historischen Voraussetzungen, und so stecken in den achtziger Jahren auch Helmut Kohl und Michel Foucault unter einer Decke: Beide reagieren, jeweils auf ihre Art, auf eine historische Krise, in der vieles von dem, was man bis dahin für selbstverständlich erachtet hat, nunmehr in Frage steht.