Kapitel 28

Auren

S lade lehnt an der Schlafzimmerwand, einen Stiefel an die Wand gestemmt, so entspannt, wie man nur sein kann. Mit den vor der Brust verschränkten Armen und den aufgerollten Ärmeln, die seine starken Unterarme freilegen, dem zerzausten schwarzen Haar und der perfekt sitzenden Kleidung wirkt er unglaublich sexy.

Selbst im dämmrigen Licht kann ich die Erheiterung in seiner Miene erkennen. Und würde mein Gesicht nicht vor Verlegenheit brennen, könnte ich wahrscheinlich zugeben, wie atemberaubend er ist.

Ich musste ja unbedingt an seinem verdammten Kissen schnüffeln.

«Ich bezweifele allerdings, dass es sich darauf besonders angenehm schlafen lässt», kommentiert Slade.

Das reißt mich aus meiner Erstarrung. Ich richte mich abrupt auf und versuche, mich normal zu benehmen; als hätte ich nicht gerade unter seiner Decke herumgetastet. Aber meine Stimme klingt heiser, als ich sage: «Es war ein Unfall.»

«Und dann hast du in meinem Bett gewühlt, weil …?»

«Ich habe versucht, meine Bänder aus deiner Decke zu lösen», erkläre ich, als würde das die Situation verbessern.

Sein Blick senkt sich auf meine Hände, die immer noch die goldenen Längen halten. Sofort erschlaffen meine Bänder, als hätte ich das alles nur erfunden und sie wären vollkommen unschuldig.

Verräter.

Ich schiebe sie hinter mich, dann verschränke ich die Arme vor der Brust. Ich bemühe mich, Ruhe auszustrahlen, obwohl mein Herz heftig von innen gegen meine Rippen hämmert.

Licht fällt durch die Schlitze zwischen den Vorhängen und wirft helle Scherben zwischen uns. Wir mustern uns einen Moment schweigend. Gleichzeitig wächst meine nervöse Verlegenheit.

«Es tut mir leid», stoße ich hervor. «Der falsche Riss hat mich reingelassen, aber ich hätte im Wohnzimmer bleiben sollen. Es war unglaublich unhöflich von mir, diesen Raum zu betreten.»

Er legt den Kopf schief. «Warum hast du es dann getan?»

Ich öffne den Mund, nur um ihn direkt wieder zuzuklappen. Denn was soll ich schon sagen? Ich war einfach neugierig? Das klingt nicht nach einer guten Antwort.

Als ich nichts erwidere, sagt er: «Du hast also beschlossen, einzutreten und mein Bett in Unordnung zu bringen, weil dir langweilig war?» Er klingt weder ungeduldig noch wütend, obwohl ich offensichtlich eine Grenze überschritten habe. Wenn überhaupt, wirkt er amüsiert, doch ich spüre auch eine gewisse Wachsamkeit. Seine grünen Augen sehen dunkler aus als gewöhnlich, die Schultern sind angespannt.

Sein neckender Tonfall verstärkt nur die Hitze in meinen Wangen. «Bist du wütend?»

«Sehr», antwortet er, und mir rutscht das Herz in die Hose. «Aber nicht auf dich», fügt er hinzu.

Ich schlucke schwer, unsicher, wie ich darauf reagieren soll.

«Was tust du hier, Auren?»

«Hier, wie in … Ranhold oder …?»

Ich spiele auf Zeit. Ich weiß es, er weiß es, aber ich kann trotzdem nicht anders. Nicht jetzt, wo er wirklich vor mir steht.

Ein Grinsen huscht über sein Gesicht. «Hier, wie in meinen persönlichen Gemächern.»

Wieder denke ich an unser Gespräch in der Bibliothek zurück. «Ich … nun, ich bin hier, um dich zu sehen.»

Für andere wirkt er vielleicht entspannt, aber ich habe Slade oft genug beobachtet, um zu wissen, dass er es nicht ist. Er betrachtet mich mit diesem typisch intensiven Blick, als studiere er jeden Zentimeter, bemerke jede Geste.

«Warum?»

Ich vergrabe nervös die Hände im Stoff meines Rocks. Das alles ist so viel schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Oder vielmehr habe ich mir gar nicht erlaubt, meine Handlungen zu durchdenken, weil ich nicht kneifen wollte.

«Auren?», drängt er.

Das tut er immer, oder? Drängt mich, schiebt mich voran. Und genau das brauche ich. Aber ich höre Slade nicht nur im Jetzt, sondern auch im Damals. Als er mir Worte, Kampfgeist und eine Wahl gegeben hat.

Folgt Euren Instinkten und hört auf, Euch zurückzuhalten.

Ich kann es nicht erwarten, den Rest von Euch zu sehen.

Ihr seid so viel mehr als das, was Ihr Euch zu sein erlaubt.

Möchtet Ihr bleiben?

Meine Kehle fühlt sich rau an, aber ich schaffe es, ihm in die Augen zu sehen. «Ich bin hier, weil ich dir etwas sagen will.»

Allein die Tatsache, dass er das angehobene Bein senkt, verrät seine Überraschung. Es ist, als müsse er sich für meine Worte wappnen. «In Ordnung.»

Bevor ich den Mut verliere, atme ich einmal tief durch und beginne zu sprechen. «Als ich fünf Jahre alt war, kam Krieg nach Bryol, wo wir in Annwyn lebten. Er kam mit Feuer und Rauch und Tod. Meine Eltern haben versucht, mich mit dem Rest der Kinder wegzubringen, aber unsere Begleiter haben keine Stunde überlebt. Wir wurden entführt, lange bevor wir in Sicherheit waren.»

Slades Blick verschärft sich, als hätte er mit allem gerechnet, nur nicht damit. Sogar ich bin ein wenig überrascht, dass ich ausgerechnet diese Worte gewählt habe. Aber vielleicht ist das genau das, was ich sagen musste.

«Obwohl ich meine Magie noch nicht besaß und die Bänder auf meinem Rücken noch nicht gewachsen waren, war ich zu auffällig, um von Fae gekauft zu werden. Also wurde ich nach Orea geschmuggelt – bis heute habe ich keine Ahnung, wie das möglich war. Ich weiß nur: In der einen Nacht war ich noch in Annwyn und in der nächsten befand ich mich hier. Hier in dieser Welt, in die ich nicht gehöre. Wo der Himmel nicht singt und die Sonne falsch aussieht. Ich wurde von einem Mann in Derforthafen gekauft, der nach Alkohol und Pfeifenrauch stank. Einem Mann, der mir beigebracht hat, zu stehlen und zu betteln. Derselbe Mann hat mich später zu einem Straßensattel gemacht. Er hat dafür gesorgt, dass ich meine Beine für jeden zahlenden Kunden spreizte, der eine Nacht mit dem angemalten Mädchen verbringen wollte.»

Slade erstarrt zu Stein.

Seine Augen, unverwandt auf mich gerichtet, sind wild wie die eines Falken. Seine Macht füllt zitternd die Luft, drängt gegen meine Haut. Wie die raue Zunge einer Katze, die unsichtbare Wunden leckt.

«Ich bin erst weggelaufen, als ich fünfzehn war, und dann …» Ich blicke hinunter auf meine Handschuhe. «Nun ja. Es ist nicht gut für mich gelaufen.»

Die erste Träne fällt, ein salziger Tropfen aus alten Schmerzen, der einen goldenen Ton annimmt, kaum dass sie über meine Wange rinnt. Eilig wische ich sie weg.

«Ich erzähle dir das, damit du verstehst. Als Midas auftauchte, war ich gebrochen. Noch nie hatte ich eine freundliche Berührung von einem Mann erlebt. Ich wusste nicht, was Liebe ist oder auch nur Freundschaft. Ich kannte nicht einmal mich selbst. Ich mag nicht mehr unschuldig gewesen sein, aber ich war naiv – unsicher, wer ich war, wer ich sein könnte.»

Verletzlichkeit verkrampft mir die Brust, doch ich weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Obwohl mir der Atem ausgeht, muss ich weitersprechen, muss mich reinigen, weil ich sonst an meinem eigenen Gift ersticken werde.

Ich zucke leicht mit den Achseln. «Ich dachte, ich würde ihn lieben. Ich dachte, er würde mich lieben. Über lange Zeit habe ich mir selbst eingeredet, dass Liebe und Freundschaft so aussehen. Weil ich es nicht besser wusste.»

Auf der anderen Seite des Raums sehe ich, wie Slade schwer schluckt. Die Wurzeln seiner Macht huschen über seinen Hals. «Und jetzt?», fragt er grollend.

«Jetzt weiß ich, dass ich ein Mädchen war, das sich an den Status quo geklammert hat. Ich habe mich davor gefürchtet, wieder in die Welt geworfen zu werden, die mich ausgebeutet hat. Ich konnte mich der Wahrheit nicht stellen, dass Midas mich ebenfalls missbraucht, wenn auch auf andere Weise.» Dieses Geständnis geht mir nur schwerfällig über die Zunge, denn jedes Wort wiegt ein Kilo. «Falls Midas mich jemals wirklich geliebt hat, ist das Gefühl erstickt – unter seiner Liebe für Gold und unter seiner Liebe für sich selbst. Es liegt so tief begraben, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnert.»

Slades Arme hängen herab, aber etwas flackert in seinen Augen. Ein Ausdruck, den ich nicht deuten kann. «Was willst du damit sagen, Auren?»

Alles.

Ich sage alles.

Weil mir die Zeit davonläuft. Weil ich fliehen muss. Weil auch Slade bald aufbricht.

Ich atme zitternd ein. «Mein ganzes Leben lang wurde ich begehrt oder gekauft oder besessen, wegen des Goldes, das aus meinen Fingerspitzen tropft und meine Haut färbt. Ich bin benutzt und gefangen gehalten worden. Und ich habe gelernt, dieses Leben zu akzeptieren. Ich habe gelernt, dass ich nichts Besseres verdient habe als Midas. Dass ich niemals auf mehr hoffen sollte, denn ich wusste, wie viel schlimmer es hätte sein können.»

Wut huscht über Slades im Schatten liegendes Gesicht, und seine Lippen werden schmal.

Bei jedem Blinzeln treffen feuchte Wimpern auf meine Wange. «Aber dann bist du aufgetaucht. Und niemand hat mich jemals so angesehen, wie du es tust.»

Er verspannt sich, wartet mit angehaltenem Atem darauf, was ich zu sagen habe. Der Moment hängt zwischen uns, wie Hände, die Wasser halten, verzweifelt darauf bedacht, keinen Tropfen entkommen zu lassen. «Und wie sehe ich dich an?»

«Wie eine Person statt einer Trophäe. Als würdest du mich nicht anschauen und nur Gold sehen», antworte ich ehrlich. «Das ist mir vorher noch nie passiert», gestehe ich mit einem trockenen Lächeln. «Du hast mich herausgefordert, mehr zu sein als das, wozu ich gemacht wurde. Du hast mir gezeigt, wie ich die Welt ohne meine Scheuklappen betrachten kann.»

Er verlagert sein Gewicht, und ein Streifen Licht huscht über seine schwarz gekleidete Brust. «Gut.»

«Aber als du das getan hast, hast du mir nicht nur die Augen geöffnet. Du hast meinen Blickwinkel verändert, und jetzt sehe ich ständig nur dich

Meine Stimme zittert ob der Wahrheit in meinen Worten, doch ich erlaube ihr, sich auszubreiten, die Welt zu zerreißen, so wie ich schon seit Wochen zerrissen bin. Es fällt mir so schwer, hier zu stehen und die schonungslose Wahrheit auszusprechen, Worte wie Blut aus meinen Adern fließen zu lassen. Aber was auch immer geschehen mag, ich habe mich für diesen Weg an der Gabelung entschieden.

«Ich wollte einfach weglaufen. Weiter alles leugnen, vor allem diese … Sache zwischen uns. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass du mich angelogen hast. Dass du mich hereinlegen wirst, wie Midas es getan hat. Dass ich dir nicht vertrauen kann. Aber du bist mir unter die Haut gegangen und füllst meine Gedanken, und deswegen bin ich stinksauer auf dich.»

Slade zuckt zurück, seine Augen blitzen. «Warum?»

Ein zitterndes Seufzen entkommt mir. «Ich bin wütend, weil ich in jeder wachen Stunde, in jeder schlaflosen Nacht, versuche, mich davon zu überzeugen, dass Weglaufen die beste Option ist. Aber ich versage. Es brodeln all diese Empfindungen in mir, diese Wut und diese Angst und dieses Begehren. Ich sollte weggehen, verdammt noch mal. Doch es reicht nicht mehr, einfach nur Midas zu entkommen, wegzulaufen und mich zu verstecken. Weil du gekommen bist und mich befreit hast, und jetzt will ich mehr

Tränen rinnen glänzend über meine Wangen. Ich habe das Gefühl, dass Slade nicht mehr atmet. Seine Miene zeigt eine seltsam perfekte Mischung aus Entschlossenheit und Bestürzung. Seine Macht knistert, und obwohl ich mich für eine Welle der Übelkeit wappne, geschieht nichts Derartiges.

«Auren», presst er hervor, und mein Name klingt wie ein Versprechen, das seiner Seele entrissen wird.

«Ich gebe dir die Schuld für unzählige Dinge, damit ich dich weiter wegstoßen kann. Nur hast du nichts falsch gemacht. Nicht wirklich. Du hast mich herausgefordert und mich wütend gemacht und gelogen. Aber genau dasselbe habe ich umgekehrt auch getan. Du bist nicht der Böse in meiner Geschichte.»

«Doch», sagt er ohne Reue, sein Kiefer hart vor Anspannung. «Aber ich will für dich böse sein. Nicht zu dir.»

«Ich glaube dir.» Meine Antwort kommt, ohne zu zögern, denn es ist die Wahrheit. Ich glaube ihm wirklich. Und zwar nicht nur in diesem Punkt, sondern in Bezug auf alles. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht als Närrin ende.

Kaum habe ich diese Worte ausgesprochen, tritt Slade einen Schritt vor. Nur einen Schritt, doch ich spüre sofort, wie die Luft zwischen uns sich verdichtet. Als hätten all meine Worte die Gräben gefüllt, die wir mit unserem Widerstand in den Boden gepflügt haben.

Ich beobachte ihn, und er beobachtet mich. Und in meinem Kopf höre ich ihn sagen: Du bist mein Wohl . Mein Mund kribbelt in Erinnerung an die Hitze seiner Lippen, als er mich geküsst hat.

«Mein gesamtes Leben lang haben Männer mich genommen, aber ich habe noch nie einen Mann genommen.»

Er stößt einen leisen Atemzug aus. Stille steht zwischen uns wie eine zerbrechliche Glasscheibe.

«Ich bin nicht nur ein Mann.»

«Nein. Du bist mehr», stimme ich zu. «Denn egal, was ich auch tue, du haftest an meiner Haut und gräbst dich in mein Bewusstsein. Und so wütend ich deswegen auch auf dich bin, ich will mich nicht länger selbst anlügen. Ich habe es so unendlich satt, das alles zu unterdrücken. Zu leugnen. Mich zurückzuhalten. Nach zwanzig verdammten Jahren will ich mir nichts mehr versagen.»

«Dann tu es nicht », sagt er, und das letzte Wort klingt fast wie ein Fluch. «Was willst du, Auren? Sag mir, was du wirklich willst.»

In mir zittert eine Kompassnadel, viel zu lange unbenutzt, gefangen hinter einer Glasscheibe, teilnahmslos und ohne Hoffnung. Aber diese Nadel kreiselt seit dem Augenblick, in dem ich Hohenläuten verlassen habe; fleht mich an, meinen Instinkten zu folgen. Mich auf etwas Besseres zuzubewegen.

Es ist Zeit, dass ich diesem Kompass folge. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass er auf Slade zeigt.

Mein Puls rast und meine Hände zittern. Denn wenn das Verleugnen endet, bleibt man unsicher und verängstigt zurück. Was sind wir ohne unsere schönen Lügen und unsere Schutzmauern? Ich bin unendlich verletzlich, mein Herz liegt bloß und zeigt all meine Schwächen – vollkommen ruiniert auf eine Weise, die sich unerklärlich richtig anfühlt.

Und das ist der Grund, warum ich auch die letzte Mauer einreiße, als ich Slade in die Augen sehe und sage: «Dich, Slade. Ich will dich.»