Kapitel 11

Auren

E s ist nicht leicht, den Flügel der Burg zu finden, in dem die Sättel untergebracht sind. Nicht nur, weil ich nicht weiß, wo er sich befindet, sondern auch, weil ich weiter heimlich herumschleichen muss. Das bedeutet, dass ich mich oft in Nebenräume ducken muss oder sogar umdrehen, wenn Bedienstete oder Wachen auftauchen. Und das kostet eine Menge Zeit.

Doch meine mäandernde Suche bedeutet auch, dass ich die verschiedenen Stockwerke kennenlerne, ein Gefühl dafür bekomme, wo sich was befindet. Das wird sicherlich hilfreich für meinen Fluchtplan sein. Ein Plan, der mit jedem Schritt klarere Gestalt in meinem Geist annimmt.

Ein paar Stunden später habe ich Glück. Als ich den Kopf um eine Ecke schiebe, entdecke ich zwei Wachen, die vor einer Tür sitzen.

«Dieser Posten ist viel besser als die Nordmauer. Zur Abwechslung müssen wir uns mal nicht die Hintern abfrieren», sagt einer der Männer.

Der zweite Mann hat sich auf seinem Hocker nach hinten gelehnt und presst das Ohr gegen die Tür. «Scheiße, ich höre eine von ihnen stöhnen.»

«Wirklich?», fragt sein Kumpan interessiert. Ich verdrehe die Augen, als auch er das Ohr gegen die Tür drückt. «Glaubst du, sie … treiben es den ganzen Tag miteinander?»

Der andere stöhnt. «Verdammt, ich hoffe es.»

«Midas hat so viel bessere Huren als Fulke. Hast du die Titten der Rothaarigen gesehen?»

Ganz offensichtlich habe ich die Sättel gefunden.

Ich zögere einen Moment, um mir einen Plan zurechtzulegen, aber gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht lange hinter dieser Ecke herumlungern kann. Früher oder später wird jemand vorbeikommen.

Ich erkenne die Wachmänner nicht. Offensichtlich sind sie neu auf dem Posten, was mir zum Vorteil gereichen könnte. Also folge ich der halb garen Idee in meinem Kopf, atme tief durch und trete um die Ecke. Selbstbewusst schreite ich den eisblauen Korridor entlang, vorbei an den dekorativen Säulen an den Wänden.

Nachdem sie immer noch versuchen, die Sättel zu belauschen, bemerken die goldgekleideten Männer mich erst, als ich sie fast erreicht habe. Sofort springen sie peinlich berührt auf die Beine. Einer der Männer ist älter, mit Grau an den Schläfen, der andere scheint jünger zu sein als ich. Aus seinem Kinn ragen blonde Büschel, die wohl einen Bart darstellen sollen.

«Wer bist du?», fragt Büschelbart.

Der ältere Mann wirft ihm einen scharfen Blick zu. «Wer ist sie ? Schau sie dir an. Sie ist golden, du Idiot. Was glaubst du denn, wer sie ist?»

«Oh. Richtig.» Rote Flecken bilden sich auf seinen Wangen.

Ich lächele strahlend. «Hallo. Ich wollte nicht stören. Ich bin nur unterwegs in den Sattelflügel.»

Grauhaar runzelt verwirrt die Stirn. «Ähm, das ist nicht erlaubt, Miss.»

Ich stoße ein hochmütiges Lachen aus. «Natürlich ist es erlaubt.» Die beste Art, Leute davon zu überzeugen, dass man etwas darf, besteht darin, beleidigt zu reagieren, wenn sie etwas anderes behaupten. «Ihr wisst, wer ich bin.»

Eigentlich ist das keine Frage, aber sie nicken trotzdem.

«Also wisst ihr, dass ich König Midas’ goldgeküsste Favoritin bin. Sein liebster Sattel. » Die letzten Worte spreche ich langsam und unterstreiche das Gesagte mit hochgezogenen Brauen. Das soll dafür sorgen, dass die beiden sich wie Idioten fühlen, weil sie nicht selbst darauf gekommen sind. «Und das ist der Sattelflügel, nicht wahr?»

Sie zögern.

«Na ja. Ja …», antwortet Büschelbart. Die verlegene Röte auf seinen Wangen ist noch nicht verklungen.

«Eben. Könntet ihr dann bitte den Weg freigeben, damit ich reingehen kann? Ich würde dem König ungern berichten, dass ihr seinen liebsten Sattel davon abgehalten habt, ihren eigenen Flügel zu betreten. Ich bin mir sicher, das würde ihn nicht erfreuen.»

Der junge Wachmann wird bleich und schnellt mit dem Kopf zu Grauhaar herum. «Du beleidigst König Midas’ Favoritin», stößt er zwischen den Zähnen hervor.

«Tue ich nicht», hält Grauhaar dagegen. «Ich dachte, sie …»

Büschelbart wartet nicht, bis er ausgesprochen hat, sondern sieht erneut mich an. «Geht nur hinein, Fräulein», sagt er, hebt die Hand und öffnet mit großer Geste die Tür für mich.

Ich achte darauf, ihm ein freundliches Lächeln zu schenken, als ich an ihm vorbeitrete. «Vielen Dank.»

Kaum fällt die Tür hinter mir ins Schloss, höre ich, wie die beiden anfangen zu streiten. Ich schnaube. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich mit meinem dreisten Versuch durchkomme, doch ich werde mein Glück definitiv ausnutzen.

Ich sehe mich in dem kleinen Eingangsbereich um. Hier ist niemand, aber dann höre ich ein Geräusch hinter der Tür rechts von mir. Als ich hindurchspähe, entdecke ich dahinter einen großen Raum. An der hinteren Wand erheben sich zwei Säulen, rechts und links neben den Fenstern, als wären es Bücherstützen. Das Licht im Raum ist dämmrig, weil die Scheiben mit Raureif überzogen sind. Die eisblaue Wandfarbe und die dazu passenden Teppiche lassen es kalt wirken, trotz des Feuers, das im Kamin prasselt.

Sessel aus geflochtenen Zweigen hängen von der Decke, groß genug, um mehreren Sätteln gleichzeitig Platz zu bieten. Manche von ihnen nutzen diese Gelegenheit; sie liegen in den seltsamen, schwingenden Sesseln, die mich an Kokons erinnern, auf weichen Kissen.

Mein Blick huscht zu einem Haufen weiterer weicher Kissen auf dem Boden in einer Ecke, alle in Weiß, Blau und Purpur. An der gegenüberliegenden Wand entdecke ich einen Tisch gefüllt mit Tabletts voller Speisen und Getränkekrüge, und in der Mitte des Raums stehen mehrere gepolsterte Liegen. Insgesamt wirkt es hier drin dekadent, aber auch ein wenig unordentlich.

Ich entdecke den Großteil der Sättel, mit denen ich hierhergereist bin, ebenso ein paar neue Gesichter. Bisher hat keiner mich bemerkt. Diejenigen in den schwingenden Kokonsesseln scheinen zu dösen. Hier und dort hängen Beine über die Kante, und die Säume von seidenen Kleidern schleifen über den Boden.

Sie alle gehen so … ungezwungen miteinander um, dass ich ein Aufwallen von Eifersucht unterdrücken muss. Wie wäre es wohl gewesen, wenn ich mein Leben in Hohenläuten mit ihnen geteilt hätte? Wenn es mir erlaubt gewesen wäre, die Sättel zu besuchen? Wenn sie mich nicht abgelehnt und gehasst hätten? Auf jeden Fall wäre ich weniger einsam gewesen. Ich weiß, dass sie sich hin und wieder streiten – das habe ich gesehen, als wir mit der Armee des Vierten gereist sind –, aber sie haben auch Freundschaften geschlossen. Selbst wenn ein paar von ihnen sich gegenseitig nicht ausstehen können, gibt es die anderen. Ich hatte niemanden. Habe niemanden.

Ein Kichern rechts von mir reißt mich aus meinem Selbstmitleid. Ich schaue hastig zu einer der Liegen, um dort die eine Person zu entdecken, mit der ich nicht befreundet sein will.

Polly scheint mich genau im selben Moment zu bemerken, weil der Blick ihrer kristallblauen Augen zu mir schnellt und das Kichern auf ihren Lippen erstirbt. Neben ihr zuckt der männliche Sattel, Rosh, leicht zusammen. Drei weitere Sättel auf der anderen Liege drehen sich zu mir um, als ich näher komme.

«Nettes Kleid», höhnt Polly und lächelt bissig, als sie mein verformtes Mieder betrachtet.

Ihr herablassender Blick lässt Hitze in meine Wangen steigen, aber ich verdränge die Verlegenheit. «Meine Rippen sind nicht begeistert von der Kleidung des Fünften.»

Polly schnaubt abfällig. Sie liegt kraftlos zwischen den purpurfarbenen Kissen, das blonde Haar zerzaust. «Schmerz ist Schönheit. Aber ich nehme an, davon verstehst du nichts.»

Die anderen Sättel kichern. Meine Wangen werden noch heißer.

«Schmerz sollte keine Voraussetzung für Schönheit sein.»

«Gesprochen wie eine verwöhnte Hure», schießt sie zurück, auch wenn ihre Augen glasig wirken, unkonzentriert. «Was willst du überhaupt hier? Du bist in unserem Flügel nicht willkommen.»

Wachsam lasse ich den Blick über die anderen drei Frauen gleiten, die mich mit fast gelangweiltem Interesse beobachten. «Ich wollte schauen, wie ihr alle euch einlebt.»

Polly verdreht die Augen. «Lügnerin.»

«Schön», gestehe ich mit einem Achselzucken. Ich will genauso wenig mit ihr reden wie sie mit mir. «Ich bin hier, um Nissa zu besuchen. Weißt du, wo sie ist?», frage ich, bevor ich mich umsehe.

Ihre verschlagenen, wenn auch blutunterlaufenen Augen werden schmal. «Wieso willst du in letzter Zeit ständig mit ihr reden? Ihr seid keine Freundinnen.»

Ihre Bemerkung fühlt sich an wie ein Tritt in den Magen. Es ist, als hätte sie meine Gedanken gelesen und wollte Salz in die Wunde streuen.

«Woher weißt du, dass wir nicht befreundet sind?», frage ich herausfordernd.

«Weil Nissa meine Freundin ist», antwortet Polly. Auf ihren Wangen blüht eine wütende Röte auf, die mich überrascht.

Einer der anderen Sättel lacht – Isis, die Schönheit mit dem schwarzen Haar. «Bist du eifersüchtig auf die goldene Fotze?»

Ihre Worte ärgern mich, doch dasselbe gilt sichtlich auch für Polly.

Isis lacht nur heftiger, so heftig, dass sie gegen den Sattel neben sich kippt, was dafür sorgt, dass auch diese Frau anfängt zu lachen. Hysterisch kichernd fallen die beiden auf den Boden, und dann …

Okay , jetzt knutschen sie.

Der kleine, elfengleiche Sattel namens Gia verdreht die Augen und steht auf. Sie tritt über die zwei Frauen auf dem Boden hinweg, bevor sie sich auf Roshs Schoß fallen lässt. Sofort beginnt sie, ihn zu küssen.

Plötzlich findet hier eine Menge Knutscherei statt.

Polly wirft einen Blick zu Gia und schiebt ihren Kopf zur Seite. «Geh und fick jemand anderen.»

Das Mädchen zieht einen Schmollmund, bevor sie anfängt, Küsse auf Roshs Hals niederregnen zu lassen, statt an seiner Zunge zu saugen. «Ach, komm schon, Polly. Lass uns alle mitmachen. Ich fühle mich gerade so wunderbar.»

Mit großen Augen beobachte ich, wie sie anfängt, Rosh im Schritt zu streicheln. Stöhnend lässt er den Kopf in den Nacken sinken.

Polly presst die Lippen aufeinander, bis sie nicht mehr voll und pink wirken, sondern eine scharfe, weiße Linie bilden. Ein verärgertes Seufzen dringt durch ihre verkniffenen Lippen. «Ich wusste doch, dass ihr Nutten so viel Tau nicht vertragen könnt.»

«Tau?», frage ich stirnrunzelnd.

Polly wirkt ungefähr so beeindruckt von mir wie immer. «Ja. Tau », sagt sie mit übertrieben geduldiger Miene. «So dumm kannst du doch nicht sein, oder?» Als ich sie weiter nur verwirrt anstarre, seufzt sie. «Du weißt schon. Die angemalte Blüte, die rote Jungfrau, Tautropfen, Korkensprenger …»

Isis, die immer noch auf dem anderen Sattel auf dem Boden liegt, schnaubt. «Korkensprenger, weil schon nach einem vorsichtigen Lecken selbst die prüdesten Jungfrauen entkorkt werden wollen.» Sie fängt erneut an zu lachen, bis das Mädchen unter ihr die Hüften hebt und ihre Erheiterung in ein Stöhnen umschlägt.

«Tau ist … eine Droge?», hake ich ungläubig nach. Jetzt sehe ich ihre glasigen Augen und geröteten Gesichter in ganz neuem Licht. Ihr träges, lustvolles Verhalten macht mich nervös. «Bringt euch das keinen Ärger ein?»

«Mit wem?», fragt Polly mit hochgezogener Braue.

«Dem König.»

«Nun, das wäre wirklich seltsam, weil er derjenige war, der mir den Tau gegeben hat.»

Meine Gedanken rasen. «Was? Midas hat dir Drogen gegeben?»

«Zuerst haben wir sie vom Heiler bekommen. Um uns nach allem, was wir mit den Roten Räubern und der Armee erlebt haben, zu entspannen. Aber Midas hat mir mein eigenes kleines Kästchen gegeben, weil ich ihn zufriedengestellt habe», antwortet Polly stolz, bevor sie ein bösartiges Lächeln in meine Richtung schickt, auch wenn sie immer noch schlaff an den Kissen lehnt. «Ich habe ihn sehr zufriedengestellt.»

Ich schlucke schwer. «Kürzlich erst?»

Es ist offensichtlich, wie sehr sie die Situation genießt, weil ihre Augen funkeln und ein schelmisches Lächeln ihre Lippen umspielt. «Erst letzte Nacht.»

Eigentlich sollten ihre Worte mich treffen wie ein Messerstich mitten ins Herz, aber ich bin nicht verletzt – nicht auf diese Weise. Oder falls doch, dann ist es nur ein Echo dessen, wie ich sonst reflexhaft auf Midas’ sexuelle Aktivitäten reagiert habe. Ich musste meine Eifersucht immer unterdrücken. Er hat mich glauben lassen, meine Gefühle wären unvernünftig; unfair. Doch jetzt zu hören, dass er gestern Nacht mein Bett verlassen hat, um stattdessen in Pollys zu steigen, macht mich nicht eifersüchtig. Ich verspüre vielmehr Abscheu.

Offensichtlich war ich sehr gut darin, mich selbst anzulügen, sonst hätte ich mich nie davon überzeugen können, dass er mich liebt.

Wir alle erzählen uns verdrehte Lügen, um die harten Wahrheiten zu verbergen und uns unserer Reue nicht stellen zu müssen … und verfangen uns dann doch in den Fäden.

Viel zu oft war Midas erst bei mir, um anschließend eine der anderen Frauen zu besuchen. Oder er hat mich gezwungen, ihn mit den Sätteln zu beobachten, als bereite ihm seine vollkommene Kontrolle über mich ein perverses Vergnügen. Ich hätte ihm schon vor Jahren in die Eier treten sollen, diesem sattelreitenden Fiesling.

Und jetzt verabreicht er den Sätteln irgendeine Art von Drogen, um ihr Verhalten zu beeinflussen. Das hinterlässt einen sehr schlechten Geschmack in meinem Mund.

«Vielleicht solltest du das lieber nicht nehmen …», wende ich vorsichtig ein.

Polly versteift sich. «Und schon wieder spielst du die Überlegene. Du kannst einfach nicht anders, als dich für etwas Besseres zu halten, oder?», faucht sie.

«Das ist nicht …»

«König Fulkes Sättel haben jahrelang jeden Tag Tau genommen. Sie lieben das Zeug. Es macht alles so viel … vergnüglicher.» Sie beugt sich vor, um den Finger über Roshs nackten Oberarm gleiten zu lassen, während der Mann an Gias Hals saugt.

Ich ziehe die Brauen zusammen. «Fulkes Sättel?»

Rosh hebt den Kopf, um mir zu antworten. «Jepp.» Er mustert mich mit lustverschleierten Augen, die dank der Kohlumrandung noch intensiver wirken. «Die da drüben», sagt er und zeigt irgendwo hinter mich.

Ich drehe mich um und entdecke in einer kleinen Nische eine Gruppe Frauen, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Sie lehnen schlaff an der Wand, Kissen unter ihnen, die Hände zwischen den Schenkeln vergraben. Leere Augen starren ins Leere, als wären sie sich ihrer Umgebung kaum bewusst, während ihre Finger sich bewegen und ein Stöhnen über ihre Lippen dringt.

Sorge und Unbehagen breiten sich in mir aus, es fühlt sich an, als würden Sandkörner über meine Nerven schaben. «Was stimmt nicht mit ihnen?»

«Fulke war ein Fleischhändler», erklärt Rosh mit einem Achselzucken. Seine Worte werden undeutlich, als Gia mit den Fingern durch sein Haar streicht. «Königlicher Sattel war hier keine dauerhafte Anstellung. Nach allem, was wir gehört haben, hat er sie regelmäßig ausgetauscht. Die da bleiben überwiegend für sich, aber sie lieben ihren Tau. König Midas hat sichergestellt, dass sie ihn weiterhin bekommen.»

Ich reiße den Blick von ihren schlaffen Gesichtszügen los, ihren leeren Augen. «Ich finde, ihr solltet das nicht nehmen.»

«Aber es fühlt sich so gut an», verkündet Isis vom Boden. Ihre Hand gleitet unter das Kleid der anderen Frau. «Du solltest es mal versuchen.»

«Als würde ich etwas von meinem Geschenk an sie verschwenden», zischt Polly.

Ich ignoriere sie. «Ihr wollt doch nicht enden wie … wie sie», flüstere ich, als mein Blick erneut zu Fulkes Sätteln huscht. Aber ich vermute, selbst wenn ich die Worte geschrien hätte, hätte die Frauen das nicht gekümmert.

«Auf diese Art sind sie glücklicher», meint Rosh geistesabwesend, den Blick auf Gias Brüste gerichtet.

«Mmmm, ich will auch glücklicher sein», flötet Gia. «Komm schon, Polly. Gib uns noch was.»

«Deine Pupillen sind riesig, und du reibst dich an Roshs Bein wie eine läufige Katze. Du hattest genug», versetzt Polly barsch. Dann greift sie unter ein Kissen in ihrem Rücken und zieht ein kleines Glaskästchen heraus. Sobald sie den Deckel öffnet, merken alle vier Sättel auf und drehen die Köpfe, wie Hunde, die einen Knochen gewittert haben.

Isis richtet sich auf und versucht, in das Kästchen zu greifen, aber Polly zieht es aus ihrer Reichweite und schlägt ihr auf die Finger. «Nein. Du hattest auch genug.»

Isis reibt sich mit finsterer Miene die Hand. «Du gibst hier nicht die Befehle.»

«König Midas hat mir diesen zusätzlichen Tau gegeben. Das bedeutet, er gehört allein mir. Wenn ihr drei Miststücke nicht vorsichtig seid, lege ich euch trocken. Dann müsst ihr versuchen, etwas von den Fulke-Geistern da drüben zu ergattern», sagt Polly und wedelt mit der Hand in die Richtung. Ich kann nicht anders – ich verziehe bei ihrer Beschreibung der Frauen das Gesicht. Sie hat nicht unrecht. Sie sehen aus wie Geister, wie abgestumpfte Hüllen mit leeren Augen. «Ich habe gesagt, du hattest genug, und das habe ich auch so gemeint. Und jetzt geh weg. Du nervst mich.»

Isis wirft ihr noch einen schlecht gelaunten Blick zu, nimmt sich Pollys Worte aber offensichtlich zu Herzen. Sie steht auf und streckt dem Mädchen unter sich die Hand entgegen. Die beiden stolpern zum nächsten Schwingsessel und klettern hinein. Kurz darauf erklingt Stöhnen.

Ein kehliges Lachen sorgt dafür, dass ich mich wieder umdrehe. «Das war gemein, Polly», schnurrt Rosh, und ich sehe, wie seine Härte unter den Samtleggins wächst. Denn Gia wiegt sich inzwischen auf seinem Schoß und reibt ihre schmalen Hüften an ihm.

«Du magst es, wenn ich gemein bin», antwortet Polly mit einem sinnlichen Blick.

Rosh lacht nur, dann dreht er den Kopf, um über Gias Brust zu lecken. Sie drückte den Rücken durch und stößt ein seltsames, gieriges Geräusch aus, das scheinbar tief aus ihrer Brust aufsteigt.

«Könnte jemand mir sagen, wo ich Nissa finde?», frage ich ungeduldig. Ich will mich hier nicht länger aufhalten. Meine Haut kribbelt vor Unbehagen, weil sich das alles so falsch anfühlt.

«Nein», sagt Polly, bevor sie erneut das Kästchen öffnet. Darin liegt ein Stapel dicker, weißer Blütenblätter mit einem blutroten Tropfenmuster darauf.

«Polly …»

Sie ignoriert mich und legt sich das Blütenblatt auf die Zunge. Mit sinnlicher Dekadenz schließt sie den Mund. Sofort rollen ihre Augen nach hinten, und ein Ausdruck reiner Euphorie erscheint auf ihrem Gesicht.

Sie kaut langsam, als genieße sie jede Bewegung ihres Kiefers, jedes Zucken ihrer Zunge. Rosh packt Pollys Gesicht, bevor sie das Blütenblatt runterschlucken kann, und verschlingt sie förmlich. Gierig stößt seine Zunge in ihren Mund, als versuche er, noch den letzten Rest der Droge aufzunehmen, die sie gerade genossen hat.

Ich starre die beiden immer noch an, als jemand hinter mir sagt: «Du solltest sie wahrscheinlich in Ruhe lassen. Sie werden jetzt stundenlang nichts anderes machen.»

Ich wirbele herum, um Nissa zu entdecken. Sie sieht so gut aus wie immer. «Da bist du ja», sage ich erleichtert. Ein lautes Stöhnen hinter mir lässt mich leicht zusammenzucken.

«Kein Fan von Tau?», fragt sie wissend.

Ich schüttele den Kopf.

«Hier im Fünften Königreich wird die Droge oft konsumiert, auch wenn ich gehört habe, dass Tau ziemlich teuer ist. König Fulke hatte anscheinend immer einen Vorrat davon. Seine alten Sättel scheinen sich für quasi nichts anderes zu interessieren. Na ja, Tau und Vögeln, nachdem die Droge das sexuelle Begehren steigert. Ist ziemlich geschickt, die Sättel von so etwas abhängig zu machen, findest du nicht auch?»

Ihre Worte klingen bitter, beißend. Das Schnappen kleiner Zähne hinter hübschen Lippen.

Ich mustere Nissas ordentlich frisiertes Haar, ihren klaren Blick, ihre normal geröteten Wangen. Anders als die restlichen Sättel im Raum – die, wie mir jetzt bewusst wird, entweder sexuell aktiv sind oder nur wie betäubt daliegen – wirkt sie vollkommen anwesend.

«Du konsumierst keinen Tau?», erkundige ich mich neugierig.

Plötzlich sieht sie verschlossen aus. «Nein. Ich will nicht, dass meine Probleme verdrängt werden oder meine Lust nicht mir gehört. Ich weigere mich, hierzubleiben und einer Droge zu erliegen.» Als ich nichts dazu sage, reißt sie ihren Blick von Fulkes Sätteln los und streicht sich über ihr hautenges Kleid. «Ich vermute, du bist hier, um mit mir zu sprechen?»

«Richtig.» Wieder erklingt hinter mir ein kehliges, sinnliches Geräusch. «Können wir uns irgendwo unterhalten, wo wir mehr Privatsphäre haben und es nicht ständig … stöhnt?»

Nissa schnaubt, dann dreht sie sich um und führt mich durch eine Tür im hinteren Teil des Raums. Dahinter befinden sich unzählige ungemachte Betten, aber glücklicherweise ist niemand anwesend. Sie schließt die Tür, lehnt sich an die gegenüberliegende Wand und sieht mich an. «Ich hatte mich schon gefragt, wie lange du mich warten lässt, bevor du mich besuchst.»

«Ich lasse dich nicht warten», antworte ich. «Ich habe dir doch gesagt, dass ich Zeit brauche, um alles vorzubereiten.»

«Und? Bereitest du etwas vor?», fragt sie, und da bemerke ich etwas – ihre unterschwellige Verzweiflung. Sie verbirgt sie gut, aber ihre nervösen Hände und ihr intensiver Blick verraten sie.

«Das tue ich.»

«Wirklich?», fragt sie erneut nach, und der Zweifel in ihrer Stimme ist offensichtlich. «Oder lügst du mich gerade an? Vielleicht hast du dem König alles verraten und planst, mich zu hintergehen.»

Ich weise nicht darauf hin, dass sie diejenige ist, die mich erpresst. «Ich habe dir mein Wort gegeben, Nissa», erkläre ich ihr. «Ich habe dir versprochen, dass du das Gold bekommst, und das habe ich ernst gemeint. Aber … ich muss einen neuen Handel mit dir abschließen.»

Nissa kneift misstrauisch die Augen zusammen. «Und wie sieht dieser neue Handel aus?»

Ich lecke mir die Lippen und sehe mich nervös um, bevor ich flüstere: «Du hast gesagt, du bräuchtest genug Gold, um dich aus deinem Vertrag zu kaufen und irgendwo ein neues Leben anzufangen. Aber ich kenne König Midas. Er wird dich nicht aus dem Vertrag entlassen, bevor es ihm passt. In diesem Punkt musst du mir vertrauen.»

Sie runzelt die Stirn so heftig, dass ihre Brauen sich berühren. «Ach, wirklich?»

«Ja», antworte ich schlicht. «Also brauchen wir einen neuen Plan. Wenn du diesen Ort verlassen willst, wirst du es heimlich tun müssen.»

«Du meinst fliehen?», fragt sie ungläubig. «Bist du irrsinnig? König Midas würde mich jagen und zurückholen, nur um mich ins Verlies zu stopfen.»

«Nicht, wenn er dich nicht finden kann.»

Nissa schnaubt höhnisch, als wäre allein die Vorstellung lächerlich. «Du willst unsere Übereinkunft platzen lassen.»

«Will ich nicht», beharre ich. «Aber ich kenne Midas, Nissa. Mir ist egal, dass du sein bester königlicher Sattel bist. Er wird keine Sekunde glauben, dass du genügend Trinkgeld bekommen hast, um dich aus deinem Vertrag herauszukaufen.»

Für einen Moment wirkt sie wie erstarrt, die Lippen wütend zusammengepresst, aber ich bemerke auch, dass ihre Mundwinkel leicht nach unten sinken. Jetzt, wo ich ihr die Zweifel in den Kopf gepflanzt habe, ist ihr entweder bewusst geworden, dass ich recht habe … oder sie will einfach kein Risiko eingehen.

Ich deute es als gutes Zeichen, dass sie mir nicht direkt damit droht, mein Geheimnis zu verraten, oder davonstürmt. «Du kannst immer noch deine Freiheit gewinnen, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, den Plan umzusetzen. Solange du versprichst, Midas aus der Sache herauszuhalten. Ansonsten werden wir sofort erwischt.»

Nissa denkt über meine Worte nach, auch wenn ihre Haltung deutlich verrät, dass sie immer noch wütend ist. «Ich höre.»

«Ich werde dir helfen, einen Fluchtplan zu entwickeln. Außerdem werde ich sicherstellen, dass du genug Gold besitzt, um danach als wohlhabende Frau zu leben.»

«Es dürfte unmöglich sein, aus Ranhold zu entkommen, ohne dass jemand etwas bemerkt.»

«Nicht unmöglich», halte ich dagegen. «Nicht, wenn wir gut planen.»

«Und das Gold?», fragt sie.

Ich zögere. «Ich kann dir keine Münzen besorgen. Midas’ Macht …»

Nissa fährt sich frustriert durchs Haar. «Meinetwegen kannst du mir auch irgendwelche Vorhänge in Gold verwandeln. Ich habe dir bereits gesagt, dass ich dein Geheimnis nur für einen Preis wahren werde, Auren. Und du musst ihn zahlen. Du konntest genug von Midas’ Macht abzapfen, um einen Mann in massives Gold zu verwandeln», erinnert sie mich. «Ich will meinen Anteil.»

«Ich kann dir Gold besorgen. Aber was willst du dann damit anfangen?»

«Ich werde in der Burg einen Schmied finden, der es mir im Austausch gegen Münzen einschmilzt. Ihn für sein Schweigen bezahlen», antwortet sie locker, eine Hand in die Hüfte gestemmt.

Ich schüttele bereits den Kopf, bevor sie zu Ende gesprochen hat. «Jeder Schmied in Ranhold würde sofort wissen, dass du den König bestohlen hast. Er würde dich schneller verraten, als du blinzeln kannst. Du weißt, dass ich recht habe.»

Für einen Moment sieht man ihr die Unsicherheit an, und ihre Fingerknöchel werden weiß. Sie lässt die Hände sinken und tigert im leeren Raum auf und ab, als könnte der Rhythmus ihrer Schritte ihr helfen, den neuen Weg zu erfassen, den ich beschrieben habe.

«Ich kann dir Gold besorgen», wiederhole ich, ohne sie aus den Augen zu lassen. «Aber du musst mir versprechen, nichts damit zu tun, bevor du Ranhold weit hinter dir gelassen hast.»

«Schön», stimmt sie mir widerwillig zu und hält an. «Ich verstehe dein Argument. Es wäre riskant, einen Schmied zu schmieren, um an Münzen zu kommen. Und ich besitze hier nicht die nötigen Verbindungen, wie es in Hohenläuten der Fall war. Ich will nicht riskieren, aufzufliegen. Ich bin viel zu schön, um in einem Verlies zu verrotten.»

Meine Mundwinkel zucken. «Definitiv.»

«Dir ist bewusst, dass die Sättel immer unter Bewachung stehen, oder? Du sagst zwar, ich könnte mich nicht aus meinem Vertrag kaufen, aber wie soll ich sonst entkommen, ohne erwischt zu werden?» Sie klingt wachsam, ungläubig, doch ich bin ihr einen Schritt voraus.

«Ich habe einen Zugang zur königlichen Bibliothek gefunden», erkläre ich. «Und in jeder königlichen Bibliothek gibt es Pläne der Stadt. Die Burg selbst eingeschlossen.»

Verstehen breitet sich auf ihrer Miene aus.

«Die Suche kann ein wenig dauern, aber ich werde die Pläne und dadurch einen Weg aus Ranhold finden. Jede Burg hat geheime Fluchtwege. Es geht nur darum, sie aufzuspüren. Während ich das tue, musst du uns ein Transportmittel besorgen. Etwas Unauffälliges.»

Sie denkt kurz nach. «Die Sättel dürfen Ausflüge in die Stadt machen. Ich denke, ich könnte ein Transportmittel organisieren.»

«Gut.»

Nissa wirft mir einen scharfen Blick zu. «Die Tatsache, dass ich der Planänderung zustimme, bedeutet nicht, dass ich dir wirklich vertraue. Ich will immer noch Gold. Wenigstens ein paar Teile pro Woche.»

Ich öffne den Mund, um zu widersprechen, doch sie hebt eine Hand. «Das ist nicht verhandelbar. Betrachte es als Bezahlung für mein anhaltendes Schweigen.»

«Schön», meine ich widerwillig. «Aber du musst ein gutes Versteck dafür finden. Wir dürfen uns nicht erwischen lassen, Nissa. Wenn Gold bei dir gefunden wird, fällt das sofort auch auf mich zurück.»

«Ich habe ein Versteck», beteuert sie mir voller Selbstvertrauen.

«Bist du dir sicher?»

Verärgerung huscht über ihr schönes Gesicht. «Sei nicht so gönnerhaft. Ich habe fast mein ganzes Leben mit einem Haufen Sättel verbracht, musste mein Zimmer immer teilen. Ich weiß, wie man Dinge so versteckt, dass sie nicht gestohlen werden.»

Dagegen kann ich nichts einwenden.

Ich verlagere mein Gewicht. «Da wäre noch ein Punkt des neuen Handels.»

Sie beißt die Zähne zusammen. «Was denn jetzt noch?»

Das ist der Teil, der mir wirklich Sorgen bereitet.

«Wenn du verschwindest, werde ich dich begleiten.»

Schweigen überrollt uns wie eine Steinlawine. Als deren Trümmer mit hartem Schlag auf den Boden knallen, zuckt Nissa entsetzt zurück. «Bist du vollkommen verrückt? Du bist die goldgeküsste Favoritin. König Midas wird dich niemals gehen lassen. Auf keinen Fall kann das funktionieren.»

«Es wird funktionieren», halte ich selbstbewusster dagegen, als ich mich fühle, denn ich kann nur inständig hoffen, dass die Zukunft mich nicht Lügen straft. «Wir fliehen zusammen. Das ist die Abmachung», erkläre ich fest, ohne Raum für Widerspruch zu lassen. «Wir verschwinden gemeinsam von hier, und ich werde sicherstellen, dass es dir nie wieder an etwas mangelt. Es wird keine Rolle spielen, ob dir das Gold ausgeht. Wenn ich bei dir bin, kann ich mehr besorgen.»

Sie wirkt nicht überzeugt, aber gleichzeitig sehe ich auch die Gier in ihrem Blick. «Du kannst seine Macht einfach so stehlen, selbst über große Distanz?», fragt sie zweifelnd. «Denn ich versichere dir, ich werde nicht in der Nähe des Sechsten oder Fünften Königreichs bleiben. Wenn ich fliehe, dann steige ich auf ein Schiff und segele so weit weg, wie es nur möglich ist, an einen Ort, an dem ich nie wieder eine einzige Schneeflocke sehen muss.»

«Überlass die Goldmagie mir. Du musst dich nur still verhalten und uns eine Transportgelegenheit organisieren.»

Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. «Du bist nicht gerade unauffällig. Du wirst uns verraten.»

«Ich kann mich verkleiden, verstecken oder sonst einen Weg finden», verspreche ich ihr.

Sie starrt mich unverwandt an, während ich mich bemühe, nicht auf der Unterlippe zu kauen oder die Hände zu ringen. Wenn sie ablehnt, wenn sie mein Geheimnis stattdessen an den Höchstbietenden verschachert …

«Schön.»

Mein Blick schießt zu ihrem Gesicht. «Schön?», wiederhole ich, unfähig, meine Überraschung zu verbergen. «Bist du dir wirklich sicher? Denn wir spielen hier ein gefährliches Spiel und könnten beide hart bestraft werden.»

«Glaubst du ernsthaft, das wüsste ich nicht?», blafft sie. «Ich bin keine Närrin.»

Hoffnung wärmt mir das Herz. «Also ziehen wir das gemeinsam durch?»

Sie seufzt. «Anscheinend.»

Ich schenke ihr ein zaghaftes Lächeln, bevor ich ihr die behandschuhte Hand entgegenstrecke, um unser Abkommen zu besiegeln. «Wir stehen auf derselben Seite. Du kümmerst dich um deinen Teil, ich um meinen, und dann werden wir von hier entkommen. Wir werden frei sein, Nissa.»

Sie zögert einen Moment, bevor sie meine Hand ergreift. Ihr Händedruck ist fest genug, um meine Finger zu quetschen. «Hintergeh mich nicht, oder ich werde dafür sorgen, dass du es bereust», erklärt sie mir schonungslos.

Nun, das ist kein Freundschaftsschwur, aber es wird reichen.

Ich schiebe die freie Hand in die Tasche meines Kleides und ziehe den goldenen Apfel heraus. Ihre Augen werden groß. «Kein Verrat. Kein doppeltes Spiel.»

Sie gibt meine Hand frei, um sich die Frucht zu schnappen, wiegt das Gewicht in der Hand, bevor sie das Gold in ihre Tasche schiebt. «In Ordnung, Auren. Wir stehen auf derselben Seite.»

Sie muss nichts weiter sagen, die unausgesprochenen Worte sind auch so deutlich zu hören. Denn sonst …

Aber vielleicht, nur vielleicht, können wir beide lernen, uns gegenseitig genug zu vertrauen, um verdammt noch mal von hier zu entkommen. Und zwar zusammen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.