Zu den beliebtesten deutschen Fernsehsendungen der frühen achtziger Jahre zählt die Show «Bio’s Bahnhof», die in unregelmäßigen Abständen in der ARD gezeigt wird; sie läuft immer donnerstagabends zwischen 21 Uhr und 22.30 Uhr, danach folgen die «Tagesthemen». In einer aufgelassenen Eisenbahndepothalle in Frechen bei Köln führt der Journalist und Talkmaster Alfred Biolek durch ein ungewöhnlich buntes Programm. Bunt ist schon die Musikauswahl: Zur besten Sendezeit konfrontiert Biolek sein Publikum mit Komponisten der neuesten Avantgarde wie Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis und Mauricio Kagel; aber auch mit avantgardistischen Popmusikern und -musikerinnen, die in Deutschland und manchmal sogar in ihren Heimatländern noch unbekannt sind. Biolek gibt den bildungsbürgerlich gediegenen Talkmaster, mit Nickelbrille und stets im Anzug mit Weste oder Pullunder und Schlips. So präsentiert er seine Gäste im Ton wagemutiger Aufklärungsarbeit einem Publikum, das mit seiner Hilfe in kulturelle Welten gelangt, die es sonst niemals betreten würde.
Für die Sendung am 28. Oktober 1982 hat Biolek ein paar besonders exotisch wirkende Menschen eingeladen: Es handelt sich um echte, in Deutschland lebende Türken, die anlässlich des türkischen Nationalfeiertags darüber Auskunft geben dürfen, wie es ihnen gerade so geht. Am Beginn des Abends führt Biolek ein längeres Gespräch mit der Familie Uslu. «Wie lange sind Sie denn schon in Köln?», ist die erste Frage an Frau Uslu, die neben dem Talkmaster sitzt. «Dreizehn Jahre», antwortet sie. «Sind Sie zusammen mit Ihrer Familie hierhergekommen?» – «Nein, erst ich allein.» – «Sie erst allein? Und dann haben Sie die Familie nachgeholt?» – «Ja!» – «Das ist ja ungewöhnlich. Meistens kam der Vater zuerst. Arbeiten Sie seither?» – «Sicher, ganztags.» – «Den ganzen Tag? Und wie machen Sie das mit dem Kochen und mit den Kindern?» – «Mein Mann hilft.» – «Ihr Mann hilft?» Biolek wendet sich an Herrn Uslu: «Herr Uslu, können Sie kochen?» – «Ja, mein Beruf ist Koch. In der Türkei habe ich als Koch gearbeitet.»
Das ist alles schon einmal äußerst erstaunlich. Aber die drängendste Frage ist natürlich jene, die Alfred Biolek als Nächstes stellt: «Wollen Sie denn wieder zurückgehen in die Türkei?» – «Ja», sagt Herr Uslu, «wenn die Kinder mit der Schule fertig sind, dann gehen wir wieder zurück.» Drei Söhne und eine Tochter sitzen mit am Tisch und antworten auf die Fragen des Moderators. Der älteste Sohn ist sechsundzwanzig und arbeitet in einem Lager, in seiner Freizeit gibt er Boxtraining. «Haben Sie da Probleme mit den deutschen Jungs, als türkischer Trainer?» – «Nein, denn beim Boxen, beim Sport im Allgemeinen, legt man keinen Wert auf Nationalität!» – «Sport ist international?» – «Wir haben Sportler von jeder Nationalität bei uns.» Biolek: «Toll!» Der zweite Sohn ist siebzehn und spricht mit einem leicht Kölsch-eingefärbten Dialekt, was den Moderator besonders freut: «Ein kölsche Jung! Hast du auch deutsche Freunde?» – «Ich habe deutsche und türkische Freunde.» – «Und mit deinen türkischen Freunden, sprichst du da deutsch oder türkisch?» – «Meistens deutsch.» – Biolek: «Ah! Da bahnt sich schon etwas an!»
Der dritte Sohn ist einundzwanzig Jahre alt und steht kurz vor dem Abitur. «Und wollen Sie danach studieren?» – «Ja, das möchte ich.» – «Ah, da müssen die Eltern noch lange hier bleiben.» – «Ja, leider, das wäre sonst zu schwierig für mich.» – Biolek lässt nicht locker: «Können Sie sich vorstellen, dass Sie und Ihre Geschwister noch mal zurück in die Türkei gehen und dort leben?» – «Ja, wir möchten alle auf jeden Fall eines Tages in die Heimat zurück.» – «Aber wird es dort dann nicht Anpassungsschwierigkeiten geben, die vielleicht sogar größer sind als die hier?» – «Doch, es wird einige Schwierigkeiten geben, aber nicht so viele Schwierigkeiten wie hier.» – «Was sind denn Ihre Schwierigkeiten hier? Woran merken Sie, dass man die Türken nicht mag in der Bundesrepublik?», fragt Biolek nach – und spürt schon im selben Moment, dass das vielleicht unangemessen klang. Er korrigiert sich: «Es gibt ja auch sehr viele, die sehr freundlich sind. Ich hoffe, dass Sie diese Erfahrung auch gemacht haben.»
Offensichtlich sind andere Erfahrungen stärker, denn Bioleks Gesprächspartner beklagt im Folgenden die vielen Vorurteile, denen er im Alltag begegnet, etwa, dass er keine Chance hat, in die Kölner Diskotheken hineingelassen zu werden. «Das hätte ich nicht gedacht», sagt Biolek und bietet Hilfe an: «Was können wir denn machen, damit es mit der Integration besser klappt?» Worauf er wiederum eine zurückhaltende Antwort bekommt: «Integration ist sehr wichtig, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Denn wenn wir uns total anpassen würden, voll integrieren, dann würden wir unsere eigene Identität verlieren. Und das möchte ich nicht.» Tosender Szenenapplaus aus dem Publikum. Biolek fragt ein letztes Mal nach: «Ist das der Grund dafür, warum Sie und Ihr Bruder einen Schnurrbart tragen? Das ist doch etwas sehr Typisches! Damit werden Sie sofort als Türke erkannt!»
Damit ist das Gespräch beendet, anschließend spielt aus Anlass des türkischen Nationalfeiertags eine der bekanntesten Rockgruppen des Landes, Barış Manços Band Kurtalan Ekspres.
Ich zitiere diese Szene hier so ausführlich, weil sich darin wie durch ein Brennglas der gewandelte Umgang mit dem Thema der Migration am Anfang der Achtziger zeigt. Mit vierzig Jahren Distanz wirkt das Gespräch von Alfred Biolek mit seinen Gästen auf befremdliche Weise paternalistisch und auf unfreiwillige Weise auch komisch und selbstverräterisch, etwa, wenn Biolek fragt, wie «wir» dabei helfen könnten, dass die Integration der Türken besser gelingt – und damit durchblicken lässt, dass mit diesem «Wir» nur gebürtige Deutsche gemeint sind, die türkische Migranten als Fremdkörper oder bestenfalls als Objekte der Fürsorge betrachten. Doch ändert das zweifellos nichts daran, dass Biolek hier in gutgemeinter emanzipatorischer Absicht agiert – er gibt in seiner Sendung einer gesellschaftlichen Gruppe Stimme und Raum, die in den westdeutschen Massenmedien bis dahin schlicht unsichtbar ist, und er lässt sie von Arten der Diskriminierung und von Vorurteilen berichten, die der Mehrheit der deutschen Fernsehzuschauer Anfang der Achtziger unbekannt oder gleichgültig sind.
Wenn Biolek seine Gäste gleichwohl auch als Gäste im fremden Land anspricht – wobei ihn vor allem interessiert, wann sie wieder «in ihre Heimat» gehen –, dann äußert sich darin natürlich nichts anderes als die seit den sechziger Jahren verbreitete Ansicht, dass es sich bei den Migranten um «Gastarbeiter» handelt, die nur vorübergehend in Deutschland sesshaft werden. Die Einsicht, dass dem nicht so sein könnte, beginnt sich in der deutschen Öffentlichkeit erst an der Wende zu den Achtzigern durchzusetzen. Dass die «Gastarbeiter» auf Dauer in Deutschland bleiben und sich etwa die «Türken» in der zweiten oder dritten Generation in «Deutschtürken» verwandeln könnten; dass sich hier also etwas «anbahnt», wie Alfred Biolek im Gespräch mit dem jüngsten Sohn der Uslus bemerkt: Das ist eine Entwicklung, die die deutschen Debatten in diesem Jahrzehnt wesentlich mitprägen wird.
1973 hat die deutsche Bundesregierung einen «Anwerbestopp» für Arbeitnehmer aus dem nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ausland beschlossen. Man müsse, so der damalige Bundeskanzler Willy Brandt, «sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten.» Tatsächlich sinkt die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen bis zum Ende der Siebziger um ein Drittel, von 2,6 Millionen auf 1,8 Millionen. Doch erhöht sich die Gesamtzahl der «ausländischen Mitbürger» im selben Zeitraum erheblich, von 3,5 Millionen zum Zeitpunkt des Anwerbestopps auf 4,5 Millionen im Jahr 1980. Die Gastarbeiter der ersten Generation haben – wie die Uslus – nach zehn bis fünfzehn Jahren in Deutschland Fuß gefasst; viele Männer, die zunächst allein kamen, um Hilfsarbeitertätigkeiten auszuüben und in kasernenartigen Wohnheimen zu leben, haben inzwischen ihre Familien nachgeholt und sind mit diesen in meist billige Mietwohnungen gezogen. Ihre Kinder, die nun die zweite Generation bilden, sind in Deutschland sozialisiert und haben bald mit der Frage zu kämpfen, wohin sie eigentlich «wirklich» gehören.
In den Siebzigern beschränkt sich die «Ausländerpolitik» der Bundesregierung ebenso wie der Mainstream der kulturellen Debatten darauf, von den Arbeitsmigranten zugleich Integration in die deutsche Gesellschaft wie auch die Bewahrung ihrer kulturellen Eigenständigkeit zu verlangen, also das möglichst geräuschlose Dasein in einer konstitutiven Paradoxie: Für die Zeit ihres Aufenthalts sollen sie so deutsch wie nur möglich werden, um das gesellschaftliche Gesamtgefüge nicht weiter zu stören; sie dürfen aber auch nicht allzu deutsch werden, weil sie nach verrichteten Diensten schließlich wieder in ihre Heimat zurückgehen sollen.
«Integration auf Widerruf» hat der Historiker Ulrich Herbert dieses Konzept in seiner umfassenden «Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland» aus dem Jahr 2001 genannt. «Der seit Mitte der siebziger Jahre deutlich gewordene Trend zum Daueraufenthalt, zum Familiennachzug», schreibt Herbert, führt «zur Verwandlung der ‹Gastarbeiter› in ‹Einwanderer›». Zwar gibt der SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt noch 1979 die Devise aus: «Wir wollen und können kein Einwanderungsland sein.» Doch setzt sich am Beginn der achtziger Jahre zumindest bei einem Teil der Öffentlichkeit die Erkenntnis durch, dass die Bundesrepublik tatsächlich schon längst zu einem solchen geworden ist – und dass sich mit der paradoxen Forderung an die dauerhaft hier sesshaft gewordenen Migranten und Migrantinnen, sich gleichzeitig zu integrieren und auch wieder nicht, keine sinnvolle Gesellschaftspolitik formulieren lässt.
Wie kann man die neue Realität besser beschreiben? Der Ausländerreferent der Evangelischen Kirche in Deutschland, Jürgen Micksch, macht dazu im September 1980 anlässlich des «Tags des Ausländischen Mitbürgers» einen Vorschlag in neun Thesen. Die erste und gewichtigste These lautet: «Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft.» Damit übernimmt Micksch als Erster einen Begriff, der im englischsprachigen Raum bereits seit den Siebzigern kursiert, in Deutschland aber zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt ist: Multikulturalismus. Was er damit meint, erläutert Micksch in seinen weiteren Thesen. Eine «multikulturelle Gesellschaft» sei durch das «Zusammenleben verschiedener Kulturen» gekennzeichnet, was zugleich bedeute, dass man nicht mehr von einer bestimmten Kultur die Integration in eine andere bestimmte Kultur verlangen dürfe. Dieser Prozess könne nicht einseitig sein, vielmehr sei für das künftige Zusammenleben «eine gegenseitige Integration» erforderlich. Und weiter: «Im Miteinander der Kulturen sollte die Mehrheit die Ansprüche der Minderheiten respektieren. Gegenseitige Isolierung und Ghettos fördern nicht die gemeinsame Zukunft. Kulturelle Angebote sollten die Verschiedenheiten, aber auch die Gemeinsamkeiten des jeweiligen kulturellen Erbes vermitteln.»
Mehr noch als von «multiculturalism», wie das Konzept in englischsprachigen Debatten seit den Siebzigern heißt, spricht man in den USA von «cultural pluralism». Hier sind es vor allem die Aktivisten und Vordenker der Black Panther Party, die sich gegen die alte Vorstellung von der US-amerikanischen Nation als «melting pot», als Schmelztiegel unterschiedlicher kultureller Traditionen, wenden – mit dem berechtigten Argument, dass dieses Selbstverständnis lediglich die rassistische Herrschaft der weißen, angelsächsischen Bevölkerungsgruppe über alle anderen kaschiert. Wer sich für die Emanzipation diskriminierter Minderheiten wie insbesondere eben der Afroamerikaner einsetzen wolle, der müsse sie bei der Bewahrung ihrer kulturellen Traditionen unterstützen. Ein positives Verhältnis zur eigenen Identität helfe diskriminierten ethnischen Gruppen dabei, ein stärkeres Selbstbewusstsein auszubilden; dieses sei wiederum unabdingbar, um in den Kämpfen um gesellschaftliche Anerkennung und Gleichberechtigung zu bestehen.
In Deutschland beginnt die Debatte nicht nur später als jene in den USA, sie unterscheidet sich von dieser auch insofern in einem wesentlichen Punkt, als sie hier nicht von Angehörigen migrantischer Minderheiten geführt wird, sondern von den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. Er habe mit dem Multikulturalismus-Begriff das Bild der Ausländer in der Öffentlichkeit verbessern wollen, hat Jürgen Micksch später einmal gesagt – gegen die herrschende Auffassung, dass sie nur Probleme machen und importieren. «Eine Chance sah ich darin», so Micksch in einem Interview aus dem Jahr 1991, «Ausländer enger mit dem Begriff einer fremden und ‹anziehenden› Kultur in Zusammenhang zu bringen. Die Bevölkerung sollte in Fremden nicht nur Probleme wahrnehmen, sondern auch andere Kulturen, mit denen wir Anregungen, Impulse und geistige Herausforderungen verbinden.»
Es dauert eine Weile, bis der Begriff an prominenter Stelle aufgegriffen wird und dann verstärkt durch die kulturellen Debatten zirkuliert. 1983 organisiert der CDU-Politiker Heiner Geißler eine Tagung mit dem Titel «Ausländer in Deutschland – Für eine gemeinsame Zukunft», deren fünfter Tagesordnungspunkt lautet: «Auf dem Weg in eine multikulturelle Gesellschaft». Weitere sechs Jahre später wird von der Stadt Frankfurt am Main ein «Amt für Multikulturelle Angelegenheiten» eingerichtet, als dessen erster Dezernent Daniel Cohn-Bendit von den Grünen fungiert. In den Duden wird das Adjektiv «multikulturell» freilich erst im Jahr 1991 aufgenommen.
Doch auch wenn der Begriff des Multikulturalismus erst in den neunziger Jahren allgemein gebräuchlich wird – wesentlich für die achtziger Jahre ist die Erkenntnis, dass sich der Charakter der deutschen Gesellschaft dauerhaft ändert. Aus einem Land mit einer homogenen oder auch hegemonialen Kultur, in die sich alle später Hinzugekommenen integrieren sollen, wird ein Land, in dem sich zunehmend verschiedene Kulturen und kulturelle Identitäten versammeln.
Diese Zustandsbeschreibung wird quer durch die politischen Lager geteilt. Äußerst unterschiedlich sind allerdings die Bewertungen und die Schlussfolgerungen, die sich aus dieser Diagnose ergeben. Während die Linken sich vom Multikulturalismus auch eine Bereicherung der deutschen Kultur erhoffen – etwa in dem Sinne, in dem, so ein verbreitetes Argument, die deutsche Esskultur schon seit den sechziger Jahren durch italienische, griechische und jugoslawische Restaurants profitiert –, herrschen auf der konservativen Seite des politischen Spektrums starke Bedenken angesichts dieses Wandels sowie die Furcht vor «Überfremdung».
«Die Überschwemmung der Bundesrepublik hat stattgefunden, ohne dass die Nation jemals bewusst dazu ja gesagt hat», schreibt etwa der Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, Jürgen Schilling, im November 1980 in der Wochenzeitung «Die Zeit». «Ausschließlich an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientiert, hat die Anwerbung von Gastarbeitern 1960 ihren Anfang genommen und sich in Dimensionen ausgewachsen, die den Charakter der Bundesrepublik als ein Land deutscher Nation zu relativieren beginnen.» Diesem Prozess müsse man entgegentreten, schon weil die dauerhafte Aufnahme von «Millionen zum Teil extrem ethnisch fremder Ausländer» mit dem Grundgesetz nicht zu vereinen sei. Dieses enthalte ja die Verpflichtung der Staatsorgane, auf die Wiedervereinigung der deutschen Nation hinzuwirken. Also müsse man «verhindern, dass beide deutsche Staaten schon deswegen nicht mehr zueinanderfinden, weil sich die Bundesrepublik (…) durch Verschmelzung extrem fremder Minderheiten (…) in eine andere Nation verwandelt. Bei niedriger eigener Geburtenzahl und hoher Fruchtbarkeit vieler Gastarbeiter zeichnet sich neben der politischen die ethnische Spaltung Deutschlands ab.»
Ein halbes Jahr später, im Juni 1981, veröffentlicht eine Gruppe von Universitätsprofessoren das «Heidelberger Manifest», in dem eindringlich vor der «Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen Ausländern und ihren Familien» gewarnt wird. Zu befürchten sei «die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums». Unterzeichnet haben das Manifest unter anderem der Mathematiker und Astronom Theodor Schmidt-Kaler, der die CDU als Parteimitglied im Bundestagswahlkampf 1980 in Fragen des «demographischen Wandels» und der «Sicherung des Generationenvertrags» beraten hat, sowie der ebenfalls der CDU angehörige ehemalige Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer, der 1960 von seinem Amt zurücktreten musste: wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und seiner Beteiligung am Vernichtungskrieg der Wehrmacht unter anderem in der Ukraine.
«Völker sind (biologisch und kybernetisch) lebende Systeme höherer Ordnung mit voneinander verschiedenen Systemeigenschaften, die genetisch und durch Traditionen weitergegeben werden», heißt es in dem Manifest. «Die Integration großer Massen nichtdeutscher Ausländer ist daher bei gleichzeitiger Erhaltung unseres Volkes nicht möglich und führt zu den bekannten ethnischen Katastrophen multikultureller Gesellschaften. Jedes Volk, auch das deutsche Volk, hat ein Naturrecht auf Erhaltung seiner Identität und Eigenart in seinem Wohngebiet. Die Achtung vor anderen Völkern gebietet ihre Erhaltung, nicht aber ihre Einschmelzung (‹Germanisierung›). Europa verstehen wir als einen Organismus aus erhaltenswerten Völkern und Nationen auf der Grundlage der ihnen gemeinsamen Geschichte.»
So betritt am Anfang der achtziger Jahre zeitgleich mit dem Konzept des Multikulturalismus auch sein reaktionärer Zwilling die Bühne der Öffentlichkeit, also das, was die Neuen Rechten vierzig Jahre später als «Ethnopluralismus» bezeichnen. Die Unterzeichner des Heidelberger Manifests betrachten sich selber nicht als Rassisten, sie wenden sich in ihrem Text sogar ausdrücklich «gegen ideologischen Nationalismus, gegen Rassismus und gegen jeden Rechts- und Linksextremismus». Statt die Überlegenheit einer Rasse über die anderen zu proklamieren, erklären sie das «Volk» zum alleinigen Träger der kulturellen Identität, das deswegen vor der Vermischung mit anderen Völkern geschützt werden muss. An der «Rückkehr der Ausländer in ihre angestammte Heimat» führe daher kein Weg vorbei: Sie werde für «die Bundesrepublik Deutschland als eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt nicht nur gesellschaftliche, sondern auch ökologische Entlastung bringen».
Diese Verbindung zwischen völkischem Denken und Ökologie ist dabei nicht unüblich. Zu den wesentlichen wissenschaftlichen Stichwortgebern der ethnopluralistischen Rechten am Anfang der achtziger Jahre zählt etwa der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt, der sich seit längerem für den «Naturschutz» einsetzt und, neben seinem Lehrer Konrad Lorenz und den Tierfilmern Horst Sielmann und Bernhard Grzimek, die «Gruppe Ökologie» mitbegründet hat. Eibl-Eibesfeldt vertritt die Ansicht, dass die Angst vor dem Fremden und dessen Ablehnung zur verhaltensbiologischen Grundausstattung des Menschen gehören und dass ethnisch geprägte Kulturen zwangsläufig miteinander konkurrieren. Darum sei es nachvollziehbar, dass die gegenüber dem «Wirtsvolk» der Deutschen höhere Geburtenrate des «Gastvolkes» der eingewanderten Ausländer eine «Angst vor der Überfremdung» erzeuge. «Auf diese Möglichkeit einer biologischen oder kulturellen Verdrängung muss man hinweisen können, ohne sich gleich den Vorwurf einzuhandeln, man denke ‹rassistisch›», schreibt Eibl-Eibesfeldt im Juni 1982 in einem Beitrag für die «Süddeutsche Zeitung».
Dass die «Ausländerfrage» an der Wende zu den achtziger Jahren zu einem gesellschaftlich bestimmenden und polarisierenden Thema wird, hat natürlich vor allem mit dem wirtschaftlichen Abschwung seit Mitte der siebziger Jahre zu tun und mit der wachsenden Zahl von Arbeitslosen – unter denen wiederum der Anteil der Migranten überproportional hoch ist. Denn die erste Generation der Gastarbeiter war ja vor allem in ungelernten und Hilfsberufen in der Schwerindustrie tätig, im Stahl- und Metallsektor, also gerade in jenen Bereichen, die in der zweiten Hälfte der Siebziger in eine schwere Strukturkrise geraten.
Im Jahr 1971 sind 0,8 Prozent der Deutschen arbeitslos gemeldet und 0,8 Prozent der Ausländer; bis 1983 ist die Quote bei den Deutschen auf 9,1 Prozent gestiegen und auf 14,7 Prozent bei den Ausländern; hinzu kommt eine hohe Jugendarbeitslosigkeit bei den in den siebziger Jahren nachgezogenen Kindern der ersten Gastarbeitergeneration. «Drei Viertel aller fünfzehn- bis vierundzwanzigjährigen Ausländer in der Bundesrepublik besaßen 1980 keinen Hauptschulabschluss, der sie zu einer qualifizierenden Berufsausbildung überhaupt erst befähigt hätte», schreibt Ulrich Herbert in seiner «Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland». So rächt sich die planlose Integrationspolitik der siebziger Jahre – und führt dazu, dass die Mehrheitsbevölkerung die zwanzig Jahre zuvor noch so freudig begrüßten Gastarbeiter nunmehr bloß noch als Konkurrenten um die knapper werdenden Arbeitsplätze empfindet und, von den «wissenschaftlichen» Expertisen der Neuen Rechten befeuert, als kulturelle Bedrohung. Bei demoskopischen Umfragen wächst der Anteil derjenigen Deutschen, die für die «Rückführung» der Gastarbeiter in ihre Heimatländer plädieren, von 39 Prozent im Jahr 1978 auf 80 Prozent im Jahr 1983. «Deutschland ist kein Einwanderungsland», heißt es denn auch noch einmal im Koalitionsvertrag der ersten Bundesregierung unter Helmut Kohl; die «Förderung der Rückkehrbereitschaft» und die «Verhinderung weiteren Zuzugs» werden als zentrale Zielsetzung der künftigen Ausländerpolitik benannt.
«Man brauchte unsere Arbeitskraft / Die Kraft, die was am Fließband schafft / Wir Menschen waren nicht interessant / Darum blieben wir euch unbekannt», heißt es in einem Lied, das der türkische Rocksänger Cem Karaca 1984 veröffentlicht; es erscheint auf dem Album «Die Kanaken», der ersten von einer türkischen Band eingespielten deutschsprachigen Platte. «Es kamen Menschen an» lautet der Titel dieses Stücks, nach dem von dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch schon 1965 niedergeschriebenen Satz: «Wir riefen Arbeitskräfte, doch es kamen Menschen.» In Karacas Lied heißt es weiter: «Solange es viel Arbeit gab / Gab man die Drecksarbeit uns ab / Doch dann, als die große Krise kam / Sagte man, wir sind schuld daran».
Karaca, einer der bekanntesten Musiker der Türkei, verbindet anatolischen Folk mit den ornamentalen Klangbildern und Dramaturgien des Progressive Rock und der psychedelischen Musik. In seinen Texten finden sich sozialrevolutionäre Motive ebenso wie der Aufruf zum Widerstand gegen die türkischen Nationalisten. «Yoksulluk Kader Olamaz», Armut muss kein Schicksal sein, heißt ein Album von 1977. Das im folgenden Jahr erschienene Werk «Safinaz» ist eine von Queens «Bohemian Rhapsody» inspirierte Rock-Sinfonie, in der Karaca vom schwierigen Schicksal eines Proletariermädchens erzählt. Als sich die politischen Spannungen in der Türkei verschärfen – gipfelnd im Militärputsch im September 1980 –, siedelt Karaca in die Bundesrepublik über, wo er bis 1987 bleibt.
Die Lieder auf dem Album «Die Kanaken» sind musikalisch weit weniger ambitioniert als Karacas Songs aus den Siebzigern. Doch wechseln auch sie immer wieder zwischen Rock- und Folk-Motiven, zwischen «westlichem» und «anatolischem» Stil; besonders prägnant schon in dem Eröffnungstück «Mein Deutscher Freund». Darin erzählt Karaca von der enttäuschten Hoffnung der Gastarbeiter und -arbeiterinnen, von den Deutschen nicht nur als billige Arbeitskräfte gesehen zu werden: «Er glaubt so fest daran, oh, so fest daran / Freund ist jeder deutsche Mann», aber die Barrieren bleiben unüberwindlich: «Gastfreundschaft war zugesagt / Und jetzt heißt es: ‹Türken raus!›» Das Stück endet gleichwohl mit einer euphorischen Strophe, mit der Aussicht auf die Versöhnung der Menschen in der kommenden Generation: «Türkisch Kind und deutsches Kind / Ihr sollt unsere Hoffnung sein / Da, wo jetzt noch Schranken sind / Reißt sie nieder, stampft sie ein».
Auch Cem Karaca tritt in der Sendung «Bio’s Bahnhof» auf. In einer Folge des Jahres 1984 spielt er mit seiner nunmehr auch als Die Kanaken firmierenden Band das Stück «Mein Deutscher Freund» und lässt sich zusammen mit der griechischen Sängerin Nana Mouskouri von Alfred Biolek über den griechisch-türkischen Konflikt befragen, wie er sich unter anderem an der Zypernfrage immer wieder entzündet. Anschließend singen alle drei gemeinsam ein Lied, in dem sie erklären, dass Griechen, Türken und Deutsche doch Freunde sein sollten. Nana Mouskouri ist seit ihrem ersten auf Deutsch gesungenen Hit «Weiße Rosen aus Athen» aus dem Jahr 1961 auch in Deutschland ein Star; demgegenüber gibt es aus der Türkei keinen einzigen Sänger, keine einzige Sängerin, die es bei der deutschen Mehrheitsbevölkerung auch nur zu mäßiger Bekanntheit gebracht hätten.
Und das, obwohl sich die umsatzstärkste unabhängige Plattenfirma der Bundesrepublik ausschließlich der türkischen Musik widmet; auf dem 1963 in Köln gegründeten Label Türküola bringt auch Cem Karaca Ende der Sechziger seine ersten Singles heraus. Bis in die achtziger Jahre hinein produziert das Label vornehmlich für den deutschen Markt, also für die in Deutschland lebenden türkischen Arbeitsmigranten. Seine erfolgreichste Künstlerin, die auch als «Köln’ün Bülbülü» (Kölner Nachtigall) auftretende Yüksel Özkasap, verkauft etwa von ihrem 1975 erschienenen Album «Beyaz Atli» achthunderttausend Stück, was ihr gleich mehrere Goldene Schallplatten einbringt. Doch nimmt die deutsche Mehrheitsgesellschaft davon keinerlei Notiz, in keiner Fernsehshow darf Özkasap auftreten, in keinem deutschen Musikmagazin wird ihre Musik besprochen, weder in Teeniezeitschriften wie «Bravo» noch in der popkritischen Fachpresse wie dem «Musikexpress», «Sounds» oder später «Spex»; und auch bei der Ermittlung der Single- und Album-Charts wird sie nicht berücksichtigt.
Das gilt auch für den zweiten prominenten Türküola-Künstler, Metin Türköz, der seine berufliche Laufbahn in Deutschland als Fließbandarbeiter in den Kölner Ford-Werken begonnen hat und von den späten Sechzigern bis in die frühen achtziger Jahre über die Erfahrungen und Alltagsprobleme, Sehnsüchte und Phantasien der ersten Gastarbeitergeneration singt. In dem Stück «Guten Morgen, Mayistero» etwa erklärt Türköz im stetigen Wechsel zwischen deutschen und türkischen Sätzen dem Vorarbeiter am Fließband, dass er «heute sehr müde ist» und morgen seinen «Geburtstag feiert»; auch in anderen Stücken überzieht er den «Mayistero» mit mildem Spott. An der Wende zu den Achtzigern hört man in seinen Liedern aber auch Phrasen wie «Ausländer raus». Als erster Sänger mischt Türköz systematisch deutsche und türkische Sprach- und Slang-Elemente, wie es in der nächsten und übernächsten Generation deutsch-türkischer Musik – bei Rap-Crews wie der Ende der Achtziger gegründeten Fresh Familee, bei Rappern wie Kool Savas, Eko Fresh oder zuletzt Haftbefehl – zum wesentlichen Stilmittel werden wird.
Auch die liberalen Freunde des neuen Multikulturalismus-Begriffs nehmen die Popkultur ihrer türkischen Mitbürger nicht wahr. Für den Rest der Deutschen gilt ohnehin, was Cem Karaca in seinem ebenfalls auf dem «Kanaken»-Album zu hörenden Stück «Willkommen» singt: «Komm Türke, trink deutsches Bier / Dann bist du auch willkommen hier / Mit Prost wird Allah abserviert / Und du ein Stückchen integriert (…) / Die Pluderhosen stören nur / Tragt Bein und Kopf doch bitte pur». Kein Wunder, dass gerade dieses Stück während der jüngsten Debatte über ein ganzes oder teilweises oder wie auch immer zu gestaltendes Kopftuchverbot im Jahr 2016 in den sozialen Netzwerken plötzlich heftig zu zirkulieren begann. Zweiunddreißig Jahre nach seiner Veröffentlichung hatten viele deutsche, türkische, deutschtürkische und andere Zeitgenossen das Gefühl, dass sich die Debatte in all dieser Zeit nicht im Geringsten weiterentwickelt hat.