Kapitel 46

Auren

N ein .

Seine Worte erschüttern den Boden unter meinen Füßen. Die Alarmglocken in meinen Ohren tönen lauter, als es die von Hohenläuten jemals getan haben.

Midas kann nicht Barden Ost sein. Das ist einfach nicht möglich. Denn das würde bedeuten, dass ich direkt in die Arme des Mannes gerannt bin, vor dem ich geflohen bin. Ich habe mich freiwillig jemandem geschenkt, der andere mit Zwang genommen hat. Der sie benutzt und verkauft hat, sie zu seinem eigenen Vorteil behandelt hat wie jede beliebige Ware.

Ich schüttele verzweifelt den Kopf, obwohl ich bereits weiß, dass er die Wahrheit sagt. «Das ist unmöglich.»

«Ich war Barden Ost.»

Etwas in mir zerbricht, und ein scheußliches Geräusch dringt aus meinem offenen Mund – aus meiner zerrissenen Seele.

«Wie

Midas lässt den Wein im Pokal kreisen, tippt sich sechs Mal an den Kragen. «Es war nicht allzu schwer, mir einen Platz als Unterweltgröße in Derforthafen zu sichern. Dort gab es jede Menge Kleinkriminelle, die dringend einen guten Anführer brauchten – zu dem ich geworden bin. Ich habe eine Gelegenheit gesehen und sie ergriffen», fügt er mit einem Achselzucken hinzu. «In diesem Hafen wurden so viele Waren umgeschlagen. Sobald ich das Territorium übernommen hatte, bekam ich Zugriff auf Ressourcen aus fast jedem Königreich. Ich habe Reichtum erworben, mir einen Ruf aufgebaut, konnte unzählige Leute nach meiner Pfeife tanzen lassen.»

Ich höre ihn, doch seine Worte fallen in eine leere Höhle, in der einmal meine Emotionen gewohnt haben. Ich bin betäubt, verwirrt, zu schockiert, um zu reagieren.

«Aber nach einigen Jahren überwog die Langeweile. Außerdem war ich es wirklich leid, dass alles immer nach Fisch stank.» Midas verzieht angewidert die Lippen. «Ich wollte mehr – mehr Macht, mehr Reichtum, mehr Chancen. Und ein angenehmeres Revier.»

All diese Jahre, seit so langer Zeit … Ich habe ihm vertraut. Habe ihm von Derforthafen erzählt und wozu ich dort gezwungen wurde. Er hat vorgegeben, nichts zu wissen. Hat vorgegeben, mit mir zu leiden. Aber die ganze Zeit über war er der Konkurrent meines Besitzers. Der Auslöser für meine letztendliche Flucht.

Meine Füße sind mit dem Boden verwachsen. Ich kann mich nicht von der Wahrheit abwenden, die Midas mir prahlerisch entgegenspuckt.

«In gewisser Weise war deine Flucht der Anstoß, den ich brauchte. Ich habe beschlossen, dir zu folgen, um dich zurück nach Derforthafen zu bringen. Ich wollte es Zakir unter die Nase reiben und ein Exempel für alle anderen statuieren, die an Flucht dachten.»

Ich starre ihn an, doch ich kenne den Mann nicht, der vor mir steht. Es ist, als hätte er eine Hautschicht nach der anderen abgelegt, bis die Krankheit darunter sichtbar wird – die schwärende Verderbnis in ihm, die ich bisher irgendwie übersehen habe.

«Du warst verschwunden, und es hat mich einige Mühe gekostet, deine Spur aufzunehmen. Aber irgendwann habe ich faszinierende Geschichten von den anderen Vagabunden auf der Straße gehört. Gerede darüber, dass eine Räuberbande reiche Beute in einem winzigen Dorf namens Carnith gemacht hat … und von einem Mädchen, das vor dem Wüstensand glänzte wie ein Goldstück.»

Mein Atem stockt, als hätte man ein Seil um meinen Hals geschlungen. «Du bist mir nach Carnith gefolgt?»

«Natürlich. Und die Götter haben auf mich herabgelächelt, denn genau dort hat sich deine Macht manifestiert. Es wurde klar, dass du nicht einfach nur ein angemaltes Mädchen warst, perfekt für den Fleischhandel. Du warst so viel mehr

Tränen steigen in meine Augen, während seine Worte mich innerlich aushöhlen. Alles war eine Lüge. Von Beginn an.

Er war erst ein Verbrecher, dann ein Retter, dann ein König . Und ich habe ihm meinen Körper geschenkt, obwohl er die Körper von anderen für Profit verkauft hat. Allein der Gedanke an all die Male, wo er mich und ich ihn berührt habe, verursacht mir Übelkeit.

«Ich bin ein Planer, Auren», sagt Midas, während er mich dabei beobachtet, wie ich in den Schatten versinke, die Hände in meinem Haar vergraben. «Du warst genau das, was ich brauchte, um mehr zu erreichen. Um voranzukommen. Die große Göttlichkeit hat es so bestimmt.»

Er stellt den Weinpokal ab. Ich wirbele herum, und meine Welt wirbelt mit mir.

«Irgendwann habe ich dich eingeholt, in diesem winzigen Weiler, in den du nach Carnith geflohen bist», erklärt er fast beiläufig. «Ich habe meine Männer in zwei Gruppen geteilt, damit einige von ihnen sich als Räuber ausgeben. Die eine Hälfte von uns hat angegriffen, die andere hat die Dorfbewohner verteidigt. Danach habe ich dafür gesorgt, dass sie sich alle gegenseitig umbringen, indem ich Konflikte über die Verteilung der Beute anzettelte», fügt er mit einem Achselzucken hinzu. «Ich konnte nicht zulassen, dass einer von ihnen von deiner Magie berichtet oder mich als Barden Ost aus Derforthafen identifiziert. Weil ich vorhatte, diesen Namen abzulegen. Weil mir klar geworden war, dass Prinzessin Malina einen Thron besaß, aber keine Magie, um ihn zu behalten. Das Sechste Königreich war verschuldet und brauchte einen König, also habe ich ihm einen König geliefert. Es war so vorherbestimmt. Ich hatte immer eine Schwäche für die Zahl Sechs», fügt er hinzu, sein Ton erfüllt von kranker Arroganz.

Mir ist so schwindelig, dass ich fürchte, bewusstlos zu werden. Aber es gelingt mir, mich in einen Stuhl fallen zu lassen und nach Luft zu schnappen. «Du hast mich nie gerettet.» Ich spreche die Worte laut aus, doch eigentlich sind sie für mich bestimmt. Sie sind ein Riss, der sich durch die Grundmauern meines Lebens zieht, der meine Vergangenheit bis zur Unkenntlichkeit spaltet.

Midas sieht zufrieden aus, und vielleicht ist es sogar das, was mich am meisten trifft. Diese selbstzufriedene Miene. Als hätte er zehn Jahre darauf gewartet, mir endlich die Wahrheit sagen zu können.

Dieses erste Treffen, als er mich rettete, hat dafür gesorgt, dass ich ihm vertraute. Es war der Boden für meine nächsten schüchternen Schritte. Ich habe Midas als eine Art Erlöser gesehen. Aber selbst das hat er orchestriert. Er hat mich von Anfang an manipuliert, schon bevor wir uns das erste Mal wirklich begegnet sind.

Er hat mich dazu gebracht, ihm zu vertrauen, ihn zu lieben. Er hat sich als mein Held präsentiert, obwohl er die ganze Zeit über der wahrhaft Böse war.

Midas kommt näher, ragt über mir auf, als koste er den Moment aus, als wolle er mein Entsetzen aus mir wringen und in sich aufsaugen. «Mir gehörte ein halber Hafen. Mein Geschäftsmodell war unglaublich lukrativ. Aber als mir klar wurde, dass du die passende Magie zu dieser goldenen Haut besitzt, erkannte ich, dass ich ein ganzes verdammtes Königreich besitzen konnte.» In Midas’ Augen glänzt die Gier, die ihn von innen heraus zerfrisst. «Und jetzt … jetzt gehört mir nicht nur eine halbe Stadt, sondern die Hälfte von Orea

Mein Magen verkrampft sich schmerzhaft. «Noch nicht.»

Seine Augen blitzen. «Das wirst du nach dem heutigen Abend nicht mehr sagen.»

Ich habe keine Ahnung, was er damit andeuten will, und ich bekomme keine Gelegenheit, nachzufragen. Midas beugt sich vor, direkt vor mein Gesicht, und mustert mich kühl. Abschätzend. «Weißt du, wir hätten weitermachen können wie bisher. Du hättest zumindest die Illusion von Freiheit genießen können, aber diese Chance hast du verwirkt.»

Sein Ton ist entschieden. In seiner Stimme höre ich die Autorität, die er gestohlen hat. Und ich höre auch etwas Grausames.

«Du wirst von nun an nicht einfach in einem Käfig gefangen sein, Auren. Ich werde dich in deinem eigenen Kopf gefangen halten. Ich werde dich mit Tau gefügig machen und dir deine Magie absaugen, bis zu dem Tag, an dem du stirbst. Und selbst dann werde ich dir noch das letzte goldene Haar ausreißen und das Gold von deiner Haut kratzen. Weil du mir gehörst und ich dich benutzen kann, wie auch immer ich will.» Ich spüre seinen Atem im Gesicht, rieche den Wein, den er getrunken hat, und frage mich, wie ich mir je habe einbilden können, dieser grausame Mann würde mich lieben.

Und als wäre all das, was er sagt und tut, nicht schon grausam genug, richtet Midas sich auf und schiebt eine Hand in die Hosentasche. Als er sie wieder herauszieht, liegt ein goldenes Band zusammengeknüllt darin.

Mein gesamter Körper gefriert. Tränen steigen in meine Augen, als ich mein verstümmeltes Band sehe und die kleinen goldenen Blutstropfen an einem Ende, wie abgekühlte Wachstropfen an einer Kerze.

Ein Schluchzen steigt in meine Kehle, als ich den goldenen Streifen anstarre, dieses Stück von mir, das jetzt zerstört in Midas’ Hand liegt. Meine Augen brennen, dann kriecht die Hitze über meinen Rücken, als empfinde jeder verstümmelte Ansatz dort die Schmerzen der Trennung neu.

Betäubt beobachte ich, wie er die Länge um meine Handgelenke bindet, als wäre ich ein Beutetier in seiner Falle. Ich kann mich nicht wehren, denn … das bin ich. Das ist nicht einfach irgendein seelenloses Seil, mit dem er mich gefesselt hat. Es ist die ultimative Manipulation, eine widerliche Perversion von Kontrolle.

Er bindet einen festen Knoten, sodass das weiche Band schmerzhaft in meine Haut schneidet. So als wäre es eine Strafe dafür, dass ich es überhaupt verloren habe. Dafür, dass ich nicht stark genug war, um mich diesem Mann zu widersetzen, der mich zerhackt, mich ausgesaugt, mir alles gestohlen hat.

Wie viel von mir will er noch nehmen?

«Alles, Auren. Ich werde alles nehmen.»

Ich mustere ihn mit tränenverhangenem Blick, weil mir nicht mal bewusst war, dass ich die Worte laut ausgesprochen habe.

Midas richtet sich auf, rückt die Krone auf seinem Kopf perfekt gerade, dann mustert er mich leidenschaftslos, ohne die Tränen zu beachten, die auf meine gefesselten Hände fallen.

«Bleib hier, oder ich zerre deinen Liebhaber aus dem Verlies und töte ihn vor deinen Augen.» Er schnurrt die Worte beinah, doch die Drohung in seinem Tonfall ist trotzdem deutlich zu hören. «Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss einen Trinkspruch ausbringen. Genieß die Vorstellung, mein Schatz.»

Mein Blick bleibt auf das Band gerichtet, auch nachdem Midas den Balkon verlassen hat. Im Saal wird eine Ballade gespielt, doch ich höre die Musik nicht. Ich starre unablässig das Gold an, das Midas verwendet hat, um mich zu fangen. Währenddessen ballt sich die Wahrheit darüber, wer er war und ist – damals und heute –, in meinem Kopf zusammen wie Gewitterwolken.

Als ich aus Derforthafen geflohen und auf dem Schiff mit den himmelblauen Segeln über die Weywicksee gefahren bin, gab es auf der ganzen Reise nur einen Sturm.

Nur einen.

Er brach nicht nachts über uns herein. Es gab keine Dunkelheit, die das Meer verschlungen und den Eindruck erweckt hat, wir segelten über Sternenlicht und finstere Wolken.

Nein, dieser Sturm rollte zur Mittagsstunde heran, als die milchig-trübe Sonne hoch am Himmel stand, in zwei Teile gespalten von dichten Wolken.

Ich hätte unter Deck gehen sollen, als der Sturm über uns hereinbrach, aber das tat ich nicht. Vielleicht konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dort unten gefangen zu sein. Eingesperrt in diesem engen Raum von der Größe eines Schrankes, eingerichtet mit einer Hängematte als Bett und einem Eimer für den rebellierenden Magen.

Aber ich glaube, in Wirklichkeit wollte ich die tobende Luft spüren.

Also blieb ich dort oben an Deck, unter einem gescheckten Himmel, der weder hell noch dunkel war und doch beides gleichzeitig. Breitbeinig stand ich da, mit leicht gebeugten Knien, und klammerte mich mit aller Kraft an die Reling, während mir der Wind das Haar in mein Gesicht peitschte.

Das Schiff schwankte hin und her wie eine Wiege kurz vor dem Umfallen. Wütende Wellen schwappten über das Deck wie die Angriffe eines zornigen Meeresgotts. Ich konnte entfernt die Rufe der kleinen Mannschaft hören, ehe die Geräusche vom heulenden Wind entrissen und über das Wasser getrieben wurden.

Doch selbst erfüllt von der Angst, dass ich über Bord geschleudert werden oder das Schiff einfach zerbrechen und vom Meer verschlungen werden könnte, bewunderte ich dennoch den tosenden Sturm. Empfand Ehrfurcht angesichts dieser Macht, die einen klaren Tag mit glatter See genommen und in ein zerstörerisches Chaos verwandelt hatte.

Was auch immer mich an diesem Tag angetrieben hat, ich war da, um zu sehen, wie der Blitz auf das Wasser traf. Ich konnte bezeugen, was geschieht, wenn eine Naturgewalt entfesselt wird.

Der Blitz war ein gezackter Pfeil, der aus dem Bug einer Wolke schoss. Er traf die schäumenden Fluten, und elektrisches Knistern fegte über die Wasseroberfläche, als hätte er das Meer gespalten.

Und so fühle ich mich auch jetzt.

Als klammere ich mich mit aller Macht fest, während dichte Wolken in mir heranwachsen, genährt von dem Dunst aus Midas’ Enthüllungen. In meinen wirbelnden Gedanken hat sich ein Sturm gebildet, bereit, die wilden Wellen in mir zum Tosen zu bringen. Bereit, einen todbringenden Blitz auszusenden.

Ich habe der Gewalt des Sturms nichts entgegenzusetzen.

Mein Blick gleitet ein letztes Mal über das Band, bevor ich aufstehe, die Hände vor dem Körper verschränkt, als würde ich beten. Ich gehe zum Rand des Balkons und schaue nach unten; sehe Midas zusammen mit Königin Kaila und Prinz Niven auf dem Podium, vor ihnen tummeln sich Oreaner, verstreut wie farbenfrohes Konfetti.

Doch da … da drängt sich Slade durch die Menge wie ein Armbrustbolzen.

Sobald ich ihn erspähe, hält er abrupt an und sieht auf, schaut mir in die Augen, als hätte er meinen Blick gespürt.

Ein Schluchzen schnürt mir die Kehle zu. Obwohl er so nah ist, fühlt es sich an, als wäre er weit weg.

Trotz der Entfernung zwischen uns wirkt es, als könne er alles genau sehen, denn etwas Wildes zuckt über sein Gesicht. Etwas Wütendes. Um meinetwillen.

Mit finsterer Miene setzt er sich wieder in Bewegung, ohne den Blick von meinem Gesicht abzuwenden.

Er kommt mich holen.

Doch sein Vorankommen wird gestoppt, als Midas’ Stimme den Lärm durchschneidet. «Zeit für den königlichen Trinkspruch! König Ravinger, würdet Ihr Euch uns anschließen?»

Slade verharrt, als die Leute sich zu ihm umdrehen, auch wenn sie Abstand halten. Für einen Augenblick zögert er, was dafür sorgt, dass die Menge zwischen Midas und ihm hin- und herblickt.

«König Ravinger?», hakt Midas nach.

Selbst von hier oben kann ich erkennen, dass Slade die Zähne zusammenbeißt. Für einen kurzen Moment huscht sein Blick erneut zu mir, und ich schenke ihm ein kleines, aufforderndes Nicken. Erst da dreht er sich widerwillig um und geht zurück.

Er schließt sich den anderen drei Monarchen auf dem Podium an. Midas steht in der Mitte, Königin Kaila zu seiner Linken, Niven zu seiner Rechten. Slade wählt den Platz direkt neben Niven. Ein Sattel eilt heran, um den Herrschern goldene Trinkpokale zu servieren. Die Menge wogt, als alle sich beeilen, sich ebenfalls ein Getränk zu sichern.

Ich weiche zurück, verberge mich in den Schatten des Balkons.

Sobald alle ein Getränk haben, verkündet Midas: «Hebt Eure Gläser!» Von meinem Platz aus kann ich beobachten, wie sie die Hände in die Höhe recken. «Lasst uns auf die Einheit unserer Königreiche anstoßen!», ruft Midas mit stolzem Lächeln. «Auf Orea!»

«Auf Orea!», wiederholen alle, dann werden Gläser an Münder geführt, und Wein wird runtergekippt, bevor Jubel und Applaus durch den Saal branden.

Wäre mein Blick nicht so unverwandt auf Slade gerichtet gewesen, hätte ich vielleicht übersehen, was als Nächstes geschieht. Doch ich bemerke, wie Slade die Stirn runzelt, bevor er den Kopf dreht, um Prinz Niven anzusehen. Ich folge seinem Blick. Auch ich ziehe die Brauen zusammen, dann verstehe ich, dass etwas nicht stimmt.

In einem Moment trinken und jubeln alle, aber plötzlich entgleitet der Pokal Prinz Nivens Hand und fällt mit einem Klirren zu Boden.

Die Leute vor dem Podium zucken zusammen. Schnell wird klar, dass hier mehr vor sich geht als eine Ungeschicklichkeit.

Prinz Niven schlägt die Hände an die Kehle, seine Augen vor Angst weit aufgerissen. Aus der Menge erklingt ein schriller Schrei.

Der Prinz stolpert und in Purpur gekleidete Ranhold-Soldaten stürmen nach vorne. Panisch gleiten die Hände des Prinzen über seinen Hals, auf dem jetzt schwarze Linien aufsteigen, bis sie seine Wangen erreichen.

«Oh nein …» Mein Flüstern wird von den Schreien im Saal übertönt, als dunkler Schaum sich vor den Lippen des jungen Prinzen bildet.

«Gift! Der Prinz ist vergiftet worden!», kreischt jemand.

Entsetzt beobachte ich, wie Niven auf die Knie fällt, zu schnell, als dass seine Wachen ihn auffangen könnten.

«Heiler! Wo ist der königliche Heiler!», ruft Midas gebieterisch.

Ein grauhaariger Mann in purpurfarbener Robe und einem roten Band am Arm eilt heran und sinkt vor dem Prinz auf die Knie. Von meinem Aussichtspunkt kann ich gut erkennen, wie der Heiler seine Hände zitternd über Nivens Brust gleiten lässt, das Ohr vor Nivens Mund schiebt.

Midas drängt sich an seinen eigenen Wachen vorbei, um sich neben den Heiler zu hocken. Königin Kaila hält sich zurück. Ihr Bruder steht vor ihr wie ein Schild. Soldaten decken ihr den Rücken.

Angespannte Verwirrung erfüllt den Saal. Teile der Menge drängen nach vorne, um mehr zu erkennen, andere Leute ziehen sich zurück. Doch ich kann den Moment ausmachen, als Prinz Nivens Körper unnatürlich still wird.

Bestürzung versteift meine Schultern und verkrampft mir den Magen, als ein grimmiger Ausdruck auf die Miene des Heilers tritt und er mit einem Kopfschütteln zu Midas aufsieht, eine Wand aus Ranhold-Wachen hinter sich.

Als Midas sich erhebt und so dafür sorgt, dass die Wachen zurücktreten, keucht die Menge bei Nivens Anblick. Ich kann es ihnen nicht übel nehmen. Grau hat die jugendliche Röte aus seinen Wangen verdrängt, seine Brust bewegt sich nicht und vor seinem Mund klebt Schaum in der Farbe von Schlamm. Doch das Schlimmste sind diese Adern, schwarz wie die Nacht, die sich von unten herauf über seinen Hals ziehen.

Mit zitternden Händen umklammere ich das Geländer. Grauen umgibt mich wie dichter Nebel. Ich weiß bereits, was der Heiler sagen wird, bevor er sich auch nur erhoben hat.

«Der Prinz ist tot!»