Kapitel 7

Auren

D urch die Glastüren meiner Balkontür beobachte ich die fallenden Schneeflocken und summe ein Trinklied, das nicht aus meinem Kopf verschwinden will. Es ist eine alte Melodie aus meiner Zeit im Dritten Königreich. Ich kann mich nicht genau an den Text erinnern, aber der Refrain hat mir immer ein Schmunzeln entlockt.

John war wirklich fade

Aber die Hose saß sehr stramm

Und so lachten die Damen

Und sprachen ihn flugs an.

Nahmen ihn schnell mit nach Hause

Wo der Irrtum ward dann klar

Es war die Pfeif in seiner Tasche

Die den harten Umriss gebar.

Grinsend schiebe ich die Hand in die Tasche, um die Pfeife zu betasten, die ich habe mitgehen lassen. Ich hatte sie auf dem Weg zurück zu meinen Gemächern im Gürtel eines vorbeikommenden Wachmanns entdeckt. Es war fast zu einfach, die Pfeife zu stehlen. Anscheinend sind einige der alten Fähigkeiten aus meiner Zeit mit Zakir immer noch nützlich.

Immer noch lächelnd lasse ich die Pfeife wieder los, doch das Schmunzeln löst sich direkt in Luft auf, als ich an die Interaktion mit dem Hauptmann auf der Mauer denke. Niemals zuvor habe ich gespürt, wie eine so unkontrollierbare Dunkelheit in mir aufgewallt ist. Ist es das, was passiert, wenn sich ein angekettetes Haustier endlich losreißt?

Gewalttätigkeit hat in meiner Brust gerufen, wie ein Raubvogel, der bereit für den tödlichen Sturzflug am Himmel kreist. Das beängstigende Lied eines finsteren Verlangens – eine verlockend bösartige Melodie.

Wäre Ravinger nicht aufgetaucht, hätte ich meiner Wut erlaubt, sich zu manifestieren? Hätte das Blut einer anderen Person meine goldgefärbten Hände besudelt?

Und obwohl das Biest in mir momentan schweigt, kann ich es immer noch in mir spüren. Es beobachtet mich, diese bisher ungenutzte Kreatur in mir, bereit, sich jederzeit zu erheben.

Dieser Gedanke lässt mich erstarren, und eine alte Erinnerung steigt in mir auf.

Dräng die Schwäche zurück und Stärke wird aufsteigen.

Dieser Ratschlag, der mir vor einer halben Ewigkeit erteilt wurde, schießt mir in letzter Zeit immer häufiger durch den Kopf, doch jetzt hebt sich die Erinnerung mit voller Macht, als habe sie lange darauf gewartet, dass ich genau diesen Punkt erreiche. Genau diesen Moment erlebe, damit ich mich erinnern kann.

Mein Haar stinkt nach Fisch und Parfüm. Der Geruch will nicht weichen, jeder Versuch, ihn loszuwerden, ist sinnlos. Schon morgen werde ich wieder hier in dieser Falle sein, gefangen zwischen der Strohmatratze und dem Körper eines Mannes.

Mein Kopf ist nach rechts gedreht, und ich sehe den Hafen durch die fleckigen Fenster der Einsamkeit. Das Bett bewegt sich und Stroh knistert, eine leise Drohung, dass es sich durch das Laken bohrt. Für einen Moment nimmt mir ein haariger Arm die Sicht, aber ich starre weiter, versuche, diese treibenden Schiffe zu sehen, auch als ein metallisches Klicken erklingt, weil der Mann eine Münze auf den Nachttisch fallen lässt. «Für dich, Hübsche. Ich werde Zakir West sagen, was für ein braves Mädchen du warst.»

Eine Stelle auf meinem Rücken kneift, und die Haut zwischen meinen Schulterblättern zuckt. Ich hebe nicht den Arm, um zu versuchen, die Stelle zu kratzen. Ich antworte auch dem Mann nicht. Aber ich presse die Lippen zusammen, bis er den Anstand besitzt, mir nicht mehr die Aussicht zu verstellen.

Ich höre, wie er Hose und Hemd anzieht. Mein Haar, das zwischen meiner Wange und dem Kissen eingeklemmt ist, kitzelt meine Nase. Fisch und Parfüm kleben in jedem Atemzug, so durchdringend, dass ich den Geruch schmecken kann.

Er murmelt eine Verabschiedung, aber ich höre ihn kaum. Es ist mir egal. Als ich endlich allein bin, lässt das Kribbeln auf meinem Rücken nach. Ich hieve mich aus dem Bett, um mein Kleid anzuziehen.

Es hat eine dunkelgrüne Farbe, die mich an das Moos auf den Steinen um die Lagune in Annwyn erinnert, zu der ich mich früher oft davongeschlichen habe. Die Farbe erinnert mich an das Sommergras auf den Hügeln, auf denen die Pferde meiner Mutter gegrast haben, an die Bäume, die sich an den Straßen von Bryol dem Himmel entgegengereckt haben.

Sie erinnert mich an zu Hause.

Eine Träne rinnt über meine Wange, als ich in meine Strumpfhose und die schlammverkrusteten Stiefel schlüpfe. Ich gehe zum Fenster und stemme die Hände auf das raue Holz des Fensterbretts, als die Tür hinter mir aufschwingt.

«Zeit zu gehen. Ich habe einen anderen Gast für die Nacht.»

Ich drehe mich, um die vollbusige Gastwirtin anzusehen, die direkt zum Bett geht und die Laken abzieht.

«Soll ich helfen?»

Natia mustert mich. Auf ihrem Kopf thront ein Dutt aus dichtem schwarzem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen wird. Sie ist eine geradlinige Frau, die stets deutliche Worte findet, doch gleichzeitig zeichnen Lachfalten ihr ockerfarbenes Gesicht. «Nein, Mädchen, das ist mein Gasthaus, und ich kümmere mich darum. Außerdem siehst du nicht aus, als wüsstest du, wie man ein Bett richtig macht.»

Ich schenke ihr ein zittriges Lächeln. «Du hast recht», erwidere ich. Ich erzähle ihr nicht, dass das daran liegt, dass ich kein eigenes Bett habe.

Während sie die Laken auf der anderen Seite der Matratze löst, nickt Natia in Richtung des Nachttisches. «Da liegt eine Münze für dich. Nimm sie.»

Die Haut an meinem Rücken zuckt und spannt. Ich will das Geld nicht einmal ansehen. «Behalte du es. Es tut mir leid, dass die Betten immer so unordentlich sind.» Meine Wangen brennen bei diesen Worten, und ich muss den Blick abwenden.

Sechs Wochen. Seit sechs Wochen komme ich jeden Tag hierher in die Einsamkeit, um jede Person zu treffen, die Zakir schickt. Ich hätte nie gedacht, dass ich das Betteln auf den Straßen einmal vermissen würde. Ich hätte nie gedacht, dass ich es vermissen würde, die ganze Nacht Betrunkenen und Dieben die Taschen auszuräumen, auch wenn es hin und wieder bedeutete, erwischt und verprügelt zu werden.

Kann man in nur sechs Wochen brechen?

So fühle ich mich. Ich fühle mich, als rissen meine Nähte, wie bei einer Stoffpuppe, die zu grob behandelt wird.

Vielleicht ist das der Grund, warum mein Rücken ständig kribbelt, meine Haut dort andauernd juckt und spannt. Vielleicht bilden sich dort die ersten Risse.

Das wäre passend, oder nicht? Dass ich am Rücken einfach aufreiße. Welche Ironie, wenn man bedenkt, wie oft ich mich unterwürfig vor Zakir verbeugt habe.

Ich zucke überrascht zusammen, als Natia neben mich tritt, meine Hand packt und mir die Münze hineinlegt, bevor sie meine Finger darum schließt. «Jetzt hör mir mal zu, Mädchen», sagt sie streng. «Ich habe diesen Blick schon Tausende Male gesehen.»

«Welchen Blick?»

«Diesen kapitulierenden Blick.» Ihre Finger graben sich in meine Hand, die Münze zwischen unserer Haut eingeklemmt wie ein Geheimnis. «Ich bin schon lange genug dabei, um ihn zu kennen. Du bist nicht das erste von Zakirs Mädchen, das hier ein Zimmer nutzt.»

Hatte ich vorher bereits das Gefühl, dass meine Wangen brennen, ist das nichts gegen die Hitze, die jetzt in mein Gesicht steigt.

Natia nickt in Richtung des Fensters. «Du schaust immer nach draußen zu diesen Schiffen, aber ich erkenne, dass du nicht glaubst, jemals wirklich eines davon zu betreten.»

Ich blinzele, überrascht, dass sie so etwas bemerkt hat. Ich sehe Natia immer nur ein paar Minuten lang … danach.

«Na ja, werde ich auch nicht, oder?», antworte ich bitter.

«Warum nicht?», hakt sie herausfordernd nach.

Ihre Frage löst eine Welle der Irritation in mir aus. Ich entziehe ihr meine Hand und klatsche die Münze auf das Fensterbrett. «Was meinst du mit Warum nicht? Zakir wird mich nie gehen lassen, und du weißt, was mit blinden Passagieren passiert.»

Sie beugt sich mit trotzigem Blick vor, bis ihre Schürze mein Kleid berührt. «Wer hat etwas von blinden Passagieren gesagt?»

Einen Moment lang starre ich sie nur an, weil ich nicht verstehe, was sie sagen will. Doch dann senkt sich mein Blick wieder auf die Münze. «Wie ich schon sagte, nimm deine Belohnung, Mädchen.»

Mit zitternden Fingern ergreife ich das glänzende Rund. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ein Trinkgeld erhalten habe, aber bisher habe ich jede Münze liegen lassen. Ich habe mich zu sehr geschämt, habe allein die Vorstellung gehasst, die Münzen anzufassen. Doch als Natia die Hand in eine Tasche schiebt und einen kleinen Stoffbeutel herauszieht, weiß ich bereits, was sich darin befindet.

«Das ist nicht für Zakir West, hast du verstanden? Das sind deine Münzen. Es ist dir überlassen, wie du sie verwendest.» Sie deutet erneut mit dem Kinn Richtung Hafen. «Ich habe gehört, die Schiffe mit den blauen Segeln und den gelben Sonnen kommen aus dem Zweiten Königreich, wo es wochenlang nicht regnet und der Wüstensand so fein ist wie Puder.»

Allein die Vorstellung, trocken und warm in einer Wüste zu leben, statt ständig vom kalten Hafenregen durchnässt zu werden, jagt ein Zittern durch meinen Körper.

«Aber über so was denkt eine Aufgeberin wahrscheinlich gar nicht nach», meint Natia mit einem Achselzucken. «Bist du eine Aufgeberin? Hast du bereits kapituliert?»

Ich schlucke schwer, während mein Blick zwischen ihr und den drei Schiffen mit blauen Segeln hin und her huscht, die in der Ferne ankern.

Was sie da andeutet – diese Hoffnung auf Flucht –, genau danach habe ich mich gesehnt. Und doch, wenn ich erwischt werde, wenn ich versagen sollte …

Tränen schießen mir in die Augen, und mein Körper zittert. Zakir würde mich nicht einfach nur bestrafen, sondern mich sehr wahrscheinlich umbringen, wenn ich einen Fluchtversuch starte. Oder er übergibt mich ein für alle Mal an Barden Ost. Und dann werde ich mir wünschen, tot zu sein.

«Ich kann nicht.»

«Du könntest», antwortet die alte Frau. Sie stemmt die Hände in die breiten Hüften und starrt mich unter dichten Brauen böse an. «Im Moment spricht deine Angst. Das ist eine Schwäche, die du tief in dir vergraben musst, bevor sie dich begräbt.»

Sie hat recht, ich bin schwach. Mit dem Spitznamen ‹Aufgeberin› liegt sie wahrscheinlich gar nicht so falsch.

Ich bin schwach, ich bin allein, und nach nur sechs Wochen sehe ich bereits aus, als wäre ich in mich zusammengefallen. In mir gibt es nur leere Räume mit bröckelnden Wänden, gefüllt mit Schmerzen und zu vielen Trümmern, um sie je zu räumen.

Ich hasse die Tatsache, dass meine Unterlippe zittert; hasse, wie klein ich mich fühle. «Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, es zu versuchen.»

Natia wird nicht netter. Sie klopft mir nicht freundlich auf die Schulter oder erklärt mir, dass alles gut werden wird. Stattdessen rammt sie mir den Geldbeutel voller Münzen so heftig gegen die Brust, dass ich einen Schritt zurückstolpere, bevor ich danach greife.

«Entweder du tust es oder du tust es nicht. Für mich macht das keinen Unterschied», erklärt sie nüchtern. «In meinen Augen allerdings scheint es zu versuchen und zu versagen immer noch besser als einfach aufzugeben.» Sie betrachtet mich mit bohrendem Blick, wie eine lautlose Lektion. «Dräng die Schwäche zurück und Stärke wird aufsteigen. Du kannst nicht stark sein, ohne vorher diese Schwächen zu besiegen. Das ist zumindest meine Meinung.»

Ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken, während ich den Geldbeutel umklammere, bis die Ränder des dreckigen Geldes darin sich in meine Handfläche bohren.

«Und jetzt los, verschwinde von hier. Unten warten Kunden. Ich muss das Zimmer noch lüften und das Bett neu beziehen. Ich kann nicht ständig rumstehen und tratschen, während Arbeit auf mich wartet.» Mit einem letzten, strengen Blick durchquert Natia den Raum und packt das Bündel besudelter Laken. Dann geht sie ohne ein weiteres Wort, während alles, was sie gesagt hat, in meinen Ohren widerhallt.

Ich starre den Beutel mit Münzen in meiner Hand an; frage mich, ob ich es wagen kann, frage mich, wie viel es mich kosten würde, mir eine Passage zu sichern, indem ich einen Kapitän besteche. Ich öffne die Schnüre und schiebe die Finger hinein, um eine einzelne goldene Münze herauszufischen, die Ränder sind abgeschabt und dreckig.

Ich lasse sie durch meine Finger gleiten. Mein Geist ist erfüllt von der Frage, ob ich wirklich den Mut besitze, es zu probieren. Vielleicht hat Natia recht. Vielleicht ist es besser, es zu versuchen und zu versagen, als die Aufgeberin zu sein.

Ein Geräusch im Flur sorgt dafür, dass ich die Münze schnell zurück in den Beutel schiebe und die Schnüre fest schließe, bevor ich ihn tief in meiner Tasche versenke. Aber … wird es reichen? Brauche ich mehr?

Als ich aus dem Raum eile, juckt und spannt meine Haut erneut, doch diesmal nicht auf meinem Rücken.

Sondern an meinen Fingerspitzen.

Meine Schlafzimmertür schlägt zu und reißt mich aus der Erinnerung.

Mein Blick schießt dorthin, wo Midas steht. Sofort verspanne ich mich. Die Wut auf seinem gebräunten Gesicht lässt ihn nicht mehr attraktiv wirken. Stattdessen erkenne ich etwas Hässliches in seiner Miene. Mein Magen verkrampft sich, und für einen Moment wird mein Kopf unter seinem bösen Blick ganz leer. Die Reaktion entspringt dem Muskelgedächtnis – oder vielleicht einfach dem normalen Gedächtnis –, auf jeden Fall verfalle ich fast wieder in alte Verhaltensweisen. Spüre den allumfassenden Drang, ihn zu beruhigen und ihm zu gefallen.

Er hat mich wirklich gut abgerichtet.

Doch statt diesem Impuls nachzugeben, rufe ich meinen Zorn, fache die rechtschaffene Glut in mir an und schaffe es, mich zusammenzureißen.

«Midas, wie geht es dir?», frage ich mit geübter Höflichkeit, als ich aufstehe und zum Bett gehe, um ein wenig Abstand zwischen uns zu bringen.

«Wie es mir geht?», wiederholt er und wedelt mit der Hand in Richtung Tür. «Mir wurde gerade mitgeteilt, dass du dich den ganzen Tag in der Burg herumgetrieben hast.»

Ich schätze seine Wut ab und beschließe, mich dumm zu stellen. Scheinbar ahnungslos beginne ich, die Kissen aufzuschütteln. «Stimmt», sagte ich fröhlich. «Es war toll. In die Bibliothek bin ich nicht reingekommen, aber ich habe jede Menge andere Räume gesehen. Ranhold scheint hübsch zu sein. Doch die Burg ist ziemlich zugig, findest du nicht auch? Ich denke, das liegt am durchlässigen Holz der Fensterrahmen. Schlecht geplant.»

Midas mustert mich ungläubig, während ich mich weiter an den Kissen zu schaffen mache. Heftig schüttele ich eines der größeren aus. Und dann … «Lockere das für mich auf, wärst du so lieb?» Ich schleudere das Kissen schon in seine Richtung, bevor ich die Worte ganz ausgesprochen habe.

Der goldene Satin trifft Midas im Gesicht und bauscht sich mit einem befriedigenden «Fump»-Geräusch um seinen Kopf. Kindisch, sicher. Aber es hebt meine Moral.

Bis er sich das Kissen vom Gesicht gerissen hat, bin ich bereits mit den Decken beschäftigt. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, wie sich seine Finger im Stoff vergraben.

«Auren.»

Ich werfe einen Blick in seine Richtung. «Ja?»

«Der Käfig …»

Sofort richte ich mich auf. Meine aufgesetzte Fröhlichkeit verschwindet, stattdessen lodert wütendes Feuer in mir auf. «Nein.» Ich werde mir dieses Wort aus seinem Mund nicht anhören. Ich werde meine Rolle hier spielen, weil ich Zeit brauche, um mir einen Plan zurechtzulegen. Aber wenn er noch mal einen Versuch mit diesem göttlichkeitsverdammten Käfig startet, werde ich ausflippen.

Midas zögert. Seine braunen Augen mustern mich voller Berechnung, um die plötzliche Veränderung in mir abzuschätzen. Nach einem Moment scheint er sich für eine andere Herangehensweise zu entscheiden. «Es ist zu gefährlich für dich, ohne mich durch die Burg zu wandern.»

«Ich hatte zwei Wachmänner dabei.»

Er schüttelt den Kopf. «Das spielt keine Rolle. Jeder stellt eine Gefahr für dich dar. Das weißt du. Du kannst niemandem vertrauen. Besonders, nachdem ich gehört habe, dass Ravinger sich dir schon wieder genähert hat», stößt er hervor.

Ich versteife mich. «Er war nur zufällig zur gleichen Zeit mit mir auf der Mauer.»

Midas’ Frust zeigt sich in der Haltung seiner Schultern. «Das gefällt mir nicht. Er und dieser Kommandant sind entweder völlig in dich vernarrt oder sie fordern mich absichtlich heraus.»

Ich verspüre den Drang, darauf hinzuweisen, dass er derjenige war, der stets dafür gesorgt hat, dass die Leute vollkommen vernarrt in mich sind. Er liebt es, mich anderen vor die Nase zu halten wie eine goldene Karotte. König Fulke war das beste Beispiel dafür. Midas will einfach die Kontrolle.

«Abgesehen davon, dass andere Menschen gefährlich sind, solltest du nie vergessen, dass du ebenso eine Gefahr für sie darstellst», fährt er fort und wartet dann, um die Wirkung seiner Worte entfalten zu lassen. Er beobachtet genau, ob sich meine Miene verändert. Ich bemühe mich sehr, mir nichts anmerken zu lassen. «Eine falsche Bewegung, ein Unfall, und du könntest jemanden töten. Muss ich dich daran erinnern, dass du gerade deine Vertreterin ermordet hast?»

Diesmal zucke ich tatsächlich zusammen, als ich daran zurückdenke, wie ich die Frau nach hinten gestoßen habe. Meine Berührung war sofort tödlich. Sie wird für immer in einem Käfig begraben sein, der für mich gedacht war, gestorben durch meine Hand. Schuldgefühle und Reue wallen auf wie Wolken, ein schwerer Druck in meiner Brust.

«Denk an Carnith, Auren. Ruf dir in Erinnerung, was geschieht, wenn du sorglos wirst.»

Eine Träne fällt, wie ein zischender Tropfen Wasser auf der Glut meiner Wut. Ich erkenne seine Manipulation, und doch gerät meine Entschlossenheit für einen Moment ins Wanken. Die alte Auren steigt auf wie ein Nieselregen, der droht, mein Feuer zu ersticken.

Das Problem ist, dass Midas nicht ganz unrecht hat. Es wäre nur ein einziger Fehler nötig. Wenn jemand meine Haut berührt, wird diese Person sich in massives Gold verwandeln. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte.

Ich weiß nicht, warum, aber bei Menschen oder Tieren kann ich nicht einfach nur ihre Farbe verändern. Wenn ich sie anfasse, übernimmt das Gold die Herrschaft. Schon eine leise Berührung meines Armes reicht aus, um sie zu töten. Wie die Frau in meinem Käfig. Wie Kapitän Fane von den Roten Räubern, dessen Statue irgendwo im gefrorenen Ödland liegt. Wie die Leute in Carnith, als zum ersten Mal Gold aus meinen Fingerspitzen getropft ist und dafür gesorgt hat, dass meine Hände jetzt blutbefleckt sind.

«Du musst tagsüber in deinen Gemächern bleiben», erklärt Midas mir, seine Augen so hart wie die Borke eines Baums. Eine Berührung nur, und Splitter würden sich in meine Haut bohren.

Der Kloß in meiner Kehle ist groß wie ein Pfirsichkern, doch ich versuche, ihn herunterzuschlucken, während ich mit meinen Gefühlen dringe. Die Vorstellung, erneut eingeschlossen zu sein – egal wo –, lässt Galle in meine Kehle steigen. «Du hast es versprochen», sage ich heftig.

«Ich versuche nur, dich vor dir selbst zu beschützen.»

Ich schnaube abfällig und schüttele den Kopf. Ich verabscheue, wie geschickt er ist. Er versucht, mich zu beugen, mich mit Zweifeln zu erfüllen. So war es immer zwischen uns. Er weiß, wie er die Saiten meiner Schuldgefühle zupfen muss, um mich sein Lied singen zu lassen. Also muss ich meine eigene Melodie spielen.

Dräng die Schwäche zurück.

Midas vollführt eine Geste, die den gesamten Raum einschließt. «Sei bitte dankbar für alles, was ich dir bereits gestattet habe.»

Ich nagele ihn mit einem Blick fest. «Sei bitte dankbar für alles, was ich bereits gestattet habe, Midas.»

Erneut liefern wir uns ein Blickduell. Einen Kampf des Willens. Die Gezeiten und die Küste, ein ewiges Ringen zwischen Land und Wasser, zwischen Geben und Nehmen.

Er mag die Krone tragen, aber ich war diejenige, die sie in Gold verwandelt hat.

Ich kann sehen, dass er versucht, seinen Zorn zu zügeln, doch Kompromisse waren nie Midas’ Ding, und er hasst es, wenn ich Widerworte gebe. Nach einem Moment gibt er einen Teil seiner Wut mit einem Seufzen frei. Er wirft das Kissen heftiger als nötig aufs Bett, sodass es gleich wieder auf den Boden fällt.

Erneut atmet er tief durch, dann stemmt er die Hände in die Hüften. «Ich habe zugestimmt, dass du nicht zurückmusst in den Kä… dass du nicht mehr den Schutz deiner Gitter in Anspruch nehmen musst», stellt er klar. «Aber tagsüber ist es einfach zu gefährlich für dich, allein unterwegs zu sein. Für andere und für dich selbst. Du kannst deine Macht nicht kontrollieren, Auren.»

«Das weiß ich», blaffe ich. Er versucht, die Oberhand zu gewinnen, und das gefällt mir nicht. «Und alle kennen die Regeln. Niemand wird mich berühren. Und ich werde vorsichtig sein, so wie ich es bei der Armee des Vierten auch war.»

Er mustert mich mit herablassender Enttäuschung. Früher hätte mich dieser Blick getroffen wie ein Tritt in den Magen. Ich hätte sofort versucht, alles in Ordnung zu bringen, brav zu sein. «Du benimmst dich verantwortungslos, Auren. Ist es das wirklich wert? Willst du dein Gewissen damit belasten? Ich denke doch nur an dich.»

Bastard . Was für ein emotional manipulativer, strippenziehender Bastard.

Und doch … Benehme ich mich wirklich selbstsüchtig? Was, wenn mir tatsächlich ein Fehler unterläuft und deswegen jemand stirbt?

Ich beiße mir auf die Unterlippe und knabbere nervös darauf. In mir tobt ein Kampf aus Gedanken und widersprüchlichen Wünschen.

Midas kommt näher, wie ein Hai, der Blut im Wasser gewittert hat. «Denk nach, Auren. Willst du wirklich die Gefahr in Kauf nehmen, jemanden zu ermorden? Schon wieder ? Denn genau das wird passieren. Ich versuche nur, dich zu beschützen. Bisher hast du mir immer vertraut. Bitte vertrau mir nun auch.»

Meine Augen beginnen zu brennen. Ich will ihm ins Gesicht spucken. Ich will auch mir selbst ins Gesicht spucken.

Ich spüre, wie er mich mit Fäden umwickelt, mit seinen Worten die Knoten festzurrt. Er ist verdammt geschickt darin, mich zu manipulieren. Wie konnte ich mir einbilden, ich könnte ihn in seinem eigenen Spiel besiegen, obwohl er ein solcher Meister darin ist?

Ich fühle mich vollkommen hilflos.

Er braucht mich , ermahne ich mich selbst. Ich habe ein Druckmittel, weil er mich gefügig haben will, und er soll glauben, alles wäre in Ordnung, damit ich verdammt noch mal entkommen kann. Natürlich will ich auf keinen Fall aus Versehen jemanden töten – oder zur falschen Zeit den falschen Gegenstand vergolden, sodass jeder mein Geheimnis entdeckt –, aber ich kann nicht Tag um Tag in diesen Gemächern verbringen.

«Keine Schlösser, Midas, oder dieser Raum ist nicht besser als ein Käfig», erkläre ich ihm. «Ich werde immer Wachen mitnehmen, ich werde meine Hände und Arme bedecken und einen sicheren Abstand zu Menschen einhalten, aber ich kann nicht hier in der Falle sitzen», sage ich und hebe herausfordernd den Kopf.

Er beobachtet mich. Mein Herz rast, und ich muss mich anstrengen, unter seinem Blick nicht zu zappeln. Obwohl wir beide stillstehen, kann ich das Seil zwischen uns spüren, an dem wir ziehen. Wir spielen Tauziehen. Ich spüre, wie das Seil mir die Handflächen verbrennt, als er daran zerrt und zerrt. Wenn ich es zulasse, reißt er mich von den Beinen.

Also gebe ich nicht nach. Ich lasse das Seil nicht los. Und schließlich, nach mehreren angespannten Sekunden, stößt er ein Seufzen aus. «Ich will nicht streiten, mein Schatz. Ich habe einen langen Tag hinter mir. Einen verdammt langen Monat .» Plötzlich wirkt er müde, als hätte unsere Interaktion ihn genauso erschöpft wie mich.

Midas kommt zu mir herüber und drückt mir einen Kuss aufs Haar, jetzt, wo die Nacht hereingebrochen ist und keine Gefahr mehr besteht. «Du solltest dich ausruhen, okay? Ich werde ein Abendessen für dich schicken lassen, und morgen unterhalten wir uns.» Sein Blick huscht über das Mieder meines Kleides. «Und ich werde dafür sorgen, dass die Schneiderinnen dein Kleid in Ordnung bringen.»

Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht er sich um und verlässt den Raum. Ich kann nur die geschlossene Tür anstarren. Es steht vollkommen außer Zweifel, dass Midas meine Entschlossenheit weiter auf die Probe stellen wird; weiter versuchen wird, mich zu brechen. Wenn mir nicht bald etwas einfällt, wird er erneut seine Klauen in mir vergraben. Und das darf ich nicht zulassen.

Ich muss entkommen, bevor er mich wieder in seine Gewalt bringt.