Kapitel 38

Auren

J edes Geräusch verklingt, und die Welt scheint stillzustehen, als Königin Kaila vor uns anhält. Lu verbeugt sich steif, und ich sinke eilig in einen Knicks. Mein Puls rast. «Königin Kaila, vergebt uns. Wir wussten nicht, dass Ihr hier draußen seid. Ich hoffe, wir haben Euch nicht gestört.»

«Oh, das hast du nicht», antwortet sie. Mit kühlem Blick aus zimtbraunen Augen mustert sie unsere Gesichter.

Mein Magen verkrampft sich, als wir dort stehen. Meine Kehle verweigert ihren Dienst, jeder Atemzug scheint dort kleben zu bleiben. Ich spüre den Nebel im Mund und auf der Haut. Es fühlt sich an, als stünde ich in einer undurchdringlichen Wolke.

Der dichte Nebel erscheint plötzlich eher ein Feind zu sein statt ein Verbündeter, der Lu und mich auf dem Weg zu meinen Gemächern verborgen hat. Die feuchte Luft drückt gegen unsere Haut, als hätten die Götter den undurchlässigen grauen Schleier geschickt, um uns zu fangen.

Das Graublau von Königin Kailas Kleid schimmert unter ihrem Mantel. Sie hat die Kapuze über ihr glattes schwarzes Haar gezogen. Drei Wachen begleiten sie, von denen ein Mann eine Fackel in der Hand hält. Ihre Uniformen sind silbern, mit dem Wappen des Dritten Königreichs auf der Brust – ein stolzes Siegel, in dem die Küsten ihrer Heimat anklingen: der Ozean, dargestellt durch eine geschwungene Linie, die von der Rückenflosse eines Hais durchstoßen wird.

Kaila schiebt ihre Kapuze zurück, und auch wenn sie heute keine Krone trägt, wirkt sie nicht weniger königlich als zuvor. «Was für ein Glücksfall, dass wir beide uns so begegnen.»

Ich lächele nur höflich, doch unter meiner ruhigen Fassade rast mein Herz. Das ist kein Glücksfall, sondern Pech. Nervosität erfüllt mich, während ich versuche, die Folgen der Tatsache abzuschätzen, dass sie mich gesehen hat. Ich kenne Kailas Charakter nicht, weiß so gut wie nichts über sie.

Ich habe versucht, alle Dinge, die mit dem Dritten Königreich zu tun haben, aus meinem Gedächtnis zu verdrängen. Doch jetzt wünsche ich mir, ich hätte das nicht getan. Ich wünschte, ich hätte mich über diese Frau informiert. Denn im Moment schreit jeder Instinkt, den ich besitze, dass Kaila gefährlich ist. Ich habe sie beim Abendessen nicht groß beachtet, weil ihr unterhaltsamerer Bruder meine Aufmerksamkeit gefesselt hat … Dazu kamen Midas’ Gegenwart und die eines gewissen mürrischen Königs.

Kaila ist auf Midas’ Einladung hin hergekommen, doch ich habe keine Ahnung, wieso er das getan hat. Aber vielleicht lautet die wichtigere Frage: Wieso hat sie zugestimmt?

«Interessant, dass du zu dieser Uhrzeit unterwegs bist», sagt Kaila. «Man sollte meinen, dass es König Midas lieber ist, wenn du dich sicher in der Burg aufhältst.»

«Ich konnte nicht schlafen, also habe ich mich für einen Spaziergang entschieden», antworte ich eilig. «Die Nachtluft um Ranhold ist heute sehr erfrischend.»

«In der Tat. Auch ich wollte einen Spaziergang machen. Ich finde so etwas immer sehr anregend. Nachts kann man so viele interessante Dinge hören.»

Meine Schultern versteifen sich. Lu wirft der Königin einen scharfen Blick zu. Kaila muss es spüren, weil sie kurz zu meiner Begleiterin späht, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich richtet. «Wollen wir ein paar Schritte gemeinsam gehen?»

Ich blinzele überrascht und vergrabe die Hände im Stoff meines Rocks. Auf keinen Fall will ich mit ihr spazieren gehen, aber ich kann ihr Angebot nicht ausschlagen, weil wir beide wissen, dass es eigentlich keine Bitte war.

«Natürlich, Eure Majestät.»

Kaila macht den ersten Schritt, in der Erwartung, dass ich ihr folge. Dabei wirft sie Lu einen süßlichen Blick zu. «Wegtreten.»

Lu öffnet den Mund, als wolle sie widersprechen, aber ich schüttele fast unmerklich den Kopf. Ich will nicht, dass sie sich in Schwierigkeiten bringt oder verletzt wird. Königin Kaila versetzt meine Nerven in Alarmbereitschaft, und ich will nicht, dass Lu ihr zu nahe kommt. Sie mag eine Kriegerin sein und die perfekte Spionin, aber ich hatte über die Jahre eine Menge Kontakt mit Herrschenden.

Lu schenkt mir einen langen, bedeutungsschweren Blick, dann nickt sie angespannt, wirbelt auf dem Absatz herum und schreitet davon. Ihre Schritte sind lautlos, und ihre dunkle Silhouette verschwindet im Nebel wie ein Geist, der wieder mit dem Äther verschmilzt.

Sobald ich mit Kaila und ihren Wachen allein bin, setzt die Königin sich in Bewegung. Pflichtbewusst passe ich meine Schritte an ihre an. Meine Hände werden feucht.

«Seltsam», meint Königin Kaila gedehnt.

Göttin, ich will ihren vergifteten Köder nicht schlucken, aber ich darf nicht schweigen. Das Stellen verbaler Fallen gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen von Herrschern. Statt zu lernen, wie man Krieg auf dem Schlachtfeld führt, lernen sie, ihn in höfischem Umfeld zu führen.

«Was ist seltsam, Eure Majestät?», frage ich, wobei ich mich bemühe, unbeschwert zu klingen, egal, wie zugeschnürt meine Kehle auch sein mag.

«Dass du von einer Soldatin aus dem Vierten Königreich begleitet wirst, statt von den Wachen deines Königs.»

Die gefährliche Bedeutung in ihren Worten lässt Alarmglocken in mir läuten. Meine Schläfen pochen, weil ich die Drohung in ihrem Tonfall hören kann.

Jepp, ich hätte ihr mehr Aufmerksamkeit schenken müssen.

Meine Bänder versteifen sich und pressen sich gegen meinen Rücken wie ein Tier, das in eine Ecke getrieben wurde, mit gesträubtem Nackenfell, bereit zum Angriff.

«Meine anderen Wachen warten auf mich», lüge ich. «Tatsächlich sollte ich wahrscheinlich besser zu ihnen zurückkehren, bevor sie anfangen, nach mir zu suchen …»

Kaila wirft mir einen Blick zu, der deutlich macht, dass sie meinen jämmerlichen Fluchtversuch durchschaut hat. «Komm schon, Auren. Ich kann ein Geheimnis wahren. Tatsächlich hüte ich eine Menge Geheimnisse.»

Das sorgt bestimmt nicht dafür, dass ich mich besser fühle.

Ich kaue nervös auf der Unterlippe, als wir an der Burg vorbeiwandern. Die schweren Falten ihres blauen Kleides gleiten über den Boden, sodass sich Schneeflocken am Saum sammeln wie kleine Kieselsteine.

Ihre Wachen halten einen gewissen Abstand, doch deren Gegenwart fühlt sich bedrohlich an, als könnten sie sich jeden Moment auf mich stürzen, um mich zu Boden zu drücken.

Wieso zur Hölle hat Lu sie nicht gehört und ihre Aufmerksamkeit von uns abgelenkt?

Ich bemühe mich, meine Unruhe zu zügeln, während der Nebel sein Bestes gibt, die Laune verdrießlich zu halten. Doch Kaila scheint nichts davon zu bemerken. Oder vielleicht mag sie die bedrückende Stimmung.

«Geheimnisse sind wichtig, würdest du mir da nicht zustimmen?»

Es kostet mich jedes Quäntchen Willenskraft, meine Miene ausdruckslos zu halten. Auf keinen Fall will ich ihr die angsterfüllte Beklemmung zeigen, die von mir Besitz ergriffen hat.

«Ich nehme es an, Königin Kaila.»

«Du nimmst es an?», wiederholt sie. Ihr kehliges Lachen verdichtet die angespannte Atmosphäre um uns herum. «Geflüsterte Geständnisse sind mein größtes Kapital. Du erinnerst dich, was meine Macht vermag?»

Ich schlucke schwer, bemühe mich, meine Hände ruhig zu halten. «Eure Magie kontrolliert Stimmen.»

«Richtig», sagt sie lächelnd und nickt. «Ich kann ein Flüstern quer durch einen Raum senden. Ich kann Leute Stimmen hören lassen, die es gar nicht gibt. Ich kann jemandem die Fähigkeit zu sprechen nehmen, solange ich will. Kann Personen verstummen lassen. Aber am liebsten rufe ich Worte zu mir – gemurmelte Worte und verbotenes Wissen, die nicht für die Ohren von Außenstehenden gedacht sind. Diese Worte sind mein größter Reichtum.»

Mein Magen verkrampft sich wieder, und ein kalter Schauder überläuft meinen Körper.

Sie hat gelauscht . Sie hat Lu und mich belauscht. Verzweifelt versuche ich, mich daran zu erinnern, was ich gesagt habe. Aber das ist gar nicht nötig.

Kaila hält an und wendet sich mir zu, die steinerne Mauer der Burg im Rücken. Ihre hellbraune Haut leuchtet im gedämpften Fackelschein. Ich beobachte, wie sie die Lippen schürzt, um dann den Atem in einer Wolke auszustoßen.

Mit ihrer Atemluft breitet sich das prickelnde Gefühl von Magie aus, und dann höre ich etwas, was dafür sorgt, dass sich meine Nackenhaare aufstellen.

«Danke, dass du mich rein- und rausgeschmuggelt hast. Es war wirklich nett, Zeit mit Riss zu verbringen.»

«Da bin ich mir sicher. Er ist bessere Gesellschaft als der goldene Mistkerl, hm?»

«Viel besser.»

Lus und meine Stimmen hallen leicht, als sie erneut erklingen. Die körperlosen Worte teilen den Nebel wie eine unnatürliche Brise, die meine flackernde Angst anfacht.

Wieder und wieder erklingt das Flüstern. Ich beiße die Zähne zusammen und verziehe das Gesicht. Königin Kaila beobachtet mich unverwandt, mit zufriedener Miene. Ich muss den Impuls abwehren, die Hände über die Ohren zu schlagen. Glücklicherweise hebt sie die Hand, und die Worte verklingen.

«Du bist aus der Burg geschlichen, um dich mit dem Armee-Kommandanten des Vierten zu treffen.»

Ich spüre, wie mein Gesicht bleich wird. «Ich …»

Sie kommt mir zuvor. «Versuch nicht, es zu leugnen.»

Bedauern schießt wie ein Sprössling aus meinen Eingeweiden, der droht, Ranken auszuwerfen und mich zu erwürgen.

Scheinbar glücklich über mein Schweigen, dreht Kaila sich um und wandert weiter. «Hier entlang.»

Ich folge ihr wie betäubt, meine Füße schwer vor Bestürzung.

«Also, Auren, hast du einen Nachnamen? Eine Familie?»

Der Themenwechsel sorgt dafür, dass ich ihr einen wachsamen Blick zuwerfe. «Nein, Eure Majestät. Ich bin Waise.»

Sie summt leise, biegt um eine Ecke der Burg und vorbei an dem Hof mit den Eisskulpturen. Der Mond mag uns nur sein halbes Gesicht zeigen und hinter Wolken verborgen liegen, aber trotzdem glänzt sein Licht auf der Feuchtigkeit in der Luft und hüllt alles in einen unheimlichen Schleier.

«Eine Schande. Familie ist wichtig.»

«Das ist sie. Ihr und Euer Bruder scheint Euch recht nahe zu stehen», antworte ich, in dem Versuch, das Gespräch von mir abzulenken.

Die Königin lächelt fast wehmütig. «Manu ist mein wichtigster Ratgeber und mein bester Freund. Er hat eine Schwäche für dich entwickelt.»

Das ist gut, richtig?

«Natürlich mag Manu die meisten Leute», fährt sie fort und vernichtet damit innerhalb weniger Schritte meine Hoffnungen. Wir halten auf einen Teil der Burg zu, den ich bisher noch nie gesehen habe, passieren eine niedrige Mauer aus übereinandergestapelten Steinen. «Er ist eine herzensgute Seele, der niemals in den Sinn käme, Informationen gegen andere Leute einzusetzen. Aber das dürfte der Grund sein, warum die Göttinnen ihm keine magische Macht verliehen haben, nicht wahr? Ich bin besser geeignet, das Dritte Königreich zu regieren … weil ich bereit bin, alles Nötige zu tun, um meinen Thron zu behalten.» Sie nickt bestätigend, als hätte sie dieses Gespräch schon oft mit sich selbst geführt.

Meine Übelkeit verstärkt sich, als sie den gepflasterten Weg verlässt und beginnt, durch tiefen Schnee zu wandern. Der Wachmann mit der Fackel eilt vorwärts, um einen Pfad für seine Königin zu bahnen. Das helle Licht der Fackel brennt selbst durch den Schleier des Nebels in meinen Augen.

Mein Grauen wächst und wächst, bis es fast schmerzhaft wird. Das Schweigen nagt an meinen Nerven, bis ich endlich frage: «Wo gehen wir hin, Eure Majestät?»

«Nur noch ein kleines Stück weiter.»

Ich sehe immer wieder über die Schulter zurück, aber es ist ja nicht so, als könnte ich weglaufen. So, wie ihre Soldaten mich beäugen, käme ich nicht weit, außer, ich setze meine Bänder ein. Und wenn ich es verhindern kann, soll die Königin möglichst nicht von ihnen erfahren. Sie muss wirklich nicht noch mehr meiner Geheimnisse kennen.

Schließlich nähern wir uns einem Gebäude aus Stein, das mindestens fünf Stockwerke hoch in den Nebel aufragt. Die Spitze kann ich nicht sehen. An der Vorderseite erhebt sich ein riesiger Torbogen, überzogen mit Raureif und breit genug, dass zwanzig Männer nebeneinander hindurchtreten könnten.

Vier Ranhold-Soldaten vor dem Tor verbeugen sich vor der Königin, als wir durch den Bogen treten. Kailas persönliche Wachen reihen sich neben den Männern ein. Sobald wir das Gebäude betreten haben, sehe ich mich überrascht um. Der Geruch von Tieren steigt mir in die Nase, eine Mischung aus Heu, Staub, Moschus und etwas, das fast hölzern riecht. «Das ist …»

«Die Voliere der Waldschwingen», beendet Kaila den Satz für mich, als sie in der Mitte des riesigen, hohen Raums anhält. Hölzerne Balken ziehen sich kreuz und quer durch den zylinderartigen Raum, wie Zahnstocher, die in Mauerfugen gesteckt wurden.

Dutzende Tiere halten sich hier auf. Federn und Klauen, so weit das Auge reicht. Manche kauern aneinandergedrängt in Nestern aus Ästen, die auf den Balken ruhen, andere drängen sich um einen Trog, in dem rohes Fleisch liegt.

Kaila geht zu einem der Tiere links von uns. Das gefiederte Biest döst, den Kopf unter einen Flügel geschoben.

«Riawk», murmelt sie.

Die Waldschwinge reagiert sofort auf ihre Stimme, reißt den Kopf hoch und klappt schlammbraune Augen auf. Sie öffnet ihr Maul, und ich zucke angesichts der scharfen, grausamen Zähne zusammen. Doch die Kreatur leckt nur einmal mit der Zunge zur Begrüßung über die Hand der Königin.

Kaila sieht über die Schulter zu mir zurück. «Hattest du je näheren Kontakt zu einer Waldschwinge?»

Zur Hölle, nein . Diese Viecher machen mir Angst.

«Nein», antworte ich schlicht, begleitet von einem Kopfschütteln.

Kaila streichelt Federn in der Farbe gesprenkelter Borke, und das Tier stößt ein schnurrendes Geräusch aus. «Mein Riawk wird nicht beißen.»

Riawk sieht aus, als wollte er mir das Gesicht in Fetzen hacken, aber in Ordnung.

Ich zucke erneut nervös zusammen, als eine Waldschwinge hinter mir plötzlich mit den riesigen Flügeln schlägt. Sie wirbelt damit Heu und Dreck und Dinge auf, die ich mir wahrscheinlich nicht vorstellen will, bevor sie durch den offenen Torbogen läuft und in der Nacht verschwindet.

Während ich versuche, Mantel und Kleid sauber zu klopfen, krault Kaila weiter unbeeindruckt Riawk. «Auren, lass uns von Frau zu Frau sprechen, in Ordnung?»

«Okay», antworte ich zögernd.

Sie sieht mir in die Augen. «Ich bin hierhergekommen, weil das Fünfte Königreich ungenutzte Ressourcen besitzt – Ressourcen, die ich haben will. Aber der verstorbene König Fulke war ein kurzsichtiger Schweinehund, und sein Sohn ist ein rotznäsiger Schnösel.»

Ich habe keine Ahnung, wieso sie mir das erzählt, aber ich spüre deutlich, dass sich etwas anbahnt. Mit jedem Wort treibt sie mich höher auf einen zerklüfteten Berg, den sie selbst geschaffen hat.

«König Midas’ Gegenwart im Fünften Königreich und seine Einladung meiner Wenigkeit haben sich als Glücksfall erwiesen.»

«Oh?», entgegne ich wachsam und spüre, wie ich weiter hinaufsteige.

«Ja. Schließlich hat ein Bündnis mit dem Goldenen König ganz eigene Vorteile, nicht wahr?», versetzt sie und lässt den Blick über meine goldene Gestalt gleiten. «Zum Glück sind König Midas und ich zu einer Einigung gelangt», erklärt sie sachlich. Ihre Augen bohren sich in meine, und ihre Waldschwinge starrt mich genauso eindrücklich an. «Wir werden heiraten.»

Für einen Moment bin ich überzeugt, sie falsch verstanden zu haben. Ich runzele verwirrt die Stirn. «Ähm … aber er ist bereits verheiratet.»

Sie legt den Kopf schräg. «Oh, hat er dir das nicht erzählt? Königin Malina wurde getötet.»

Und damit schubst sie mich vom Gipfel.

Ich schüttele in tiefem Unglauben den Kopf. Meine Gedanken rasen, doch ich kann diese Nachricht einfach nicht verarbeiten.

Malina … tot ?

Wie ist das möglich? Die Frau hat mich von Anfang an gehasst, aber sie ist eine Königin, bei der ich weiß, wie ich mit ihr umgehen muss. Sie war ein Fixpunkt im Hintergrund meines stillstehenden Lebens. Plötzlich zu hören, dass sie tot ist …

«Wie? Wann?», will ich wissen. Verwirrung lässt meine Zunge schwer werden, und meine Stimme dringt rau aus meiner Kehle.

Kailas Augen funkeln. Sie genießt es, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich frage mich, ob sie dieses Wissen über Malinas Tod mit ihrer Magie erlangt hat oder ob Midas ihr es erzählt hat.

«Es gab Aufstände im Sechsten Königreich, weil sie sich des Hochverrats gegen König Midas schuldig gemacht hat. Natürlich ist das Volk auf die Barrikaden gegangen. Es ist ihr nicht gelungen, den Aufstand niederzuschlagen. Das Volk hat die Burg gestürmt und sie getötet. Der König hat Truppen geschickt, aber es war schon zu spät.»

Schockiert weiche ich einen Schritt zurück. Es fällt mir genauso schwer, mir Aufstände in Hohenläuten vorzustellen, wie zu glauben, dass Malina von Aufrühren getötet wurde. Wie zur Hölle konnte das passieren?

Plötzlich fällt mir der verschlüsselte Brief ein, den Slade abgefangen hat.

Das kalte Wetter ist aus Hohenläuten gewichen. Klarer Himmel voraus.

Verstehen bricht über mich herein wie ein einstürzendes Gebäude und begräbt mich unter Trümmern.

Die Kalte Königin. Darum ging es in dem Brief. Er war die Bestätigung, dass Malina tot ist.

«Ich sehe, dass diese Nachricht dich ziemlich schockiert», kommentiert Kaila, doch ihr mitleidiger Tonfall täuscht mich nicht.

Mein Blick verschwimmt, die Gedanken rasen, und ich falle schneller und schneller.

Ich starre die Waldschwingen an, sehe sie aber nicht wirklich. Stattdessen sehe ich Malina, die mich immer von oben herab betrachtet hat. Eindrucksvoll. Kalt. Absolut unerschütterlich.

Und dann ist da Hohenläuten selbst. Ich mag dort in selbst gewählter Gefangenschaft gesessen haben, aber es war der Ort, den ich lange Zeit mein Zuhause genannt habe. Ich habe wortwörtlich meine Macht in diese Burg gegossen, um sie zu dem zu machen, was sie heute ist. Ich habe so viel von mir selbst in die Burg gesteckt, ohne je darüber nachzudenken, welchen Eindruck es bei den Leuten hinterlassen muss, die gezwungen waren, sie jeden Tag anzusehen.

Kaila spricht weiter. Nur mit Mühe gelingt es mir, mich aus meinen Gedanken zu reißen und mich auf ihre Worte zu konzentrieren. «Er hat alles unter Kontrolle. Die verstorbene Königin konnte mit solchen Situationen offenbar nicht umgehen, aber König Midas ist ein kompetenter Herrscher. Er weiß, wie man ein Reich regiert. Was gut ist, denn mein erster Ehemann war ein Narr.»

Vollkommen ratlos, jeder Zurückhaltung beraubt, frage ich: «Wieso erzählt Ihr mir das alles?»

Ihre Finger gleiten über die Muschelkette, die um ihren Hals hängt. «Das hier ist der Frau-zu-Frau-Teil des Gesprächs, Auren. Ich muss wissen … Wirst du zum Problem werden?»

Bisher stellt dieses Gespräch das verbale Äquivalent eines Tritts in den Magen dar, der mich über eine Klippe katapultiert hat. Und jetzt falle ich ins Bodenlose.

«Zum Problem?» Mein Blick huscht zu der Waldschwinge, die sich an ihrem Arm reibt.

Kaila hebt leicht die schwarzen Augenbrauen. «Ich bin keine Närrin. Und ich war schon einmal verheiratet. Ich weiß alles über Könige und ihre Sättel. Aber du bist so viel mehr, nicht wahr? Die goldgeküsste Favoritin.» Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. «Ich bin mir nicht sicher, ob er dich liebt oder nur ab und zu besteigt und den Rest der Zeit als Zierrat ausstellt.»

Ich starre sie mit offenem Mund an, dann werfe ich einen Blick über die Schulter, um herauszufinden, ob die Wachen uns belauschen.

«Mach dir keine Sorge», wirft Kaila ein. «Ich kontrolliere unsere Stimmen, seitdem wir die Voliere betreten haben. Niemand kann uns hören.»

«Nicht mal, wenn ich schreie?»

Ein langsames – und ehrlich beunruhigendes – Lächeln verzieht ihre Lippen. «Nicht einmal dann. Ich kann jedes Flüstern an mein Ohr ziehen, kann jede Stimme ablenken. Ich kann Gespräche packen und quer durch den Raum schicken. Ich bin die Herrin der Stimmen, Auren, aber jetzt will ich deine hören. Wirst du dich zum Problem entwickeln?»

Wie kann eine so junge Frau so beängstigend sein?

«Nein.»

Sie mustert mich, als hätte sie meine Stimme an sich genommen, um sie unter dem Vergrößerungsglas ihrer Magie zu studieren. «Es freut mich sehr, das zu hören. Und die anderen Sättel, werden sie ein Problem darstellen?»

Ich schlucke schwer. «Nein.»

«Es ist keine gute Idee, mich anzulügen, Auren», meint sie tadelnd, ihr Blick scharf. «Aber das ist schon okay. Ich weiß bereits von der Schwangeren. Flair . Ich kann nicht zulassen, dass mein Verlobter Bastarde in die Welt setzt, also wird sie nicht mehr lange eine Rolle spielen.»

Eisige Schauder rauschen über meine Wirbelsäule, und mein Herz wird schwer.

Wird keine Rolle mehr spielen . Was für eine kaltherzige Art, über die Ermordung einer Person zu sprechen. Adrenalin schießt in meine Adern, als flehe mein Körper mich an, wegzulaufen, Flair zu finden und sie zu warnen. Aber meine Füße scheinen mit dem Boden verwachsen.

«Das hier ist ein geschäftliches Angebot, mehr nicht», fährt Kaila fort. «Die Öffentlichkeit muss mich akzeptieren. Ich werde nicht die gleichen Fehler begehen wie Malina. Ich werde mich nicht zugunsten der Favoritin beiseiteschieben lassen oder dem Volk einen Grund liefern, bei der ersten Gelegenheit gegen mich zu rebellieren.»

Meine Bänder ballen sich wie Fäuste.

«Ich werde dafür sorgen, dass das Volk unsere Verbindung bejubelt, Auren. Nur so werden sie die Vereinigung unserer Königreiche akzeptieren», erklärt sie. «Ich will, dass du verschwindest. Was der Grund ist, warum mich das, was ich heute Nacht belauscht habe, so sehr freut. Tatsächlich ist das der einzige Grund, wieso wir uns hier unterhalten und ich nicht dafür sorge, dass auch du bald schon keine Rolle mehr spielst.»

Töten. Sie wollte mich töten lassen.

Göttin, wer ist diese Frau?

Sie mustert mich einen Moment. Ihr mitternachtsschwarzes Haar ist so zurückgebunden, dass es ihre Wangenknochen betont. «Oh, schau nicht so entsetzt. Ich kann nicht zulassen, dass irgendetwas meine Herrschaft bedroht. Erst recht nicht ein Waisenmädchen. Und mir ist vollkommen egal, ob dein Haar tatsächlich aus reinem Gold besteht. Also werde ich dir ein Angebot unterbreiten. Ich tue so etwas nicht oft, also würde ich dir raten, es anzunehmen.»

Ich muss mich anstrengen, um angesichts der Drohung, die in ihrem Ton mitschwingt, nicht zusammenzufahren. Vielleicht ist es ihre Magie oder vielleicht auch ihr Charakter, doch ich fühle die Gefahr in jedem Wort.

«Ich will, dass du verschwindest, aber ich will mir deinetwegen nicht die Hände schmutzig machen. Also möchte ich, dass du mit deinem Kommandanten durchbrennst», sagt sie. Ich starre sie entgeistert an. «Wenn du aus eigenem Willen fortgehst, werde ich Midas nicht erzählen, dass ich dich heute Nacht gesehen habe.»

Mich beschleicht das Gefühl, dass sie mich auf diese Art verschwinden sehen will, damit sie nicht für meinen Tod verantwortlich ist, sollte Midas doch von ihren Intrigen erfahren.

Kailas Blick ist so scharf, dass ich ihn über mein Gesicht kratzen fühle. «Falls du nicht gehst, werde ich ihm alles über deine kleine Affäre mit dem stacheligen Soldaten erzählen. Ich glaube nicht, dass er die Nachricht besonders gut aufnehmen wird, was meinst du?»

Mein Sturz endet in einem grausamen Aufprall auf unsicherem Grund, eingehüllt in eine Staubwolke der Bedrohung. Kaila lächelt mich an. Die Schönheit ihres jungen Gesichts ist nicht zu leugnen. Ich muss zugeben, Erpressung steht ihr.

Die Tatsache, dass ich sowieso geplant habe, mit Slade wegzulaufen, gereicht mir zum Vorteil. Insbesondere, wenn sie wirklich nicht vorhat, Midas über die Geschehnisse des heutigen Abends zu informieren. Doch der Gedanke, dass sie im Besitz dieser Information ist und sie jederzeit gegen mich verwenden kann, erfüllt mich mit Panik. Was wird sie tun, sobald ihr klar wird, dass Midas mich niemals aufgeben wird?

Ich bin mir nicht sicher, was Kaila in meiner Miene erkennt, aber sie grinst. «Ich sehe, du verstehst. Ich bin froh, dass wir diese Unterhaltung geführt haben. Du nicht auch?»

Mein Magen krampft wieder, doch meine Lippen verziehen sich zu einem beschwichtigenden Lächeln. «Das bin ich, Eure Majestät.»

«Gut.» Sie nickt, dann krault sie ihre Waldschwinge unter dem Kinn. «Der König und ich werden unsere Verlobung beim Ball bekannt geben. Mit der Rebellion im Sechsten und der unsicheren Lage hier – mit einem Prinzen, der zu jung ist, den Thron zu besteigen – ist es unerlässlich, dass wir Orea Stabilität vermitteln.»

Diese Verbindung wird lediglich zwei herrschsüchtigen Monarchen von Orea Zugang zu noch mehr Macht ermöglichen.

«Möchtest du Riawk mal streicheln?», fragt Kaila plötzlich.

Diese Frau scheint es wirklich zu genießen, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.

«Oh, nein. Vielen Dank.»

«Streichele ihn», beharrt sie. «Er ist sehr nett.»

Ungefähr so nett wie sie selbst, würde ich vermuten.

Mit angespanntem Lächeln wende ich mich dem Tier zu und hebe die Hand. Sobald ich das tue, reißt die Kreatur mit zusammengekniffenen Augen den Kopf herum und schnappt nach mir. Mit einem Aufschrei reiße ich die Finger zurück und schaffe es gerade so, den Zähnen zu entkommen.

Königin Kaila wirft lachend den Kopf in den Nacken, dann tippt sie ihre Waldschwinge auf die Nase. «Böser Riawk», flötet sie immer noch lächelnd. «Männer beißen immer die Hand, die sie streichelt.»

Das weiß ich nur zu gut.

«Ich bin froh, dass ich mich mit dir unterhalten konnte, Auren. Wir Frauen verstehen einander, nicht wahr?»

«Ich verstehe vollkommen.»

«Gut», antwortet sie mit einem Nicken. «Du kannst gehen.»

Sie hat mich offiziell entlassen, also verschwende ich keine Zeit, sondern drehe mich eilig um und fliehe aus dem Gebäude, verfolgt vom knurrenden Zwitschern der Tiere. Als ich durch den Torbogen laufe, nehme ich ein Knacken in den Ohren wahr, als hätte ich ihre magische Geräuschblase verlassen.

Ich haste zurück zur Burg, meine Gedanken versinken im Chaos. Das Gespräch mit Königin Kaila erfüllt mich genauso mit Panik wie ihre beängstigende Macht.

In ihr könnte Midas seine Meisterin gefunden haben.

Ich muss Slade und den anderen berichten, was geschehen ist, aber ich wage es nicht, mich ohne Lu aus der Burg zu schleichen, und habe keine Ahnung, wo die Botenfalken untergebracht sind. Ich wünschte wirklich, wir hätten für solche Gelegenheiten eine Möglichkeit gefunden, miteinander zu kommunizieren. Aber ich werde warten müssen, bis ich Slade morgen in der Bibliothek sehe.

Doch für den Moment muss ich versuchen, jemanden zu retten, der mich verabscheut. Ich bin mir sicher, dass diese Diskussion keinen Deut besser verlaufen wird als diejenige, die ich gerade geführt habe.

Flair mag mich hassen, aber ich hoffe, dass mit meiner Warnung jenes Gefühl in den Hintergrund tritt. Denn wenn nicht … laufen ihr Leben und das Leben ihres ungeborenen Babys Gefahr, einfach ausgelöscht zu werden.