Kapitel 20

Auren

M eine Fingerspitzen sind wund.

Es ist Monate her, dass ich das letzte Mal Harfe gespielt habe, und das macht sich bemerkbar. Nach Stunden auf dem Hocker, in denen ich misstönend mit bloßen Fingern die Saiten gezupft habe, schmerzen meine Hände und sind geschwollen.

Die Sache ist die: Ich mag Musik. Es gefällt mir, dass ich jede Note kontrollieren, jede Melodie lenken kann. Vielleicht gefällt es mir auf dieselbe Weise, wie ein Vogel das Singen liebt. Aber wenn mir befohlen wird zu spielen, lässt das meinen Widerstandsgeist aufflackern. Ich will an der Harfe sitzen, weil ich das möchte. Nicht, weil ich gemeistert wurde.

In gewisser Weise waren die Geschehnisse des heutigen Abends von Vorteil. Die Tatsache, dass Midas seine miesen Charakterzüge nicht mehr verbirgt, die öffentliche Beschämung, sogar Slades Reaktion – das alles ist gut, weil es mich daran erinnert, mein Ziel im Blick zu behalten. Weil es mir vor Augen führt, warum ich Digby finden und verschwinden muss, anstatt mein Vertrauen in Männer zu setzen.

Beweise es , habe ich zu ihm gesagt.

Aber das hat er nicht getan.

Midas führt mich zurück in meine Gemächer, sobald das Dinner beendet ist. Seine Emotionen brennen wie eine Kerze, die an beiden Enden entzündet wurde, mit Wut auf der einen und Arroganz auf der anderen Seite. Wäre ich immer noch das Mädchen aus Hohenläuten, würde ich jetzt vor Angst zittern. Und genau das will er. Der Riese erwartet stets, dass die Leute vor seinen Füßen um seine Gunst buhlen, nur um trotzdem zertrampelt zu werden.

Sobald wir den richtigen Flur erreicht haben, öffnen die Wachen die Tür zu meinem Schlafzimmer. So müssen wir unsere Schritte keinen Moment verlangsamen, um einzutreten. Ich gehe direkt zur Balkontür und reiße sie auf, ohne mich darum zu kümmern, dass Schnee sich im Raum verteilt wie Salz auf einem Teller.

Ich brauche die frische Luft. Ich brauche die Weite, die diese Türflügel repräsentieren. Denn nach dem heutigen Abend – nach dieser Zurschaustellung von Dominanz – braucht mein Geist diese Gedächtnisstütze.

Ich bin nicht gefangen.

Ich bin nicht schwach.

Ich gehöre nicht ihm .

Die Schlafzimmertür schließt sich mit einem durchdringenden Klicken, untermalt vom Knistern des Kamins, in dem die Flammen am brennenden Holz nagen.

Ich drehe mich um, die Hände vor dem Körper verschränkt. Midas schießt mir einen Blick zu, als wolle er mich schütteln, bis er mich von innen nach außen gekehrt hat.

«Du hast dich heute Abend unmöglich benommen.»

Seine Scheinheiligkeit entlockt mir beinah ein Schnauben, doch ich halte meine Lippen versiegelt wie einen offiziellen Brief.

Die rechte Seite seines Gesichts leuchtet orangefarben, und das Feuer lässt Flecken über seine gebräunte Haut tanzen. «Machst du dir eine Vorstellung davon, was Königin Kaila von dir halten muss?»

Als würde mich das interessieren. Aber ihn interessiert das. Midas ist besessen vom schönen Schein … und davon, wie er ihn zu seinem Vorteil einsetzen kann.

«Ich habe dir eine Menge Freiheit zugestanden, Auren. Doch ich werde keine Respektlosigkeit dulden. Und nach unserer Diskussion solltest du es besser wissen.»

Ich schiebe das Kinn vor, und gleichzeitig regt sich diese gefiederte Gefährtin, die sich scheinbar ein Nest in meiner Wut gebaut hat. «Digby war jahrelang ein loyaler Wächter. Du hast kein Recht, ihm zu drohen.»

Midas lacht.

Es ist ein grausames, kaltes Lachen, das einen harten Kontrast zu dem warmen Feuerschein bildet. Midas überbrückt den Abstand zwischen uns, bis er kochend vor Wut vor mir steht. Die Erinnerung an meine geplante Flucht kühlt mir jedoch den Rücken.

«Ein König zu sein, gibt mir jedes Recht. Mir gehören die Rechte, die Regeln, die Gesetze. Du hast mich letzte Woche mit deiner Arbeit zufriedengestellt, aber dein Verhalten am heutigen Abend ist nicht tolerierbar.»

Mein geflügelter Zorn setzt sich auf, und das dunkle Trillern, das aus dieser Kehle steigt, klingt wie ein Versprechen.

«Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, diesem Mann letzte Nacht zu erlauben, dich zu berühren?» Seine Worte knallen in der Luft wie Peitschenschläge. «Wäre er irgendein anderer Soldat, würde sein abgeschlagener Kopf längst in deiner Badewanne liegen, darauf wartend, vergoldet zu werden.»

Galle steigt in meine Kehle, und mein Magen verkrampft sich angesichts des Bildes, das Midas zeichnet. Von Riss’ – Slades – Kopf, der am Hals abgetrennt ist, die fahle Haut blutverschmiert. Es wäre nicht das erste Mal, dass Midas einen solch grausamen Befehl gibt und mich dann anweist, das Haupt zu vergolden, als Mahnung für andere.

Midas beugt sich vor. Ich vertreibe das Bild mit einem Blinzeln. Mein Atem stockt, weil seine Wut scheinbar den Sauerstoff aus dem Raum saugt. «Lässt du jemals wieder zu, dass irgendwer dich berührt, wird dir nicht gefallen, was dann geschieht. Was ich im Anschluss dir, der anderen Person oder Digby antue.»

«Ich bin auf der Treppe fast zusammengebrochen, und deine Wachen wollten mir nicht helfen.»

«Und das sollen sie auch nicht!», brüllt er. «Niemandem außer mir ist es gestattet, dich zu berühren. Das ist nun schon das zweite Mal, dass der Kommandant sich mir gegenüber respektlos verhalten hat.»

Zwischen meinen Brauen bildet sich eine Falte. «Das zweite Mal?»

«Er hat dich vom Pferd gehoben, als er dich zurückgebracht hat», wütet er. «Schon in diesem Moment hätte ich einem Bogenschützen befehlen sollen, ihn zu erschießen.»

Damit die Armee des Vierten Königreichs mit voller Wucht angreift? Eher unwahrscheinlich.

«Hast du ihn gefickt?»

Die Frage landet mit der Wucht eines Erdbebens zwischen uns, das die Erde spaltet.

Ich blinzele überrascht. «Was

«Du hast mich gehört.» Sein Tonfall ist wie das Rumpeln der Erde, besitzergreifende Wut lässt jedes Wort erzittern. «Hast. Du. Ihn. Gefickt?»

Bodenloser Hass steigt in mir auf und zieht einen goldenen Schleier vor mein Blickfeld. Das wütende Wesen in mir brüllt. «Nein.»

Midas’ Blick bohrt sich in meine Augen. Ich erkenne allumfassende Eifersucht in seiner Miene, die auch in seinen Worten schwelt. «Willst du ihn, Auren?», fragt er voller Abscheu. «Sehnst du dich danach, von dieser hässlichen, grotesken, stachelbewehrten, magiebeschmutzten Monstrosität gefickt zu werden wie eine Hure?»

Die Luft im Raum scheint in sich zusammenzufallen, in Scherben auf mich herunterzuprasseln, bis jeder Atemzug in meine Lunge schneidet. Der Aufruhr in meinem Kopf macht jeden klaren Gedanken unmöglich, weil mein Zorn so laut schreit.

Wie kann er es wagen?

Wie zur Hölle kann er es wagen ?

«Du hast ihn beobachtet. Ich habe es gesehen.»

«Ach ja?», stoße ich hervor. «Nun, ich habe ständig gesehen, wie du deine königlichen Sättel vor mir gefickt hast. Ich denke, mit einem kurzen Seitenblick wirst du leben können.»

«Vorsicht», warnt er mich.

Bissige Verachtung erfüllt meine Stimme, als ich antworte: «Fein. Ich werde in Zukunft vorsichtig andere Männer ansehen.»

Es passiert so schnell.

In einer Sekunde stehe ich da und reiße mein großes Mundwerk auf, in der nächsten trifft Midas’ Hand mein Gesicht, heftig genug, um meine Ohren klingeln zu lassen.

Mein Kopf wird nach rechts geschleudert, und ich taumele nach hinten. Meine Wange brennt von dem harten Schlag. Tränen rinnen über das schmerzende Fleisch, als wollten meine Augen die Stelle liebkosen, die Midas gerade getroffen hat. Ich kann sie nicht zurückhalten.

Die Zeit scheint stillzustehen.

Ein Spalt öffnet sich zwischen uns, ein Abgrund in der Erde, aufgerissen von der Kraft eines einzelnen Schlags.

Er hat mich noch nie geschlagen. Nie .

Schon das Kneifen vorhin hat mich schockiert, aber immerhin war das eine kontrollierte Bestrafung. Eine deutliche Erinnerung daran, mich zu benehmen – wie ein Besitzer, der an der Leine zieht, völlig im Einklang mit seinem üblichen Verhalten.

Aber das hier ist etwas anderes. Midas hat in einem Wutanfall die Kontrolle verloren – dabei ist er so stolz auf seine Selbstkontrolle.

Fassungsloses Schweigen befleckt den Raum wie dunkle Schatten, während ich verarbeite, was gerade geschehen ist. Die brüllende Kreatur in mir tut dasselbe und öffnet den Schnabel, um eine Reihe rasiermesserscharfer Zähne zu enthüllen.

Eine Flut aus brodelnder Wut scheint sich zu erheben, und die Kreatur freut sich darauf, in ihren Tiefen zu baden. Mein gesamter Körper zittert vor Anstrengung, das Wesen zurückzuhalten. Ich kann spüren, wie die Wogen meines Zorns über mir zusammenschlagen und drohen, mich in einen Strudel nach unten zu ziehen.

Das liebeskranke Mädchen in mir ist verschwunden. Ihm wurde das Herz gebrochen, und mit den Scherben wurde es anschließend wie ein Insekt auf einem Brett festgesetzt. Aber dieses Mädchen ist verbrannt, als Midas’ Handfläche mein Gesicht getroffen hat. Die Asche ist jetzt nichts als Mutterboden, um die Abscheu in mir zu nähren und sie leuchtende Blüten treiben zu lassen.

Ich atme tief durch. Sehe Midas an. Diesen Mann, dessen Gier ihn zerfressen hat, ohne dass er sich darüber bewusst ist. Er ist so weit in die vergoldete See hinausgeschwommen und bemerkt nicht einmal, dass sie ihn ertränken wird.

Ich hasse ihn. Ich hasse ihn so sehr, dass ich weiß, dass er es in meinen Augen sehen kann.

Vielsagendes Schweigen senkt sich zwischen uns wie eine dunkle Wolke.

Midas’ Augen sind weit aufgerissen, sein Gesicht fahl. Er starrt mich schockiert an. Dann stößt er plötzlich den Atem aus. «Scheiße  …»

Er hebt die Hände an mein Gesicht, streicht mit dem Daumen über meine pochende Wange. «Schatz … ich … ich … Das wollte ich nicht. Ich war wütend. Ich wollte nicht … Scheiße

Ich höre die Pein in seinen Worten, und mein Magen verkrampft sich. Ich versuche, mich seinem Griff zu entziehen, doch er packt mich fester, als fürchte er sich davor, mich freizugeben. Als fürchte er, ich könne mich einfach in Luft auflösen.

Und genau das habe ich vor.

Er hebt meinen Kopf an, zwingt mich so, ihn anzusehen. «Du machst mich vollkommen verrückt, Auren.» Fast hätte ich abfällig geschnaubt. Mit diesen Worten will er mir die Schuld zuschieben. «Ich bin es nicht gewohnt, dass du dich so benimmst. Doch das war falsch von mir. Ich habe die Beherrschung verloren. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Wie sehr ich dich brauche.»

Zärtlich streicht er über meine Wange, tilgt mit dem Daumen die Tränenspuren, als wolle er gleichzeitig meine Gefühle auslöschen; alles kontrollieren, was ich tue und empfinde. Er will mich sauberwischen wie eine Schreibtafel.

Fast habe ich Mitleid mit ihm. Ich habe auch Mitleid mit mir selbst, weil es zwischen uns so weit gekommen ist. Doch sobald ich verschwunden bin, kann ich neu anfangen. Ich kann mir ein Leben aufbauen. Aber er …

Wenn er mich verliert, verliert er alles .

«Die Situation ist aus dem Ruder geraten», sagt er leise. Seine Wut ist verpufft, die letzten Spuren von ihr zieren meine Wange. «Lass uns ins Bett gehen. Ich möchte mich um dich kümmern. Lass mich dir zeigen, wie sehr ich dich liebe.»

Ich blinzele. Entsetzen lässt meinen Puls rasen, als mir klar wird, was er andeutet. Glaubt er wirklich, ich würde nach alledem Sex mit ihm haben?

Entweder bemerkt er meinen Gesichtsausdruck nicht, oder er ist sich absolut sicher, dass er die Situation retten kann, indem er mich körperlich ablenkt. Denn bevor ich weiß, wie mir geschieht, senkt er den Kopf in der Absicht, mich zu küssen.

Meine mühsam zurückgehaltene Wut drängt nach vorne wie die Flut.

Schneller als ein Wimpernschlag heben sich meine Bänder, krümmen sich um meinen Körper wie ein Kokon aus Rippen. Mit einem kräftigen Stoß wehre ich ihn ab. Midas stolpert rückwärts und wäre fast auf dem Hintern gelandet.

Er starrt mich schockiert an, mustert wachsam die Bänder, die um mich herum schweben wie Schlangen, drohend und mit spitzen Enden. Ihnen fehlen nur Fangzähne voller Gift und ein klappernder Schwanz, um das Bild zu vervollständigen.

«Fass mich nicht an.» Meine Stimme hallt durch den Raum und sorgt dafür, dass er zusammenzuckt.

Midas sammelt sich, richtet sich langsam auf und tritt vorsichtig zurück. «Du bist aufgewühlt», sagt er beschwichtigend. Er bemüht sich, ruhig zu klingen, selbstsicher zu wirken. Doch ich bemerke ein Zittern in seinen Händen, als er seine goldene Tunika glatt streicht und an den Knöpfen herumnestelt. «Und das ist verständlich.»

Ich antworte nicht. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, langsam durch die Nase zu atmen. Meine Bänder zerren währenddessen an meinem Rücken, dehnen die Muskeln dort, als wollten sie sich aus meiner Haut lösen und den Dreckskerl angreifen.

«Du weißt, dass ich dich liebe, Auren», sagt er leise. In einer seltenen Zurschaustellung von Reue sinken seine Schultern nach unten. «Du bist für mich das Kostbarste auf der Welt. Ich habe meiner Wut erlaubt, mir die Kontrolle zu rauben. Du hast mich vor der Königin schlecht aussehen lassen, und wir brauchen dieses Bündnis», erklärt er, als würde mich das interessieren. «Außerdem gefällt mir nicht, dass der Kommandant sich berechtigt fühlt, dich ohne meine Erlaubnis anzufassen. Stell sicher, dass es nicht noch mal geschieht, und … benimm dich einfach, in Ordnung? Ich will nicht, dass zwischen uns ständig Spannung herrscht.» Es ist fast ein Flehen, als wäre ich es, die Unfrieden sät.

Mein Blick ist hart wie Stein. «Ich will Digby sehen.»

«Bald», verspricht er, während er meine pochende Wange beäugt. «Schlaf ein wenig. Wir unterhalten uns später, ja?»

Kaum dass sich der Schlüssel im Schloss gedreht hat und er verschwunden ist, stolpere ich auf den Balkon und schlage die Tür hinter mir zu. Dann greife ich nach dem schneebedeckten Kissen auf dem Sessel und schreie meine Wut in das Polster.

Der Schrei scheint nicht aus meiner Kehle zu stammen, sondern aus der des Monsters in mir.

Ich schreie und schreie und schreie. Ein Donner, laut genug, um Berge zu erschüttern, grollt wie eine Antwort über den Himmel.

Doch die Kreatur, die aus einem verkümmerten Herzen und unterdrückter Wut geboren wurde, ist nicht befriedigt. Meine Bänder peitschen zischend und wild um mich herum, also werfe ich das Kissen zur Seite, um ihre Länge dann um das Geländer zu schlingen.

Ich schwinge mich mit drei schnellen Bewegungen vom Balkon, getrieben nur von meiner Wut. Dann stampfe ich durch den Schnee, renne auf die baufällige Treppe zu, die mich in dieses vergessene Vorzimmer bringen wird, mit seinen verschlossenen Türen und der eisigen Luft.

Weil ich nicht stillhalten kann. Ich kann nicht in diesem Raum bleiben, in dem er Hand an mich gelegt hat.

Ich muss mich bewegen, ich fürchte sonst, dass dieses Ding in mir meine Haut aufreißt und alles in seinem Weg vernichtet.

Ich muss Digby finden.

Ich muss entkommen, bevor ich den Verstand verliere und zu dem Monster werde, das ich nicht sein will. Und ich kann diesen allumfassenden Drang zur Gewalt, meine Blutlust, nur zügeln, indem ich mich auf meinen Plan konzentriere.

Nur mein Plan hält mich davon ab, mich in diese rein goldenen Flammen zu werfen.