Nun bilden die Umwelt- und die Friedensbewegung und die verschiedenen Strömungen der Alternativkultur, die sich bei den Grünen sammeln, keineswegs den einzigen Stamm, der sich am Anfang der achtziger Jahre durch gemeinschaftliches Dagegensein definiert. Eine wichtige stilistische und weltanschauliche Konkurrenz erwächst den Ökos, Hippies und Müslis in den Punks – oder wie man damals noch sagt: in den Punkern. Auch diese werden geeint durch ihr Dagegensein; sie sind gegen die bürgerliche Gesellschaft, ihre Konventionen und Normen; allerdings sind sie zugleich gegen die Ökos, Hippies und Müslis. Deren Gefühligkeit und Weichheit verachten die Punks, insbesondere auch den – nach ihrer Ansicht – naiven Glauben, dass sich am bevorstehenden Weltuntergang noch etwas ändern lässt. Nichts finden sie alberner als die Idee, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen, hin zu einem Zustand, in dem die unberührte und also auch unschuldige Natur wieder zu ihrem Recht kommen könnte. «Zurück zum Beton» heißt ein Lied der Düsseldorfer Punkgruppe S.Y. P. H. aus dem Jahr 1980: «Ich glaub, ich träume / Ich seh nur Bäume», heißt es darin: «Wälder überall / Ich merk auf einmal / Ich bin ein Tier hier / Ein scheiß Tier hier / Da bleibt mir nur eins: / Zurück zum Beton / Zurück zum Beton / Da ist der Mensch noch Mensch / da gibt’s noch Liebe und Glück / Ekel Ekel Natur Natur / Ich will Beton pur.»
Die Ökos und Müslis wollen reden, «die Verhältnisse hinterfragen», wie man damals gern sagt, sie wollen alles «ausdiskutieren» und ihr «Bewusstsein erweitern». Die Punks können darin nur weichliches Gelaber erkennen, eine endlose Nabelschau, bei der sich die Beteiligten ausschließlich um sich selbst drehen, während die Welt um sie herum dann eben doch so bleibt, wie sie ist. Die Punks wollen das Gelaber beenden und den Verhältnissen ihre Abwehr und ihren Hass in möglichst bündiger und drastischer Weise entgegenschreien. Mit den Angehörigen der Alternativkultur teilen sie das Interesse an möglichst verwahrlost anmutender Bekleidung; doch während die Ökos und Müslis den Eindruck der Verwahrlosung durch einfaches Nichtstun erzeugen, wird er von den Punkern aufwendig hergestellt. Ihre Haare festigen sie sich liebevoll zu toxisch wirkenden Stachelfrisuren oder zu sogenannten Irokesenhaarschnitten, bei denen der Schädel vollständig geschoren wird mit Ausnahme eines schmalen, von vorn nach hinten verlaufenden Streifens, in dem die Haare bürstenförmig nach oben stehen. Je nach Neigung werden die Bürsten schwarz gefärbt, durch giftige Chemikalien gebleicht oder aber in den verschiedensten Farben zum Leuchten gebracht. In einer Variante lappt der Irokesenschnitt vorn über die Stirn; hier hängt die Spitze des Haarkamms schlaff zwischen und über den Augen, sodass der Träger oder die Trägerin nicht mehr normal geradeaus gucken kann.
Die schwarzen Lederjacken, die zum Grundbestand der Punk-Bekleidung gehören, werden mit Nieten verziert und mit Selbstbekundungen und Parolen bemalt, oftmals mit stark nach unten verlaufender Farbe, sodass sich die Selbstbekundungen und Parolen gar nicht entziffern lassen. Dazu trägt man schwere Stiefel und eng anliegende zerfetzte Hosen oder auch nicht ganz so eng anliegende zerfetzte Strumpfhosen; manchmal sind die eng anliegenden Hosen auch in der heimischen Waschküche mit ätzendem Toilettenreiniger (besonders beliebt ist die Marke Domestos) so behandelt worden, dass von der Grundfarbe nur noch ein ungesund wirkender Flickenteppich zurückbleibt. Ungesund ist auch ansonsten der Gesamteindruck, den die Punks gewissenhaft pflegen. Ihre Gesichter zeigen bevorzugt eine kränkliche Blässe, die mit schwarzer Beschminkung der Augenpartien konturiert wird. Damit die Haut noch unreiner, pickliger und fettiger wirkt, legen sich Punks vor dem Einschlafen gern Masken aus Mettwurstscheiben auf das Gesicht.
Diese Basisausstattung im Styling wird durch unterschiedliche Accessoires ergänzt. So tragen Punks gerne schwere Halsketten, an denen wiederum große Vorhangschlösser baumeln. An kleinere Ketten werden scharfe Rasierklingen gehängt; anstelle von Ohrringen trägt man gebogene rostige Nägel im Ohr. Punks wollen sich als Aussätzige der Gesellschaft inszenieren, als deren Abschaum. Deswegen halten sie sich am liebsten solche Haustiere, die von der Gesellschaft als eklig und als Überträger von Krankheiten angesehen werden, nämlich Ratten. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kommen Hunde hinzu, wobei es sich dabei ausschließlich um große Promenadenmischungen handelt. «Ratte» und «Köter» sind denn auch beliebte Spitznamen, mit denen Punks sich anreden. Durch die Straßenpseudonyme soll der Abstand zur bürgerlichen Gesellschaft und der Abschied von der eigenen Herkunft bekräftigt werden. Gängig sind auch Namen wie «Krätze», «Pisskopf», «Rotze» oder «Kotze», worin sich ein Interesse an kollektiv schambehafteten Ausscheidungen und den dazugehörigen Körperöffnungen zeigt. Prägende deutsche Punkbands der frühen Achtziger tragen Namen wie Slime, Cotzbrocken, Brutal Verschimmelt, Toxoplasma, Schließmuskel, Notdurft, Spermbirds (zu Deutsch: Spermavögel) oder auch cAnalterror.
Wer so viel Wert auf Aussehen und Styling legt, muss dieses natürlich auch in die Öffentlichkeit tragen. Die beliebteste Freizeitbeschäftigung der Punks besteht Anfang der achtziger Jahre denn auch darin, in den voll betonierten Fußgängerzonen mittelgroßer Städte herumzulungern und sich von den Passanten angaffen zu lassen. Angegafftwerden ist wie bei jeder modisch bewussten Gruppe auch für sie ein Zweck in sich selbst. «Das Ganze kann man unter Individualismus zusammenfassen», sagt ein junger Punk in einem Fernsehbeitrag, den das Dritte Programm des NDR im Juli 1983 in der Sendung «Hallo Niedersachsen» ausstrahlt. «Da gibt es dieses Theatergefühl. Man steigt in die U-Bahn, und alle Leute gaffen. Das ist ein herrliches Gefühl – das können wahrscheinlich die meisten gar nicht nachempfinden mit ihren grauen Hosen und grauen Jacken.» Es geht darum, «sich vom Rest der Gesellschaft auch äußerlich auszuschließen», wobei der Rest der Gesellschaft eben nicht mehr nur aus den Trägern von grauen Hosen und grauen Jacken besteht. «Inzwischen hat ja jeder dritte Büroangestellte auch lange Haare. Das reicht also lange schon nicht mehr aus, um sich da irgendwie auszugrenzen.»
Der Anlass des Fernsehbeitrags ist ein großes Treffen von Punks in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover: die «Chaostage». Es ist schon die zweite Veranstaltung dieser Art, deswegen ist das Fernsehen darauf aufmerksam geworden, die ersten «Chaostage» fanden im Dezember 1982 statt. Der Auslöser dafür war – abgesehen von der Freude am geselligen Beisammensein – eine Recherche der linken Tageszeitung «taz», nach der die Polizei in Hannover in einer «Punker-Kartei» Daten über die lokale Szene sammelt. Bei den Punks stößt diese Aufmerksamkeit auf Begeisterung. Er habe bei dieser Nachricht «so etwas wie Stolz» empfunden, hat der Veranstalter der «Chaostage» Karl Nagel später einmal rückblickend geschrieben: «Hey, die durchgeknallten Bullen hielten uns also für gefährlich! Punkerherz, was willst Du mehr? (…) Punk war das ideale Werkzeug, um die paranoide Phantasie insbesondere von Medien, Polizei und Politik auf Hochtouren laufen zu lassen. Das musste sich doch irgendwie auch bei dieser idiotischen Punker-Kartei hinkriegen lassen.»
Also mobilisiert Nagel mit Flugblättern und Plakaten die Punks der Umgebung: Sie sollen nach Hannover kommen, um sich dort in möglichst großer Zahl bei einer zunächst noch als «Untergang Hannovers» annoncierten Veranstaltung freiwillig in der Punker-Kartei registrieren zu lassen. Nicht wenige folgen der Einladung, wie Nagel in seinem Resümee festhält: «Achthundert Punks in der City, eine nervöse Polizei, die sich zunächst abwartend verhielt, und gaffende Bürger, die in dem saufenden, bunthaarigen Mob wohl die Vorboten der Apokalypse sahen. Gut so!» Eine Weile bleibt alles friedlich, am Ende kommt es dann aber doch noch zum «Knüppeleinsatz» der Polizei, den die Punks mit einem «Steinhagel» beantworten. «Eigentlich kurzer Prozess», so Nagel: «Aber es reichte für knackige Schlagzeilen à la ‹So wüteten die Punks in der Innenstadt› (BILD) oder ‹Punker wüteten mit Steinen und Flaschen› (Hannoversche Allgemeine), die man ordentlich ausschnitt, um damit die Punk-Wohnungen zu dekorieren.»
Zu den zweiten «Chaostagen», ein halbes Jahr später, reisen bereits tausendfünfhundert Besucher und Besucherinnen an, bei der dritten und vorerst letzten Veranstaltung, 1984, sind es dann zweitausend. 1983 werden auf Flugblättern unter anderem «rosarote Berufskleidung für Zivilbullen», ein «Berufsverbot für Kaufhausdetektive» oder auch die sofortige Auflösung der Punker-Kartei gefordert; dass diese Forderungen nicht ernst gemeint sind, sieht man schon daran, dass die Punks ja eigentlich ganz zufrieden damit sind, wenn sie in einer solchen Kartei aufgenommen werden. Anders als bei den Demonstrationen der Umwelt- und Friedensbewegung gibt es bei den «Chaostagen» keine erkennbare politische Botschaft, keine zentrale Kundgebung oder auch nur irgendwelche Reden. Tatsächlich geht es ausschließlich darum, das eigene Anderssein öffentlich zu demonstrieren und mit anderen, die auf dieselbe Weise anders sind wie man selber, ein Spielfeld zum Ausleben der gemeinsamen «Erlebnisorientierung» – so ein sich damals etablierendes Wort – zu finden. Man versammelt sich schlicht in der Fußgängerzone, provoziert die Passanten und lässt sich von ihnen angaffen oder auch zurückprovozieren. Ansonsten wartet man darauf, dass die Polizei die Lage dahingehend eskaliert, dass sich eine Gelegenheit zum Zurückschlagen und Steinewerfen eröffnet: «Bullenpogo» wird dieses Spiel mit der Staatsmacht genannt.
Von den sozialen Protest- und Widerstandsformen der Alternativkultur ist bei den Punks also nur noch der Kern übriggeblieben, das gemeinschaftliche Erobern des öffentlichen Raums zum Zweck der Demonstration des eigenen Andersseins. «In der Folge wurden die Geschehnisse in gewisser Weise sehr berechenbar», schreibt Klaus N. Frick, ein weiterer früherer Punk-Aktivist und Weggefährte Karl Nagels, zwanzig Jahre später in einem Rückblick auf die «Chaostage» in der «taz». «Was dem Besucher des Musikantenstadls das rhythmische Händeklatschen zu gesungenen Volksweisen ist, wurde den Besuchern der Chaostage recht schnell das rhythmische Hämmern von Polizeiknüppeln auf Plexiglasschilder. Und den fröhlichen Volksweisen ebenjener Musikkultur entsprechen beim Punk eben das Prasseln von Steinen, das Klirren zerschmissener Bierflaschen und der entschlossene Ruf ‹Bulle, halt’s Maul!› – so ein Stück der Punkgruppe Boskops aus Hannover.»
Insofern kann man Punk als die erste postmoderne Ausprägung der Popkultur bezeichnen: Es handelt sich hier nicht um eine Bewegung, die aus dem Willen zur Veränderung der Gesellschaft entsteht, sondern um eine Szene, der es allein darum geht, ihren Willen zur Abgrenzung zu demonstrieren – wiederum durch einen bestimmten, mehr oder weniger einheitlichen Stil. Mit diesem Stil – das ist der zweite Aspekt der Postmodernität – setzen die Punks sich aber eben nicht nur von der bürgerlichen Gesellschaft ab, sondern auch von anderen Gruppen, die sich ihrerseits von der bürgerlichen Gesellschaft absetzen wollen, nur eben in einer Art und Weise, die den Punks schon zu angepasst erscheint: «Linke Spießer» nennt die Hamburger Punkgruppe Slime die Generation der Post-68er, die vor ihnen mit Demonstrationen und Sit-ins die Straßen bevölkerte und nun mit der Partei Die Grünen den Marsch durch die Institutionen antritt. «Sozialarbeiter und Student / Ihr seid so frei und unverklemmt», heißt es im gleichnamigen Slime-Song: «Ihr seid sozial auch sehr gut drauf / Doch ihr habt eure Seele dem System verkauft / Ihr seid nichts als linke Spießer / Eigentlich wart ihr es schon immer / Und werden wir mal aggressiv / Seid ihr auf einmal konservativ.»
Der Hass auf die Hippies ist für die Punks mindestens ebenso identitätsstiftend wie der Hass auf die «normalen» Bürger, mit ihnen zieht ein System der vielfältigen Distinktion in die Popkultur ein: Aus der einfachen Verweigerung gegen die Verhältnisse wird eine Ordnung verfeinerter Verweigerungsgesten, in der es nicht mehr nur darauf ankommt, dass man seine Verweigerung gegen die Verhältnisse bekundet, sondern vor allem auch darauf, wie man das tut und von wem man sich dabei auf welche Weise absetzt. Oder wie es der Kritiker Diedrich Diederichsen rückblickend formuliert hat: «Bis zum Punk gab es eine mehr oder weniger einheitliche Jugendkultur. Im Prinzip galt, dass man als Jugendlicher sich nur entscheiden musste, wie intensiv man jugendkulturelle und – damals damit noch verbundene – subkulturelle Orientierungen ernst nehmen und leben wollte, nicht so sehr, welche Orientierung man wählte. Dies änderte sich mit Punk. Von nun an entschied man sich für eine Orientierung nicht nur, weil sie einen begeisterte, durch die Pubertät half oder aus welchem anderen guten Grund auch immer, sondern man entschloss sich gleichzeitig bei der Wahl für das eine auch zu einer Wahl gegen das andere.»
Wer sich dazu entschließt, ein Punk zu werden, der tut dies eben auch, weil er kein Öko oder Müsli sein will; wer sich wiederum dazu entschließt, ein Popper zu werden – auf diese Ausprägung der Popkultur komme ich im nächsten Kapitel zurück –, der tut dies, weil er oder sie die Punks asozial, stinkend, schlecht angezogen findet. Und zugleich aber auch die Ökos und Müslis ablehnt wegen ihres endlosen Gelabers und – zum Beispiel – wegen des Tragens von Palitüchern; Letzteres allerdings nicht aus politischen Gründen, sondern weil man Palitücher filzig und speckig findet. Man ordnet sich einer Gruppe auch deswegen zu, weil man klarmachen will, dass man einer anderen Gruppe nicht angehört. Die «Jugendmoden» der Achtziger, schreibt Diedrich Diederichsen, «waren insofern die Avantgarde der heute allseits üblichen Differenzierungs- und Distinktionsorgien.» Man könnte auch sagen: In den Achtzigern wird aus der klassischen Gegenkultur – «wir gegen die» – ein System von Subkulturen, das wie ein Zeichensystem organisiert ist: Jede einzelne Subkultur funktioniert wie ein Zeichen, das seinen Wert und seine Bedeutung nicht nur aus der Beziehung zur Realität, sondern auch aus der Differenz zu anderen Zeichen gewinnt.
Das passt zu der Diagnose, die der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten» für die achtziger Jahre stellt. Für ihn besteht der prägende «Strukturwandel der Öffentlichkeit» in dieser Zeit vor allem darin, dass nun jeder Einzelne danach strebt, etwas Besonderes zu sein – es gibt keine «Normalität» mehr, von der man sich absetzen möchte; es gibt nur noch das Bedürfnis, zu etwas Unverwechselbarem zu werden. Wobei der Wunsch nach Individualisierung und nach dem Besonderen – das kann man an den Jugendkulturen der Achtziger sehen – freilich nur die dialektische Kehrseite eines ebenso starken Wunsches nach kollektiver Identifizierung ist. Wer sich als Punk oder Popper identifiziert, der ordnet sich dabei ja auch stets einer Gruppe mit streng uniformen Bekleidungsstilen, Verhaltensregeln, Sprachcodes, musikalischen Vorlieben und Tanzschritten zu. Gerade weil sich die Subkulturen der Achtziger so sehr von jeweils anderen Subkulturen abgrenzen, bieten sie den in ihnen aufgehobenen Individuen neue Formen der Heimat und der familiären Sicherheit. Die Achtziger sind insofern nicht nur eine Zeit der Individualisierung, sondern auch eine Zeit der Tribalisierung: Während die Alternativkultur sich durch ihren Bezug auf scheinbar naturverbundene, authentische «Stämme» von der sie umgebenden, modern-technisierten Gesellschaft abzusetzen versucht, entstehen zugleich viele andere Stämme, die zwar nicht mehr den Fetisch der Natürlichkeit oder Authentizität pflegen, deren Mitglieder sich aber wie Stammesangehörige – egal, wo und unter welchen Umständen sie aufeinandertreffen – an ihrer Bekleidung, an ihrem Musikgeschmack, an ihrer Art des Redens und Sichbewegens erkennen.
Die wichtigste Subkultur, die sich im Lauf der Achtziger aus dem Punk entwickelt, sind die Gothics, in Deutschland auch als Gruftis oder Schwarzkittel bekannt. Ihre Wurzeln liegen in der Londoner Punkszene der späten siebziger und frühen achtziger Jahre; beide Stämme eint die – mit den Ökos und Müslis geteilte – Überzeugung, dass man sich in einer Endzeit befindet, im letzten welthistorischen Moment vor der Apokalypse. Doch wo die Punks sich nihilistisch, gefühlskalt, hart, aggressiv, maskulin und zerstörerisch geben – da erscheinen die Gothics eher todessehnsüchtig, romantisch, verträumt, weich, passiv, androgyn und bestenfalls selbstzerstörerisch. Sie tragen fast ausschließlich schwarze Bekleidung, weil sie sich als Kinder der Nacht und der Dunkelheit empfinden, sie schminken sich die Gesichter blass und die Augenlider dunkel, weil sie so wirken wollen, als ob das Leben gerade aus ihnen entweicht. Auch wenn Gothics einander in größeren Gruppen begegnen, geben sie sich große Mühe, einsam, traurig und isoliert zu erscheinen. Sie bewegen sich möglichst langsam und vermeiden den Körperkontakt mit anderen Menschen, in der Öffentlichkeit ebenso wie auf den Tanzflächen der Gothic-Clubs. Während die Punks sich bei ihrem szenetypischen Tanz, dem Pogo, schnell und unkontrolliert bewegen und einander so oft wie möglich anzurempeln und umzutanzen versuchen, stehen die Gothics auf der Tanzfläche meist eher gedankenverloren herum und ignorieren alles, was in ihrer Umgebung geschieht, einschließlich der Musik und der anderen tanzenden Menschen. Als äußerstes Zeichen der Euphorie und des Körpereinsatzes pflegen sie den sogenannten Zombietanz: Dabei bewegt man sich auf der Tanzfläche, indem man – unbeirrt vom Beat und von der Geschwindigkeit der Musik – langsam mit vorgebeugtem Oberkörper und nach innen gerichtetem Blick drei Schritte nach vorne geht und dann wieder drei Schritte zurück.
Die Lieblingslebewesen der Gruftis sind denn auch Vampire, Fledermäuse und Zombies. Der Londoner Club, der Anfang der achtziger Jahre zur Keimzelle der Szene wird, trägt den Namen «Batcave» (Fledermaushöhle). Der Lieblingsfilm der Gruftis ist Werner Herzogs Dracula-Variation «Nosferatu – Phantom der Nacht» aus dem Jahr 1979. «Wir haben ihn geliebt, weil alles darin durchweg böse und unheimlich wirkte», hat der Gitarrist der Gruppe Joy Division, Bernard Sumner, später einmal gesagt, «und weil er dennoch eine so große Behaglichkeit verströmte.» Der Produzent von Joy Division, Martin Hannett, ist der Erste, der den Begriff «gothic» in diesem popkulturellen Zusammenhang nutzt: 1979 bezeichnet er in einem Interview das von ihm produzierte Debütalbum der Band, «Unknown Pleasures», als «dance music with gothic overtones». Die Musik von Joy Division ist kalt und hart, die Texte ihres Sängers Ian Curtis sind tief depressiv und zeugen von einer existenziellen Verzweiflung darüber, keinen Platz in der Welt zu finden, an dem sich ein Leben vorstellen lässt. Im Mai 1980 erhängt Curtis sich in seiner Wohnung in Macclesfield, nachdem er im Fernsehen «Stroszek» gesehen hat, einen weiteren Film von Werner Herzog.
Für die empfindsame Jugend an der Wende zu den achtziger Jahren wird Ian Curtis zum beliebtesten Schmerzensmann und Selbstmörder, ähnlich wie anderthalb Jahrzehnte später Kurt Cobain für die nachfolgende Generation. Gleichwohl bleibt Curtis eine singuläre Gestalt, ebenso, wie der Sound, die existenzielle Härte und Lichtlosigkeit seiner Band singulär bleiben. Typisch für die Gothicszene des folgenden Jahrzehnts wird eher eine milde melancholische Stimmung, ein wertherianischer Weltschmerz. Wenn die Gruftis der frühen achtziger Jahre eine gemeinsame Utopie eint, dann ist es die Utopie des Unsichtbar- und Unkörperlichwerdens und des Verschwindens aus der Welt: Auch das ist ja eine Art, auf die apokalyptischen Ahnungen der Zeit zu reagieren.
«It doesn’t matter if we all die», so lauten die ersten Zeilen, die Robert Smith von der Gothicgruppe The Cure im ersten Lied ihres Albums «Pornography» singt. «Es hat keine Bedeutung, wenn wir alle sterben», weil «wir» uns auch im Leben wie Tote fühlen. Auf dem Cover des Albums sieht man ein Porträt der Gruppe, allerdings dermaßen verzerrt und verschwommen, dass die Gesichter der Musiker nicht zu erkennen sind; man sieht lediglich, dass sie alle drei weiß geschminkt sind, mit schweren schwarzen Schatten um die Augen.
The Cure haben ihre Karriere Ende der Siebziger als Punkband begonnen, aber schon auf ihrem 1980er-Album «Seventeen Seconds» ist alle Härte, Geschwindigkeit und Energie aus der Musik gewichen, zugunsten eines leisen, langsamen, bis kurz vor die Wahrnehmungsschwelle entkräfteten Sounds; ihre Lieder wirken nun wie im Dämmerzustand geträumte Skizzen von Liedern, zu denen Robert Smith eher flüstert und winselt, als dass er singt. Auch das Erscheinungsbild der Band und vor allem ihres Sängers verändert sich: Als «Pornography» erscheint, hat Smith bereits jene charismatische Selbstinszenierung voll entwickelt, die ihn auch zu einer prägenden Mode-Ikone der frühen Achtziger machen wird. Er trägt jetzt weit geschnittene schwarze Bekleidung, auch seine inzwischen sehr langen Haare hat er schwarz gefärbt und zu einer gewaltigen Wuschelfrisur aufgeplustert, manchmal trägt er dazu auch noch dick aufgetragenen und schief verschmierten roten Lippenstift.
So verschwindet er nicht nur aus der Welt, er entzieht sich auch dem Gegensatz zwischen den Geschlechtern. In gewisser Weise ist der Robert Smith des Jahres 1982 in seiner androgynen Erscheinung der dunkle Zwilling von Prince, dessen Album «1999» etwa zeitgleich mit «Pornography» erscheint – davon wird an späterer Stelle noch die Rede sein. Auch Prince wähnt sich am Vorabend der Apokalypse, er möchte, wie er in dem Lied «1999» singt, seine letzten Tage mit Feiern und Sex verbringen. Nicht so Robert Smith: Er würde es bevorzugen, schon vor dem Tag des Jüngsten Gerichts unbemerkt aus der Welt zu verschwinden; und Sex spielt in seiner Musik ohnehin keine Rolle, weil er ausschließlich von verschwundenen Mädchen singt, von Liebeskummer und vom Verlassensein, von unerwiderten Gefühlen und unaufhörlichem Schmerz. Die einzige Ekstase, in die er sich auf dem «Pornography»-Album hineinsteigert, ist am Ende des Lieds «Siamese Twins» zu hören; dort schleudert er einem Menschen, der ihn nicht liebt, die trotzigen und hasserfüllten Zeilen entgegen: «I scream / you’re nothing / I don’t need you anymore / you’re nothing.»
Der in seiner Teenagerzeit unablässig von Liebeskummer geplagte Autor dieses Buches hat das Lied so oft gehört und mitgesungen wie wahrscheinlich kein anderes in seinem Leben. Ein paar Jahre später, inzwischen siebzehn geworden, gründete ich meine eigene Band, wir waren ein Trio und rechneten uns dem Gothic und dem Punk gleichermaßen zu. Als Instrumente dienten uns ein Backblech, ein Benzinkanister und ein Bass, den ich einem älteren Punk für zwanzig Mark abgekauft hatte und auf dessen Saiten ich nun mit einer groben Metallfeile feilte. Unser erstes Konzert spielten wir auf einem antifaschistischen Solidaritätsfestival im Jugendzentrum unseres Dorfes in der Lüneburger Heide. Wir hatten drei Stücke: Eines beschäftigte sich mit den empörenden Zuständen in Nordirland («Straßen von Belfast»), eines bekundete unsere generelle Unzufriedenheit mit der Welt und unsere Entschlossenheit, gegen diese Welt insbesondere durch unverbrüchliche Ignoranz Widerstand zu leisten («I Don’t Care»), das dritte war eine für Backblech, Benzinkanister und Bass arrangierte Coverversion von «Pippi Langstrumpf».
Die Band, die nach uns auftrat, rechnete sich dem inzwischen entstandenen linksradikalen Flügel der Punkszene zu. Das Kommando Holger Meins – das sich wenig später allerdings in Klingonenkreuzer Vogon umbenannte – bot unter anderem seinen Szene-Hit «Bundeskabinett» dar. Dieser bestand aus den forsch gebrüllten Namen der Mitglieder der damals amtierenden Bundesregierung, wobei nach der Nennung jedes Namens eine Bierflasche in einer mit Wackersteinen gefüllten Badewanne zerschlagen wurde. «Kohl – schepper! Genscher – klirr! Zimmermann – krach schepper! Stoltenberg – klirr!»
Für den weitaus größten Skandal sorgte die Gruppe Dum Spiro Spero, die sich nach dem bekannten Ausruf des Revolutionsführers Spartakus benannt hatte (zu Deutsch: Solange ich atme, hoffe ich) und eher konventionellen Drei-Akkorde-Punkrock mit Gitarre, Bass und Schlagzeug darbot. Freilich hatte in einer Ankündigung des Konzerts im örtlichen «Nordheide-Wochenblatt» der des Lateinischen offenbar unkundige Programmredakteur den Namen der Band als «Dum Dum Spiro» wiedergegeben, woraufhin eine Flut von Protesten über das Jugendzentrum hereinbrach: Hier werde «menschenverachtenden Bands ein Forum gewährt, die sich nach Dum-Dum-Geschossen benennen», darum sei die kommunale Politik dringend dazu aufgerufen, die finanzielle Förderung für diese Institution zu überdenken. Man sieht, dass es Ende der achtziger Jahre in der norddeutschen Provinz nur sehr geringer Mittel bedurfte, um die unbeirrt vorherrschende Normalität der bürgerlichen Verhältnisse zu provozieren.