Kapitel 41

Auren

I ch folge Midas aus dem Ballsaal und in die große Halle. Seine Wachen warten dort auf ihn. Als sie uns kommen sehen, lösen sie sich von der Wand und reihen sich im Gleichschritt hinter uns ein.

Erschöpfung droht mich zu überwältigen, doch noch sorgt meine Nervosität dafür, dass ich angespannt bleibe. Dennoch kann ich spüren, wie ich – trotz der Nahrung – mit jedem Schritt an Kraft verliere, bis ich den Blick auf meine Füße senken muss, um sie in Bewegung zu halten.

Midas führt mich aus der großen Halle, einen Flur entlang und zu einer Treppe. Ich versuche, mir den Weg einzuprägen, damit ich ihn Lu später beschreiben kann – für den Fall, dass sie Digby noch nicht aufgespürt hat. Aber in meinem angeschlagenen Zustand fällt mir das schwer.

Ich schließe kurz die brennenden Augen, nur um sofort zu straucheln. Zum Glück stützen mich meine Bänder.

«Vorsichtig, mein Schatz», murmelt Midas.

Langsam und bedächtig steige ich die Treppe nach unten, die Finger fest um den Handlauf geschlossen, und atme erleichtert auf, als ich den unteren Absatz erreiche.

Ich bin müde. So müde.

Die Kälte hier jagt ein Zittern über meinen Körper. Ich sehe mich kurz um, doch in dem dämmrigen Licht erkenne ich nichts Bemerkenswertes. Nur einen einfachen Flur aus grauen Steinen, der an einen Dienstbotenkorridor erinnert.

Midas schreitet durch den Flur. Ich wische mir mit der Hand den Schweiß von der Stirn, der sich an meinem Haaransatz gebildet hat. «Sind wir bald da?» Selbst meine Stimme klingt schwach.

«Ja, wir sind da», erklärt Midas. Ich reiße den Kopf hoch, als er vor einer einfachen Holztür anhält.

Er nickt einem seiner Wachsoldaten zu. Der Mann tritt vor, einen Schlüssel in der Hand, den er ins Schloss schiebt. Mein Herz rast, und ich spüre das Pochen in meinem Kopf, meinen Schläfen, meinen Adern .

Mir ist schlecht vor Sorge. Oder vielleicht ist mir einfach nur schlecht. Die Überanstrengung meiner Magie fühlt sich an, als wäre jeder Tropfen Gold, den ich erzeugt habe, in Wirklichkeit mein Blut gewesen.

Ich versuche, gegen das Gefühl anzukämpfen, aber es wird immer schlimmer. Meine Gliedmaßen kribbeln, und mein Blick verschwimmt.

Als die Tür aufschwingt, wirft Midas mir ein Lächeln zu, dann betritt er den Raum dahinter. Ich dagegen atme schwer und versuche angestrengt, mich zusammenzureißen. Ich stolpere über die Türschwelle, denn egal, wie schlecht ich mich auch fühle, nichts wird mich davon abhalten, Digby zu sehen. Nicht mal ich selbst.

Sobald ich den Raum betreten habe, schließen die Soldaten die Tür hinter mir, um uns etwas Privatsphäre zu gönnen.

Ich mache noch zwei Schritte, bevor ich abrupt stoppe.

Mein Mund öffnet sich in einem geräuschlosen Keuchen, als mein Blick durch den dämmrigen Raum huscht, über die schlichten grauen Wände. Es gibt ein einziges Fenster, zu weit oben, um es zu erreichen, und eine Pritsche in einer Ecke.

Ich blinzele in dem Versuch, den Anblick vor mir zu verarbeiten, aber es fällt mir schwer, den Nebel zu durchdringen, der sich in meinem Kopf gesammelt hat.

«Digby?»

Jeder Schritt fühlt sich an, als müsste ich mich durch tiefen Sand schieben, jedes Heben meiner Füße ist ein Kampf. Mein Blickfeld verengt sich, weil Schwarz an den Rändern tanzt.

Als ich die Matratze erreiche und den Blick senke, neigt sich mein Magen, als wäre er ein schiefes Dach, von dem Schnee abgleitet. Meine Beine geben nach, meine Gesichtszüge entgleisen. Ich kann mich nur aufrecht halten, weil es mir gelingt, mich an der Wand abzustützen. Meine Handfläche kratzt über den Stein, als ich entsetzt nach unten starre.

Der Mann, der auf dem Bett liegt, ist kaum noch zu erkennen.

Ich sehe keine Haut, sondern nur eine Masse aus verfärbten Blutergüssen, wie eine Karte verschiedener Misshandlungen. Schwarz und Blau und Gelb und Grün. Geschwollene Wangen, aufgeplatzte Lippe, schwarz verfärbte Fingernägel. Und das graue Haar klebt schmutzig an seiner Stirn.

Ich schlage mir die Hand vor den Mund, als könnte ich so den Schmerz zurückhalten, der mich erfüllt. Doch das ist unmöglich.

Denn Digby ist gebrochen.

Das ist nicht der Mann, an den ich mich erinnere. Das ist nicht mein starker, mürrischer, stoischer Wachmann. Die Person, die auf dieser Matratze liegt, ist ein Chaos aus Verletzungen und Schmerz, mit Haut in allen Farben des Regenbogens. Wären da nicht seine keuchenden Atemzüge, könnte man ihn für tot halten.

Tränen rinnen heiß über meine Wangen. Meine Welt gerät aus dem Gleichgewicht. Meine Hände schweben zögernd über seinem Körper, über seiner zerrissenen, dreckigen Uniform. Der goldene Stoff ist verfärbt und zerfleddert. Ich wage nicht, ihn zu berühren, weil ich ihm nicht wehtun will, also lasse ich nur eins meiner Bänder sanft über seinen Arm gleiten.

«Wieso ist er so verletzt?», frage ich. Meine Stimme dringt als heiseres Flüstern über meine Lippen, doch in meinem Kopf hallt sie wie Donner. Als ich keine Antwort bekomme, drehe ich mich zu Midas um, aber die schnelle Bewegung verstärkt meinen Schwindel. «Was hast du getan?» Diesmal gelingt es mir, die Worte zu schreien, sodass der Donner in mir hörbar wird.

Midas lehnt an der Wand, die Hände in den Hosentaschen. Leidenschaftslos erwidert er meinen Blick. «Ich?», fragt er, dann schüttelt er langsam den Kopf. «Oh, ich habe das nicht getan, Auren. Das warst du. Jedes Mal, wenn du eine Regel gebrochen hast. Jedes Mal, wenn du versucht hast, dich mir zu entziehen, hast du das hier getan. Ich hatte dich gewarnt.»

Ich gaffe ihn mit offenem Mund an. Midas stößt sich von der Wand ab und kommt zu mir, hält nur wenige Zentimeter vor mir an. Ich recke das Kinn und halte seinen Blick, obwohl die Ränder seines Gesichts flimmern und der Raum bei jedem Blinzeln schwankt.

«Denkst du, ich wüsste nicht, dass du dich aus deinem Raum schleichst? Hast du wirklich geglaubt, ich wüsste nichts von deinem Besuch bei Flair gestern Nacht?», fragt er, seine Stimme hart und grausam. «Das war sehr dumm von dir.»

Übelkeit steigt in mir auf, und Schweiß rinnt über meine Schläfen.

«Sie hat nach mir geschickt, kaum dass du ihre Gemächer verlassen hattest», informiert mich Midas, dann packt er meine Arme, fest genug, dass es wehtut. «Sie ist loyal. Und das hättest du auch sein sollen.»

«Das war ich!»

Und schaut euch an, was mir das gebracht hat.

Midas schüttelt angewidert den Kopf. «Du kannst dich glücklich schätzen, dass du unentbehrlich für mich bist, Auren», sagt er, eine finstere Warnung in der Stimme, die scheinbar zwischen uns in der Luft hängen bleibt.

Ich werfe mich nach hinten, um mich seinem Griff zu entziehen, und knalle mit der Schulter gegen die Wand. Mein Körper ist plötzlich von Hitze erfüllt. Mein Sichtfeld wabert, beeinträchtigt von einem Nebel, der nicht wirklich existiert.

«Was wirst du mit Flair anstellen?», verlange ich zu wissen. «Wirst du zulassen, dass deine neue Verlobte sie tötet?» Meine schrille Stimme wird von den Wänden zurückgeworfen – oder gibt es dieses Echo nur in meinem Kopf?

Midas’ Augen werden schmal. «Du solltest dich besser darauf konzentrieren, welche Auswirkungen deine Handlungen auf diesen Mann hatten.»

Galle steigt auf, und meine Kehle brennt, als ich den Blick erneut auf Digby richte. Das Zimmer schwankt um mich. Ich versuche, ihn zu erreichen, auch wenn ich mich fühle, als befände ich mich auf einem Schiff, das Schlagseite hat. Ich rufe meine Bänder, damit ich ihn aus dem Raum zerren kann, aber ich stolpere über ihre Längen, meine Knie treffen schmerzhaft auf dem harten Boden auf. Farben explodieren vor meinen Augen, und meine Glieder zucken unkontrolliert.

Kniend lehne ich mich über meinen Wachmann, senke die Hände an seine Schultern und schüttele ihn sanft. «Digby, kannst du mich hören?»

Nichts.

Ich schüttele ein wenig fester, aber gleichzeitig fürchte ich mich davor, ihm noch mehr Schmerzen zuzufügen. «Digby, wach auf!» Panik erfüllt meine Stimme und meine Brust.

Eine schreckliche, heiße Welle schlägt über mir zusammen. Ich fühle mich seltsam. Und das Gefühl wird noch schlimmer, als der Schwindel erneut Besitz von mir ergreift.

Und da wird mir klar …

«Etwas stimmt nicht.»

Mein Herz trommelt unregelmäßig gegen meine Rippen. Ich kann dieses brennende Licht schmecken, das vor meinen Augen tanzt, und immer wieder überlaufen unangenehme Hitzewellen meinen Körper. Das kommt nicht nur von der Überanstrengung meiner Magie. Es ist nicht der Schock, Digby so zu sehen.

Etwas stimmt absolut nicht.

Midas tritt vor mich, sodass sein erdrückender Schatten auf mich fällt. «Zweifellos fühlst du dich seltsam. Aber du wirst dich daran gewöhnen.»

«Was meinst du damit?» Ich lalle. Meine Lider sinken nach unten. «Was hast du getan?»

«Das ist die Wirkung des Taus. Du reagierst wahrscheinlich schlecht darauf, weil es dein erstes Mal ist … und das in deinem erschöpften Zustand. Ich habe sichergestellt, dass du eine besonders hohe Dosis bekommst.»

Entsetzen schlägt über mir zusammen.

Ein angstvolles Keuchen entringt sich meiner Kehle.

Die Welt wirbelt um mich, als wäre ich im Rad einer Mühle gefangen, würde immer wieder aus den Tiefen gerissen, im Kreis gedreht und aufs Neue ins Wasser gerammt.

Ich kämpfe mich auf die Füße, wobei ich mich an Digbys Pritsche festhalten muss. «Du … du hast mich unter Drogen gesetzt?»

Ich beginne zu würgen, als versuche mein Geist, meinen Körper dazu zu bringen, den Tau auszustoßen, den Midas mir heimlich ins Essen gemischt hat. Aber ich weiß, dass es dafür schon zu spät ist. Ich spüre den Effekt im ganzen Körper, von meinen kribbelnden Zehen bis zu meiner verschwommenen Sicht.

«Ich habe alles versucht, um zu dir durchzudringen. Teilweise ist es auch meine Schuld, weil ich zu beschäftigt war, um mich früher um dich zu kümmern. Aber jetzt ist wieder alles unter Kontrolle.»

«Du verdammter Drecksack!», schreie ich. Brennende Wut erlaubt mir, mich aufzurichten. Die Enden meiner Bänder beben, als sie versuchen, mich abzustützen.

Midas kommt näher und packt grob mein zitterndes Kinn. «Atme tief durch, mein Schatz. Hör auf, dich dagegen zu wehren. Der Tau wird dafür sorgen, dass du dich gut fühlst … sobald du aufhörst, dich zu sträuben.»

Dass ich mich gut fühle.

In meinem Geist steigen Erinnerungen an meinen ersten Besuch im Sattelflügel auf. Ich erinnere mich an blutunterlaufene Augen und albernes Kichern. An die sinnlichen Bewegungen lüsterner Körper.

O Göttin …

Ich schließe fest die Lider. Tränen brennen in meinen Augen, lassen mich schwach zurück. Wieder überläuft diese furchtbare Hitze meinen Körper, und ich stöhne, nicht vor Vergnügen, sondern vor Bestürzung. Das hier darf nicht passieren. Ich darf nicht zulassen, dass diese schreckliche Droge dafür sorgt, dass ich Verlangen nach ihm empfinde.

Lieber würde ich sterben.

«Shhh. Es ist okay, mein Schatz. Ich werde für dich sorgen. Mit dem Tau wirst du von nun an viel entspannter sein.» Hände massieren meine harten Schultern, lösen mit unerwünschten Berührungen die Verspannungen dort.

«Nein …»

Er ignoriert mich und streichelt stattdessen meine Arme, lässt die Hände immer wieder über meine Haut gleiten. Mein Körper ist in Aufruhr, überwältigt von zu viel Tau, magisch ausgelaugt und erschöpft, aber gleichzeitig überschwemmt mit Adrenalin. Das alles ist zu viel. Meine Sinne versinken im Chaos widersprüchlicher Empfindungen.

Midas zieht mich an sich. Sein Duft steigt mir in die Nase, wie immer mit einem Unterton von metallischer Schärfe. Der Tau will, dass ich mich ihm ergebe. Ich kann spüren, wie sich die verräterischen Klauen der Droge in mir vergraben. Midas rechnet damit, dass ich dem trunkenen Delirium anheimfalle.

«Das wird dafür sorgen, dass es dir besser geht, Auren», flötet er mir ins Ohr. Mein Magen hebt sich, als wolle er diese Worte wieder hervorwürgen. «Es ist zu lange her, dass ich dich gespürt habe. Du wirst es lieben.»

Galle steigt in meine Kehle und brennt auf meiner Zunge.

Hier.

Einfach so.

Er hat mich unter Drogen gesetzt und zu einem gefolterten Mann geführt und versucht, mich zu benutzen. Hier und jetzt. Einfach so.

Ekel und Wut zerreißen den Schleier des Taus und brodeln an die Oberfläche. Meine Gliedmaßen und Bänder mögen träge und weich sein, aber für eine Zehntelsekunde kann ich den Effekt abschütteln.

Mit einem Geräusch, von dem ich kaum glauben kann, dass es meiner Kehle entspringt, reiße ich meine Bänder nach oben und stoße ihn damit heftig von mir.

Midas knallt rückwärts gegen die Wand und sinkt zu Boden, aber auch ich verliere den Halt. Meine Bänder sacken in sich zusammen, als ich hart auf Händen und Knien lande. Doch der Schmerz fühlt sich unwirklich an, weil er ebenfalls von der Droge gedämpft wird.

Midas flucht schmerzerfüllt, und ich reiße den Kopf hoch. «Du wirst mich nie wieder anfassen!», knurre ich und erkenne meine eigene Stimme nicht. «Ich hasse dich. ICH HASSE DICH !», kreische ich so laut, dass meine Kehle schmerzt und der Hall die Luft erschüttert.

Midas setzt sich auf und hebt eine Hand an den Hinterkopf. Als er die Finger senkt, glänzt Blut daran. Er funkelt mich zornig an. «Wie kannst du es wagen, deinen König zu verletzen!»

Meine gesamte Kraft entspringt dem Adrenalin und der Wut, die hinter meinen Rippen lauert, mich mit Feuer erfüllt. «Du bist nicht mein König! Du bist gar nichts für mich! Ich verabscheue dich», spucke ich ihm voller Gift entgegen, getrieben von reinem Hass. «Ich habe mir eingebildet, du würdest mich lieben. Aber du liebst nur dich selbst. Inzwischen weiß ich, wie es sich anfühlt, wirklich geschätzt und respektiert zu werden. Etwas, was du niemals getan hast», keuche ich, meine Worte scharf wie Klauen. «Du bist nichts als ein falscher König, der jeden in seinem Leben benutzt und manipuliert, weil du dich insgeheim selbst verabscheust.»

Etwas Unheilvolles erscheint in seinem Blick, lässt seine finsteren Augen funkeln. Ich knie zitternd vor ihm, starre ihn böse an, fühle jede Wunde, die er mir je zugefügt hat.

Mein kurzer Energieschub hat mich geschwächt zurückgelassen. Meine Bänder zappeln auf dem Boden wie gestrandete Fische. Die Ränder meines Blickfeldes verschwimmen, als eine weitere Welle von Hitze mich überschwemmt und versucht, ein Verlangen in mir zu entzünden, das ich mich weigere, für diesen Mann zu empfinden.

Keuchend schlage ich die Hände an den Kopf, in dem Versuch, den Effekt zu bekämpfen. Und Midas nutzt diesen Moment.

In einer Sekunde hält er sich noch am anderen Ende des Raums auf, in der nächsten hat er die Faust in meinem Haar vergraben und schlägt meinen Kopf gegen den Boden. Fest .

Ich schreie auf. Meine Wange platzt auf, und ich bin mir sicher, die Schmerzen wären viel schlimmer, wäre da nicht die Droge, die durch meine Adern fließt.

«Du weißt inzwischen, wie es ist, geschätzt und respektiert zu werden?», knurrt er mir ins Ohr und drückt mich mit seinem Körper zu Boden. «Also hast du diesen grotesken, gehörnten Kommandanten gefickt, ja? Du hast diesen Abschaum aus dem Vierten berühren lassen, was mir gehört.»

«Ich gehöre nicht dir!» Speichel und Wut fliegen aus meinem Mund, während er mich zu Boden drückt. «Und dieser Abschaum aus dem Vierten ist zehnmal mehr Mann, als du es je sein könntest.»

Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, meine Bänder zu heben, um ihn von mir zu stoßen, aber es ist, als wolle ich ein Bein bewegen, das zu lange nicht mehr mit Blut versorgt wurde. Sie ringeln sich bloß schlaff. Der Einfluss der Droge ist zu stark.

Midas packt mit der freien Hand die goldenen Längen auf meinem Rücken, wickelt sie sich um die Faust wie eine Hundeleine.

«Ich habe versucht, das auf angenehme Art zu klären, Auren. Aber du lässt mir keine Wahl.»

Wie eine Marionette werde ich auf die Füße gezogen. Der Raum schwankt um mich, und meine Haut brennt. Ich schaue auf, als Midas nach den Wachen ruft, sehe jedoch nicht zur Tür.

Nein, meine Aufmerksamkeit heftet sich auf Digby.

Digby, dessen verquollene Augen plötzlich offen und fest auf mich gerichtet sind. Fast hätte ich aufgeschrien, als ich seinen Blick treffe, die warme Farbe sehe – das Braun von Baumrinde, erhellt von den Strahlen der Sommersonne.

Ich bemerke, wie seine Kehle sich bewegt, sein Adamsapfel unter dem zotteligen grauen Bart hüpft, dann öffnen sich seine Lippen. «Lady Auren», sagt er, und diesmal schreie ich wirklich auf.

Er ist am Leben.

Er ist wach.

«Ich werde dich retten», schwöre ich, stoße die Worte rau hervor, zwinge sie als Flüstern über eine blutende Zunge.

Aber er hört mich.

Unser Moment wird zu schnell unterbrochen, als die Wachen in den Raum drängen und Midas mich an Bändern und Haaren vorwärtsstößt. Ich knalle gegen die Wand, unfähig, mich abzufangen.

«Haltet sie fest.»

Grobe Hände umklammern mich, ersetzen Midas’ Griff. Bunte Lichtstreifen tanzen in meinem Blickfeld, obwohl diese farbenfrohen Regenbögen nicht zu der gewalttätigen Dunkelheit im Raum passen. Verschwommen nehme ich ein Gesicht mit dichten Koteletten wahr. Scofeld. Wann ist er hier erschienen?

Ich werde an der Wand festgehalten, wie Midas es befohlen hat. Ich will mich wehren, ich will schreien, aber ich treibe auf einem Fluss aus Lethargie, unfähig, mich gegen die Strömung zu wehren.

«Du hast es nicht anders gewollt, Auren», sagt Midas.

Ich blinzele fragend. «Was …»

Da sehe ich das Schwert, das Midas hält. Eine goldene Klinge, so scharf, dass sie die Luft zu durchschneiden scheint, als er sie über Digby hebt.

In diesem Moment beginne ich wieder, mich zu wehren. Nur meine reine Panik ermöglicht mir die Bewegungen. Ich werfe mich gegen Scofeld und die anderen, aber ich kann mich nicht aus ihrem Halt befreien.

«Nein! Digby!»

Aus weit aufgerissenen Augen sehe ich, wie Midas mich anstarrt und das Schwert hebt. Meine Kehle wird eng, als läge eine Henkersschlinge darum. Ich schreie ihn an, Digby in Ruhe zu lassen, ich schreie und schreie …

Aber die Droge verzerrt meine räumliche Wahrnehmung, denn Midas schlägt mit der Klinge nicht nach Digby.

Sondern nach mir.

Ich war so von dem Gefühl eingenommen, an die Wand gepresst zu werden, war so darauf konzentriert, den Effekt der Droge zu bekämpfen und Digby zu erreichen, dass mir nicht einmal aufgefallen ist, wie gespannt die Wachen meine Bänder immer noch halten. Dass die goldenen Längen ihrem schmerzenden Griff ausgeliefert sind.

Eine Zehntelsekunde entsetzten Verstehens ist alles, was mir bleibt.

Dann lässt Midas die Klinge auf meine Bänder niedersausen. Die Schneide der scharfen Klinge durchtrennt die goldenen Längen, und meine gesamte Selbstwahrnehmung zerspringt in Splitter.

Ich schwimme in allumfassender Agonie.

Grenzenloser, alles beherrschender Pein.

Ich schreie nicht einfach nur.

Ich zerreiße .

Diesmal dämpft die Droge den Schmerz nicht. Als dieses Schwert meine Bänder durchtrennt, spüre ich alles .

Ich spüre, wie die Klinge die ersten Bänder oben zwischen meinen Schulterblättern abhackt.

Ich stehe unter Schock. Bohrende Schmerzen erfüllen mich. Meine Bänder zucken und winden sich, stoßen einen stummen Schrei aus, der in meine Wirbelsäule eindringt und jeden Knochen durchfährt.

Wie durch ein Prisma sehe ich, wie drei von ihnen vor meinen Füßen zu Boden sinken. Ihre Enden sind ausgefranst und ungleichmäßig. Winzige Blutstropfen dringen wie Tränen aus diesen misshandelten Enden.

Ich starre sie an, weil mein Hirn den Anblick einfach nicht verarbeiten will. Als hätten sie es gespürt, zucken sie schwach, wie der abgeworfene Schwanz einer Eidechse, der ein letztes Lebenszeichen von sich gibt.

Ein schrecklicher, heulender, gutturaler Schrei quält sich aus meiner Kehle. «Nein, nein, nein, nein! Nicht meine Bänder, nicht meine Bänder!»

«Du bist schuld daran. Du wirst deinen König nicht noch einmal angreifen», brüllt Midas zurück, seine kühle Entschlossenheit verdrängt von Wildheit.

In verzweifelter Panik versuche ich, meine übrigen Bänder zu verhärten, ihre Kanten zu schärfen und ihnen die Widerstandskraft festen Metalls zu verleihen, aber ich schaffe es nicht. Nicht mit der Droge in meinem Blut, der Erschöpfung, dem Schock, der Pein.

Ich kann nicht. Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht …

Ich schluchze so heftig, dass mein Körper erbebt. «Oh Göttin, bitte …»

Midas hebt erneut das Schwert und lässt es niedersausen.

Und wieder.

Und wieder.

Weitere Bänder fallen vor meine Füße. Meine Schreie erfüllen die Luft und zerreißen mir die Kehle. Irgendwann übergebe ich mich, sodass mein Mund sauer brennt. Ich bestehe nur noch aus Blitzen von Schmerz, als Midas meine Seele von meinem Körper trennt.

Ich weine. Ich kreische. Ich bettele.

Ich spucke und schlage um mich und kämpfe. Mein Blick verschwimmt, mein Körper unfähig, sich angesichts der Agonie auf den Beinen zu halten.

Aber das alles spielt keine Rolle. Die Wachen halten meine Bänder weiter gespannt. Midas schlägt unaufhörlich mit dem Schwert zu und schneidet mich in Stücke, ein goldenes Band nach dem nächsten. Eines nach dem anderen geht verloren.

Ich weiß nicht, wie lange es dauert.

Sekunden? Minuten? Stunden? Ich werde bewusstlos, verwandele mich in eine zuckende Masse aus wimmernder Benommenheit, die nur noch Elend kennt.

Und dann …

Durchtrennt er das letzte Band, und ich zerbreche.

Direkt dort auf dem Boden liegen Teile von mir wie nutzlose Putzlappen. Wie die Saiten einer Harfe, die niemand mehr spielen kann. Die Bänder, die mich einst gehalten haben.

Die Hände geben mich frei. Mein Körper sackt auf den harten Steinboden, aber ich fühle nichts. Ich bemerke die verschwommenen Umrisse der Wachen nicht, als sie den Raum verlassen. Ich sehe nur meine Bänder, leblos und zerrissen. Genau wie ich.

«Du hast dir das selbst zuzuschreiben.»

Meine Augen rollen zu Midas herum. Er steht hoch aufgerichtet über mir, das Kinn vorgeschoben, Grausamkeit im Blick.

Er stellt das Schwert zur Seite, rückt seine Tunika zurecht. «Ungehorsam hat Konsequenzen, Auren. Ich musste diese Krankheit der Rebellion herausschneiden, die in dir geschwärt hat. Du hast mich dazu gezwungen», erklärt er mir.

Die Tränen, die über meine Wangen rinnen, reißen mir die Haut auf. Es fühlt sich an, als würden heiße Schnitte mein Fleisch bis auf die Knochen öffnen. Midas’ Lippen werden schmal. In seinen Augen flackert ein fremdes Gefühl, das ich als seine Art von krankem Mitleid deute.

«Widersetz dich mir nicht mehr, mein Schatz. Ich mag es nicht, dich so zu sehen.» Sein Blick huscht zu den schlaffen Bändern auf dem Boden, dann über meine blutende Wirbelsäule. «Das hier tut mir mehr weh als dir.»

Brennender Zorn sammelt sich im Maul des Biestes in mir, aber ich bin zu betäubt, um die Emotion auszuspucken. Midas hat nicht einfach nur Fäden abgeschnitten, die aus einem ausgefransten Stück Stoff hingen. Meine Bänder waren nicht nur mit meinem Rücken verbunden, sie waren mit meiner verdammten Seele verwachsen.

Indem er sie abgehackt hat, hat er mir einen wesentlichen Teil meines Selbst geraubt. Er hat mir einen Teil von mir selbst entrissen, und jetzt …

Bin ich leer. Verstümmelt. Nur noch ein Bündel aus reiner Agonie.

Die zerfetzten Reste auf meinem Rücken sind stumpf, kurz und zucken unkontrolliert. Die misshandelten Enden stehen aus meiner Haut wie abgebrochene, gerupfte Flügel.

Mit einem Kopfschütteln zupft Midas seine Kleidung zurecht, fest davon überzeugt, dass seine Handlungen gerechtfertigt waren. «Ich werde dir später einen Heiler schicken. Ruh dich ein wenig aus, mein Schatz», sagt er sanft, bevor er sich umdreht und den Raum verlässt. Ich zucke zusammen, als er auf meine Bänder tritt, fühle den Phantomschmerz ihrer massakrierten, unter seinem Absatz zerquetschten Längen.

Die Tür schlägt zu, und das Geräusch raubt mir die letzte Kraft. Mein Bewusstsein schwindet, und ich versinke in kaltem Vergessen.

Willig lasse ich die Dunkelheit über mir zusammenschlagen, erfüllt von dem Wunsch zu fliehen, während vierundzwanzig Teile von mir in goldener Trauer auf dem Boden verwelken. Zitternd liege ich da, mit blutendem Rücken und tränenden Augen, in dem Wissen, dass ich nie mehr vollständig sein werde.