Kapitel 6

Auren

«M ilady, können wir Euch jetzt bitte in Eure Gemächer zurückbringen?»

Ich sehe über die Schulter zu Lowe, während wir an der Außenmauer der Burg entlanglaufen. Wer hätte gedacht, dass ausgebildete Soldaten solche Heulsusen sein können?

«Bald», versichere ich ihm.

Er wirkt nicht besänftigt. «Vergebt mir, aber das habt Ihr schon nach dem Gewächshaus gesagt.»

«Und der Bibliothek», wirft Scofeld wenig hilfreich ein.

Ich verdrehe die Augen. Keiner der Schreiber ist auch nur an die Tür gekommen, als ich geklopft habe.

«Und nach dem Musiksaal», fügt Lowe hinzu.

«Hmmm. Das stimmt wohl.»

Ich bewege mich ohne Eile. Der Saum meines Kleides gleitet über die dünne Schicht Schnee auf dem Boden. Lowe und Scofeld haben mir heute fast die gesamte Burg gezeigt. Wir haben alle Orte besucht, die mir eingefallen sind.

Und obwohl wir seit Stunden unterwegs sind, fühle ich mich noch nicht bereit, in meine Gemächer zurückzukehren. Scheint, als hätte ich Geschmack an der Freiheit gefunden. Jedes Mal, wenn ich einen weiteren Bissen davon koste, verzehre ich mich nach mehr. Mein Geist hungert nach Wildheit. Lechzt nach Wanderungen. Ich will überallhin gehen, alles sehen. Und zum ersten Mal ist Midas nicht anwesend, um über mich zu bestimmen.

Es ist so befreiend, nicht unter jemandes Befehl zu stehen. Keine Gefangene zu sein. Nicht verwahrt zu werden. Dieser Luxus war mir bisher nie vergönnt. Es ist ein heilender Balsam für all die Teile von mir, die viel zu lange brachlagen.

«Milady, Ihr tragt keinen Mantel. Ihr könntet Euch erkälten», wirft Lowe ein. Sein karottenrotes Haar weht in der Brise, als er sich bemüht, zu mir aufzuholen.

«Ich habe ein Jahrzehnt im Sechsten Königreich gelebt und bin durchs Ödland gereist, um hierherzukommen», halte ich dagegen. «Mir geht es gut. Dieser Ort ist im Vergleich dazu vollkommen harmlos.» Und das stimmt. Die Kälte des Fünften Königreichs gleitet wie ein kühler Atemzug über meine Wangen. Ein sanfter Kuss winterlicher Luft. Es ist belebend.

Ich passiere ein paar voll beladene Karren, beobachte, wie weiße Vögel im Schnee nach unsichtbaren Körnern picken. Die Wachen und Arbeiter erstarren, als sie mich bemerken. Bald schon breitet sich Stille im Burghof aus. Blicke folgen mir, dann höre ich zischendes Flüstern, wie das Züngeln neugieriger Schlangen.

Ich ignoriere das Starren, auch wenn ich es in meinem Nacken fühlen kann. Das Stimmengemurmel ist allerdings schwerer zu ignorieren.

«Das ist sie, König Midas’ Favoritin.»

«Das ist der vergoldete Sattel.»

«Schau dir ihr Gesicht an – goldgeküsst ist der richtige Ausdruck, nicht wahr?»

«Glaubst du, sie ist auch zwischen den Beinen golden?»

Ich kann ein Seufzen nicht unterdrücken. Anderes Königreich, dieselben Worte. Und genau darin liegt das Problem. Denn wo auch immer ich hingehe, werden mir Worte und Aufmerksamkeit folgen. Man wird mich erkennen. Vor Midas war ich einfach nur eine Kuriosität. Aber er hat mich berühmt gemacht und damit sichergestellt, dass man mich in ganz Orea kennt.

Ich werde etwas finden müssen, was ich in dieser Hinsicht unternehmen kann, weil das grundlegend ist für meine Flucht. Doch für den Moment möchte ich einfach nur die frische Luft genießen.

Ich überquere den quadratischen Hof, der von allen Seiten von Burgmauern umgeben ist, grau und angeschlagen von der Kälte. Hier zieht sich kein Glas über die Steinquader, es gibt kein ziseliertes Muster oder Bilder von Schneeflocken. Dieser Teil der Burg soll nicht hübsch sein, sondern funktional.

Hinter mir steht eine Getreidescheune, deren abblätternde Farbe den Blick auf das rohe Holz darunter freigibt. Vor dem Tor picken weitere Vögel, weil dort Saat und Körner liegen. Ein Arbeiter verscheucht sie. Zu meiner Linken erheben sich an beiden Enden einer Mauer zwei hohe Türme. Ich interessiere mich für den freien Gang der Brustwehr zwischen ihnen.

Ich halte auf die grobe Steintreppe an der vorderen Mauer zu und schürze meinen Rock, um nicht zu stolpern.

«Milady, Ihr dürft dort nicht hoch», ruft Lowe hinter mir.

«Ich will doch nur mal schauen.»

Die Treppe hat kein Geländer, also achte ich darauf, mich eng an der Wand zu halten, als ich die steilen Stufen erklimme. Die Mauer ist höher, als sie ausgesehen hat, und ich keuche bereits auf halber Strecke.

Meine Bänder lockern sich, bis sie hinter mir über den Boden schleifen wie die lange Schleppe eines Kleides. Sie gleiten über den grauen Stein wie dünne Rinnsale goldenen Wassers, als genössen auch sie die Freiheit. Dieser Gedanke zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. In meiner Jugend hätte ich nie vermutet, dass meine Bänder mich einmal lächeln lassen würden.

Als sie aus meinem Rücken gewachsen sind, habe ich sie gehasst, weil sie dafür gesorgt haben, dass ich noch mehr auffalle; weil sie mir noch mehr Schmerz verursacht haben. Sie waren einfach noch etwas, was ich verbergen musste.

Ihr haltet Euch zurück, weil Ihr Euch ihrer schämt. Ihr haltet sie für eine Schwäche. Aber sie sind eine Stärke, Auren. Benutzt sie!

Riss’ Worte hallen in mir nach. Er mag verborgen haben, wer er wirklich ist, doch gleichzeitig besaß er definitiv ein Talent dafür, mir vor Augen zu führen, wer ich bin. Ein Talent, mich mit Beschränkungen und Lügen zu konfrontieren, die ich akzeptiert hatte.

Ich habe mich selbst lang genug gehasst, abgelehnt und mich meiner selbst geschämt. Ich will solche Gedanken nicht mehr. Indem ich mich geistig von Midas gelöst habe, hat sich noch mehr in mir verschoben. Es wird Zeit, mein wahres Selbst genauso zu akzeptieren wie all meine Fähigkeiten.

Als ich endlich das Ende der langen Treppe erreiche, schmerzen meine Beine, aber allein die Aussicht war die Anstrengung wert. Der offene Wehrgang zieht sich über gute dreißig Meter, und von hier aus hat man einen freien Blick über das Königreich.

Ich halte vor einer Wandnische inne, die wahrscheinlich für Bogenschützen gedacht ist, mir aber einen perfekten Aussichtspunkt bietet. Die Gebäude der Stadt vor mir sind in einem Halbkreis angeordnet, der sich wie ein bunt funkelnder Mond um die Burg zieht.

Ich bin hoch genug aufgestiegen, um die gesamte Stadt Ranhold zu sehen, mit ihren Straßen und Dächern, den eng stehenden Häusern. Die Landschaft ist von glitzerndem Schnee bedeckt und hinter mir strecken sich schneegekrönte Berge dem Himmel entgegen wie Turmspitzen.

Wunderschön.

Ich drehe langsam den Kopf, um alles in mich aufzunehmen, genieße die frische Brise, die durch mein Haar fährt. Doch das reicht nicht. Nicht mal ansatzweise. Also lege ich die Hände auf die Wände neben meiner kleinen Nische und stemme mich nach oben.

Lowe stößt einen überraschten Schrei aus und Scofeld wird bleich. «Milady! Kommt sofort wieder da runter!»

«Sie wird fallen!», presst Lowe hervor.

«Ich werde nicht fallen», entgegne ich, als ich mich auf der Mauer der Brustwehr aufrichte, sobald ich mir meines Gleichgewichts sicher bin.

Lowe und Scofeld stehen versteinert wie Statuen, die mit entsetzten Mienen zu mir aufstarren. Scofeld hebt die Hand, als wolle er mich packen, doch mein warnender Blick lässt ihn den Arm wieder senken.

«Milady …», setzt er an.

Ich falle ihm ins Wort und wende mich gleichzeitig der Stadt zu. «Mir geht es gut. Lasst mich einen Moment schauen, dann verspreche ich, dass ich den Rest des Tages in meinen Gemächern verbringen werde.»

Das bringt ihn und Lowe zum Schweigen, auch wenn ich ihre Anspannung immer noch spüren kann.

Vielleicht gehe ich ein närrisches Risiko ein, indem ich hier oben stehe … aber manchmal muss man dumme Dinge tun, einfach, um sie getan zu haben. Eines Tages kann ich zurückblicken und mich daran erinnern, wie ich hier stand, im Herzen eines Königreichs aus Eiszapfen, mit der reifbedeckten Stadt vor mir und einem endlosen Himmel über meinem Kopf.

Das ist so viel besser als ein Käfig.

Ein Lächeln umspielt meine Lippen, als ich die kühle Luft atme. Ich glaube, so muss sich ein Vogel fühlen, kurz bevor er die Flügel ausstreckt und abhebt. Ich bin in Versuchung, die Arme auszubreiten, aber das würde meine nervösen Wachen wahrscheinlich schnurstracks in den Wahnsinn treiben, also stütze ich mich brav auf den Zinnen rechts und links neben mir ab.

Erneut gleitet mein Blick über die Stadt, doch meine Aufmerksamkeit wird magnetisch von einer bestimmten Stelle in der Ferne angezogen, an der sich hässliche dunkle Adern durch den besudelten Schnee ziehen. Dort hat Ravinger seiner Magie freien Lauf gelassen.

Gezackte Linien ziehen sich über den Boden wie Risse in Papier, die Ränder braun neben dem weißen Schnee. Selbst aus dieser Entfernung kann ich ein kränkliches Pulsieren fühlen, als wären sie verrottende Wurzeln, die darauf warten, dass ihr Meister sie wachsen lässt.

Weiter oben, auf einem Hügel, der die Stadt überblickt, ziehen sich in ordentlichen Linien die Zelte der Vierten Armee entlang. Aus irgendeinem seltsamen Grund verkrampft sich bei diesem Anblick mein Herz.

Meine Fingerspitzen gleiten über den rauen Stein, als ich die Hände zu Fäusten balle. Ich starre unentwegt diese Zelte an, die Punkte, die sich dazwischen bewegen, den Rauch, der von den Lagerfeuern aufsteigt, als ragten dunkle Finger in den Himmel.

Es dauert eine weitere Minute, in der ich nicht aufhöre zu starren, bis ich zugeben kann, dass das Gefühl in meiner Brust Sehnsucht entspringt.

Ich vermisse es.

Ich schnaube abfällig. Denn was für eine Person vermisst das Feldlager einer feindlichen Armee, von der sie entführt wurde?

Und doch … sie waren nicht der Feind. Nicht für mich. Ich kann nicht mal behaupten, ihre Gefangene gewesen zu sein, denn in Wirklichkeit haben sie mich vor den Roten Räubern gerettet. Tatsächlich hätten einige dieser Soldaten dort oben meine Freunde werden können, wenn die Dinge anders gelegen hätten, wenn ich die Entscheidung getroffen hätte, bei ihnen zu bleiben. Lu, Osrik, Judd, Fass, Hojat.

Riss .

Sie waren nicht, was ich erwartet hatte. Doch irgendwie wurden sie zu genau dem, was ich brauchte.

«Milady, ich muss darauf bestehen, dass Ihr jetzt von dort oben runterkommt», fleht Scofeld.

Mit Mühe reiße ich meine brennenden Augen von der Aussicht los, um auf ihn herunterzublicken. Er ist so nervös, dass ich fast fürchte, er könnte sich gleich in die Uniform machen. Angesichts des Schnitts der Hose wäre das höchstwahrscheinlich extrem unangenehm, also erbarme ich mich seiner.

Ich wende mich ein letztes Mal der Stadt zu und atme tief durch, dann springe ich wieder auf festen Boden. Meine Wachen seufzen in deutlicher Erleichterung.

«Hey! Was zur Hölle treibt ihr da oben?», brüllt jemand.

Ich bin wirklich froh, dass ich nicht mehr auf der Mauer stehe, weil ich angesichts der Lautstärke zusammenzucke. Wir alle drei sehen dem Soldaten entgegen, der auf uns zustampft. Er trägt Ranholds Rüstung und einen purpurfarbenen Umhang, doch nichts davon sticht so sehr hervor wie seine mürrische Miene mit den tiefen Falten.

Lowe senkt den Kopf, bis sein Kinn quasi die Brust berührt. «Die goldene Lady wollte nur die Aussicht genießen, Hauptmann.»

Verdruss gleitet über meine Haut wie Wassertropfen. Ich werfe Lowe einen Blick zu. Jetzt bin ich plötzlich die Goldene Lady ?

Der Mann mustert mich finster, als er vor uns anhält. «Sie kann gerne durch ein Fenster schauen. Aber die Brustwehr ist kein Ort für lustwandelnde Weiber.»

«Natürlich, Hauptmann», sagt Lowe eilig und dienstbeflissen. «Wir werden sofort aufbrechen.»

Vielleicht reagiere ich über, aber in diesem Moment kocht Ärger in mir hoch. Wieso fällt es allen so leicht, mich herumzukommandieren und über mein Leben zu bestimmen? Alle erwarten immer, dass ich mich ihrem Willen beuge, mich benehme. Und aus irgendeinem Grund stört mich das in diesem Moment besonders. Feuer, das versteckt in mir geschwelt hat, erwacht zum Leben. Plötzlich fühle ich, wie Feindseligkeit in mir ihre Flügel ausbreitet und mit gesträubten Federn die Krallen ausstreckt.

Ich weiß, dass es unzählige Arten von Käfigen gibt. Und wenn ich in keinem davon festgehalten werden will, erwartet mich ein schwerer Kampf. Denn die Welt wird weiterhin versuchen, mich an die Kette zu legen; Männer werden weiterhin versuchen, mich unter ihre Kontrolle zu bringen. Also kann ich nicht jedes Mal nachgeben. Ich darf nicht zulassen, dass dieses unterdrückte Feuer, diese Empörung, nach wie vor passiv bleibt.

Die Göttinnen haben mich zur Frau gemacht. Krieg hat mich zur Waise gemacht. Midas hat mich zu einem Sattel gemacht. Bisher haben all diese Dinge mich gebunden. Ich habe zugelassen, dass man mir Zügel anlegt, um mich hierhin und dorthin zu zerren. Aber ich bin es leid, auf meiner Kandare zu kauen, die bei jeder Bewegung meinen Mund verletzt.

Und das ist der Grund, weshalb ich dem Hauptmann ruhig in die Augen sehe und sage: «Ich werde noch nicht gehen. Ich werde aufbrechen, wenn ich bereit bin.»

Mein harter Tonfall sorgt dafür, dass die Männer mich ungläubig anstarren. Sie haben nicht damit gerechnet, dass ich irgendetwas anderes tue, als ihren Befehlen zu folgen. Sie müssen das nicht einmal aussprechen – ich erkenne es in ihren Augen.

Der Hauptmann erholt sich als Erstes. Er bedenkt mich mit einem so sengenden Blick, dass mich fast überrascht, dass nichts in Flammen aufgeht. «Ihr werdet jetzt verschwinden, Madam. Auf der Mauer dürfen sich nur Soldaten aufhalten, keine Weiber. Ihr seid hier nicht willkommen.»

Bin ich hier nicht willkommen, also auf dieser Mauer, oder hier im Fünften Königreich?

Ich lasse meinen Blick über die Umgebung schweifen. «Sind wir so hoch oben, dass sich Eure Manieren in Luft aufgelöst haben, Hauptmann?»

Seine Miene ist steinern genug, um in Konkurrenz zu den Quadern um uns herum zu treten. «Ihr mögt das goldene Mädchen des Sechsten Königreichs sein, aber hier seid Ihr nur ein Weib, das sich unerlaubt auf meiner Mauer aufhält. Ihr müsst verschwinden», sagt er, seine Augen so hart wie sein Tonfall. «Ihr wollt doch nicht, dass Euch hier draußen etwas zustößt, oder?»

Mein Nackenhaar stellt sich auf. «Droht Ihr mir?»

«Ihr wärt nicht der erste Eindringling, der von der Mauer stürzt.»

Schockiert starre ich den Mann an. Seine Worte mögen harmlos wirken, aber der Blick in seinen Augen verspricht Finsteres.

Mein erwachendes Temperament mutiert in echte Wut, gleitet im Sturzflug durch mich hindurch und kreischt eine Herausforderung. Lass es eine Drohung sein.

«Sind sie gestürzt? Oder wurden diese Leute von einem herrschsüchtigen Mauerkommandanten über die Brüstung geleitet?», schieße ich zurück.

Ich spüre, wie meine Wachen sich neben mir versteifen, spüre die Anspannung zwischen uns vieren. Doch ich habe nur Augen für den arroganten Hauptmann, dessen Lippen schmal werden, bis sie eine harte, beleidigte Linie bilden. «Natürlich nicht. Und genau diese Hysterie beweist, dass Ihr hier oben nichts zu suchen habt, wo man seine Sinne beieinander haben muss.»

Hysterie? Ich zeige ihm gleich Hysterie.

«Verschwindet , Madam.»

Ich richte mich hoch auf. «Nein.»

Das plötzliche Patt zwischen diesem Fremden und mir verhärtet sich. Die Stimmung sorgt dafür, dass ich förmlich die Fersen in den Boden grabe. Wahrscheinlich sollte ich einfach gehen, ich werde schließlich nicht ewig hierbleiben. Aber das kann ich nicht, weil er mich herumkommandiert, weil er mir voller Hohn begegnet.

Der Hauptmann schnaubt abfällig, doch es ist ein abgehacktes Geräusch, als hätte jemand seine Frechheit mit der Axt auf Kniehöhe gekürzt. «Genug von dieser Narretei», erklärt er wegwerfend. «Ihr stört mich in meinen Pflichten und verschwendet meine kostbare Zeit.»

Ich weise nicht darauf hin, dass er derjenige war, der mich gestört hat. «Dann solltet Ihr unter allen Umständen zu Euren herausragend wichtigen Pflichten der Mauerbewachung zurückkehren, Hauptmann. Ihr blockiert mir die Aussicht», antworte ich mit einem aufgesetzten Lächeln.

Er senkt die Stimme. «Geht jetzt, oder ich werde Euch persönlich entfernen.»

Ein bitteres Lachen entreißt sich meiner Brust, und ich lehne mich zu ihm, bevor ich mich davon abhalten kann. «Nur zu. Wagt es.» Entschlossenheit brennt in meinem Blick. Ich spüre das Feuer der Wut in mir. Ich will , dass er es tut. Ich will, dass er versucht, mich zu packen, versucht, mich gewaltsam zu entfernen. Denn in diesem Moment erfüllt ein unerklärlicher Wunsch nach Gewalt meine Adern und sorgt dafür, dass meine Bänder sich anspannen.

Tu es , intoniere ich wortlos.

Zum ersten Mal, seitdem dieser arrogante Mistkerl hier erschienen ist, zögert der Hauptmann. Sein Blick huscht über mein Gesicht, als schätze er einen Gegner ab und wäre sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er die richtige Waffe bei sich hat.

Dann hebt er die Hand. Meine Augen folgen der Bewegung. Meine Fingerspitzen kribbeln. Doch bevor seine Handfläche sich auch nur zehn Zentimeter heben kann, stoppt er sich selbst und packt stattdessen den Knauf seines Schwertes.

Ich sehe wieder in sein Gesicht. «Das hatte ich mir gedacht», flöte ich selbstgefällig.

Rote Flecken der Wut erscheinen auf seinen Wangen. «Wenn Ihr mein Sattel wärt, würde ich Euch auf offener Straße auspeitschen lassen.»

«Tja, aber das bin ich nicht. Und ich bemitleide die armen Sättel, die Euch befriedigen müssen. Ich hoffe, Ihr bezahlt sie gut», versetze ich und lasse meinen Blick über seine wenig attraktive Gestalt gleiten.

Für einen Moment wirkt es, als dächte er ernsthaft darüber nach, ob er die Auspeitschung, die er erwähnt hat, wirklich anordnen kann. Ich stelle es mir vor – wie er versucht, mich zu bestrafen; sein Gesicht, als ihm sein Fehler bewusst wird, weil ich ihn mit nackten Fingern kneife.

Niemand wäre fähig, mich aufzuhalten. Nicht meine Wachen, nicht der Hauptmann, nicht einmal Midas.

Ich könnte meinen Plan, abzuwarten und Informationen zu sammeln – im Geheimen zu entkommen –, einfach aufgeben. Statt zu versuchen, trotz Midas’ hartem Griff durch seine Finger zu schlüpfen, könnte ich diesen alternativen Weg einschlagen, der auf einmal so attraktiv erscheint. Ich könnte flüssiges Metall aus meinen Fingern tropfen lassen und jedes Hindernis in meinem Weg in Gold verwandeln.

Die plötzliche Erkenntnis über meine wahren Fähigkeiten bohrt sich in meine Haut wie ein scharfer Vogelschnabel. Ich habe mich noch nie so mächtig gefühlt. Oder vielleicht habe ich einfach nie wirklich verstanden, wozu ich in der Lage bin, weil ich von Ängsten und Zweifeln gezügelt wurde und mit Manipulationen gelenkt.

Bestraf ihn , murmelt eine finstere Stimme in meinem Kopf.

Ich merke kaum, dass ich mit der rechten Hand den Handschuh von meiner linken ziehe. Ich spüre nur entfernt, wie meine Bänder sich hinter meinen Beinen sammeln wie angriffsbereite Schlangen.

Ein seltsames, kleines Lächeln umspielt meine Lippen. Nur das nehme ich wahr. Das und den widerhallenden, kreischenden Schrei nach Gewalt, der meinen Schädel erfüllt.

Ich hebe die Hand, den nackten Zeigefinger vorgestreckt. Mein Blut kocht, und mein Sichtfeld verengt sich. Mir bleibt keine Zeit, innezuhalten und nachzudenken. Abzuwägen, was zur Hölle ich gerade tue. Denn diese götterverdammte Dunkelheit in mir befindet sich im freien Flug, und ich kann nichts anderes mehr wahrnehmen.

«Was tut Ihr?», fragt der Hauptmann, seine Stimme unsicher, fast wachsam.

Ich höre ihn kaum über das Rasen meines Herzens, über das Pochen meines Pulses in meinen Schläfen, der einen herausfordernden Rhythmus trommelt.

Tu es. Tu es. Tu es.

Nur eine Berührung. Mehr wäre nicht nötig. Mein Finger strebt näher, meine Bänder verspannen sich und …

«Ich sehe, Ihr seid wach, Goldfink.»

Die tiefe, sinnliche Stimme durchbricht meine allumfassende Wut, reißt mich aus meiner Trance.

Stück für Stück werde ich mir meiner Selbst wieder bewusst. Es ist, als regne leise Vernunft auf mich nieder. Ich blinzele auf meine Hand herunter, die nur Zentimeter vor dem angespannten Gesicht des Hauptmanns schwebt.

«Spielt Ihr mit der Mauerwache?»

Ich reiße den Kopf herum, um König Ravinger anzusehen, der aus irgendeinem Grund neben mir steht, obwohl ich sein Näherkommen nicht gespürt habe. Seine Stimme gleitet warm über meinen Rücken, und sofort rieselt Gänsehaut darüber hinweg.

«Was?», frage ich verwirrt. Eilig senke ich die Hand, während widersprüchliche Gefühle in mir toben wie ein Wildbach.

Ravinger ignoriert die Verbeugung des Hauptmanns und der Wachen, seine grünen Augen unverwandt auf mich gerichtet. Macht umweht ihn wie Nebel Felder im Morgenlicht. Ich lecke mir die plötzlich trockenen Lippen.

«Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?», fragt er neckend.

Röte steigt in meine Wangen, aus unzählbar vielen Gründen. Ich habe beinahe … und dann hat er …

Was zur Hölle hätte ich gerade fast getan?

Der Hauptmann scheint angesichts Ravingers Störung erleichtert aufzuatmen. Er nutzt die Gelegenheit zur Flucht, offensichtlich tief verunsichert. «Entschuldigt mich, Eure Majestät. Ich muss zu meinen Pflichten zurückkehren.» Erneut verbeugt er sich steif, dann wirft er einen letzten Blick in meine Richtung, ehe er sich umdreht und verschwindet. Er geht so schnell, dass er fast rennt.

Ravinger sieht ihm mit einem spöttischen Ausdruck nach, bevor er sich mir zuwendet. Große Göttlichkeit, dieses Lächeln . Die rauen Stoppeln an seinem Kinn verbinden sich mit den dünnen Linien der Macht, die über seinen Kiefer huschen, und sein obsidianschwarzes Haar ist vom Wind verweht. Seine komplett schwarze Kleidung – maßgeschneiderte Hosen und Tunika – versucht nicht einmal, die Muskeln unter dem Stoff zu verbergen.

Er sieht gut aus. Viel zu gut.

Er senkt den Kopf und starrt auf seine Stiefel. Als ich seinem Blick folge, bemerke ich voller Scham, dass eines meiner Bänder sich um sein Bein geschlungen hat.

Stirnrunzelnd rufe ich das Band zurück und werfe es hinter mich. Ravinger grinst nur breiter.

«Schließt Ihr Freundschaften?», murmelt er.

Ich beuge mich vor, um meinen Handschuh aufzuheben, und ziehe ihn über meine zitternden Finger. «Ich habe gelernt, dass mich alle Freunde, die ich vielleicht gewinnen könnte, am Ende nur enttäuschen.»

Diese Worte vertreiben jede Erheiterung aus seiner Miene. «Und wie seid Ihr zu dieser pessimistischen Überzeugung gelangt?»

Obwohl in mir Chaos tobt, halte ich seinen Blick. «Jede Person, die bisher freundlich zu mir war, hat mich schließlich enttäuscht.»

Ravingers Blick wird scharf. «Das ist unglücklich.»

Ich hebe eine Schulter. «Ich bin daran gewöhnt.»

Das Zucken an seinem Kinn verrät mir, dass ich ihn irritiert habe. Was gut ist, weil ich mich dann darauf konzentrieren kann, ihn wütend zu machen – statt auf das, was ich gerade fast getan hätte.

Ich verschränke nervös die Hände vor dem Körper. Die Bewegung verrät mich; sorgt dafür, dass sein Blick über mein zerstörtes Mieder gleitet. «Probleme mit dem Korsett?» Und schon wirkt er wieder erheitert.

«Ja, das Problem ist, dass Korsette dämlich sind.»

Ravinger gluckst amüsiert. Das Geräusch hilft mir dabei, den Atemzug freizugeben, der in meiner Kehle festhängt. Langsam lässt er den Blick über meinen Körper gleiten. Ich hasse die Tatsache, dass meine Haut zu brennen beginnt und mein Herzschlag sich beschleunigt. «Gut, Euch auf den Beinen zu sehen, Lady Auren. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass Eure Rückkehr zu Eurem goldenen König etwas … einschränkend sein könnte.»

Seine Wortwahl sorgt dafür, dass ich die Augen zusammenkneife. «Alles ist bestens, König Ravinger. Ich danke Euch für die Güte, mich freizugeben», erkläre ich süßlich.

Er legt den Kopf schief, ohne diese moosgrünen Augen von meinem Gesicht abzuwenden. «Muss man einen Goldfink freilassen? Oder befreit er sich selbst?»

Ich öffne den Mund, doch es dringen keine Worte über meine Lippen.

Er hebt eine dunkle Braue, und in dieser Geste erkenne ich Riss. Verbitterung steigt in mir auf. Dann schenkt er mir ein leises, respektvolles Nicken. «Genießt Euren Tag, Lady Auren.»

Damit wendet er sich ab und geht mit selbstbewussten Schritten davon, während ich ihm hinterherstarre und versuche, alles zu verstehen, was gerade geschehen ist.

«Milady.»

Ich zucke überrascht zusammen und wirbele zu Scofeld herum. «Scheiße. Ich hatte vergessen, dass ihr beide hinter mir steht.»

Scofeld tritt angesichts meines Fluchs von einem Fuß auf den anderen, bevor er einen Blick mit Lowe wechselt. «Wir sollten jetzt wirklich in die Burg zurückkehren.»

Die Nervosität, die in seiner Stimme und seinen braunen Augen steht, sorgt dafür, dass ich nachgebe. Ich nicke, dann steige ich die Treppe hinunter, gefolgt von dem geflüsterten Gespräch meiner Wachen.

Die Geschehnisse der letzten Minuten lassen meine Gedanken rasen und meine Schritte taumeln. Denn dieser intensive, finstere Drang, jemanden zu bestrafen … So etwas habe ich noch nie in dieser Form empfunden.

Zorn, wird mir klar, schmeckt wie süße Flammen. Und nach einem Leben kalter Verbitterung wollte ein Teil von mir sich diesen Flammen hingeben, wollte sich ihrer brennenden Umarmung ergeben.

Ich weiß nicht, wann genau es geschehen ist, aber anscheinend ist eine Dunkelheit in mir gekeimt, genährt von der grausamen Erde, in der ich vegetierte.

Ich habe mich so mächtig gefühlt. So unaufhaltbar.

Und … es hat mir gefallen .

Ausgerechnet die Person, die ich beschuldigt habe, ein blindwütiger Mörder zu sein, hat mich davon abgehalten, genau dazu zu werden.

Ich sehe, Ihr seid wach, Goldfink.

Göttin, seine kühle, gelassene Stimme. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nicht nur davon gesprochen hat, dass ich mich aus dem Bett erhoben habe. Mit einem Satz hat er mich geerdet, als wäre er die Schwerkraft. Seine Stimme hat die unheilvollen Einflüsterungen in meinem Unterbewusstsein übertönt und mich wieder auf die Erde zurückgeholt.

Doch den ganzen Weg zurück in meine Gemächer verfolgt mich eine Frage – wie ein Spuk, der mich heimsucht, um mich mit eiskaltem Wasser zu überschütten.

Was hätte ich getan, wenn er uns nicht gestört hätte?

Ich fürchte, ich bin noch nicht bereit, mich der Antwort auf diese Frage zu stellen.