4. Der universale Friede ist nicht transzendent, sondern irdisch-gesellschaftlich. Er wird deshalb ganz realistisch beschrieben: die Schwerter werden zu Pflugscharen umgeschmiedet, nicht im metaphorischen, sondern im wörtlichen Sinn. Die Menschen, die bisher gegeneinander die Hand erhoben, werden in Zukunft „mit einer Schulter“ (Image, Zef 3,9) JHWH dienen und sich gemeinsam für das Wohl aller einsetzen.

5. Der Friede, der in seiner universalen Gestalt in der Zukunft eintreten wird, soll in Israel schon jetzt beginnen. Denn während die Nationen sich erst noch entschließen müssen, nach Jerusalem zu wandern, ist das Gottesvolk bereits in der Lage, nach der Friedensordnung der Torah zu leben. „Die Jahwegemeinde beginnt jetzt schon den Weg, der für die kommende Zeit allen verheißen ist: Sie schmiedet bereits jetzt ihre Schwerter um und bildet bereits jetzt niemanden mehr aus für den Krieg.“1446

Der einzige Text, der noch später als Jes 2 entstanden sein könnte, ist die in dem „apokalyptischen Jesajabuch“ überlieferte Prophezeiung 25,6 –8. Dazu würde passen, dass sie nicht mehr auf die Reise und deren Motive eingeht, sondern die Anwesenheit der Nationen auf dem Zion voraussetzt. Wenn man davon ausgeht, dass diese in 2,1–5 nicht in ihre Länder zurückkehren, ließe sie sich sogar als dessen Fortsetzung betrachten: ein Festbankett, das JHWH denen bereitet, die seine Weisung angenommen und verwirklicht haben. Die Vernichtung des Todes, das Abwischen der Tränen hätten dann einen konkreten Anhaltspunkt. Wenn die Menschen in Frieden zusammenleben, wird ja nicht mehr getötet und gibt es keine (zumindest nicht mehr so viele) Gründe zum Weinen.

Allerdings besteht der Zweifel, ob dieses Orakel überhaupt Heil und nicht vielmehr Unheil verheißt. In jedem Fall fehlt eine positive Reaktion von Seiten der Völker, ja, sie bleiben passiv wie nirgendwo sonst. Auch ein Miteinander, eine irgendwie geartete Beziehung zwischen Israel und den gojim lässt sich nicht erkennen. Das Mahl wird nur den fremden Völkern zugerichtet, und indem das geschieht, wird Israels Schande weggenommen, so dass es ein Danklied singen kann. Was auf dem Gipfel des Bergs wirklich geschieht, bleibt im Dunkeln. An seinem Fuß aber wird das hochmütige Moab bestraft und in den Staub getreten (v.10b–12).

2.9. Die Völkerwallfahrt, globalisierte Israelwallfahrt oder invertierter Völkersturm?

Am Ende des diachronen Durchgangs durch die jesajanischen Völkerwallfahrtstexte müssen wir noch einmal auf die Frage nach der Herkunft des Motivs zurückkommen. Könnte die Vorstellung als eine globalisierte Israelwallfahrt entstanden sein? Das heißt, könnte die in Israel übliche Wallfahrtspraxis prophetisch auf die anderen Nationen ausgeweitet und in die Zukunft verlegt worden sein? Hans-Joachim Kraus hat diese These schon 1958 vertreten: „In Israel war es üblich, dass die Stämme des Zwölfstämmeverbandes alljährlich zu den großen Festen in das zentrale Heiligtum ziehen. Jerusalem ist der Ort der Gegenwart Gottes. Hier empfangen die Glieder des Gottesvolkes das Gottesrecht und das Gotteswort. Streitigkeiten werden im zentralen Heiligtum geschlichtet. Diesen Vorgang sieht der Prophet nun auf die ganze Völkerwelt erweitert und ausgedehnt.“1447

Ein derartiger Zusammenhang lässt sich jedoch in keinem der elf Orakel greifen. Eine Alijat regel, d. h. ein Pilgerzug zum Tempelberg wird nur in 30,29 und vielleicht in 66,20 erwähnt, sicher eine zu schwache Textgrundlage, um daraus die Vision der Völkerwallfahrt abzuleiten. Tatsächlich dürfte es, wie die historische Forschung zeigt, in der vorhasmonäischen Zeit überhaupt keinen institutionalisierten Wallfahrtsbetrieb zum Zentralheiligtum gegeben haben.1448 Gegen die Herleitung von den drei Pilgerfesten spricht schließlich auch, dass Jes 66,23 den Völkerzug mit dem Schabbat und dem Neumond, nicht aber wie Sach 14,16 –19 mit dem Sukkotfest verbindet.

Wenn nicht eine globalisierte Israelwallfahrt, könnte die Völkerwallfahrt dann ein invertierter Völkersturm sein? Das heißt, könnte das literarische Motiv der Völker, die gegen Jerusalem streiten, umgekehrt und in eine Pilgerreise verwandelt worden sein? Die Feststellung, mit der Oliver Dyma seine Ausführungen eröffnet, kann als repräsentativ für den derzeitigen Forschungsstand gelten: „Die Erwartung der Völkerwallfahrt stellt die positive Transformation des Völkersturmes dar: Nicht mehr in feindlicher, sondern in friedlicher Absicht werden die Völker zum Zion kommen.“1449

Diese These hat den Vorteil, dass sie sich literargeschichtlich gut situieren lässt. Die biblische Völkersturmtradition ist nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit in der assyrischen Zeit entstanden, als Reaktion auf die imperiale Politik und Ideologie Assurs, während deren positives Gegenbild in die exilische und nachexilische Zeit zu datieren ist. Für die Umkehrung des negativen in ein positives Völkerkonzept werden folgende Gründe angeführt: die Erfahrung der Zerstörung Jerusalems und der Exilierung, die Entfaltung eines exklusiven Monotheismus, die tolerante Religionspolitik des persischen Großreichs.1450 Dabei muss der erste Grund noch präzisiert werden.1451 Die tragischen Ereignisse haben nicht etwa das Urteil über die Fremdvölker verändert, sie haben vielmehr die Hoffnung hervorgebracht, die Stadt werde aus ihren Trümmern wiedererstehen und die Deportierten würden heimkehren. Dazu müssten dann auch, um ihr Unrecht wiedergutzumachen, die Nationen einen Beitrag leisten.

Dieser komplexen Situation muss der literargeschichtliche Vergleich Rechnung tragen. Er muss vor allem beachten, dass „Völkerwallfahrt“ kein einheitliches Konzept ist. Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Ausprägungen eines Grundmotivs oder, noch richtiger, um unterschiedliche Motive, die eine gemeinsame Grundstruktur aufweisen. Ein direkter Umschlag vom Kampf gegen den Zion zur Wallfahrt zum Zion, wie ihn die späte, hellenistische Vision von Sach 14 schildert, ist im Jesajabuch jedenfalls nicht zu finden.

Dagegen lässt sich an einigen Beispielen das Phänomen belegen, dass einzelne Bilder und Begriffe von der einen in die andere Tradition übernommen wurden. Das Signal Image, mit dem in 5,26 die Assyrer gerufen werden, damit sie das ungehorsame Gottesvolk bestrafen, wird in 49,22 zum Befehl, die Deportierten Israels herbeizubringen. Die Herrlichkeit Image des assyrischen Königs, der in 8,7 das Land Juda überschwemmt, wird in 60,12 zu der Herrlichkeit JHWHs, die über Jerusalem erstrahlt, so dass die übrigen Nationen herbeiströmen. Das Getöse Image, das in 17,12 und 29,78 den Angriff der Völker begleitet, und das Heer Image, das Sanherib in 36,2 gegen Jerusalem sendet, werden in Jes 60 zu einer Fülle von Schätzen, die die ausländischen Zionspilger bringen.

So ist die generelle Behauptung, die jesajanische Völkerwallfahrtsidee sei als Umkehrung des Völkersturms entstanden, zwar abzulehnen. Das schließt aber nicht aus, dass bei ihrer Ausformulierung sprachliche Elemente aufgegriffen wurden, die bis dahin negativ besetzt waren. Dass die Nationen friedlich nach Jerusalem kommen, ist in jedem Fall eine Kontrastvision, die der Autor der gegenwärtigen Erfahrung seiner Leser entgegenhält, um sie auf eine neue, von Gott geplante und anfanghaft ermöglichte Realität aufmerksam zu machen.

3. Die Verheißung der Völkerwallfahrt in der leserorientierten Perspektive

3.1. Implizite und reale Leser

Prophetische Texte, Anklagen, Gerichtsandrohungen, Heilsverheißungen erhalten ihre volle Bedeutung erst, wenn sie rezipiert, also gehört oder gelesen werden. Sie wollen ja nicht nur kognitive Inhalte vermitteln, sondern das Denken und Handeln ihrer Adressaten verändern. Der Sinn der prophetischen Orakel liegt, deutlicher als bei anderen literarischen Formen, weniger „in“ oder „hinter dem Text“ als vielmehr „vor dem Text“; erst in den Hörern bzw. Lesern erfüllt sich, was sie verheißen.1452

Die text- und autororientierte Auslegung muss deshalb durch eine Lektüre ergänzt werden, die den Leser in Blick nimmt und danach fragt, wie er den Text rezipiert.1453 Dabei ist zunächst die Rolle des impliziten Lesers zu klären, der von dem impliziten Autor angesprochen wird. Er ist die Figur, mit der sich die realen Leser, all diejenigen also, die das Jesajabuch im Laufe der Geschichte lesen (einschließlich des Exegeten selbst) identifizieren sollen.

Auch wenn der implizite Leser in allen Texten präsent ist, tritt er in einigen doch stärker hervor. Dies ist insbesondere in den Reden der Fall, in denen er direkt angesprochen wird. Syntaktisch kann diese Anrede unterschiedlich gestaltet sein. Der Sprecher, in der Regel Gott oder der Prophet, kann die „Ihr“-Anrede verwenden, wenn er eine Vielzahl einzelner Personen ansprechen will. Er kann zum „Du“ übergehen, wenn er betonen will, dass diese eine kollektive Größe, eine Gemeinschaft bilden. Schließlich kann er sich der „Wir“-Form bedienen, wenn er sich mit seinen Adressaten zusammenschließen will.1454 Die Vorwürfe und die Appelle erhalten dadurch eine besondere Intensität. Sie richten sich dann nämlich nicht mehr an andere, Dritte, sondern an „uns“, d. h. an „die Gemeinde, zu der sowohl die impliziten Zuhörer als auch der implizite Autor des Textes gehören.“1455

In den meisten Fällen wendet sich der implizite Autor in seinen Reden an das Gottesvolk: an Israel und Juda, an die Stadt Jerusalem, an die Diasporagemeinde und deren jeweilige Mitglieder. Doch werden auch ausländische Völker und Städte angeredet. JHWH und sein Knecht können sich mit einem „Ihr“ an die Nationen wenden, um sie zur Einsicht und Umkehr aufzurufen (vgl. 45,18–25; 49,1–6). Die personifizierte Hauptstadt des babylonischen Reichs kann wie Zion mit einem femininen „Du“ angesprochen werden (Kap. 47). Nicht einmal das „Wir“ ist für das jüdische Volk reserviert. Auch andere Gruppen können es verwenden, um zu erklären, was sie in der Vergangenheit getan haben oder in der Zukunft tun wollen.1456

Durch die direkte Anrede der Gottes- und Prophetenreden werden im Jesajabuch also zwei implizite Leser konstituiert: Israel, das JHWH-Volk, das auf dem Zion wohnt (vgl. 12,6), und die fremden, nichtisraelitischen Nationen, die zum Zion kommen, um JHWH kennenzulernen. Beide können mit „Ihr“ und „Du“ angesprochen werden, und beide können das Wort ergreifen und im „Wir“-Stil von sich erzählen.

Bei dieser letzten Redeform ist dann aber doch ein wichtiger Unterschied festzustellen, der in den beiden Ausrufen Image (2,3) und Image (2,5) besonders deutlich wird. Denn obgleich diese grammatikalisch identisch sind, erfüllen sie doch eine ganz andere literarische Funktion. Der erste Appell ist Teil einer Rede, die die Nationen in der Zukunft halten werden. Sie sprechen zueinander und meinen mit „Wir“ sich selbst. Den zweiten Appell richtet der Prophet im gegenwärtigen Augenblick an seine Hörer. Mit „Wir“ meint er sich und das Haus Jakob, dem er angehört. Er und das israelitische Volk bilden zusammen die Gemeinde, die sich von Jes 1,9 („Hätte JHWH der Heere uns nicht einen kleinen Rest gelassen…“) bis zum Ende des Buches immer mehr als eine Gemeinde von Überlebenden profiliert.1457

Dass sich der Autor (der textinterne „Jesaja“) nicht in gleicher Weise mit den aus den anderen Nationen kommenden Adressaten zusammenschließen kann, ist verständlich. Es gibt keine Gemeinschaft, die sie und ihn umfassen, kein gemeinsames Kriterium, das sie und ihn zu einem „Wir“ verbinden könnte. Zweifellos hängt das auch mit der Unmöglichkeit zusammen, sich vorzustellen, dass irgendjemand die Position dieses impliziten Lesers übernehmen könnte. Der Gedanke, dass ein Nichtjude das hebräische Jesajabuch liest und sich mit der Figur der dort erwähnten „Heidenvölker“ identifiziert, dürfte dem Verfasser fern gelegen haben. Seine Intention war nicht, auf die gojim unmittelbar einzuwirken.Vielmehr wollte er ausmalen, wie jene zukünftig handeln könnten, um den Glauben und die Zuversicht seiner jüdischen Zuhörer zu stärken und bei ihnen für eine offene, positive Einstellung gegenüber ausländischen Gottsuchern zu werben.

Das nicht Vorhergesehene ist in der Rezeptionsgeschichte eingetreten: Die jesajanischen Verheißungen wurden, wie die Auslegungen der mittelalterlichen Exegeten in aller Klarheit zeigen, nicht nur von einer, sondern von zwei Lesegemeinschaften rezipiert: von der jüdischen Gemeinschaft, die sich in dem von Jesaja angesprochenen „Haus Jakob“ wiederfand und in der Tat durch eine ununterbrochene Kette von Generationen mit diesem verbunden ist, und von der christlichen Gemeinschaft, die in der Zionswallfahrt der Völker wie in einem Spiegel ihr eigenes Zum-Glauben-Kommen wiedererkannte.

Wir können diesen komplizierten Rezeptionsprozess an dieser Stelle nicht im Detail betrachten. Wir können auch nicht näher auf die irrigen Auslegungen eingehen, die Israel als Volk Gottes ersetzen oder dessen Wandeln im Licht JHWHs theologisch verkürzend als Bekehrung zum Christentum verstehen wollten.1458 Uns interessiert vielmehr das Phänomen der doppelten Rezeption als solches. Die Visionen, die über Juda und Jerusalem prophezeit wurden und damit auch für diese, d. h. für deren damalige und spätere Bewohner bestimmt waren, wurden nicht nur von diesen rezipiert. Sie wurden auch von denen, für die sie ursprünglich nicht bestimmt waren, nämlich von den gojim gelesen.

Das bedeutet nicht, dass diese ihnen nichts zu sagen hätten. Im Gegenteil! Es bedeutet aber, dass die ecclesia ex gentibus diese Weissagungen in dem Bewusstsein lesen muss, dass sie auch und zuerst von dem jüdischen Volk gelesen werden. Ihre Lektüre darf, bildlich gesprochen, das Lesen Israels nicht übertönen, muss sich vielmehr wie eine zweite Stimme mit dessen erster Stimme verbinden. Das Ziel müsste eine „zweistimmige“ Lektüre sein, eine Deutung aus der Perspektive zweier Lesegemeinschaften, die unterschiedliche, nicht konträre, sondern komplementäre Sinndimensionen aufdeckt.

3.2. „Auf, lasst uns hinaufsteigen!“ – die Völkerwallfahrt aus der Sicht der Nationen

Was bedeuten die Verheißungen der Völkerwallfahrt für die ausländischen Nationen? Welchen Sinn erhalten sie, wenn sie von Personen gelesen werden, die sich in denen, die von ihrer Geburt her nicht zum jüdischen Volk gehören, wiederfinden?

In den meisten Völkerwallfahrtstexten werden die „Heiden“ nicht direkt angesprochen. Mit Ausnahme von 45,18–25 werden keine Appelle an sie gerichtet, um sie zu einem bestimmten Handeln zu bewegen. Stattdessen wird geschildert, was sie in Zukunft tun werden. Auf diese Weise wird die Botschaft übermittelt: Wenn sich alle Menschen so verhielten, würden auf der Welt Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede herrschen!

Die Nationen werden dabei in erster Linie durch die Aktionen, die sie vollziehen, charakterisiert. Sie befördern die Exulanten nach Jerusalem, bringen Opfer und andere Gaben herbei, werfen sich vor Zion nieder, beten JHWH an usw. Sie werden dann aber auch indirekt beschrieben, indem die Worte zitiert werden, die sie sprechen. Darunter sind Klagen wie in 56,3 – „Sicher wird JHWH mich aus seinem Volk ausschließen!“ – und Bekenntnisse gegenüber Zion wie in 45,14 – „Nur in dir ist Gott.“ – und gegenüber Gott wie in 45,24 – „Nur bei JHWH sind Rettung und Macht.“

Besonders eindrücklich ist die erste Äußerung der nichtjüdischen Nationen in 2,3. In ihr konstatieren diese nicht nur einen Sachverhalt, treffen nicht nur eine Feststellung über andere Personen, sondern fordern sich selbst zum Handeln auf: „Auf, lasst uns aufsteigen zum Berg JHWHs!“ Auch wenn sie danach formulieren, was sie von diesem Gott erwarten – „Er unterweise uns in seinen Wegen“ –, so doch nur, um gleich wieder davon zu sprechen, was sie selbst zu tun gedenken – „damit wir auf seinen Wegen gehen“.

So steht am Anfang der jesajanischen Völkerwallfahrtsorakel das Bild der aufbruchbereiten, lernbegierigen, umkehrwilligen Nationen. Ihre Bereitschaft, zum Zion hinaufzusteigen und sich von einer Gottheit, die sie noch gar nicht richtig kennen, belehren und richten zu lassen, markiert gewissermaßen das „Ende dieser Tage“ und den Beginn der neuen Schöpfung, die Jes 65 und 66 prophezeien. Indem sie „Auf, lasst uns…!“ sagen, wenden sie sich an die empirischen Leser aller künftigen Epochen und laden sie ein, mit ihnen nach Jerusalem zu ziehen. Natürlich nur diejenigen, die sich mit diesem „Wir“ identifizieren können, die also wie die Sprechenden Nichtjuden sind und nicht schon auf dem Zion wohnen.

„Diese Verehrer JHWHs aus den Völkern, in denen sich später die Christen aus dem »Heidentum«, also letztlich auch wir Christen heute, wiederfinden können, werden nicht zu Israel, können Israel schon gar nicht in irgendeiner Weise ersetzen.“1459 Sie treten aber in ein enges Verhältnis zu Israel, indem sie die Identifikationsmöglichkeit annehmen, die ihnen das Jesajabuch in der vielschichtigen Figur der gojim anbietet. Wie diese sollen sie die Einheit des gespaltenen Gottesvolkes fördern und einen Beitrag zum Aufbau und zur Verherrlichung Zions leisten. Sie sollen anerkennen, dass der nicht von Menschen gemachte Gott nur in Israel zu finden ist und dass es außerhalb dieser Geschichte kein Heil gibt. Und sie sollen von dessen Weisung, die ihnen in Jesus aufgeschlüsselt wurde, lernen, untereinander und dann auch unter den anderen Völkern Frieden zu schaffen.

Die Christen, wie wir nun sagen dürfen, sollen also einsehen, dass ihre erste Berufung darin liegt, dem Volk des Sinai-Bundes zu Hilfe zu kommen. Wenn sie das aber tun und auf diese Weise „an Seinem Bund festhalten“ (vgl. 56,6), dann kann auch niemand mehr behaupten, dass sie nicht zu dem Volk JHWHs gehören. Vielmehr dürfen sie den „heiligen Berg“ betreten, um zusammen mit dessen Bewohnern Gott anzubeten und ihm zu dienen.

3.3. „Auf, lasst uns gehen!“ – die Völkerwallfahrt aus der Sicht Israels

Die heidnischen Nationen sind zwar die Hauptfiguren der Völkerwallfahrtsorakel, doch ohne das Volk Israel fehlte diesen ein wesentliches Element. Ein Pilgerzug zu einem menschenleeren Zion hätte keinen Sinn, ja, er würde gar nicht erst zustande kommen. Denn ohne den Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde wüssten die fremden Nationen nichts von dem einen Gott und seiner Lebensordnung. Sie wüssten nicht, dass es ihn gibt, und selbst wenn sie ihn suchten, wüssten sie nicht, wo er zu finden ist.

So wenden sich diese Verheißungen auch an das „Volk, das auf dem Zion wohnt“ (vgl. 10,24; 30,19). Was für ein Volk ist das aber? Welches Israel-Bild vermitteln diese Visionen? Welche Einstellung, welche geistige Disposition und welches gläubige Tun wollen sie in ihren Rezipienten, den einstigen und heutigen Angehörigen des Gottesvolks erwecken?

Die grundlegende Intention wird gleich am Anfang formuliert: „Auf, lasst uns gehen im Licht JHWHs!“ Wie diese beiden Prozesse – die Suche der Nationen nach dem Gott Jakobs und das torahgemäße Leben des Hauses Jakob – zusammenhängen, wird dabei nicht im Letzten geklärt. Die Israeliten könnten den an sie gerichteten Appell so verstehen: „Wir müssen zu einer gerechten Gesellschaft werden, damit das beginnen kann, was Gott in den künftigen Tagen herbeiführen will.“1460 Eher aber noch so: „Wenn schon Fremde nach Jerusalem kommen, um unseren Gott kennenzulernen und zu verehren, um wieviel mehr müssen wir die Gabe, die wir empfangen haben, pflegen und unser Leben von der göttlichen Weisung bestimmen lassen.“ Denn nach der Torah zu leben ist für sie nicht Mittel zum Zweck („…damit die Völker sich bekehren“), sondern der eigentliche Zweck ihrer Erwählung. Das wird in der Micha-Variante hervorgehoben: „Auch wenn alle Völker, jedes im Namen seines Gottes gehen, wir werden im Namen JHWHs, unseres Gottes, gehen…“ (Mi 4,5).

Anders als Micha hält Jesaja an der Erwartung fest, dass alle Menschen sich zu JHWH bekehren werden. Er will seine Leser nicht in der trotzigen Selbstbehauptung, sondern in der Zuversicht bestärken, dass die Nationen irgendwann ihren Irrtum einsehen und ihre Feindschaft aufgeben werden. In seinen Völkerwallfahrtsvisionen entwirft er also nicht nur Modelle für das potentielle Handeln der gojim, er formt gleichzeitig die Gemeinde, die jene auf dem Zion antreffen sollen. Israel soll das Unausdenkbare für möglich halten und damit rechnen, dass es unter ihnen als Zeuge des einen Gottes und als Verkünder seiner Gebote wirken kann und dass diese sich ihm zuwenden werden (vgl. 55,5); dass sie seine Verbannten zurückbringen, mit ihren Schätzen die Gottesstadt ausstatten und mit ihm zusammen JHWH anbeten werden. Das Haus Jakob müsste also seine eigene Berufung und dann auch die der anderen Nationen erkennen. Besser noch: Das Nachdenken über deren Heil wäre die Hilfe, um seine eigene Berufung neu zu begreifen und zu leben.

Warum konnte dieser leserorientierte Sinn der Völkerwallfahrtsorakel die geschichtliche Realität so wenig prägen? Haben die jüdischen Leser ihre nichtjüdischen Mit-Leser ausgeschlossen? Oder haben die nichtjüdischen Leser, also vor allem die Christen, ihre Rolle nicht richtig ausgefüllt? Auch wenn sie ihre Götter verließen und den Gott Israels annahmen, haben sie dessen Volk doch nicht geehrt. Weil die fast zweitausendjährige Galut eher als Fortsetzung der babylonischen Gefangenschaft denn als Gelegenheit, „Licht der Nationen“ zu sein, erfahren wurde, konnte auch die Rückkehr nach Zion nur als nationale Wiedergeburt, nicht aber als Beginn der endzeitlichen Völkerwallfahrt verstanden werden.

Zu dieser mangelhaften Rezeption mag auch beigetragen haben, dass die jesajanischen Prophetien sehr disparat und wenig „operationalisierbar“ sind. Es gibt die negative Vorschrift, die Fremden, die den Schabbat beachten, nicht aus dem Volk JHWHs auszuschließen. Und es gibt die positive Vorhersage, die ganze Menschheit werde sich zur Anbetung auf dem Zion versammeln. Dazwischen bleibt aber vieles offen, sodass es dem realen Leser (dem jüdischen vielleicht noch mehr als dem heidenchristlichen) schwer fällt, aus der überwältigenden Wallfahrtsvision einzelne konkrete Schritte auf das angezielte Miteinander hin abzuleiten.

3.4. „Lasst uns mit euch gehen!“ – das Miteinander von Israel und den Nationen

Wie können Israel und die Nationen zusammenleben? Wie kann überhaupt ein Miteinander zwischen dem Volk JHWHs und denen, die ebenfalls Volk JHWHs sein wollen, entstehen? Die Voraussetzung, damit sich die beiden Wege, das „Lasst uns hinaufsteigen!“ der Zionspilger und das „Lasst uns gehen!“ der Zionsbewohner, treffen, wird, deutlicher als in Jesaja, im Sacharjabuch benannt. Deshalb soll eine Vision aus diesem Buch, nämlich Sach 8,20–23, unseren Rück- und Ausblick beschließen.

Dieses Völkerwallfahrtsorakel differenziert zunächst den allgemeinen Terminus Image bzw. Image, indem es von einzelnen Metropolen und deren Einwohnern spricht (v.20 – 21). Diese werden sich versammeln, um die Wallfahrt nach Jerusalem anzutreten. Am Ende reduziert es deren Zahl sogar auf „zehn“ (v.23). Eine Gruppe von zehn Personen unterschiedlicher Ethnien und Sprachen würde genügen, sozusagen ein „gojischer“ Minjan, der sich einen Juden (eine Jüdin?) als Patron und Führer wählte.

Diese originelle Variante der Völkerwallfahrt, die nun gar nicht mehr utopisch erscheint, endet mit einem Appell, der noch über Jes 2,3 hinausgeht. Die Fremden sprechen nämlich nicht nur untereinander, sie richten eine Bitte an das Haus Jakob, dem sie auf ihrer Reise begegnen: Image, wir wollen mit euch gehen! Sie wissen, dass der Gott, den sie suchen, in Jerusalem wohnt (vgl. Sach 2,14 –15), und wollen wie die dort Lebenden mit ihm Gemeinschaft haben: Image, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist (8,23fin).

Damit endet die Prophezeiung und der ganze erste Teil des Sacharjabuchs – mit dem Wunsch nach einem Miteinander, nach einer Weggemeinschaft im Namen Gottes. In einer leserorientierten Perspektive fungieren diese Worte, die ausgesprochenen ebenso wie die nun zu sprechenden, als Handlungsmodelle, als Angebot, die Rolle des impliziten Lesers einzunehmen und das dramatische Geschehen weiterzuspielen. Was aber sind das für Rollen, die den Angehörigen der beiden Rezeptionsgemeinschaften hier vorgegeben werden?

Die, die aus allen Sprachen und Nationen stammen, sollen sich zusammenschließen und den Kontakt zu ihren jüdischen Nachbarn suchen („ihren Mantelsaum ergreifen“). Sie sollen einsehen und bekennen, dass sie ihren Gott von Israel erhalten haben, und sollen den Weg, den sie begonnen haben, gemeinsam mit diesem fortsetzen. Sie sollen um dessen Begleitung bitten, um den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der ihnen als der Gott Jesu Christi verkündigt wurde, besser kennenzulernen. Sie sollen ihre Bitte in Demut und Dankbarkeit vortragen, aber auch in der Sicherheit, dass es keine Alternative, keinen anderen Weg gibt.

Der jüdische Leser sieht sich umgekehrt mit der Anfrage jener „Zehn“ konfrontiert. Sie bitten um seine Weggemeinschaft. Nicht darum, dass er zu ihnen gehen und sie auf ihrem Weg begleiten möge, sondern darum, dass sie zum ihm kommen und seinen Weg mitgehen dürfen. Eine Antwort auf diese Anfrage wird in dem Text nicht gegeben. Sie ist ausgelassen, damit der Leser sie selber geben kann: „Ja, lasst uns gemeinsam gehen!“ Oder: „Nein, wir wollen für uns gehen!“

Die Frage, ob daraus ein Gottesvolk entsteht,1461 liegt außerhalb des Horizonts dieses Orakels.1462 Statt über das endgültige Ziel zu spekulieren, lenkt es den Blick auf den Punkt, an dem das erwünschte Miteinander beginnt, da nämlich, wo jemand sagt: Image, auch ich will gehen (8,21fin). Das heißt, wo jemand bereit ist, sich auf den Weg zu machen, und mit anderen zusammen den Ort aufsucht, den Gott bereits ausgewählt hat. So beginnt die Wallfahrt, zu der sich am Ende alle Völker auf dem Zion versammeln werden. Indem Moment, in dem einer oder eine diese Worte wiederholt: „Lasst uns gehen!“ – „Lasst uns miteinander gehen!“