Kapitel 24

Auren

N ach dem Gespräch mit Nissa gehe ich zu dem Vorzimmer, wo ich Scofeld und Lowe auf einer der Bänke zurücklasse, während ich die Bibliothek betrete. Ich schleiche darin herum, versuche, mich nicht von den robentragenden Schreibern erwischen zu lassen, die einen übertriebenen Beschützerinstinkt gegenüber diesen verschimmelten Büchern und unlesbaren Schriftrollen zur Schau stellen.

Müsste ich mir nicht ständig Sorgen machen, erwischt zu werden, könnte ich in Ruhe nach den Plänen der Burg suchen, doch dieser Luxus ist mir nicht vergönnt. Also durchstöbere ich die vergessenen Bereiche, blättere mich in dämmrigem Licht durch staubige Regalreihen. Auf Händen und Knien oder auf den Zehenspitzen erforsche ich diesen Ort, nur um jedes Mal um eine Ecke verschwinden zu müssen, wenn jemand sich nähert.

Aber was habe ich in den ganzen Nächten gefunden?

Nichts.

Was mir verrät, dass ich an den falschen Stellen suche. Ich fürchte, die Pläne werden im vorderen Bereich der Bibliothek aufbewahrt, doch dorthin kann ich nicht gehen. Dort sitzt immer dieser eine Schreiber über den Tisch gebeugt, der mich schon einmal ertappt hat.

Wahrscheinlich werde ich auch heute Nacht wieder mit leeren Händen verschwinden müssen. Dieser Gedanke macht mir Angst. Denn mit Nissas neuem Plan sitzt mir die Zeit noch mehr im Nacken als bisher. Vielleicht muss ich die Idee, einen Grundriss zu finden, einfach aufgeben und die Burg so durchsuchen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich den ganzen Soldaten aus dem Weg gehen soll.

Ich will niemanden im Stich lassen – weder mich selbst noch Digby. Und ich will auch nicht im Stich gelassen werden.

Bei diesem schrecklichen Abendessen, als Midas mich so schlecht behandelt hat, gab es einen Moment, wo ich mir gewünscht habe, Slade würde eingreifen. Mir beweisen, dass seine schönen Worte der Wahrheit entsprachen.

Ich habe mir Hoffnung erlaubt.

Seitdem wir uns auf dem Balkon geküsst haben, ist dieses Was-auch-Immer zwischen uns gewachsen. Hat sich vergrößert. So, wie ihm vorgeworfen wurde, er hätte seinen Einfluss auf Fulkes Territorium ausgedehnt, hat Slade ihn auf mich ausgedehnt. Auf meine Gefühle.

Ich habe versucht, diese Gefühle zusammenzufalten wie einen Zettel, sie mit Knicken, die aus Verleugnung bestehen, in die tiefsten Tiefen meines Geistes zu verbannen. Doch wie ein Finger, der unter die Lasche eines Briefes gleitet, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, den Zettel wieder zu öffnen, um herauszufinden, was darauf steht.

Und jetzt habe ich nur leere Worte und Papierschnitte, die meine Brust mit Schmerz füllen … weil er mir seine Zuneigung nicht so bewiesen hat, wie er es versprochen hatte.

Aber scheinbar hat mein dämliches Herz die Lektion immer noch nicht gelernt. Also muss ich hier verschwinden, bevor es mich zerstört.

Ich unterdrücke ein Niesen, ausgelöst von der staubgefüllten Luft, und erhebe mich. Meine Knie knacken, weil ich so lange auf dem harten Boden gekauert habe, um Schriftrollen zu durchsuchen. Gefunden habe ich nur alte Geburtsurkunden der Monarchen des Fünften Königreichs.

Wirklich aufregende Lektüre.

Mit einem Schnauben gehe ich weiter, dringe tiefer in den höhlenartigen Raum ein und wünsche mir zum hundertsten Mal, hier gäbe es mehr Licht.

Ich wandere zu einem Bücherregal, das direkt in die Wand eingelassen ist. Links davon hängt ein einzelner Wandleuchter, einen guten Meter vom ersten Regalbrett entfernt. Er schenkt lächerlich wenig Licht. Ehrlich, auf diesen Büchern liegt genug Staub, dass er wahrscheinlich jede Flamme ersticken würde, die es wagt, etwas verbrennen zu wollen.

Mit zusammengekniffenen Augen wische ich die Buchrücken sauber, gerade genug, um die Titel zu lesen. Als mir nichts Hilfreiches ins Auge fällt, stelle ich mich auf die Zehenspitzen, um die Schriftrollen oben zu untersuchen. Ausgerechnet, als ich die Hand um eine davon schließe, höre ich Schritte, die auf mich zukommen.

Mit einem stummen Murren ziehe ich mich vom Regal zurück und eile in die andere Richtung; verfluche in Gedanken den Schreiber, der mich stört. So langsam, wie ich vorankomme, werde ich diese dämlichen Karten niemals finden.

Als ich mich hinter ein Regal ducken will, ertönen weitere Schritte aus der anderen Richtung. Die beiden Schreiber beginnen eine leise Unterhaltung, als sie sich bemerken. Ihre Stimmen hallen von den Wänden wider. Es klingt, als wären sie viel näher, als ich ursprünglich gedacht hatte.

Ich wirbele auf dem Absatz herum, eile zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin, dann springe ich zwischen zwei Regalreihen hindurch, ohne darauf zu achten, wo ich hingehe, solange mein Weg mich von ihnen wegführt.

Die Schritte vereinen sich irgendwo zu meiner Linken, dann wandern sie gemeinsam weiter. Auf mich zu. Schon wieder. Ich werfe einen Blick zur Decke, als könnte ich durch sie hindurch den Nachthimmel erkennen, und verfluche die Göttinnen, die sich in den Sternen verbergen.

Ich biege scharf nach rechts ab, in den nächsten Gang, dann in den nächsten und noch einen. Die Schatten der Bibliothek verschlingen mich, aber das ist es wert. Denn bald schon habe ich genug Abstand zwischen uns gebracht, dass ich die Stimmen der Schreiber nicht mehr hören kann. Ich halte inne, um Luft zu holen, und spitze die Ohren. Nach mehreren Sekunden der Stille entspanne ich mich.

Unglücklicherweise habe ich mit meinen tiefen Atemzügen auch eine Menge Staub eingeatmet. Meine Nase kitzelt heftig. Ich schaffe es gerade noch, eine Hand vors Gesicht zu schlagen, bevor das Niesen aus mir herausexplodiert.

Das Geräusch hallt durch die Bibliothek.

Laut .

Ich erstarre entsetzt. Mein Herz galoppiert wie ein wildes Pferd. Ich wage nicht mal zu atmen, während ich lausche, ob die Schreiber in meine Richtung rennen.

«Gesundheit.»

Ein Kreischen steigt in mir auf und erstickt in meiner Kehle. Mit der Hand an der Brust wirbele ich herum und entdecke niemand anderen als Slade, der hinter mir an einem steinernen Regal lehnt. Mit dunkler Kleidung, stechend grünen Augen und diesen Linien der Macht, die seinen Kiefer umspielen, aalt er sich quasi in den Schatten.

«Lass das!», blaffe ich, wenn auch kaum hörbar. Ich habe schon genug Lärm gemacht.

Mit vor der Brust verschränkten Armen und einem schiefen Grinsen wirkt der Mistkerl vollkommen entspannt und amüsiert.

«Was soll ich lassen?», fragt er und legt den Kopf schräg. «Dir Gesundheit zu wünschen?»

Ich sehe über die Schulter zurück, halb damit rechnend, dass die Schreiber diesen Gang stürmen und mich mit gebrechlichen Händen voller Altersflecken packen.

«Sei still!», zische ich.

Diesmal bemüht er sich nicht einmal, seine Erheiterung zu verbergen. Seine Zähne leuchten in der Dunkelheit, als ein Lächeln sein Gesicht verzieht. «Nur du würdest es wagen, König Fäule zu befehlen, still zu sein.»

«Vielleicht sollten das mehr Leute tun …», murmele ich.

Ein leises Lachen grollt in seiner Brust wie das Knirschen von Geröll vor einem Bergsturz.

Er bekommt keine Gelegenheit, auf meine Unhöflichkeit zu reagieren, weil genau in diesem Moment ein Schreiber am Ende des Gangs erscheint. Mir rutscht das Herz in die Hose.

Sein Gesicht leuchtet im Licht der Laterne in seinen Händen. Der orangefarbene Schein lässt ihn unheimlich wirken, weil sein langes, weißes Haar wie Flammen um seinen Kopf züngelt. Er trägt eine Robe in dunklem Purpur, die über den Boden schleift, und nagelt mich mit einem empörten Blick fest. «Was treibst du hier?»

Mein Mund wird trocken, während ich verzweifelt nach einer Ausrede suche. «Ähm …»

Er kommt näher. Ich weiche einen Schritt zurück. All meine Hoffnungen und Pläne brechen um mich herum zusammen. Und das alles nur wegen eines dämlichen Niesers.

«Es ist dir nicht gestattet, dich hier aufzuhalten.»

Ich weiß nicht, ob die Laterne sein Blickfeld begrenzt oder ob die Schatten um Slade einfach zu dunkel sind, aber der Schreiber scheint den König hinter mir erst zu bemerken, als Slade sich bewegt.

Wie eine Windböe gleitet er nach vorne, bis ich seine Gegenwart wie eine kühle Liebkosung an meiner Seite spüre. «Ich habe ihr gestattet, sich hier aufzuhalten.»

Der Schreiber reißt die Augen auf und starrt einen Moment lang mit offenem Mund. «König Ravinger. Ich hatte Euch nicht bemerkt», sagt er und zwingt seinen buckeligen Körper in eine Verbeugung.

Slade erwidert nichts, doch seine Erheiterung ist verpufft. Ich spüre nicht mehr den leisesten Hauch dieser unbeschwerten Ausstrahlung, aber ich bin ehrlich dankbar dafür. Wenn er seine königliche Maske trägt, fällt es mir leichter, emotionalen Abstand von ihm zu wahren.

«Verzeiht, Eure Majestät, doch dies ist die königliche Bibliothek. Der Zutritt ist niemandem gestattet, der nicht königlicher Abstammung ist», erklärt der Schreiber nervös.

Ein Aufwallen von Macht pulsiert in der Luft. Nicht das volle Ausmaß von Slades Magie, sondern nur ein kurzer Impuls. Ein Druck, der sich von ihm aus in alle Richtungen ausbreitet und dafür sorgt, dass mir ein kalter Schauder über den Rücken läuft. Meine Bänder zittern.

Im Licht der Laterne erkenne ich, wie der Schreiber bleich wird, als ihm so vor Augen geführt wird, mit wem genau er gerade spricht.

«Ich … natürlich. Wenn sie in Eurer Begleitung ist, gilt diese Regel natürlich nicht.»

Slade mustert ihn mit steinerner Miene. «Gut. Ihr könnt gehen.»

Der Schreiber nickt. Er wagt es nicht einmal, mich neuerlich anzusehen, bevor er sich umdreht und ohne ein weiteres Wort verschwindet. Sobald er um eine Ecke gebogen ist, atme ich erleichtert auf. «Danke», sage ich, dann will ich mich ebenfalls entfernen, weil es meine Pläne gefährdet, zu lange mit Slade allein zu sein.

Zu meinem großen Verdruss folgt er mir, klebt an mir wie eine Klette. Ich werfe ihm einen Blick zu. «Ich will dich nicht aufhalten.»

Mit den Händen in den Taschen schlendert dieser Mistkerl neben mir her. Vollkommen entspannt. «Das tust du nicht. Ich genieße lange Spaziergänge in einer trostlosen Bibliothek.»

«In der königlichen Bibliothek», bemerke ich spitz. «Und das ist schön für dich. Geh und genieß deinen Spaziergang woanders.»

Er runzelt die Stirn. «Bist du … wütend auf mich?»

Allein, dass er diese Frage stellen muss …

Ein bitteres Lachen dringt über meine Lippen. «Wütend? Nein, natürlich nicht. Wieso sollte ich wütend sein?», antworte ich wegwerfend. «Also, wenn du jetzt aufhören könntest, mir zu folgen, und zu dem zurückkehrst, was du vor meinem Niesen getan hast, wäre das sehr freundlich. Lass mich bitte in Ruhe.»

Seine Schritte stocken. «Auren.»

Ich ignoriere ihn, doch das hat ihn noch nie aufgehalten.

«Auren», sagt er wieder, drängender, mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme.

Ich stoppe abrupt, drehe mich aber nicht zu ihm um. «Was?»

Slade tritt neben mich, so dicht, dass jedes Wort, das er spricht, einen Lufthauch über meine Lippen gleiten lässt. «Sag mir, was los ist.»

Zitternd stoße ich den Atem aus, weil mein Herz diese ständige Enttäuschung, diesen Kreislauf aus Hoffnung und Misstrauen nicht ertragen kann.

Ich starre die Bücher auf dem Regal neben uns an, als bräuchte ich einen stabilen Ankerpunkt. Als müsste ich mich auf etwas anderes konzentrieren als auf ihn.

«Midas war im Privaten immer anders», höre ich mich selbst sagen. Meine Lippen fühlen sich kalt an, hier an diesem verbotenen Ort. «In der Öffentlichkeit war er der König und hat sich auch so benommen. Er hat erklärt, das wäre notwendig. Es war notwendig, dass er Malina geheiratet hat. Notwendig, dass er mich seinen goldgeküssten, liebsten Sattel genannt hat. Notwendig für den schönen Schein, mich vor anderen zu präsentieren wie eine glänzende Trophäe. Es spielte keine Rolle, dass ich in ihn verliebt war, als er mich durch die Königreiche geschleppt und schließlich an diesen schrecklichen, eisigen Ort gebracht hat.»

Zitternd schlinge ich die Arme um mich. Meine Bänder schließen sich ihnen an, als versuchten auch sie, die Kälte abzuwehren. Nur zu dumm, dass diese Kälte aus mir selbst aufsteigt.

Slade bleibt still. Hört mir zu. Als nähme er jedes Wort in sich auf, betrachte es aus hundert verschiedenen Blickwinkeln.

«Das alles habe ich ertragen, weil er privat ganz anders war», gebe ich zu. «Er hat gerade oft genug die richtigen Dinge gesagt. Wenn wir allein waren … wenn niemand uns beobachtet hat … hat er mir schöne Worte ins Ohr geflüstert und große Versprechungen gemacht.»

Eines meiner Bänder senkt sich, um sich um meine Hand zu schlingen. Es windet sich zwischen meinen Fingern hindurch, als wollte es tröstend meine Hand halten.

«Ich verstehe nicht.» Er klingt fast … verloren. Was unmöglich ist. Slade Ravinger ist immer selbstsicher.

«Ich habe dir gesagt, du solltest es mir beweisen. Und doch saßt du an diesem Tisch, und du warst ein König

Er schnappt nach Luft. Als versuche er, meine Wahrheit aufzunehmen. Sie zu kosten, sie zu verstehen.

Ich sehe ihn an. Meine Bänder sinken nach unten, aber ich recke das Kinn und bedenke ihn mit einem harten Blick. «Schöne Versprechungen, wenn wir allein sind, und in der Öffentlichkeit der gleichgültige König.» Ich schüttele den Kopf, erlaube ihm, die Enttäuschung in meiner Miene zu sehen. «Diesen Weg bin ich bereits einmal gegangen, Slade. Das werde ich nicht noch mal tun. Ich habe dich gebeten, es mir zu beweisen, aber das hast du nicht getan.»

Er stößt den Atem aus und wendet sich ab, fährt sich mit einer Hand durch das dichte, schwarze Haar. «Scheiße

Ich wende mich ab. Doch schneller, als ich einen Gedanken fassen kann, tritt er vor mich. Er schneidet mir die Fluchtmöglichkeit ab, bevor ich auch nur einen zweiten Schritt machen kann. Ich versuche, in die andere Richtung zu gehen, aber er hält mich auf, indem er den Arm vor mich schiebt.

Jetzt bin ich gefangen. Ich stehe mit dem Rücken zum Regal, während seine Hände rechts und links neben mir auf Brettern liegen. Er tritt einen weiteren Schritt vor, obwohl es dafür gar nicht genug Raum gibt. Sein Körper berührt meinen, und ich keuche.

«Geh mir aus dem Weg», fordere ich.

«Nein», antwortet er schnell, begleitet von einem Kopfschütteln. «Lass es mich erklären.»

Ich verdrehe schnaubend die Augen, denn wie oft habe ich das schon gehört? Ich will nicht mehr diese Person sein … diese Fußmatte, auf der alle herumtrampeln.

«Die Lage zwischen Midas und mir ist im besten Falle heikel», erklärt Slade. Seine Augen glänzen unnatürlich, glitzern in der Dunkelheit wie Smaragde.

«Du hasst ihn, das hast du unmissverständlich klargestellt. Wieso also bringst du ihn nicht einfach um?», frage ich, weil mich das wirklich interessiert. Ich bin mir sicher, dass die Tiefe seiner Abscheu nicht vorgespielt war.

Slades Blick wird wachsam. «Ob du es nun glaubst oder nicht, ich laufe nicht durch die Gegend und töte wahllos Menschen. Midas ist ein König. Wenn ich sein Leben beende, besonders mit meiner Magie, würde das einen gewissen Eindruck erwecken, der wiederum eine ganze Kette von Ereignissen nach sich zöge. Er ist ein Herrscher. Und im Moment arbeitet er daran, sein Herrschaftsgebiet auszuweiten. Aber wenn man einem Monster den Kopf abschlägt, wachsen manchmal zwei Köpfe nach.»

Eine Erkenntnis dämmert in mir. «Du machst dir Sorgen, dass jemand Schlimmeres seinen Platz einnehmen könnte, wenn Midas nicht mehr König wäre?»

Er nickt angespannt. «Es ist besser, das Spiel zu spielen und ihm zehn Züge voraus zu sein. Seine Schwächen kennenzulernen und ihn zu treffen, wo es wehtut. Wenn ich einfach blind losschlüge und ihn umbrächte, müsste ich mir nicht nur Sorgen um sein Königreich machen. Auch die anderen Regenten würden sich gegen mich verbünden. Sie betrachten meine Herrschaft und meine Magie jetzt schon mit Misstrauen. Niemand mag einen König, der Fäulnis verbreitet. Und wenn die Regenten gegen mich ins Feld ziehen und einen Krieg erzwingen, wäre es mein Volk, das leidet, genauso wie Unschuldige in den anderen Königreichen.»

Ich kann sehen, wie die Linien seiner Macht über seine Haut gleiten, jede einzelne so dünn wie ein Haar. Sie schlängeln sich an seinem Hals nach oben und verschwinden unter dem Bart wie Angelschnüre unter der Wasseroberfläche.

Ich habe ihn beleidigt, so viel ist klar. Und für einen kurzen Moment erhasche ich einen Blick auf den Mann unter der Krone. Ich erkenne, wie die Welt ihn sieht und was für Schäden das bei einer Person anrichten kann. Wenn irgendwer weiß, wie es ist, berüchtigt zu sein – nur als Gegenstand betrachtet zu werden –, dann bin das ich.

Plötzlich wird meine Brust eng, und Schmerz nagt an meiner Entschlossenheit.

Der Blick in seinen Augen ist scharf und bohrt noch weitere Löcher in mich. «Glaubst du, ich wollte dort sitzen und untätig bleiben, während dieses Arschloch so mit dir umgesprungen ist?», stößt er mit gesenkter Stimme hervor. «Glaubst du, ich habe dieses lächerliche Machtspielchen genossen, als er befohlen hat, dass du zur Harfe getragen wirst? Ich wollte über den Tisch springen und ihm mit bloßen Händen den Hals umdrehen.»

Als wolle er seine Worte unterstreichen, hebt er eine Hand und legt sie über meine Kehle. Nur, dass er nicht zudrückt, mir nicht wehtut. Seine finsteren Worte verbinden sich mit meinem rasenden Herzschlag. Sein Daumen gleitet über meinen Puls, nicht drohend, sondern zärtlich.

Es kostet mich all meine Willenskraft, bei dieser Berührung nicht die Augen zu schließen; mich nicht gegen ihn zu lehnen, obwohl ich seine Wärme bereits wie eine Decke um meinen Körper spüren kann. Abgesehen von Midas ist er die einzige Person, die mich berührt.

Jede Liebkosung scheint einen trockenen Brunnen in mir zu füllen. Obwohl er weiß, was geschehen kann, wenn er meine nackte Haut anfasst, zögert er niemals. Es ist, als könne er einfach nicht anders, als müsse er mich spüren.

Midas berührt mich nie auf diese Art. Seine Berührungen sind immer beschwichtigend – er tätschelt mir den Kopf, tippt mir ans Kinn. Oder er verhält sich besitzergreifend. Aber für Slade gilt nichts davon. Er fasst mich an, als könne er einfach nicht widerstehen, als könne er keine weitere Sekunde durchhalten, ohne mich zu spüren.

Es fällt mir schwer, ihm zu trotzen. Doch irgendwie gelingt es mir, mich nicht der Hitze auszuliefern, die er ausstrahlt. Nicht diesem Pulsieren nachzugeben, das sich zwischen meinen Beinen sammelt. Stattdessen drücke ich seine Hand weg.

Er gibt mich frei und lässt die Finger sinken. Mit einem mentalen Befehl halte ich meine Bänder davon ab, nach ihm zu greifen. Wenn ich ihm so nahe bin, fällt es mir schwer, meine Gefühle zu kontrollieren. Also wende ich den Kopf ab, weil ich mich nicht in seinen Augen verlieren, den Köder seiner Worte nicht schlucken will.

Doch kaum habe ich den Kopf gedreht, versteinert Slade förmlich.

Die Stille, die ihn überkommt, ist unnatürlich. So sehr, dass mein Atem stockt und Angst in mir aufsteigt.

Brennender Zorn füllt die Luft um uns herum. Und dann, mit einer Stimme so finster wie die tiefsten Tiefen der Hölle, sagt Slade etwas. Etwas, das mich entsetzt die Augen aufreißen lässt. «Wieso zum Henker ist da ein Bluterguss auf deiner Wange?»