Kapitel 2

Auren

M eine Augen weiten sich. «Midas kommt zurück?»

Riss hebt eine Augenbraue. «Was ist los? Macht dich diese Tatsache etwa nicht glücklich?»

Ich presse die Lippen zusammen, weil Frust durch mich hindurchrauscht. Wenn Midas fast hier ist, bleibt mir keine Gelegenheit mehr, mich davonzuschleichen.

Aber wenn ich ehrlich bin, war dieses Vorhaben sowieso unrealistisch. Ich hätte mich in dieser Burg schon sehr gut auskennen und eine Menge Glück haben müssen, um zu verschwinden, ohne dass Midas etwas erfährt. Und selbst wenn es mir durch einen günstigen Umstand gelungen wäre, wirklich zu fliehen … Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er mich aufgespürt hätte. Er wird niemals erlauben, dass ich ihn verlasse.

Ich bin gefangen. Ein Sattel, gehalten von Zügeln.

«Du musst jetzt verschwinden», beharre ich.

Zu meinem großen Ärger sieht Riss mich nur an, ohne sich einen Zentimeter zu bewegen. «Warum?»

Ich blinzele ungläubig. «Wenn Midas dich hier drin entdeckt …»

«Was will er machen? Mich in Gold verwandeln?», höhnt Riss, ein bösartiges Glitzern in seinen Augen. Wie selbstgefällig er ist. Aber wieso sollte er das auch nicht sein? Er hält Midas’ größtes Geheimnis in Händen.

Ich zittere fast vor Anspannung. «Du …»

Er schenkt mir ein hinterhältiges Lächeln. «Entschuldige mich, während ich in meinen anderen Mantel schlüpfe.»

Bevor ich mich wappnen kann, erhebt sich brodelnd seine Macht. Übelkeit dreht mir den Magen um. Ich sacke am Türrahmen zusammen, würge beinah angesichts der aufgewühlten Magie, die jetzt die Luft erfüllt.

Riss beginnt erneut, sich zu verwandeln. Ich beobachte, wie sein Gesicht an Schärfe verliert. Seine spitzen Fae-Ohren runden sich, seine scharfen Wangenknochen werden weicher und die grauen Schuppen lösen sich auf. Die Reihe kleiner Stacheln über seinen Brauen verschwindet innerhalb eines Wimpernschlags, genauso schnell wie die an seinen Armen und auf dem Rücken.

Während Riss verblasst und König Ravinger zurückkehrt, läuft ein Zittern durch seinen gesamten Körper. Er lässt die muskulösen Schultern kreisen, und dunkle, heimtückische Linien erscheinen unter der Haut an seinem Hals. Sie kriechen höher, bis sie seinen Kiefer erreichen, wie Wurzeln auf der Suche nach besserer Erde.

Ich hole Luft, atme gegen die Übelkeit an. Doch bevor sie mich überwältigen kann, verschwindet seine Macht und damit auch mein Brechreiz. Zitternd sacke ich in mich zusammen und starre ihn an.

Seine Transformation ist beendet. Als er erneut die Augen öffnet, ist der vertraute, schwarze Blick verschwunden. Stattdessen schaue ich in die dunkelgrünen Augen eines niederträchtigen Königs.

Wende dich ab , weise ich mich selbst an.

Ich darf ihn nicht weiter anstarren. Jedes Mal, wenn unsere Blicke sich treffen, verkrampft sich mein Magen, meine Brust schmerzt, und ich fühle mich, als kenne ich ihn überhaupt nicht.

Mein Herz rast erneut, aber ich weiß nicht, ob das die Nachwehen seiner Macht sind oder ob er mir in dieser Gestalt Angst einjagt – ob König Ravinger mir Angst einjagt. Seltsam, die Schuppen und Stacheln verschwinden, und er wird trotzdem beängstigender.

Ich sehe diese Version von ihm nicht gern. Egal, wie sehr ich auch versuche, mich daran zu erinnern, dass Riss vor mir steht, für mich wirkt er wie ein Fremder. Ein Fremder, dem zu vertrauen ich nicht wage.

Meine Beklommenheit schlägt in Angst um. Ich drehe mich um und taumle in Midas’ Schlafzimmer. Ich brauche den Abstand zwischen uns, brauche diese Flucht .

Doch ich komme nur ein paar Schritte weit, bevor ich über etwas stolpere. Es gelingt mir, mich zu fangen, ehe ich zu Boden stürze, nur um festzustellen, dass mein Fuß sich an einer Leiche verfangen hat.

«Große Göttlichkeit …» Ich schlage mir die Hand vor den Mund, während ich entsetzt auf die Person herunterstarre, die vor meinen Füßen liegt.

Die Augen des Wachmanns sind geschlossen, dafür steht sein Mund offen. Sein goldener Brustpanzer glänzt, doch die Haut darunter ist verwelkt und grau. Er ist wie eine Traube, die gepflückt und zu Boden geworfen wurde, um dann in der Sonne zu vertrocknen.

Mein Blick gleitet von ihm zu einer weiteren Leiche, einem zweiten Wachmann in derselben Verfassung. Und dann entdecke ich noch einen und noch einen und noch einen.

Ein gequälter Laut entringt sich meiner Kehle, und ein alarmierendes Klingeln erfüllt meine Ohren. Aber ich kann den Blick nicht von den Leichen abwenden, von den vertrockneten Augen, die für alle Ewigkeit schockiert ins Leere starren. Kann mich nicht von den eingesunkenen Wangen abwenden oder den rauen, aufgeplatzten Lippen.

Dazu … dazu ist Ravinger fähig.

In einer Sekunde waren all diese Männer noch am Leben, und in der nächsten sind sie nichts als vertrocknete Hüllen.

Ich fühle, wie meine Brust sich heftig hebt und senkt, doch egal, wie schnell ich auch atme, ich bekomme einfach nicht genug Luft. Ein einziger Gedanke wirbelt durch meinen Kopf.

Hätte ich dasselbe getan?

Wäre die Sonne nicht untergegangen, wäre meine goldene Macht noch aktiv gewesen. Hätte ich die Tür aufbrechen können, wäre ich dann statt Ravinger diejenige gewesen, die all diese Männer getötet hätte?

Ich fühle Tränen in meinen Augen brennen. Vielleicht ist das die einzige mögliche Verteidigung meines Körpers, um diesen Anblick vor mir zu verschleiern. Aber es funktioniert nicht.

Doch dann tritt Ravinger vor mich und verstellt mir die Sicht. Das allerdings funktioniert. Ich mustere seinen Körper, sein Gesicht, bis wir uns schließlich ansehen. Der Blick aus grünen Augen streicht über meine Miene wie Wind über aufgewühltes Wasser.

«Du musst atmen, Auren.»

«Ich atme», blaffe ich.

«Du wirst hyperventilieren, wenn du so weitermachst», antwortet er ruhig. «Hast du bisher den Tod nur in der Farbe deiner eigenen, goldenen Macht gesehen?»

Fast hätte ich bitter aufgelacht. «Ich habe schon jede Menge Tod gesehen.»

Alte, zerknitterte Erinnerungen entfalten sich eine nach der anderen. Ich habe den Tod in der Nacht kennengelernt, als ich von zu Hause gestohlen wurde … und seitdem verfolgt er mich.

«Diese Männer hatten das nicht verdient», sage ich und wische mir wütend eine Träne von der Wange, die von meinen Wimpern getropft ist.

«Dem möchte ich widersprechen. Sie haben dich gegen deinen Willen festgehalten.»

Meine Augen blitzen auf. «Sie haben einfach nur Befehle befolgt. Haben getan, wozu man sie angewiesen hat.» In meinem Geist tauchen all die Anweisungen auf, die mir je gegeben wurden. «Ich wollte …» Ich hasse, dass meine Stimme bricht. «…das hier nicht.»

Schuldgefühle, die in der Stille immer weiter an Kraft gewinnen, schnüren mir die Kehle zu.

«Diese goldenen Augen, so ausdrucksstark», murmelt Ravinger. «Im einen Moment zeigen sie Hass, im nächsten nur Herz.»

Ohne seinen waldgrünen Blick von mir abzuwenden, hebt er eine Hand. Instinktiv zucke ich zusammen. Er hält inne, und seine Miene verfinstert sich ob meiner Reaktion. «Ich werde dir nicht wehtun, Goldfink.»

Doch mein Gesichtsausdruck verrät ihm, dass er das bereits getan hat.

Mit zusammengebissenen Zähnen dreht er die Hand, als bediene er einen unsichtbaren Türknauf. Langsam kriechen die dunklen Linien seiner Macht über die Handfläche, schlingen sich um seine Finger wie Efeuranken.

Wie eine Brise fühle ich erneut seine Macht über mich hinweggleiten. Ich bereite mich innerlich auf die Übelkeit vor, doch sie kommt nicht. Diesmal spüre ich keine verderbte Falschheit. Magie bringt die Luft in Bewegung wie ein vorbeischwebender Geist, lässt sie in meine Lungen strömen.

Ich zittere nicht, muss nicht würgen, und mir wird auch nicht flau. Ich spüre keinen Brechreiz. Stattdessen pulsiert Energie um uns herum. Meine Bänder strecken sich, wo sie aus meiner Haut wachsen, und Gänsehaut rieselt über meinen Rücken.

Plötzlich erfüllt Husten den Raum. Alarmiert wirbele ich zu den Geräuschen herum. «Was …» Überall um mich herum rollen sich die liegenden Wachmänner zur Seite oder setzen sich auf, versuchen keuchend, das Sandpapier aus ihren Kehlen zu tilgen, schnappen mit aufgesprungenen Lippen nach Luft.

Mit weit aufgerissenen Augen starre ich Ravinger an. «Wie hast du … Ich dachte, sie wären tot!»

Er senkt die Hand. Die Linien auf seiner Handfläche sind verschwunden. «Das wären sie auch gewesen, hätte ich noch länger gewartet. Die Verwesung eines Körpers kann nur für eine gewisse Zeit rückgängig gemacht werden.»

Ich schüttele den Kopf, blinzele, während die Soldaten sich erheben. Sie sind verwirrt; wirken, als hätten sie dem Tod ins Auge geblickt und wären sich nicht sicher, wie sie die Grenze zurück ins Land der Lebenden überschritten haben.

«Du hast einfach … du … warum?», frage ich atemlos, weil ich ihn schlicht nicht verstehe.

Ravinger bekommt allerdings keine Gelegenheit, mir zu antworten, denn die Schlafzimmertür wird aufgestoßen.

Midas stoppt abrupt im Türrahmen. Seine goldene Tunika und Hosen glänzen im schwachen Licht; lassen sein honigblondes Haar aus irgendeinem Grund noch heller wirken. Seine Miene verrät seine Überraschung, als er das Geschehen im Raum erfasst. Sein gebräunter, scharf geschnittener Kiefer spannt sich an. Er mustert die stolpernden Wachen, die sich vergeblich bemühen, Haltung anzunehmen, dann fällt sein Blick auf mich. Als er Ravinger neben mir entdeckt, verzerrt Zorn sein Gesicht.

«Was hat das zu bedeuten? Was zur Hölle denkt Ihr Euch dabei, einfach in meine Privatgemächer vorzudringen?» Ich erkenne Midas’ Stimme kaum, so wütend klingt sie. Er stampft vorwärts und hält neben mir an, allerdings ohne die braunen Augen von dem tödlichen König abzuwenden.

Ravinger scheint unbeeindruckt von Midas’ Zorn. Tatsächlich mustert er Midas mit gelangweilter Erheiterung. Es wirkt, als hätte er nicht nur seine Erscheinung transformiert, sondern wäre gleichzeitig auch noch in einen anderen Charakter geschlüpft. Selbst seine Gestik ist unterschiedlich. Ravinger strahlt Hochmut und Gelassenheit aus; seine schwarzen Brauen sind hochgezogen, und er trägt eine Miene zur Schau, die gleichzeitig gebieterisch und verächtlich wirkt.

Die Stacheln, Schuppen und finsteren Blicke sind verschwunden. Stattdessen sind da ein höhnisch verzogener Mund und Linien auf seiner Haut. Die Krone sitzt schief auf dem Kopf. Kein Wunder, dass niemand vermutet, dass Riss und Ravinger ein- und dieselbe Person sein könnten.

«Oh, ist das gar nicht mein Gästezimmer?», antwortet Ravinger gespielt unschuldig, als er sich im Raum umsieht. «Mein Fehler.»

«Ihr wisst genau, dass es das nicht ist», stößt Midas hervor. «Und was zur göttlichen Hölle habt Ihr mit meinen Wachen angestellt?»

Die Männer husten immer noch leicht, aber zumindest können sie sich auf den Beinen halten. Wenngleich sie aussehen wie wandelnde Tote.

«Oh, die? Ich habe sie ein wenig verwesen lassen.»

Midas wird bleich. «Ihr habt … was

Ich behalte die beiden Könige wachsam im Auge, denn ich bin zwischen ihnen gefangen.

Ravinger zuckt mit den Schultern. «Jetzt geht es ihnen wieder gut. Ein wenig Nahrung und Ruhe, und sie dürften recht bald in bester Verfassung sein.»

Ich spüre Midas’ Wut ebenso deutlich, wie ich sie in seinen braunen Augen brodeln sehen kann. «Das ist ein kriegerischer Akt.»

Grüne Augen suchen Midas; der Blick durchbohrt ihn wie ein Speer. «Wäre es Krieg, hättet Ihr es gemerkt», erklärt Ravinger kalt, seine verächtliche Miene wird von einem viel grausameren Ausdruck verdrängt. Mein Blick schnellt zwischen den beiden hin und her, und mir wird die Brust eng.

Midas lässt seinen Zorn für einen Moment schweigend brennen, dann erregt die offene Tür des Käfigraums seine Aufmerksamkeit – die Tür, die jetzt golden glänzt. «Weshalb ist meine Favoritin hier draußen und einem fremden König ausgeliefert?», verlangt er von den Wachen zu wissen.

Daraufhin werden die Männer in ihren Rüstungen noch bleicher. Ich weiß nicht, wie es überhaupt möglich ist, nachdem ihr Teint bereits so grau ist. Ein paar von ihnen werfen nervöse Blicke in meine Richtung. Mir wird bang ums Herz.

Sie haben es gesehen . Sie haben gesehen, wie die Tür zum Käfigraum sich in Gold verwandelt hat. In meiner Wut habe ich mit der Handfläche dagegen geschlagen, um zu entkommen, und habe das ganze Ding vor ihren Augen vergoldet.

Midas’ Blick verdunkelt sich, als ihm klar wird, was sie gesehen haben müssen.

Scheiße.

«Fremder König?», unterbricht Ravinger, scheinbar arglos. «Midas, wir haben vor ein paar Stunden ein Abkommen unterzeichnet, habt Ihr das schon vergessen? Ihr und ich, wir sind jetzt Verbündete», erklärt er mit einem schiefen Grinsen.

«Und doch seid Ihr hier, in meinen Gemächern, setzt Eure Macht gegen meine Wachen ein und steht neben meiner Favoritin, obwohl Ihr kein Recht dazu habt!», blafft Midas. «Wir wissen beide, dass Ihr diese Gemächer nicht mit Euren eigenen Räumlichkeiten verwechselt habt.»

Midas schätzt es nicht, überrumpelt zu werden. Als Planer will er immer genau kontrollieren, wie alles läuft. Dass Ravinger in seinen persönlichen Bereich eingedrungen ist, vermittelt ihm ein Gefühl der Bedrohung; als wäre er ein in die Ecke getriebenes Beutetier.

Ein in die Enge getriebener Midas ist gefährlich.

Ravinger sieht sich im Raum um, mustert das Bett, den Kamin, den Balkon – alles mit gelangweiltem Desinteresse. «Vielleicht irrt Ihr Euch. Vielleicht habe ich das hier wirklich mit meinen eigenen Gemächern verwechselt und habe Eure Wachen verrotten lassen, weil ich dachte, sie versuchten, mich zu überfallen.»

Es ist beinahe ein Knurren, das aus Midas’ Kehle dringt.

«Oder …», fährt Ravinger fort. «Vielleicht wollte ich einfach sehen, wie der amtierende Monarch des Fünften Königreiches lebt.» Grüne Augen huschen zu mir. «Es ist durchaus bemerkenswert, wie die Favoritin des Königs untergebracht ist», sinniert er mit einem leisen Lächeln. «Was, glaubt Ihr, sagt es über einen Mann aus, wenn er eine Frau … im Käfig hält?»

Mein Atem stockt. Ich spüre, wie mein Herz angesichts der Anspannung in der Luft zu rasen beginnt. Panik droht sich wie Seile um meinen Hals zu schlingen, die mich von den Füßen reißen.

Ravinger beobachtet Midas, und Midas beobachtet Ravinger.

Ich beobachte sie beide.

Ravinger will sticheln und piesacken; ein Dorn in Midas’ Fleisch sein. Midas allerdings wirkt, als wollte er Ravinger zu Brei schlagen.

Aber … das kann er nicht.

Normalerweise bin ich die einzige Person, die das weiß. Midas spielt seine Rolle sehr, sehr gut. Schließlich hat er darin eine ganze Dekade Übung. Ein Taschenspielertrick hier, meine taktisch platzierte Anwesenheit dort, die nachträgliche Präsentation von vergoldeten Gegenständen … Er weiß, was er tun muss, um alle glauben zu lassen, er besitze die Macht.

Aber Ravinger kennt nun die Wahrheit. Darüber ist sich Midas natürlich noch nicht im Klaren … und so soll es, wenn es nach mir geht, auch bleiben. Doch vielleicht fällt alles in sich zusammen, hier und jetzt. Vielleicht steht Ravinger kurz davor, Midas’ Bluff auffliegen zu lassen. Oder er lässt Midas einfach an Ort und Stelle verrotten.

Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt wie die festgezurrten Schnüre eines zu engen Korsetts.

Midas’ Wachen treten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht spüren sie die Bedrohung so deutlich wie ich. Das Letzte, was sie wollen, ist sicherlich, sich Ravinger erneut stellen zu müssen. Beim ersten Mal ist das nicht so gut für sie gelaufen. Aber als Soldaten haben sie eigentlich keine Wahl.

Das Schweigen verstärkt die Anspannung noch. Selbst meine Bänder, so wund sie auch sein mögen, spannen sich auf meinem Rücken an, als rechneten sie mit einem Kampf. Wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt, kann Midas nicht gewinnen. Denn Drohungen funktionieren nur bis zu einem gewissen Punkt.

Er muss zur selben Erkenntnis gelangt sein wie ich, weil ich den Moment erkenne, in dem Midas beschließt, den taktischen Rückzug einzuleiten. Es kostet ihn Kraft, aber sein Körper und die Finger entspannen sich und er setzt eine höfliche Miene auf, die seine wahren Gefühle effektiv verbirgt.

Midas ist kein Narr. Er ist erfahren darin, seine Gegner zu studieren. Und im Augenblick ist ihm klar, dass er auf verlorenem Posten steht. Wenn man mit Macht nicht gewinnen kann, bedient man sich stattdessen politischer Spiele.

Weswegen es mich nicht überrascht, als er sich räuspert und zu sprechen ansetzt. «Wir sind in der Tat Verbündete, wie Ihr schon sagtet. Also werde ich dieses Missgeschick vergeben.»

Ravinger senkt den Kopf, doch ein Grinsen umspielt seine Lippen. «Verbindlichsten Dank.» Erneut huscht sein Blick zu mir, und er zwinkert mir kurz zu, bevor er aus dem Raum schlendert.

Sobald der andere König verschwunden ist, schießt mein Blick zu Midas, doch seine Aufmerksamkeit ist auf die Wachen gerichtet.

«Ihr habt mich enttäuscht», teilt er ihnen mit.

Die Männer versteifen sich. Einige zucken zusammen, als er an ihnen vorbei in den Flur schreitet und dort leise Worte spricht, die ich nicht verstehen kann. Als er zurückkehrt, begleiten ihn zehn frische Soldaten. Sofort packen sie die Männer, die den Auftrag hatten, über mich zu wachen.

Die Männer wehren sich nicht, als sie weggeführt werden. Mit bangem Herzen wird mir klar, dass Midas sie umbringen lassen wird. Denn sie haben mitangesehen, was ich mit der Tür anstellte.

«Töte sie nicht.» Die Bitte platzt von meinen Lippen wie eine aufkeimende Pflanze aus dem Erdboden, auch wenn ich weiß, dass jedes Flehen vergeblich sein wird. Wie bei so vielen meiner Bitten an Midas.

«Es ist entschieden», antwortet er mit zusammengekniffenen Augen. «Sie haben ihr eigenes Schicksal besiegelt, indem sie gesehen haben, was sie nicht sehen durften.»

Schuldgefühle schnüren mir die Kehle zu. Nicht nur habe ich die Kontrolle verloren und die Frau in Gold verwandelt, die meine Rolle gespielt hat, sondern jetzt werden auch diese Männer meiner Macht wegen sterben. Vielleicht nicht durch meine Hand, aber das Resultat ist dasselbe.

Ich habe es Ravinger bereits erklärt: Den Tod habe ich schon zu oft gesehen.

Vielleicht wären die Wachen als verwesende Bündel auf dem Boden besser dran gewesen. Wer weiß schon, welches Schicksal barmherziger gewesen wäre? Hätten sie die Vergeltung eines Königs der des anderen vorgezogen?

Ich schlucke schwer, doch diesmal hat die Übelkeit, die in mir aufsteigt, nichts mit Ravingers Macht zu tun. Stattdessen liegen ihre Gründe in meinem eigenen Bedauern und dem Mann, der neben mir steht.