Auren
I ch muss meine Magie wirklich überanstrengt haben, denn ich verschlafe den gesamten nächsten Tag. Als ich endlich aufwache, ist die Abenddämmerung nicht mehr weit entfernt und das Licht der letzten Tagesstunden dringt durch die Fenster.
Gähnend stehe ich auf, strecke mich und reibe mir die Augen. Ich werfe mein verknittertes Kleid ab und ziehe mir eine seidene Robe und die Handschuhe an. Das alles tue ich, ohne wirklich anwesend zu sein. Mein Kopf ist voll von dem Mann, der meine Träume heimgesucht hat, seine Worte eine herzzerreißende Melodie, die sich ständig wiederholt.
Ich will damit sagen, dass du mein Wohl bist.
Und um deinetwillen habe ich dir eine Wahl gelassen.
Aber du hast dich für ihn entschieden.
Ich lecke mir die Lippen, als könnte ich immer noch einen Rest seiner Berührung dort finden. Ich weiß nicht, ob ich je vergessen werde, wie er sich angefühlt hat. Ich werde nicht vergessen, wie ich mich gefühlt habe, als er mir tief in die Augen gesehen und mir erklärt hat, dass er sich für mich entscheidet. Mein Herz ist voller Hoffnung und doch gleichzeitig mit Angst erfüllt.
Mit einem beklommenen Seufzen fahre ich mir mit den Händen durchs Haar, dann hole ich das Fae-Buch, das ich unter der Matratze verborgen habe, und lasse mich auf den vergoldeten Sessel vor dem Kamin sinken. Ich wurde irgendwann früher am Tag von der Dienerin geweckt, die kam, um die Flammen anzufachen und neues Holz zu bringen. Die Anwesenheit der zwei Soldaten, die sie überwacht haben, hat mir ein Stöhnen entlockt. Glücklicherweise waren sie alle verschwunden, bevor ich beide Lider öffnen konnte, und keiner von ihnen hat ein Wort gesprochen.
Digby hätte gebrummt und mir so wortlos mitgeteilt, dass ich mit dem Jammern aufhören soll. Dieser Gedanke verkrampft mir den Magen und erfüllt mich mit einem Schmerz, der sich nicht vertreiben lässt.
Ich ziehe die Beine unter den Körper, starre ins Feuer und blättere gerade geistesabwesend durch das Buch, als es an der Tür klopft. Eine Sekunde lang gerät mein Herz in Aufruhr, weil ich mir einbilde, Slade könnte auf der anderen Seite stehen. Doch ich verwerfe diesen dummen Gedanken sofort. Ich lege das Buch weg, wandere zur Tür, öffne sie einen Spalt und entdecke Scofeld.
Ich achte darauf, meinen Körper überwiegend verborgen zu halten, nachdem die Robe mir nur bis zu den Knien fällt. «Ja?»
«Milady, König Midas hat Euch rufen lassen», erklärt Scofeld mir ziemlich formell. Er sieht mir dabei nicht ins Gesicht, wahrscheinlich, weil ich halb nackt bin. «Ihr sollt ihn in einer Stunde im großen Speisesaal treffen.»
«In Ordnung … Hat er einen Grund genannt?» Bisher war es ihm lieber, wenn ich die Tagesstunden in meinem Zimmer verbringe – außer, ich vergolde die verdammte Burg. Diese Einladung erinnert mich an formelle Anlässe in Hohenläuten … aber nicht auf die gute Art.
«Ihre Majestät, die Königin des Dritten Königreichs, ist gestern angekommen. König Midas und Prinz Niven veranstalten ein Willkommensbankett zu ihren Ehren.»
«Ach, wirklich», murmele ich. Mein Geist beginnt zu rotieren. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Sonne untergeht, also werde ich vorsichtig sein müssen. «Danke für die Vorwarnung, Scofeld.»
Ich will die Tür wieder schließen, aber er hebt die Hand, um mich davon abzuhalten. Ich ziehe die Stirn kraus. «Stimmt etwas nicht?»
Sein Blick bleibt starr über meine Schulter gerichtet. «Nein, aber … wir sollen Eure Gemächer kontrollieren.»
Ich sehe zwischen ihm und dem unbekannten Wachmann hin und her. Unmut lässt mich die Fersen in den Boden graben. «Jetzt ?»
«Ja, Milady.»
Eine Sekunde lang stelle ich mir vor, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber das wäre nur befriedigend, wenn es Midas’ Nase wäre.
Stattdessen wirbele ich herum und entferne mich, lasse die Tür einen Spalt geöffnet. Scofeld und drei weitere Wachen treten ein.
Keiner von ihnen schafft es, mich anzusehen.
Systematisch fangen sie an, alles zu durchsuchen. Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich Midas’ zufällige Raumkontrollen gehasst habe. In Hohenläuten fanden sie häufig statt. Aber egal, wie oft sie auch durchgeführt wurden, ich habe nie aufgehört, sie zu verabscheuen. Sie stellten jedes Mal eine Verletzung meiner Privatsphäre dar; haben mich daran erinnert, dass ich in diesen Räumen zwar lebe, sie aber nicht wirklich mir gehören.
Midas hätte die Suche auch in meiner Abwesenheit durchführen lassen können, doch er wollte, dass ich dabei anwesend bin. Als Warnung vielleicht, um mich daran zu erinnern, dass alles ihm gehört.
Mein Blick schießt zu dem Buch, das ich einfach auf die Sitzfläche des Sessels gelegt habe. Ich sehe zu den Wachen, aber bisher halten sie sich alle in der Nähe meines Bettes auf. Ich zügele den Drang, zu rennen, und gehe stattdessen mit gemessenen Schritten hinüber. Sobald ich mich gesetzt habe, stopfe ich das Buch unter meine Schenkel und arrangiere die Robe so, dass es nicht zu sehen ist.
Angespannt beobachte ich, wie die Wachen den Raum gründlich untersuchen. Einer von ihnen trägt eine kleine Schriftrolle, die er immer wieder konsultiert. Und die Art, wie er meine Kissen zählt, verrät mir, dass es eine Auflistung all der Gegenstände ist, die ich besitzen sollte.
Laken und Decke auf meinem Bett werden geprüft. Teppiche und Vorhänge kontrolliert, Stühle und Wände untersucht. Ich frage mich, ob die Wachen wissen, warum sie das tun, oder ob sie es einfach als einen Kontrollzwang von Midas verbuchen.
Mein Blick folgt den Männern, als sie alles in meinem Schlafzimmer auf den Kopf stellen, bevor sie ins Umkleidezimmer und das Bad weiterziehen.
Durch eine Tür dringen die Geräusche von raschelndem Stoff und Schuhkisten, die geöffnet werden, während die Suche hinter der anderen Tür lautlos abläuft. Als die Männer wieder erscheinen, zittere ich beinah vor Bitterkeit und Nervosität, auch wenn ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Ich flechte mein Haar, halte die Beine ruhig. Die Kanten des verbotenen Buchs graben sich in meine Schenkel wie eine schmerzhafte Lüge.
Die Männer wollen die Räumlichkeiten schon verlassen, als Scofeld zu mir kommt. «Es tut mir leid, Milady. Der Sessel. Könntet Ihr …?»
Mein Herz schlägt so heftig gegen meine Rippen, dass ich fürchte, es könnte aus meinem Brustkorb ausbrechen. Ich packe die Zügel meiner Panik und zerre daran, erinnere mich selbst, dass keiner von ihnen das Recht hat, mich zu berühren.
«Scofeld, erwartest du wirklich von mir, dass ich in meinem momentanen Zustand aufstehe? Das wäre nicht schicklich. Ich bin nicht richtig angezogen», erkläre ich möglichst empört und verweise mit einer Handbewegung auf meine dünne Robe. «Das würde Midas nicht gefallen.»
Seine Wangen röten sich, und er weicht sofort zurück. «Ich … Verzeiht, Milady. Natürlich solltet Ihr sitzen bleiben.»
Ich spüre das Feuer in meinen Augen, als ich nicke. Dann beobachte ich, wie er auf dem Absatz herumwirbelt. Die Männer sehen sich noch einmal im Raum um, auf der Suche nach nicht genehmigten Gegenständen. Alle zwei Sekunden kontrollieren sie ihre Liste, wie ein Koch, der sicherstellen will, dass keine Zutat für ein bestimmtes Rezept fehlt.
Schließlich verschwinden sie. Scofeld kann mich nicht einmal ansehen, als er die Tür hinter sich schließt. Ich stoße einen erleichterten Atemzug aus und ziehe das Buch unter meinen Schenkeln heraus.
Ich war zu unvorsichtig, und das darf ich mir nicht gestatten. Ich muss das Buch zurückbringen, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Ich weiß nicht, ob es Midas interessieren würde oder nicht, aber auf jeden Fall würde er Fragen stellen. Er mag viel über mich wissen, doch der Göttlichkeit sei Dank habe ich ihm nie verraten, dass ich eine reine Fae bin. Für ihn bin ich nur eine sehr mächtige Oreanerin, in deren Adern die Fae-Magie meiner Vorfahren nicht verdünnt wurde.
Diese Durchsuchung ist auch der Grund, warum ich nicht einfach etwas in meinem Raum in Gold verwandeln und Nissa geben kann. Alles, was ich habe, alles, was ich verwende, ist abgezählt. Niedergeschrieben. Wird kontrolliert.
Midas stellt stets sicher, dass nicht der kleinste Gegenstand verschwindet, ob nun durch mich oder jemand anderen. Er hat immer erklärt, die Kontrollen sollten sicherstellen, dass nichts gestohlen wurde oder kaputtgegangen ist. Aber in Wirklichkeit stellt er einfach gerne sicher, dass ich nicht heimlich etwas mit den Dingen anstelle, die ich vergoldet habe. Als gehöre das alles ihm. Als wäre es seine Macht, die diesen Dingen Wert verleiht.
Ich sollte der Bibliothek so schnell wie möglich einen weiteren Besuch abstatten, doch für den Moment muss ich mich für ein Essen fertig machen. Angetrieben von diesem Gedanken, zwinge ich mich, das Umkleidezimmer zu betreten. Diesem Raum merkt man deutlich an, dass er durchsucht wurde. Die Kleider hängen schief auf ihren Bügeln, Hut- und Schuhkisten stehen halb offen. Und auch jede Schublade in der Kommode ist aufgezogen. Handschuhe und Unterwäsche liegen in abgezählten Stapeln herum, und die Parfümflaschen auf dem Tisch sind umgefallen.
Ich beiße die Zähne zusammen und seufze, dann verberge ich das Buch in einem der Kleider, schnüre das Mieder fest, um den Band festzuhalten. Als ich mir sicher bin, dass es nicht herausfallen kann, werfe ich meine Robe ab und musterte mit abschätzigem Blick die Kleider, um zu entscheiden, was ich anziehen will.
Ich weiß nicht, was mich in diesem Speisesaal erwartet, aber ich weiß, dass bei den Herrschenden immer Intrigen und geheime Pläne eine Rolle spielen. Midas wird seine Agenda vorantreiben, und ich bin mir sicher, die Königin verfolgt ihre eigene.
Ich zermartere mir das Hirn, um mich zu erinnern, was genau ich über die Königin des Dritten weiß. Sie ist eine junge Witwe, so weit bin ich sicher. Sie hat einen Mann geheiratet, der viel älter war als sie, und kurz darauf ist er gestorben. Nachdem sie Magie und die richtige Abstammung besitzt, konnte sie den Thron halten. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, welche Macht sie innehat. Und das lässt mich nervös werden.
Zu meiner Verteidigung muss ich anführen, dass ich versucht habe, jeden Gedanken an das dritte Königreich zu verdrängen. Dieses Land ruft Erinnerungen hervor, die ich nicht haben will. Ich saß zehn Jahre in Derforthafen fest, befand mich im Besitz eines Fleischhändlers, dessen einziges Ziel im Leben darin bestand, Geld mit der Arbeit von Kindern zu verdienen.
Zu jener Zeit saß diese Königin natürlich noch nicht auf dem Thron, aber ich bin trotzdem skeptisch. Wann immer ich an das Dritte Königreich denke, sehe ich mich selbst als das angemalte Bettlermädchen. Das Mädchen, das fast nicht entkommen wäre.
Ich dränge diese Gedanken zurück und durchsuche meinen Schrank, bevor ich mich für eines der Kleider entscheide, das durch meine Berührung bereits vergoldet wurde. An diesem Kleid ist das Korsett sichtbar, der steife Stoff ist an der Außenseite festgenäht.
Ich ziehe es an, verhärte den Rand eines Bandes und öffne damit einen dünnen Schnitt am Rücken. Auf diese Weise werden meine Bänder nicht gegen meine Wirbelsäule gedrückt, und das Korsett hält trotzdem, ohne mir den Atem zu rauben. Eine wunderbare Lösung ohne Nachteile.
Sobald das Mieder gut sitzt, dirigiere ich meine Bänder so, dass sie locker über den dünnen Rock hängen, bevor ich die Enden im Rücken zu einer losen Schleife binde. Dann greife ich mir ein paar seidene Slipper und Handschuhe, die für ein Essen angemessen sind. Zum Schluss flechte ich mein Haar zu einem langen Zopf, den ich mir in meiner ganz persönlichen Version einer Krone um den Kopf winde.
Sobald ich fertig bin, verlasse ich meine Gemächer und trete in den Flur. Scofeld geht voran, zwei weitere Wachen folgen mir. Ich sollte wahrscheinlich nervös sein, weil ich gleich an einem königlichen Willkommensbankett teilnehme, aber das bin ich nicht.
Ich habe viel zu viele Jahre damit verbracht, nervös zu sein. Ängstlich und voller Sorge. Ich habe immer versucht, den ersten Eindruck zu hinterlassen, den Midas mir vorgegeben hatte – sei es scheu oder verführerisch, ehrerbietig oder stolz. Seine Interessen standen stets im Vordergrund.
Bei König Fulke war ich der sichtbare, aber unerreichbare Köder. Midas hat den Mann mit meiner Gegenwart gelockt, doch ich habe meinen Käfig nicht verlassen. Ich war begehrenswert, aber gleichzeitig außer Reichweite.
Ich weiß nicht, wie Midas bei dieser Königin vorgehen will, es hat allerdings auch keinen Einfluss mehr auf mich. Ich stehe nicht auf Midas’ Seite. Ich habe keinerlei Interesse daran, ihm über den Punkt hinaus zu gefallen, der sicherstellt, dass Digby nichts geschieht.
Im Erdgeschoss durchqueren wir die Eingangshalle, dann trete ich durch die Doppeltür in den großen Speisesaal. Der Raum wird dominiert von einem langen Glastisch in der Mitte des Raums. Die Glasplatte ist mindestens fünfzehn Zentimeter dick und die blauen Einschlüsse darin lassen mich an Gletscher denken. Aus der Oberfläche erheben sich in regelmäßigen Abständen gezackte Kristalle, die aussehen, als wären Eiszapfen nach oben gewachsen.
Um den Tisch herum stehen Stühle mit hoher Lehne und weichen, purpurfarbenen Polstern. Genug Plätze für drei Dutzend Leute. Unglücklicherweise sind die meisten von ihnen besetzt.
Ich erkenne ein paar der Anwesenden: Midas’ diverse Ratgeber, Fulkes Ratgeber aus der Zeit, als er Hohenläuten besucht hat. Aber da sind auch neue Gesichter, von denen ich vermute, dass sie zum Gefolge der Königin gehören.
Die Angehörigen der Königshäuser sitzen in der Mitte des Tisches, sodass sie sich zwischen gläsernen Eiszapfen und flackernden Kerzen hinweg ansehen können. Midas sitzt mit dem Prinzen zu seiner Linken, ihre Ratgeber auf beiden Seiten verteilt. Mit dem Rücken zu mir entdecke ich eine Frau, die wohl die Königin sein muss. Daran besteht eigentlich kein Zweifel angesichts der Krone auf ihrem Kopf. Ihr dichtes mitternachtsschwarzes Haar wird von Nadeln gehalten, die mit Perlen und Seesternen besetzt sind.
Als ich den Raum halb durchquert habe, sieht Midas von seinem Gespräch auf und winkt mich zu sich. Ich schreite gleichmäßig voran und lasse den Blick über die Gesichter gleiten, die sich mir zuwenden.
Über mir werfen die Kronleuchter von Kristallen gebrochenes Licht zu uns herab. Vor den Fenstern neben dem Tisch steht eine Harfe. Zur Linken brennt ein Feuer in einem Kamin, der so hoch ist, dass ich einfach aufrecht hineintreten könnte.
Ich umrunde den Tisch. Gemurmel dringt an mein Ohr. Die Leute nippen an ihrem Wein und warten auf das Essen. Zumindest werde ich mir den Bauch vollschlagen können, denn plötzlich stelle ich fest, dass ich fast am Verhungern bin.
Als ich seinen Stuhl erreiche, gleitet Midas’ Blick über meinen Körper, nicht anerkennend, sondern abschätzend, als wolle er sicherstellen, dass ich dem schicken Dinner entsprechend gekleidet bin. Seine Augen bleiben an dem kaputten Stoff in meinem Rücken hängen, und an seinem Kiefer zuckt ein Muskel. «Auren.»
Ich nicke, bevor ich ihm denselben prüfenden Blick angedeihen lasse – einfach nur, um ihn zu irritieren. «König Midas.»
Auf der anderen Seite des Tisches hebt die Königin des Dritten Königreichs bei dieser Reaktion die Augenbrauen. Zumindest ein tiefer Knicks wäre angemessen gewesen, aber ich werde mich nicht mehr vor ihm verneigen. Ich werde mein Knie nur noch für Midas beugen, wenn ich es direkt danach nach oben ziehen kann, um es ihm in die Kronjuwelen zu rammen.
«Das also ist Euer goldenes Mädchen …» Die Königin mustert mich aus aufmerksamen, braunen Augen. Ich nutze den Augenblick, um auch sie zu betrachten.
Das Kleid, das sie trägt, passt wunderbar zu ihrem gebräunten Teint. Der buttermilchfarbene Stoff umschmeichelt ihre Kurven, mit großen Knöpfen am Mieder, die glänzen wie Diamanten.
«Ja, das ist sie.» Midas hebt die Hand, um mit den Fingerknöcheln über meinen Arm zu streichen.
Meine Bänder ziehen sich um meine Taille zusammen. Gleichzeitig verhärten sich ihre Kanten, als wollten die seidigen Längen sich heben, um seine Berührung abzuwehren. Ein unangenehmes Kribbeln überläuft meine Haut, als er mich weiterhin streichelt. Es kostet mich all meine Kraft, meine Miene ausdruckslos zu halten und den Arm nicht zurückzureißen.
«Auren, ich möchte dir Königin Kaila Ioana vom Dritten Königreich vorstellen.»
Ich sinke in einen Knicks. «Eure Majestät», murmele ich. «Ich hoffe, Eure Reise ins Fünfte Königreich war nicht zu anstrengend.»
Ihre vollen Lippen verziehen sich zu einem leisen Lächeln. «Bei Weitem nicht so anstrengend, wie deine Reise scheinbar gewesen ist», antwortet sie. «Gefangen von Schneepiraten, dann festgesetzt von der Armee des Vierten, um mit ihr durch das Ödland ins Fünfte zu ziehen.» Sie schnalzt mit der Zunge. «Ein Wunder, dass du unversehrt hier angekommen bist.»
«Ich kann mich glücklich schätzen, dass die Vierte Armee anwesend war, um einzugreifen.»
Midas zuckt leicht zusammen und senkt die Hand, auch wenn er meinen Worten nicht widerspricht. Er und ich wissen beide, dass es stimmt. Wäre ich bei den Roten Räubern geblieben, wäre ich inzwischen wahrscheinlich tot. Seitdem ist so viel geschehen. Hätte es die Armee des Vierten nicht gegeben, wäre ich immer noch dieses Mädchen, das sich nach seinem Gefängniswärter verzehrt.
«Also wirklich, sieht sie nicht aus wie ein goldenes Püppchen?»
Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf den Mann, der rechts von der Königin sitzt. Ich erkenne die Familienähnlichkeit sofort.
«Mein zuverlässigster Ratgeber und Bruder, Manu», stellt die Königin ihn vor.
Er hat dichtes schwarzes Haar, das er im Nacken zusammengebunden hat, und trägt eine gelbe Weste unter einem förmlichen Jackett. Ein Seidenschal liegt um seinen Hals. In einer Hand hält er einen Trinkpokal, der andere Arm liegt über der Stuhllehne des Mannes neben sich. Er wirft mir einen Blick zu, den ich nur als hocherfreut beschreiben kann.
«Keon, findest du nicht auch, dass sie hübsch wie ein Püppchen ist?», fragt er und lehnt sich gegen den Mann neben sich.
Keon mustert mich mit seinen dunkelbraunen Augen. Sein kahler Kopf glänzt im Licht der Kronleuchter, das sich auch auf den Ketten widerspiegelt, die er um den Hals trägt. «Sie ist größer, als ich erwartet hatte», sagt der schlanke Mann.
Manu nickt. «Und schau dir ihr Haar an.» Er lehnt sich vor. Sein Rüschenhemd öffnet sich und gibt den Blick auf die gebräunte Brust darunter frei. «Süße, das könntest du für Fässer voller Münzen verkaufen.»
«Ähm … danke?»
Königin Kaila wirft ihm einen Blick zu. «Mach die Favoritin von König Midas nicht nervös, Bruder. Das zeugt von schlechten Manieren.»
Ein strahlendes Lächeln verzieht Manus attraktives Gesicht. «Aber unziemliches Verhalten macht viel mehr Spaß , Schwesterchen.»
Sie wirft ihm einen ernsten Blick zu, doch die Zuneigung in ihren Augen ist unverkennbar.
«Ah, das Abendessen wird serviert.»
Midas’ Ankündigung sorgt dafür, dass alle zu dem Dutzend Diener schauen, das mit Servierplatten voller Speisen durch eine Hintertür tritt.
«Auren.»
Ich sehe Midas an. Er deutet auf den leeren Platz rechts von sich. Überrascht hebe ich die Brauen. Noch nie hat er mich bei einem formellen Dinner neben sich platziert, besonders nicht, wenn so hohe Gäste mit am Tisch sitzen. Vorsichtig und voller Misstrauen lasse ich mich auf meinen Stuhl sinken. Die Zahnräder in meinem Kopf knirschen. Denn das ist keine Gefälligkeit. Er will mir damit keine Gnade erweisen. Ich weiß nur noch nicht, was er plant.
Die Dienerschaft beginnt, die Servierplatten auf dem Tisch zu verteilen. Sofort füllt der Duft von Sirup und Zucker die Luft, während ich die untergehende Sonne schweigend anflehe, sich zu beeilen, damit ich essen und – noch wichtiger – trinken kann.
Ich greife nach meinem Trinkpokal und stelle fest, dass er leer ist. Das darf nicht sein. «Entschuldigung, könnte ich einen Schluck Wein haben?», frage ich eine Dienerin in meiner Nähe.
Das Mädchen nickt und zieht sich zurück, kaum dass sie ihren Teller abgestellt hat. Überall am Tisch wabern Stimmen hin und her, die Gespräche sind politisch und langweilig. Nachdem die Nacht noch nicht hereingebrochen ist, kann ich nicht essen. Na ja … ich könnte, aber sobald die Nahrung meine Lippen berührt hätte, würde ich Metall kauen.
Also tue ich stattdessen so als ob und sorge dafür, dass ich beschäftigt aussehe. Ich ignoriere die Gespräche und nehme mir ein Schälchen von der Platte vor mir. Unglücklicherweise sieht es nicht besonders appetitlich aus, aber es wird reichen müssen. Mit dem Löffel in meiner Hand rühre ich in dem süßen Haferbrei herum.
Ich werde wirklich Wein brauchen, um dieses Zeug runterzuspülen.
«Also, Püppchen, ich habe gehört, du bist von diesem unglaublich attraktiven Kommandanten der Vierten Armee gefangen genommen worden.»
Überrascht schießt mein Blick zu Manu, zwischen zwei dieser durchsichtigen Eiszapfenskulpturen auf dem Tisch hindurch. Und in seinen Augen blitzt der Schalk.
Aus dem Augenwinkel mustere ich Midas, aber er und Niven unterhalten sich gerade über irgendetwas. «Ja, das stimmt.»
«Also, das ist mal eine gute Geschichte fürs Abendessen.» Er starrt mich interessiert an und hebt eine Braue. «Es würde mir wirklich nichts ausmachen, in seine Gewalt zu geraten. All diese harten … Stacheln und dicken … Muskeln.»
Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Zunge und spüre, wie brennende Hitze in meine Wangen steigt.
Neben ihm hebt Keon seine Gabel, spießt ein Stück Fleisch von Manus Teller auf und schiebt es sich in den Mund, begleitet von einem bösen Blick. Manu lacht nur, bevor er ihm einen Kuss auf die Wange drückt. «Tu nicht so, als würdest du mich nicht sofort für diesen Monstermann sitzen lassen.»
Keon deutet mit der Gabel auf ihn. «Wenn du mich sitzen lässt, schwöre ich bei allen Göttern, dass du es bereuen wirst.»
«Ooooh», flötet Manu. «Wie aufregend.»
Keon schnaubt.
Meine Mundwinkel zucken. Ihr Geplänkel lässt dieses Abendessen etwas erträglicher werden. «Wie lange seid ihr beide schon verheiratet?»
«Drei Monate», antwortet Manu.
«Drei Jahre », stellt Keon mit einem Augenrollen richtig, bevor er sich mehr Essen vom Teller seines Ehemannes stiehlt.
«Ach, stimmt», sagt Manu und wirft sich eine Traube in den Mund. «Die Zeit verfliegt wirklich, wenn man einen guten Schw…»
«Schwatz mit seinem Partner halten kann», schaltet Keon sich schnell ein und rammt ihm den Ellbogen in die Seite. Die Ratgeber um sie herum runzeln die Stirn.
Manu reibt sich grinsend die schmerzende Stelle. Ich glaube, diese beiden sind meine neuen Lieblingsmenschen.
«Spielt ihr gerne Trinkspiele?», frage ich eifrig.
Manu schnippt mit den Fingern, bevor er auf mich deutet. «Ha! Ich wusste, ich mag dich. Ich erkenne die Unterhaltsamen stets auf den ersten Blick.»
Immer noch lächelnd sehe ich mich nach der Dienerin um, aber sie und mein Wein sind nirgendwo zu entdecken. Mir läuft angesichts der Essensdüfte das Wasser im Mund zusammen. Sobald die Sonne endlich untergegangen ist, werde ich mich vollstopfen und einen Pokal in einem Zug leeren.
«Ich habe die Dienerschaft angewiesen, dir heute Abend keinen Wein zu servieren.»
Midas’ Worte lassen mich zusammenzucken. Ich wirbele den Kopf zu ihm herum. «Warum?»
Er mustert mich kühl. Und in seinen Augen entdecke ich ein Flackern, das ich bisher nicht bemerkt hatte. «Weil ich es sage.»
Die zusammengerollte Kreatur in mir gähnt und streckt sich, als frage sie sich, ob sie wirklich aufwachen will. Midas wirkt heute Abend sehr angespannt, entweder wegen des Besuchs aus dem Dritten oder wegen etwas anderem.
Und dann dämmert es mir.
Er weiß es. Natürlich haben Scofeld und die anderen ihm berichtet, dass Riss mich in meine Gemächer getragen hat. Mein Magen verkrampft sich, und Sorgen blühen in mir auf. Hat er Digby deswegen etwas angetan?
Oder … will er lieber mich bestrafen?
Ich kann die auf mich gerichteten Augen spüren, die prüfenden Blicke, und zu meiner Wut gesellt sich Scham. Doch ich fixiere Midas, konzentriere mich auf das frostige Glitzern in seinem Blick.
«Ich will nicht, dass du aufgrund des Weins unausstehlich wirst, mein Schatz», sagt er mit schneidender Höflichkeit. Meine Wangen brennen heißer, weil er vor allen andeutet, dass ich eine Trinkerin bin, die sich nicht zu benehmen weiß.
«Dürfte ich dann wenigstens einen Schluck Wasser haben, Eure Majestät?» Mein Ton ist schmerzhaft süß, viel zu künstlich, um wirklich ehrlich zu klingen. Und sofort erkenne ich, dass ich zu weit gegangen bin.
Seine Hand findet unter dem Tisch meinen Schenkel. Ich verspanne mich, als er mich heftig kneift. Obwohl sich mein Rock zwischen seinen Fingern und meiner Haut befindet, tut es weh. Die Stoffbarriere kann den scharfen Schmerz kaum dämpfen.
Fester und fester kneift er zu, doch ich halte meine Miene ungerührt. Ich erlaube mir nicht zusammenzuzucken. Ich blinzele nicht einmal. Soweit es mich betrifft, kann er mir ein Stück Haut abreißen, und ich würde hier trotzdem anmutig sitzen wie ein verdammtes Gänseblümchen … weil ich ihm die Befriedigung nicht gönne, mich dahinwelken zu sehen.
Die Gespräche am Tisch sind angesichts von Midas’ und meinem wortlosen Duell verstummt – er hält den Blick etwas zu lange auf mich gerichtet, und seine Miene wirkt für den Umgang mit seiner angeblichen Favoritin ein wenig zu hart.
«Mein Vater hat nie mit denen aus dem Dritten gehandelt. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso wir jetzt damit anfangen sollten, wenn man bedenkt, wie hoch die Zölle sind», sagt Prinz Niven. Seine junge, nasale Stimme lenkt Midas ab. «Sind die Ressourcen des Dritten diese Art von Kosten wirklich wert?»
Jetzt blicken alle auf die Königin anstatt auf mich. Ihre Gabel bleibt auf dem Weg zum Mund in der Luft hängen. Die royale Eingebildetheit beherrscht Niven schon ziemlich gut, aber es mangelt ihm gehörig an Takt.
Dankbarerweise löst Midas seine Hand von meinem Schenkel. Die gemarterte Stelle pulsiert. Meine Haut kribbelt, als die Durchblutung wieder einsetzt, doch ich ignoriere den Schmerz angesichts des politischen Dramas.
Bevor Midas die Wogen glätten kann, wirft die Königin dem Prinzen einen fast provozierenden Blick zu. «Wir Dritte müssen nicht mit Euren Eisleuten handeln, Prinz Niven», entgegnet sie kühl, ihr Tonfall so spitz wie die Zacken ihrer glitzernden Krone. «Das Dritte Königreich erlebt eine Blütezeit, und wir besitzen dreimal mehr Ressourcen als Euer Schneefeld. König Midas hat uns eingeladen, um unsere Allianz zu stärken. Wir sind hier, weil es dem Wohl unseres Volkes dienlich sein könnte. Aber seid Euch gewiss: Ihr braucht uns dringender als wir Euch.»
Prinz Niven errötet heftig, bis unregelmäßige rote Flecken seine Wangen und seinen Hals zieren. Midas geht dazwischen, bevor der Junge ins nächste Fettnäpfchen treten kann. «Das Sechste und das Fünfte Königreich sind dankbar für Eure Anwesenheit, Königin Kaila. Jedes neue Handelsabkommen, das wir abschließen, wird sicherlich allen Beteiligten zum Vorteil gereichen.»
Sie nickt angespannt. Ihr Bruder Manu, der plötzlich gar nicht mehr so locker wirkt, lehnt sich zu ihr und flüstert ihr etwas ins Ohr.
Als Manu sich zurückzieht, trinkt die Königin einen Schluck, scheinbar um sich zu sammeln. Die Anspannung in ihrer Miene lässt nach. «Ich vergesse immer, wie jung Ihr seid, Prinz Niven. Und Ihr trauert noch um Euren Vater. Ihr könnt Euch in der Tat glücklich schätzen, dass König Midas gekommen ist, um Euch beim Übergang der Herrschaft zur Seite zu stehen.»
In anderen Worten: Du bist ein Idiot, Bürschchen.
Niven richtet sich in seinem Stuhl auf, als versuche er so, größer und älter zu wirken. Doch sein Milchbubengesicht und die Kringellocke an seinem Hinterkopf zerstören den Effekt. «In nur zwei Monaten ist mein dreizehnter Geburtstag.»
Kaila schmunzelt. «Ach, dreizehn», sagt sie nachdenklich. «Da hat sich meine Magie manifestiert. Erinnerst du dich, Manu?» Sie wendet sich ihrem Bruder zu.
«Wie könnte ich das vergessen?», antwortet er, und sein Lächeln lädt offensichtlich dazu ein, das Gespräch wieder in ruhigere Gewässer zu lenken. «Du hast mich immer mit Stummheit geschlagen, damit ich dich nicht bei Mutter und Vater verpetzen konnte.»
Ihre Mundwinkel zucken. «Du hattest es verdient.»
«Wahrscheinlich», gibt er zu.
Der Prinz runzelt die Stirn. «Ich dachte, Ihr hättet die Macht, Stimmen zu Euch zu ziehen? Jedes Flüstern in einem Raum zu hören?»
Oh, Mist. Ich muss unbedingt daran denken, in ihrer Nähe niemals über Geheimnisse zu sprechen.
Midas wirft Niven einen scharfen Blick zu, doch der Prinz merkt es nicht einmal, sondern schiebt sich einen Löffel Gulasch in den Mund.
«Dank meiner Magie bin ich zu vielem fähig», erklärt Kaila vage. «Manche Leute, die mich mit dem Missbrauch ihrer Stimme ausreichend verärgern, verlieren das Privileg ihrer Nutzung.»
Mein Blick schießt zu Niven mit seinem roten Kopf. Neben mir trommelt Midas in stummer Wut sechsmal mit der Fußspitze auf den Boden.
Niven nickt. «Meine Macht wird sich bald manifestieren und dem Fünften Königreich zu Nutzen gereichen. Meine Ratgeber vermuten, dass meine Magie sogar stärker sein wird als die meines Vaters. Vielleicht werde ich sogar stärker als jeder in diesem Raum.»
Fast hätte ich amüsiert geschnaubt. Falls der Prinz die Dampfwolken bemerkt, die aus den Ohren von Midas und Kaila dringen, spielt er geschickt den Ahnungslosen. Stattdessen spricht er weiter, offensichtlich mit der Absicht, den Preis als «Prahlerischster Trottel von ganz Orea» zu gewinnen. Er hat die Nase definitv ganz vorne.
«Also, König Ravinger … Er hat Macht», fährt Niven fort und schaut den Tisch entlang, um zu sehen, wer ihm zustimmt. Niemand fängt seinen Blick ein. «Zu viel, wenn man mich fragt. Seine Fäulnis ist in das Land des Fünften eingedrungen, als er hier angekommen ist. Ihr habt es wahrscheinlich auf Eurem Weg in die Burg gesehen. Das und seine herumlungernde Armee.» Schlürfend isst er noch einen Löffel Gulasch. «Wir waren gezwungen, ein Stück Land abzugeben oder uns dem Angriff seiner Armee zu stellen.»
Wie aufs Stichwort betritt in diesem Moment Slade den Raum. Seine dunkle Stimme durchschneidet die Luft. «Ich glaube, Ihr habt dadurch mehr gewonnen. Findet Ihr nicht?»