Die erfolgreichste deutsche Popband der achtziger Jahre gibt ihr Fernsehdebüt am 21. Januar 1985 in der Musiksendung «Formel Eins». Es handelt sich um zwei Männer, von denen einer auf einer elektrischen Gitarre spielt und der andere ein mobiles Keyboard bedient, das er sich um den Hals gehängt hat. Freilich ist weder dieses noch die Gitarre verkabelt, sodass leicht zu erkennen ist, dass hier nicht live musiziert wird. Tatsächlich bewegen die beiden Künstler ihre Lippen und den Rest ihrer Körper bloß rhythmisch zu einem vorproduzierten Band. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass die ausdrucksvoll gespielte Gitarre in der Musik überhaupt nicht zu hören ist. Der mit großen ausladenden Armbewegungen tänzelnde Gitarrist trägt einen verwaschenen hellblauen Jeansanzug und dazu weiße Turnschuhe; seine blonden Haare hat er sich zu einer voluminösen Mittelscheitelfrisur föhnen lassen, die ihm hinten in flauschigen Fransen über die Schulter fällt; mit diesem Dauerwellen-Vokuhila-Hybrid sieht er wie eine Mischung aus David Bowie und dem «Schwarzwaldklinik»-Arzt Sascha Hehn aus. Der Keyboardspieler wiederum hat sich in einen rosafarbenen Anzug gekleidet, an dem besonders das übergroße Oberteil mit weit abstehenden Schulterpolstern den Blick auf sich zieht; dazu trägt er ein weißes Hemd mit einer Fliege.
«You’re My Heart, You’re My Soul» heißt das hier dargebotene Lied. Das musizierende Duo trägt den Namen Modern Talking und wird in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre so viele Platten verkaufen wie keine andere deutsche Band; bereits am Ende des Jahres 1985 sind von den ersten beiden Alben, «The 1st Album» und «Let’s Talk About Love», über eine Million Stück abgesetzt. Die Kompositionen des Duos stammen von dem an der Gitarre posierenden Dieter Bohlen, der sich an den zuckrig glitzernden Sounds und Falsettgesängen der Italo Disco orientiert; der Falsettgesang scheint von dem zweiten Mitglied des Duos, Thomas Anders, zu stammen. Während Bohlen sich bei den Studioauftritten und in den Videos von Modern Talking mit jungenhaft jovialer Virilität inszeniert, pflegt Anders einen effeminierten, wenn man so möchte: androgynen Look. Seine Haut ist gleichmäßig und offenkundig künstlich gebräunt. Seine Haare trägt er in stufig, zugleich kunstvoll unregelmäßig geschnittenen Federfrisuren. Seine Mundpartie bringt er durch das ausgiebige Auftragen von Lipgloss zum romantisch-erotischen Glitzern.
Zu einer Mode-Ikone der achtziger Jahre wird Thomas Anders aber vor allem durch das konsequente Tragen von Jacken und Jacketts, die mit Schulterpolstern versehen sind. In dem visuell besonders ambitionierten Video zur dritten Single von Modern Talking, «Cheri Cheri Lady» aus dem Herbst 1985, ist dieses Schulterpolster sogar noch mit Pailletten und Troddeln versehen wie bei einem Tambourmajor. Das Video zeigt Dieter Bohlen und Thomas Anders des Nächtens in einem Herrenhaus. Bohlen hat sich darin ein Studio eingerichtet mit schrankgroßen elektronischen Geräten und einem massigen Mischpult mit sehr vielen Knöpfen und Reglern; an diesen Instrumenten wirbelt er wie ein virtuoser Herrscher über die neuesten musikalischen Produktionsmittel herum, in der Nachfolge der Krautrock-Tüftler und Innovatoren von Gruppen wie Kraftwerk, Tangerine Dream oder Harmonia. Thomas Anders läuft derweil mit großen Augen durch das Herrenhaus und setzt sich schließlich an einen Flügel, um auf diesem zu spielen, begleitet von einem Cellisten, dessen Instrument allerdings bald in Flammen aufgeht. Zwischendurch versetzen Anders und Bohlen auf einem perspektivisch verzerrten, wie dreieckig wirkenden Schachbrett gläserne Kugeln und Pyramiden und gucken angestrengt durch sie hindurch.
Das Schulterpolster zählt rückblickend zu den zentralen modischen Insignien der Achtziger. Es wird gern auch als Beweis dafür herangezogen, dass sie ein Jahrzehnt der geschmacklichen Verirrungen waren. Tatsächlich kann man es karikaturhaft und auch peinlich finden, wie Jacken und Jacketts mit Schulterpolstern das breitschultrige Erscheinungsbild besonders viriler Männer stilisieren. Interessant ist gleichwohl – wie man schon am Beispiel von Thomas Anders sieht –, dass diese Stilisierung zumeist einhergeht mit einer «unmännlichen», effeminierten, androgynen Inszenierung. Nicht zufällig zielen viele jener Beschimpfungen, denen Modern Talking in der zeitgenössischen Presse ausgesetzt sind, nicht allein auf die kompositorische Schlichtheit ihrer Musik. Sie haben vielmehr einen homophoben Unterton: Gegen die Etikettierung als «höhensonnengegerbte Sangesschwuchtel» durch einen Autor des Magazins «Musikexpress» geht Thomas Anders am Ende des Jahrzehnts mit Erfolg vor Gericht.
Dass Männer, die ihre Schultern mit Polstern größer und breiter zu machen versuchen, dadurch nicht männlicher aussehen, sondern im Gegenteil weniger männlich oder dies auf eine künstliche Weise – das weist schon auf den historischen Umstand zurück, dass Schulterpolster nicht als Accessoire der Männerbekleidung in die Mode der Achtziger hineingelangt sind, sondern als Bestandteil der Frauenbekleidung. Hier haben die Schulterpolster eine einfache Funktion: Ihre Trägerinnen wollen damit männlicher und souveräner aussehen und auf diese Weise signalisieren, dass sie in einer von Männern beherrschten Welt – insbesondere in der Welt der beruflichen Karrieren, des großen Geschäfts und der Politik – ebenso kompromisslos und durchsetzungsstark sind wie die Platzhirsche und Patriarchen, die sie herausfordern.
«Power-Dressing» nennt man diese Strategie. Der Begriff taucht zum ersten Mal in dem Buch «Dress for Success» auf, das der Marketing-Psychologe John T. Molloy 1975 veröffentlicht. Molloy beschäftigt sich darin mit den Auswirkungen, die bestimmte Bekleidungsstile auf den Erfolg von Geschäftsleuten und Managern, von Verkäufern und Verkäuferinnen haben; 1977 bringt er eine Fortsetzung mit dem Titel «The Woman’s Dress for Success» heraus. Im Verlauf der Siebziger wächst die Zahl der Frauen, die eine Karriere in traditionell männlich beherrschten Berufen anstreben. Ihnen empfiehlt Molloy, «sich so anzuziehen, dass sie bei Männern damit Eindruck machen», wie er im Vorwort zu «The Woman’s Dress for Success» schreibt. «Das ist nicht sexistisch. Sondern der Tatsache geschuldet, dass es nun einmal Männer sind, die die Machtstrukturen beherrschen, im Geschäft, in der Regierung, in der Erziehung.» Frauen sollen ihre Bekleidung einfach so auswählen, dass diese «sie in sozialer und geschäftlicher Hinsicht voranbringt und nicht zurückhält». Molloy rät beispielsweise zu Frisuren, die nicht «zu weiblich» sind, aber auch nicht «zu männlich». Wer als Geschäftsfrau erfolgreich sein wolle, trage die Haare höchstens schulterlang, aber auch nicht zu kurz und zu maskulin; am besten sei ein welliger, doch nicht lockiger Schnitt. Auch könnten «moderate Schulterpolster» der Frau einen Anstrich von männlicher Autorität verleihen.
Molloys Empfehlungen werden Ende der siebziger Jahre vielfach aufgegriffen. Die Modezeitschrift «Mademoiselle» stellt nach seinen Empfehlungen 1977 eine «Power-Dressing»-Fotostrecke zusammen: «Combat Gear for the Trip to the Top» lautet der Titel, Kampfbekleidung für den Weg an die Spitze. Zu den gelehrigsten Schülern von Molloy gehört der Kostümbildner Nolan Miller, der seit Anfang der Siebziger für US-amerikanische Fernsehserien arbeitet. Seine bekanntesten Kreationen schneidert er für die Serie «Dynasty», die ab 1981 ausgestrahlt wird (in Deutschland ab 1983 als «Der Denver-Clan»). Hier versieht er die beiden weiblichen Hauptfiguren Krystle Carrington – gespielt von Linda Evans – und Alexis Carrington Colby – gespielt von Joan Collins – mit strengen Power-Suits in kräftigen Farben sowie mit überdimensionierten Schulterpolstern.
Ähnlich wie die schon seit Ende der Siebziger laufende – und unübersehbar als Vorbild dienende – Fernsehserie «Dallas» dreht sich auch «Dynasty» um die Geschäfte und Machtspiele, Kabalen und Liebesverwicklungen in einer steinreichen Sippschaft von Ölmagnaten. Wesentlich mehr noch als bei «Dallas» schwelgen die Ausstatter und Kostümbildner von «Dynasty» in bunt ausgemalten Bildern des märchenhaften Reichtums. In der Ästhetik dieser Serie erscheint zum ersten Mal jene exzessiv ausgelebte Lust an künstlichen, dabei nicht schrillen, aber stets Luxus und Verschwendung symbolisierenden Farben, wie sie für wesentliche Stränge der Popkultur in den Achtzigern typisch sein wird.
Im Jahr 1981, in dem die ersten «Dynasty»-Folgen laufen, legt sich auch die bedeutendste Power-Frau des realen Lebens maskuline Schulterpolster zu, um ihr Power-Dressing zu vervollkommnen: Margaret Thatcher. 1979 zur britischen Premierministerin gewählt, ist sie die erste Frau, die es in einer westeuropäischen Industrienation auf den obersten Regierungsposten geschafft hat. Ihr Sieg passt gut an das Ende eines Jahrzehnts, in dem der «second wave feminism» oder, wie es in Deutschland heißt, die «Neue Frauenbewegung» zu einer gesellschaftsprägenden Kraft herangewachsen ist. Freilich lehnt es Thatcher strikt ab, mit der Frauenbewegung in Verbindung gebracht zu werden. Sie will nicht als «Quotenfrau» wahrgenommen werden, und sie zeigt auch kein Interesse daran, sich in ihrem Kabinett oder sonst wo im Regierungsapparat mit weiteren Frauen zu umgeben. Vielmehr will sie mit männlicher Härte und Entschlossenheit einen radikalen Umbau ihres Landes beginnen. Wenn dabei weibliche Fähigkeiten von Nutzen sein können, dann vor allem beim Aufräumen, Putzen und Großreinemachen: Im Wahlkampf im Frühjahr 1979 zeigt Margaret Thatcher sich bei Presseterminen gerne mit großen Besen, die für ihr Versprechen stehen, das ihrer Ansicht nach verwahrloste Land einmal kräftig auszufegen. «Es ist Zeit für eine Grundreinigung», schreibt die sympathisierende Zeitung «Daily Express» nach Thatchers Wahlsieg am 3. Mai 1979: «Gebt dem Mädchen eine Chance, Großbritannien wieder groß zu machen.»
Margaret Thatcher ist nicht nur die erste Frau, die den Posten des britischen Regierungsoberhaupts bekleidet; sie ist auch die erste Person auf diesem Posten, deren Bekleidungs- und auch sonstiger Stil in der Presse thematisiert wird. Die Ausführlichkeit, mit der sich britische und ausländische Journalisten vor und nach ihrer Wahl mit ihren Frisuren, ihren Jacken, Röcken und Kostümen befassen, ist bis dahin jedenfalls keinem männlichen Politiker zuteilgeworden. Auch nicht dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, der sich einen Monat nach Thatchers Wahl, im Juni 1979, mit dem Satz zu ihr bekennt: «Ich bin die deutsche Margaret Thatcher.»
Anders als Strauß legt Thatcher allerdings Wert auf eine geschmackvolle Gesamterscheinung. Die Bilder des Wahlabends zeigen sie noch eher unauffällig in einer eng geschnittenen marineblauen Jacke ohne jegliche Schulterapplikationen. In den folgenden Jahren aber macht sich Thatcher allmählich die Ästhetik des Power-Dressing zu eigen. 1981 ist sie, wie erwähnt, erstmals in einer Jacke mit – allerdings noch moderaten – Schulterpolstern zu sehen, kombiniert nun aber schon mit einer Frisur, die nicht mehr weich und beweglich wirkt, sondern auf strenge Weise gefestigt: Der Thatcher’sche «Haarpanzer» oder auch «Haarhelm» wird seinerseits zu einem stilprägenden Symbol von Durchsetzungskraft und Entschlossenheit. Im Jahr 1987 schließlich, anlässlich einer von ihr selbst in ihren Memoiren als «äußerst schwierig» beschriebenen Auslandsreise zum sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, übernimmt Thatcher vollends den überdimensioniert maskulinen Schulterpolsterstil, der in der Zwischenzeit von Modedesignern wie Giorgio Armani, Ralph Lauren und Donna Karan zur Pflicht erhoben worden ist. In einer Hinsicht widersteht sie gleichwohl diesem neuen Mainstream der Frauenmode: Zeit ihrer politischen Karriere hat Thatcher in der Öffentlichkeit niemals eine Hose getragen.
Das markanteste Schulterpolster des Jahres 1981 findet sich auf einem Schallplattencover, und zwar auf dem Album «Nightclubbing» von Grace Jones. Darauf sieht man die jamaikanische Künstlerin in einer rätselhaft-bedrohlichen Frontalansicht. Sie trägt ein Jackett mit derart ausladenden Applikationen, dass ihr Oberkörper geradezu kastenförmig wirkt. Ihre Haare hat sie zu einem strengen Flat-Top-Bürstenschnitt geschoren, so dass auch der Kopf nicht rund oder oval, sondern eckig erscheint. Ihre dunkle Haut glänzt wie poliert; aus ihrem Mund hängt exakt vertikal eine nicht angezündete Zigarette heraus. Der ganze Körper scheint sich in eine Statue verwandelt zu haben; ohne jegliche Rundung wirkt er nicht organisch, sondern wie aus einem Stück Stein gehauen – oder wie eine aus geometrisch geordneten Linien zusammengesetzte Skizze.
Hier dient das Schulterpolster also nicht mehr allein dazu, seiner weiblichen Trägerin eine männliche Silhouette zu verleihen. Durch deren extreme Überbetonung wird das «Männliche» gleichsam parodistisch entstellt, oder anders gesagt: Es wird zu einem Zeichen reduziert, das man sich – unabhängig davon, welches biologische Geschlecht man selber besitzt – aneignen kann, um damit Dominanz zu symbolisieren; und das man wieder abstreift, wenn man der Dominanzgeste überdrüssig ist.
Das Outfit und die dazugehörige Inszenierung hat Grace Jones gemeinsam mit dem Designer Jean-Paul Goude entworfen. Dieser hat die Sängerin erstmals Ende der siebziger Jahre getroffen, als sie in New Yorker Diskotheken wie dem Studio 54 auftrat. Schon in ihrer ersten Karrierephase reüssiert Jones als androgyne Frau, die man ebenso gut für einen Mann halten könnte, und begeistert damit vor allem das schwule Publikum, das für die Discokultur jener Zeit wesentlich ist; mit «I Need A Man» singt sie 1977 eine der großen Schwulenhymnen des Jahrzehnts. Ihre Zusammenarbeit mit Goude beginnt damit, dass er sie nach den Vorgaben der «Dress-for-Success»-Bücher einkleidet. Dabei verleiht er ihrem dominanten Auftritt überdies noch einen Zug ins Militärische: Den strengen Bürstenhaarschnitt entleiht er dem Boxer Muhammad Ali; für ihre Konzerte baut er ihr Bühnen, die wie Boxringe aussehen. Auf den beiden Alben, mit denen sie bei einem größeren Publikum berühmt wird, «Warm Leatherette» von 1980 und «Nightclubbing» aus dem folgenden Jahr, singt Jones fast ausschließlich Coverversionen, die im Original von Männern stammen, und wechselt dabei unermüdlich die Rollen, Maskeraden und Inszenierungen von Männlichkeit.
Denn diese erschöpft sich ja nicht in Virilität und dem Streben nach Dominanz. In «Love Is The Drug», einem Cover von Roxy Music, fühlt Grace Jones sich ganz in die Rolle des sensiblen und ästhetisch verfeinerten, aber existenziell zugleich desorientierten Dandys ein, wie sie der Roxy-Music-Sänger Bryan Ferry in den Siebzigern idealtypisch verkörpert. «Demolition Man» wiederum heißt ein Lied auf dem Album «Nightclubbing», das der Sänger und Bassist der Gruppe The Police, Sting, für sie geschrieben hat: «I’m a walking disaster / I’m a demolition man», heißt es darin. Im dazugehörigen Video kann man Grace Jones dabei zusehen, wie sie auf einer Art Vaudeville-Bühne in dem schon vom Albumcover bekannten Jackett mit den überdimensionierten Schulterpolstern tanzt, und zwar mit hektischen, abgehackten Bewegungen wie eine außer Rand und Band geratene Marionette – bis schließlich eine ganze Armee von Grace-Jones-Klonen auf die Bühne marschiert, allesamt im gleichen Kostüm, mit Schulterpolsterjacketts und Bürstenhaarschnitten.
Grace Jones zeigt in dieser Szene, woraus Zeichen, vor allem die der Männlichkeit, ihre reale Wirkmacht beziehen: aus der Uniformierung; aus der Verstärkung des dominanten Auftretens in gleichgeschalteten Gruppen, etwa in einer Polizeitruppe oder eben einer Armee in Grace-Jones-Uniformen; oder auch durch die ästhetische Gleichschaltung, die Politiker und Wirtschaftsbosse mit ihren Anzügen vornehmen – eine Gleichschaltung, der sich die Power-Frauen der achtziger Jahre mit Power-Dressing und «Dress for Success» fügen sollen, um in für sie bisher unzugängliche Bereiche der Gesellschaft und Macht vorzudringen.
Das markanteste Schulterpolster des Jahres 1983, zwei Jahre nach Grace Jones’ «Nightclubbing» und zwei Jahre vor dem Durchbruch von Modern Talking, trägt die Sängerin des britischen Duos Eurythmics, Annie Lennox. Sie sieht nun tatsächlich und scheinbar ohne jede ironische Brechung wie eine erfolgreiche Firmenlenkerin aus. In dem Video zum Eurythmics-Stück «Sweet Dreams (Are Made Of This)» sieht man Lennox in einem dunklen Manageranzug mit weißem Hemd und Krawatte in einem dunklen Konferenzraum stehen. Mit lederbehandschuhten Händen schlägt sie rhythmisch auf den Konferenztisch; ihre Haare sind raspelkurz geschnitten und orangerot gefärbt. Während sie den Text ihres Liedes vorträgt, blickt sie dominant direkt in die Kamera, als wolle sie den Blick der Betrachter und Betrachterinnen fixieren und sie lähmen; derweil ist hinter ihr auf einem Fernsehmonitor das Bild einer startenden Rakete zu sehen.
Mit ihrem strengen, schulterbepolsterten Herrenoutfit hat Lennox die Vorgaben der Power-Dressing-Ratgeber ähnlich übererfüllt wie Grace Jones. Anders als diese findet Lennox jedoch immer wieder in die Inszenierungen und Zeichenwelten der «echten» Weiblichkeit zurück – etwa wenn sie sich über ihre «unweiblich» kurzgeschorenen Haare opulente Perücken zieht. In der zweiten Hälfte des Videos zu «Sweet Dreams» sieht man sie mit dem zweiten Mitglied der Eurythmics, Dave Stewart, auf einer von Kühen umstandenen Weide im Dämmerlicht auf zwei Celli spielen, die freilich – ähnlich wie Dieter Bohlens Gitarre bei Modern Talking – in der Musik gar nicht zu hören sind; dabei trägt Lennox eine ausladende schwarze Lockenperücke. In dem Video zu dem Lied «Love Is A Stranger» lässt sie sich als Diva in einer Limousine durch die Nacht fahren. Dabei trägt sie zunächst eine wasserstoffblonde Lockenperücke, die sie sich allerdings bald mit dramatischer Geste vom Kopf reißt; darunter kommt eine kurze, rotblond gefärbte Gelfrisur zum Vorschein, die sie im weiteren Verlauf mit einer schwarzen Ponyperücke und schließlich wieder mit den wasserstoffblonden Haaren bedeckt.
Der stete Rollen- und Perückenwechsel wird sich durch die Auftritte von Annie Lennox bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hineinziehen: So wie Grace Jones ihre androgyne Erscheinung dazu nutzt, sich mit wechselnden Männerrollen zu maskieren, so maskiert sich Annie Lennox mit wechselnden Frauenrollen – während ihr musikalischer Begleiter Dave Stewart dabei durchweg in subalterner Funktion auftritt: als Chauffeur in «Love Is A Stranger», als tippender Sekretär der herrischen Managerin in «Sweet Dreams (Are Made Of This)», als kameraführender Assistent in dem Video zu «Here Comes The Rain Again» aus dem Jahr 1983.
In gewisser Weise führen Lennox und Jones damit jenes Prinzip des dauernden Rollenwechsels und der stetigen Selbst-Neuerfindung fort, das David Bowie Anfang der siebziger Jahre etabliert hat, als er sich in das bisexuelle Alien Ziggy Stardust verwandelte und später dann in Aladdin Sane und in den Thin White Duke; auch der Bowie der Glamrock-Phase trägt übrigens gern Schulterpolster. Freilich sind es in den Siebzigern, dem Jahrzehnt der sexuellen Befreiung und der Überschreitung von überkommenen Rollenmodellen, fast ausschließlich Männer, die diese politische Emanzipation in popkulturelle Bilder und Inszenierungen übersetzen. Das ändert sich erst in den Achtzigern mit Künstlerinnen wie Grace Jones und Annie Lennox.
Die schulterpolstertragenden Männer jener Zeit fallen dagegen auf, weil sie gerade durch die Stilisierung der männlichen Körperlichkeit eher unmännlich aussehen; sie wirken, als wollten sie sich selbst parodieren. Oft hat man den Eindruck, dass die Bekleidung schlicht zu groß ist – ob nun beabsichtigt oder nicht.
Die krasseste Übergröße findet sich fraglos bei der New Yorker Band Talking Heads in ihrem 1984 veröffentlichten Konzertfilm «Stop Making Sense» und auf dem Cover des dazugehörigen Albums. Der Sänger der Gruppe, David Byrne, trägt in der zweiten Hälfte des Konzerts einen gewaltigen, wiederum kastenförmig geschnittenen Anzug mit weit ausladender Schulterpartie, in dem sein Körper fast zu verschwinden scheint. Es sei der Designerin Gail Blacker und ihm darum gegangen, den Rumpf größer wirken zu lassen und damit den Kopf kleiner, hat David Byrne später dazu gesagt. So wollte er darauf hinweisen, dass Musik zunächst eine Sache des Körpers ist und erst dann eine Sache des Kopfes; je kleiner der Kopf, desto besser für die Musik.
Derart überdimensionierte Anzüge mit Schulterpolstern sieht man, zumindest bei einer Band, erst wieder am Ende der achtziger Jahre. Auch hier hat man sofort das Gefühl, dass die Anzüge der Musiker viel zu groß sind; allerdings eher unbeabsichtigt. «Girl You Know It’s True» heißt der Song, mit dem das deutsche Duo Milli Vanilli 1988 den Durchbruch schafft, und das nicht nur beim heimischen Publikum, sondern in einer für deutsche Musiker bis dahin unbekannten Größenordnung auch bei den US-amerikanischen Hörern und Hörerinnen; das gleichnamige Albumdebüt steht wochenlang auf Platz eins der Billboard-Charts. In dem Video zu «Girl You Know It’s True» kann man den beiden Mitgliedern von Milli Vanilli, Fabrice Morvan und Robert Pilatus, dabei zusehen, wie sie in gewaltig auskragenden Schulterpolsterjacketts eine Art Synchronchoreographie aufführen. Diese erschöpft sich allerdings im Wesentlichen darin, dass Morvan und Pilatus ihre Oberkörper jeweils gleichzeitig nach rechts und nach links abwinkeln und gelegentlich in rätselhaft motivierter Weise aufeinander zuspringen – ein rundum erbärmlicher Eindruck.
Für die Phänomenologie und Geschichte des Schulterpolsters ist dieses Video gleichwohl von Bedeutung, denn es vollendet sich darin der Kreislauf der Appropriation, den dieses Bekleidungsteil in den Achtzigern durchlaufen hat. Am Beginn des Jahrzehnts steht seine Aneignung durch Frauen, die sich mit diesem Symbol maskuliner Körperlichkeit selbst ermächtigen oder auch «vermännlichen» wollen; in den folgenden Jahren wird das Schulterpolster dann zu einer Art Metazeichen dafür, dass sexuelle Rollenmodelle und Körperbilder grundsätzlich einen Zeichencharakter besitzen. Männer, die sich das von Frauen angeeignete Symbol ihrerseits rückanzueignen versuchen, wirken dabei durchweg effeminiert oder auf eine künstliche Weise männlich: Zur dominanzstiftenden Authentiziät der klassischen Herrenbekleidung führt, nachdem sie einmal ins Säurebad der aufgelösten sexuellen Rollenmodelle geworfen wurde, kein Weg mehr zurück. Es sei denn als Farce: wie bei Milli Vanilli, die ihre Schulterpolsterjacketts noch einmal völlig unironisch tragen wollen, dabei aber lediglich aussehen wie zwei Kinder in den Anzügen ihrer großen Geschwister, wie zwei singende Hanswurste in zu weiten Kleidern.