Auren
B ellen und Jaulen wecken mich.
Ich öffne ein Auge und werfe einen Blick zu der gläsernen Balkontür. Ich habe vergessen, die Vorhänge zu schließen, bevor ich gestern Abend eingeschlafen bin, also dringt das sanfte Licht der Dämmerung in den Raum. Ein Klecks Sahne über dem dunklen Horizont.
Als ich erneut Bellen höre, steige ich aus dem Bett. Ich schiebe meine Füße in ein Paar Hausschuhe, ziehe den Morgenrock an, der über dem Sessel liegt, und gehe zum Balkon. Beim Öffnen der Tür überzieht meine Handfläche den Knauf mit Gold.
Als ich nach draußen trete, begrüßt mich eine kalte Morgenbrise, die mit den losen Strähnen meines Haars spielt. Der Boden liegt unter einer dünnen Schneedecke. Meine Füße hinterlassen eine Spur darin, als ich zum Geländer gehe und nach unten schaue.
Der Tumult stammt von einem Rudel aufgeregter Hunde, die in einem hölzernen Pferch vor einem kleinen, steinernen Gebäude herumtoben. Angesichts der Freude, mit der die Tiere im Schnee tollen, muss ich unwillkürlich lächeln.
Zwei Männer sind bei ihnen, gekleidet in so dicke Pelze, dass es mich fast überrascht, dass sie nicht watscheln. Einer der Männer verschwindet in dem Gebäude, das ich für den Zwinger halte. Ein paar Sekunden später kehrt er zurück, einen Hundeschlitten hinter sich.
Ein Pfiff reicht aus, und die zotteligen Hunde eilen mit wedelnden Schwänzen zu ihm, sodass er sie vor den Schlitten spannen kann. Als der andere Mann Pfeile und Klingen einlädt, wird mir klar, dass ich es mit einem Jagdrudel zu tun habe.
Sobald die Hunde angespannt sind, zerreißt ein weiterer lauter Pfiff die Luft. Die Tiere sausen los, die Männer hinter sich auf der Fußbank des Schlittens stehend. Sie halten auf die Berge zu, die hinter der Burg warten. Ich sehe ihnen nach, bis sie verschwinden.
Ein Stich der Eifersucht durchfährt mich, als ich beobachte, wie die Männer davonrauschen. Wie frei sie sich fühlen müssen. Mit dem Wind im Haar, dem glitzernden Schnee vor den Füßen. Ich wette, das ist sogar besser, als die Mauer zu erklimmen, um die Brise zu spüren.
Ich kehre in meine Gemächer zurück und verrichte schnell meine Morgenroutine, ziehe ein weiteres Kleid mit einem schrecklichen Korsettmieder an und zerbreche alle Stäbe darin. Wären Frauen dazu bestimmt, den ganzen Tag mit eingeschnürter Taille und hochgeschobenen Brüsten zu verbringen, wären wir mit Korsettrippen geboren worden.
Ich werfe mir einen Mantel gegen die Kälte über und bin schon auf halbem Weg zu meiner Schlafzimmertür, ehe sich meine Schritte verlangsamen und mein Gewissen sich meldet.
Willst du wirklich das Risiko eingehen, jemanden zu ermorden? Schon wieder?
Meine Finger kribbeln in den Handschuhen und meine Zähne graben sich in meine Unterlippe. Aber diese Zweifel sind genau das, was Midas erreichen will. Er dringt in meinen Kopf ein … und das darf ich nicht zulassen.
Mit neuem Elan gehe ich zur Tür, in Gedanken bereits bei all den Orten, die ich heute besuchen will. Doch als ich nach dem Knauf greife, lässt er sich nicht drehen.
Ich starre das goldene Metall an, bemerke die Abwesenheit eines Riegels auf meiner Seite. Der Scheißkerl hat mich eingeschlossen. Selbst nachdem ich zugestimmt habe, immer Wachen mitzunehmen, hat er mich eingesperrt.
Mein Rücken kribbelt. Schweißtropfen bilden sich in meinem Nacken.
Plötzlich bin ich nicht mehr hier, in meinem Schlafzimmer im Fünften Königreich. Ich bin wieder in Hohenläuten, in meinem Käfig, die Finger um die Gitterstäbe geschlossen wie eine Gefangene in einer Zelle.
Weggesperrt. Eingeschlossen. Passiv .
Ich stehe wie erstarrt. Mein Atem stockt, weil mir das Gefühl, gefangen zu sein, die Brust zusammenschnürt.
Doch dann bewegen sich meine Bänder, wickeln sich um meinen Oberkörper und drücken, bis mir wieder einfällt, dass ich atmen muss.
Ich habe die Macht. Ich.
Zitternd atme ich aus und vertreibe das Gefühl, nur ein gefangenes Tier zu sein. Stattdessen fache ich meine Wut an, nutze sie als Schild. Die Wut sorgt dafür, dass ich mich besser fühle, als hielte ich die Zügel in der Hand. Der Zorn erinnert mich daran, dass ich nicht das machtlose Ausstellungsstück bin, als das er mich so gerne sieht.
Natürlich hat Midas mich eingeschlossen. Ich hätte mit nichts anderem rechnen dürfen. Ich hätte mich emotional darauf vorbereiten müssen. Ich bin vielleicht nicht von Gitterstäben umgeben, trotzdem ist es nur eine andere Art von Käfig, in den er mich sperren will. Mein Gefängniswärter hat ein neues Schloss installiert, aber das bedeutet nicht, dass ich gefangen bin.
Mit zusammengebissenen Zähnen hebe ich die Faust und klopfe lautstark an die Tür. «Entschuldigung?»
Es folgt keine Antwort … was mich irritiert, weil ich ohne Zweifel weiß, dass dort draußen Wachen stehen.
Meine Lippen werden schmal. Diesmal hämmere ich gegen die Tür und schreie: «Entschuldigung!» Ich höre ein schlurfendes Geräusch, dann drängendes Flüstern. «Ich weiß, dass ihr da draußen seid. Bist du das, Scofeld?»
Es folgt ein langer Moment der Stille, dann: «Ja, Milady.» Auch ohne sein Gesicht zu sehen, weiß ich, dass er eine Grimasse zieht.
«Scofeld, meine Tür scheint sich dummerweise verklemmt zu haben. Könntest du sie bitte öffnen?»
«Das kann ich nicht machen, Milady.» Jepp, ich höre definitiv seine Grimasse.
Ich starre die Tür böse an. «Warum nicht?»
«Befehl von König Midas. Ihr sollt heute zu Eurer eigenen Sicherheit in Euren Gemächern bleiben.»
«Ach wirklich?», presse ich hervor.
«Ja, Milady», folgt seine gedämpfte Antwort.
«Scofeld, öffne die Tür, damit wir uns nicht durch das Holz unterhalten müssen.»
«Tut mir leid, Milady, ich habe keinen Schlüssel.»
Wut tobt in meiner Brust. «Dieser hinterhältige Drecksack», zische ich.
Scofeld stößt ein würgendes Geräusch aus. «Was?»
«Nicht du», sage ich mit einem Seufzen und reibe mir frustriert die Stirn. «Hör zu, Scofeld, du musst für mich zu Midas gehen.»
«Ich fürchte, das kann ich nicht machen.»
Göttin, Midas hat diesen speziellen Soldaten wirklich gut ausgebildet.
«Warum nicht?»
«Weil er mich angewiesen hat, diese Antwort zu geben, wenn Ihr mich darum bittet», entgegnet Scofeld ehrlich.
Mein Lid beginnt zu zucken.
«Seine Majestät hat mich auch angewiesen, Euch mitzuteilen, dass diese Maßnahme nötig ist.»
Schnaubend verdrehe ich die Augen. «Natürlich.»
Ich wende mich von der Tür ab und tigere im Raum auf und ab. Denke darüber nach, was ich jetzt tun soll, während ich mit den Händen ringe. Ich könnte stillhalten, bis Midas mich aus dem Gemach lässt, aber diese Möglichkeit hinterlässt einen schlechten Geschmack in meinem Mund. Plötzlich scheinen die Wände auf mich einzudrängen.
Ich könnte auch herausfinden, welchen Schaden meine Bänder an der Tür anzurichten vermögen. Aber sollte ich einen Ausbruchsversuch starten, würden die Wachen sofort Midas informieren.
Mein Blick huscht zum Balkon. Vielleicht kann ich mich stattdessen wegschleichen?
Bevor ich mich selbst hinterfragen kann, habe ich den Raum bereits durchquert und ziehe die Balkontür hinter mir zu. Ich gehe zum Geländer, sehe mich gründlich um und schätze meine Lage ab. Ich befinde mich im zweiten Stock. Das ist nicht furchtbar, aber auch nicht toll.
Hier und dort ragen Steine aus der Wand, die ich vielleicht als Stütze nutzen kann, wenn ich mich langsam vom Geländer sinken lasse. Na ja, falls ich nicht auf Schnee ausrutsche und in den Tod stürze. Das wäre weniger ideal.
Obwohl ich mich verletzen könnte, bringt der Gedanke, den ganzen Tag in meinen Räumlichkeiten zu verbringen, meinen Puls zum Rasen. Das kann ich nicht. Ich kann mich nicht einsperren lassen.
Ich beuge mich weiter über das Geländer, auf der Suche nach dem besten Weg für einen Abstieg. Doch dann lehne ich mich aus Versehen zu weit vor. Meine Hände rutschen ab, und mein Schwerpunkt verlagert sich. Angst verkrampft mir den Magen, als ich nach vorne falle, zu schnell, um mich zu fangen.
Scheiße !
Ein Kreischen dringt über meine Lippen, als ich kopfüber abstürze. Gleichzeitig verfluche ich mich für meine Sorglosigkeit. Ich schließe fest die Augen, doch dann – schneller als der Blitz – handeln meine Bänder. Sie schießen nach oben, schleudern meinen goldenen Mantel zur Seite und schlingen sich um das eiserne Geländer.
Mir entreißt sich abermals ein Schrei, als mein Fall so abrupt gestoppt wird. Die Haut an meinem Rücken dehnt sich schmerzhaft, während ich hin und her schwinge, nur gehalten von meinen Bändern. Schwer atmend starre ich den Boden unter mir an – einen Boden, der plötzlich viel weiter entfernt scheint, als mir lieb ist.
Mein Blut rauscht in den Ohren und ich hänge in der Luft wie eine Marionette an ihren Fäden.
Die Ironie bleibt mir nicht verborgen.
Ich probiere, die Arme zu heben und meine Bänder zu packen wie ein Seil, an dem ich mich nach oben ziehen kann, aber schon der erste Versuch beweist mir wieder, dass ich keinerlei Armmuskeln besitze … weil ich träge und willfährig war.
«Idiotin», zische ich. Meine Arme zittern, und meine Hände rutschen ab.
«Witzig. Das habe ich auch gerade gedacht.»
Ich zucke überrascht zusammen, was dafür sorgt, dass ich den Halt an meinen Bändern verliere. Sofort falle ich zurück in meine Hängende-Marionetten-Pose.
Nicht gerade mein rühmlichster Moment.
Mein Blick findet die Person, die unter mir steht. Mein Lieblingsmitglied von Riss’ sogenannten Zornkriegern grinst amüsiert zu mir auf. Sie hat glatte, ebenholzschwarze Haut und einen schlanken Körperbau, alle Hinweise auf ihre Kraft verborgen unter der Lederrüstung und dem dicken Wintermantel. Mit den kniehohen Stiefeln und dem Schwert am Gürtel starrt sie mit verschränkten Armen zu mir auf, ganz die Kriegerin.
«Ähm. Hey, Lu», sage ich mit einem lächerlichen Winken. «Was tust du hier?»
Sie mustert mit hochgezogener Augenbraue, wie ich hin und her baumele. «Ich finde, die interessantere Frage lautet, was tust du da?»
Ich verschränke die Arme, doch dann wird mir klar, dass ich dadurch nur noch lächerlicher aussehe, also löse ich sie wieder. «Gar nichts.»
Ihre Lippen zucken. «Hmm-mmm. Brauchst du vielleicht Hilfe, Goldlöckchen?»
«Nö. Ich, ähm … komme schon klar. Versuch nicht, mich aufzufangen oder so was, okay?»
Sie schnaubt. «Hatte ich nicht vor. Ich will lieber zusehen, wie du auf den Hintern fällst.»
«Danke», gebe ich trocken zurück.
Mühevoll drehe ich den Kopf, um die Wand hinter mir zu betrachten. Ich suche verzweifelt nach einer Lösung, dann fällt mein Blick auf das Balkongeländer vielleicht eineinhalb Meter unter mir. Ich stoße den Atem aus und versuche, mir das Haar aus dem Gesicht zu streichen. «Verdammt.»
Lu fängt an zu lachen.
Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, und meine Wirbelsäule brennt vor Schmerz. Es fühlt sich an, als würden mir die Bänder demnächst aus dem Rücken gerissen, wenn ich mich nicht beeile. Also beiße ich die Zähne zusammen und konzentriere mich darauf, ein paar meiner Bänder zu lösen, um sie stattdessen zu dem Balkongeländer unter mir zu lenken.
Aber nur einige von ihnen zu kontrollieren, fällt mir wirklich schwer, nachdem ich vierundzwanzig von den verdammten Dingern besitze. Zumal ich sie den Großteil meines Lebens versteckt gehalten und nur genutzt habe, um mein Haar zu flechten.
«Idiotin», beschimpfe ich mich erneut.
«Jepp. Schön, dass wir uns da einig sind», ruft Lu nach oben.
Habe ich eben behauptet, sie wäre mein Lieblingsmitglied des Zorns? Ist sie nicht. Ich mag Osrik viel lieber.
Langsam löse ich drei Bänder, doch drei weitere folgen der Aufforderung ebenfalls. Dann weitere drei und weitere drei und …
Ich schreie, als ich erneut abstürze. Diesmal sind meine Bänder zu verknotet, um irgendetwas zu packen. Ein paar von ihnen versuchen, sich zu versteifen, um meinen Aufprall abzufangen, aber ich lande trotzdem mit dem Gesicht nach unten in einer Schneewehe.
Fantastisch .
Für einen Moment kann ich nur wie betäubt daliegen, bis mir klar wird, dass ein metallischer Geschmack meinen Mund erfüllt. Ich habe meine Gemächer vor kaum einer Minute verlassen, und schon habe ich den ersten götterverdammten Fehler gemacht. Am liebsten würde ich mich mit meinen eigenen Bändern erwürgen. Aber im Moment bin ich mir nicht mal sicher, ob ich selbst das richtig hinkriegen würde.
Ich stemme mich nach oben, in eine sitzende Position, dann spucke ich Schnee aus. Meine Augen werden groß, als ich meinen goldenen Gesichtsabdruck im Schnee erkenne.
«Geht es dir gut, Goldie?», fragt Lu. Ich höre ihre Schritte näher kommen.
«Prima!», stoße ich eilig hervor, während ich verzweifelt den vergoldeten Schnee zur Seite und tief unter die Schneewehe schiebe. Meine Handschuhe sind jetzt tropfnass.
Als ihre knirschenden Schritte sich weiter nähern, springe ich auf und wirbele herum. Lus Nähe überrascht mich, also weiche ich einen Schritt zurück, aber meine Bänder geraten zwischen meine Beine und fast wäre ich gefallen. Schon wieder.
Glücklicherweise schaffe ich es, meine Bänder wegzuziehen, bevor ich mich komplett in ihnen verheddere.
Lu hält vor mir an. Ihre Augen glitzern erheitert. «Interessante Art, dein Zimmer zu verlassen.»
«Ich wollte nur üben, wie ich meine Bänder kontrollieren kann», antworte ich, bevor ich beginne, mir den Schnee von der Kleidung zu klopfen. «Du weißt schon. Ich versuche, auf meine Instinkte zu vertrauen.»
«Sicher», antwortet sie in einem Tonfall, der mir deutlich verrät, dass sie mir kein Wort glaubt.
Um uns herum tanzen jetzt papierdünne Flocken, die aus schmierigen Wolken fallen. Der Schnee bleibt kurz auf ihrem Kopf liegen, schmilzt über den einrasierten Formen der Dolche in ihrem schwarzen Haar. Doch Lu scheint die Kälte nichts auszumachen.
Eilig hebe ich meinen Mantel auf und schlüpfe hinein, ziehe mir die Kapuze über den Kopf, damit der Schnee auf meinem Gesicht sich nicht in Gold verwandelt.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich eine Stelle auf dem Boden neben mir, an der ich etwas goldenen Schnee übersehen habe. Ich trete ungeschickt zur Seite und schiebe den Rock meines Kleides darüber. Lus Blick schnellt nach unten, bevor sie mir wieder ins Gesicht sieht.
Nervöse Hitze steigt in meine Wangen, aber ich bemühe mich, meine Miene ausdruckslos zu halten. «Was treibst du hier?», frage ich. «Überrascht mich, dass sie eine Soldatin der Vierten Armee in die Burg gelassen haben.»
«Haben sie auch nicht.» Sie zuckt träge mit den Achseln und legt eine Hand auf den knorrigen Griff ihres Schwertes. Ich warte darauf, dass sie mehr sagt, doch sie schweigt. Nicht, dass Lu besonders redselig wäre, aber gewöhnlich ist sie doch etwas entgegenkommender.
Unangenehmes Schweigen drängt sich zwischen uns wie ein unerwünschter Besucher. Jetzt, nachdem ich nicht mehr so lächerlich vom Balkon hänge und sie sich nicht länger über mich lustig macht, spüre ich, dass das Verhältnis zwischen uns sich verändert hat. Da ist etwas in ihrer Miene und auch in ihrem Blick. Und plötzlich wird mir bewusst, was ich da sehe.
Enttäuschung.
Ich räuspere mich. «Wenn man dich nicht reingelassen hat, wie bist du hergekommen?», frage ich. Ich sehe mich um, aber wir sind die einzigen Personen im Hof. Das einzige Gebäude in der Nähe ist der Hundezwinger … und der ist leer.
«Ich bin gelaufen.»
Ich stoße die Luft aus. «Lu …»
Sie legt den Kopf schief und mustert mich von oben bis unten. «Ich dachte nicht, dass du es wirklich tust, Goldie.»
«Was genau?»
«Hierher zurückkehren», sagt sie und beäugt mit gerümpfter Nase die Burg neben uns. «Scheint mir kein guter Tausch zu sein.»
Und da wird mir bewusst, dass darin der Grund für ihre Zurückhaltung liegt; für die Enttäuschung in ihrem Blick. Je länger sie mich so ansieht, desto weniger kann ich es ertragen. Sie bricht das Schweigen nicht, macht keinen Rückzieher. Ihre Miene wirkt, als erwarte sie irgendetwas von mir. Eine Entschuldigung? Ich weiß es nicht.
«Ich verstehe, dass du wütend auf mich bist.»
«Ich bin nicht wütend», antwortet sie wegwerfend. «Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass du so eilig unter Midas’ Knute zurückkehrst. Ich dachte, du wärst stärker.»
Ich bemühe mich, angesichts ihres bissigen Tonfalls nicht zusammenzuzucken. Bemühe mich, den Schmerz zu vertreiben, der mir die Kehle zuschnürt.
Ich mag Lu – sehr sogar. Ich habe mehr verloren als nur meine Freiheit, als ich mich entschlossen habe, zu Midas zurückzukehren. Doch bisher war mir nicht bewusst, dass zu diesen Dingen auch ihr Respekt gehört. Oder wie sehr mich diese Tatsache stören würde.
Das angespannte Schweigen zieht sich in die Länge, sorgt dafür, dass ich unter ihrem kritischen Blick von einem Fuß auf den anderen trete. Ich bin unschlüssig, was ich sagen soll. Ich habe keine Ahnung, ob sie weiß, dass Riss in Wahrheit ihr König ist … oder ob das überhaupt einen Unterschied macht.
Ich will mich nach ihm erkundigen, fragen, ob Lu weiß, dass wir uns im Zimmer mit dem Käfig unterhalten haben – unterdrücke diesen Impuls aber sofort. Offensichtlich habe ich mit meiner Rückkehr zu Midas jede Chance auf eine Freundschaft mit Lu verloren.
Fast hätte ich ihr erklärt, dass ich mich nicht wieder unter Midas’ Fuchtel begebe, dass ich nach einem Weg zur Flucht suche, aber ich halte mich zurück. Ich bin mir nicht mal sicher, ob dieses Geständnis etwas helfen oder nur meinen Plan gefährden würde.
Die Wahrheit lautet, dass Lu und ich nicht befreundet sind. Ihre Loyalität gehört Riss, nicht mir.
Wieder verlagere ich mein Gewicht, weil ich ihrem prüfenden Blick einfach nicht mehr standhalten kann. «Ich sollte gehen. Besonders weil du dich gar nicht innerhalb der Mauern aufhalten dürftest. Ich will nicht, dass du Probleme kriegst, weil du mit mir gesehen wirst.»
Lu schnaubt abfällig. «Die Sicherheitsmaßnahmen in Ranhold sind grauenhaft. Wenn ich wollte, könnte ich mit verbundenen Augen hier einbrechen und Midas die Krone vom Kopf stehlen.»
Ich starre sie erstaunt an. «Bitte tu das nicht.»
«Zerbrich dir nur nicht deinen goldenen Kopf. Ich habe einiges zu tun, aber das gehört nicht dazu. Solange mir nicht langweilig wird, zumindest.»
«Lu .»
Sie verdreht die Augen, dann wendet sie sich von mir ab. «Mach dir keine Sorgen um mich. Zieh los und tu, weswegen auch immer du dich rausgeschlichen hast.»
Meine Schultern verspannen sich. «Ich habe nie gesagt, dass ich mich rausgeschlichen habe», rufe ich ihr hinterher.
Sie dreht sich im Laufen, bis sie rückwärtsgeht, dann tippt sie sich leicht an die Nase und zeigt auf mich. «Wir schleichen hier beide rum. Und ein Schnüffler erkennt den anderen, Goldie.»
Bevor mir eine Antwort einfällt, verschwindet sie um die Ecke der Burg und lässt mich allein zurück.
Ich sehe zu meinem Balkon hoch über mir auf und schüttele seufzend den Kopf. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich mir nicht den verdammten Hals gebrochen habe. Nur gut, dass hier eine Schneewehe war. Und selbst damit tut mein Rücken weh, und mein Gesicht schmerzt von der unsanften Landung. Alles nur, weil Midas ein herrschsüchtiger, manipulativer Mistkerl ist. Und Lu hasst mich.
Bislang war das kein guter Morgen.
Aber wie Lu drehe ich mich um und gehe davon, weil ich in der Tat herumschnüffeln will. Und als Erstes will ich mir einen Überblick über die Anlage der Burg verschaffen.