Die letzten elf Kapitel des Jesajabuchs weisen eine konzentrische Struktur auf, deren Mitte und äußere Ränder von Heilsworten für Zion und für die ausländischen Verehrer JHWHs gebildet werden.1052 Die Gestalt der künftigen Gemeinde und die Teilnahme von Nichtjuden an ihrem sozialen und religiösen Leben sind somit die nicht voneinander zu trennenden Hauptthemen dieses Schlussteils.1053
Wie werden die Personen bezeichnet, die ihrer Geburt nach nicht zu dem dam Israel gehören? Welche Begriffe verwenden das Jesajabuch und die hebräische Bibel insgesamt, um die Mitglieder anderer Nationen zu benennen und ihre Stellung gegenüber der Rechts- und Kultgemeinde (dem Qahal) zu definieren?
Unter dem rein negativ bestimmten Oberbegriff „Nichtisraeliten“ lassen sich drei Kategorien unterscheiden: „resident aliens“ (), „non-resident aliens“ (
) und „unwarranted persons“ (
).1054
In den Rechtscorpora des Pentateuch werden die damit verbundenen juristischen, ethischen und religiösen Probleme ausführlich behandelt, auch deshalb, weil Israels Verhalten gegenüber den Fremden und sein Selbstverständnis als JHWH-Volk sich gegenseitig bedingen (vgl. nur Ex 22,20: „Einen ger sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten gerim gewesen“). Auch in den prophetischen Zukunftsentwürfen werden diese Personen bzw. Personengruppen immer wieder erwähnt, wobei sich die Perspektive vom konkreten Rechtsfall zur generellen theologischen Aussage weitet.
Um diese Verheißungen, zu denen auch das Völkerwallfahrtsorakel Jes 56,1–91055 gehört, in einen größeren Kontext zu stellen, wollen wir zu Beginn dieses Kapitels untersuchen, welche Rolle die verschiedenen Arten von Nichtisraeliten im Jesajabuch spielen. Wie begegnen sie dem Volk Israel und welche Erwartungen verbinden sich mit ihnen? Die Frage soll dabei nicht historisch, sondern literarisch angegangen werden, indem anhand der genannten Schlüsselbegriffe die wichtigsten Aussagen über Beisassen, Ausländer und Fremde zusammengestellt werden.1056
Bezeichnenderweise dominiert im ersten Hauptteil des Jesajabuchs die Kategorie, die dem israelitischen Qahal am fernsten steht: .1057 Dieser Terminus, mit dem die Torah den außerhalb des Rechts- und Kultsystems stehenden Nichtisraeliten bezeichnet, wird bei den Propheten zum Synonym des Feindes, des Angreifers und Eroberers.
Schon im einleitenden Kapitel werden die zarim als Aggressoren präsentiert (1,7). Sie besetzen das Land Juda, beuten seine Ressourcen aus (wörtlich: , sie fressen es) und verursachen eine
, einen totalen „Umsturz“ seiner Bauten, Bewohner und Institutionen. Auch in 29,5 sind sie in ein kriegerisches Geschehen verwickelt. Die
, deine Fremden, werden hier den
, Tyrannen, gleichgestellt. Sie bedrängen Jerusalem, wollen es auslöschen und gefährden so den Frieden in der ganzen Welt. In der „Jesaja-Apokalypse“ erscheinen sie deshalb als eine fast schon übermenschliche Macht; nur JHWH kann ihre Trutzburgen zerstören (
, 25,2), nur er kann ihr Kriegsgeschrei (
le
, 25,5) zum Schweigen bringen.
Die Fremden bedrohen das Gottesvolk aber nicht nur durch ihr militärisches Potential, sie bedrohen es auch von innen, indem sie seine ethnische, kulturelle und religiöse Identität unterminieren. Sie verleiten es, JHWH zu vergessen und stattdessen , einen fremden Schössling (17,10), anzupflanzen, d. h. die Gebräuche und Kultpraktiken anderer Völker anzunehmen.1058
Ein ähnlicher Vorwurf wird bereits zu Beginn des Buchs, unmittelbar nach dem ersten Völkerwallfahrtsorakel, erhoben, dort aber unter Verwendung des Terminus .1059 Das Haus Jakob wird beschuldigt, es habe seine völkische Identität aufgegeben (
); ausländische Zauberpraktiken und „fremde Kinder“ (
, 2,6)1060 hätten in ihm überhandgenommen.
Aus diesem durchweg negativen Bild fällt 14,1 heraus. Es ist – nicht unbedingt chronologisch, aber im Leseablauf – das erste positive Zeugnis über Fremde. Es handelt von Personen, die eine Zeitlang am Rande einer jüdischen Diasporage-meinde leben und dann in diese aufgenommen werden wollen (). Von den bisherigen Texten unterscheidet sich dieser Spruch darin, dass er statt der negativ besetzten Lexeme
den Begriff wählt, der am stärksten die räumliche und geistige Nähe zum Ausdruck bringt. Er beschreibt auch nicht einen realen, bestehenden Zustand, sondern entwirft eine prophetische Vision. Die Furcht vor dem negativen Einfluss der Fremden wird hier zum ersten Mal von der Erwartung abgelöst, dass ein erneuertes Gottesvolk gerade umgekehrt seine nichtjüdische Umgebung positiv beeinflussen könnte.1061
In Jes 40 –55 wird das Problem der Fremden und ihrer Zuordnung zum Volk Israel nicht weiter thematisiert.Von der vorausgesetzten historischen Situation her verwundert das auch nicht, leben die Exulanten doch selbst als Fremde in einem fremden Land. Die Frage taucht erst in Jes 56– 66 wieder auf. Denn in dem Moment, in dem die Judäer in die Heimat zurückkehren, sich neu als JHWH-Gemeinde konstituieren und dabei mit Personen anderer Ethnien konfrontiert werden, muss ihr Verhältnis zu diesen neu definiert werden.
Anstelle des Hauptterminus von Jes 1–39 erscheint nun der mit
ver-wandte, aber gleichwohl selbstständige Ausdruck
, Sohn der Fremde, Ausländer. Im Unterschied zum Schutzbürger ist er „kein Mitglied des Volkes Israel und damit auch kein Mitglied des israelitischen Rechtssystems“.1062 Er ist nicht nur sozial, sondern auch religiös und ethnisch ein Fremder, also per definitionem kein Volksgenosse (
, 1 Kön 8,41), kein „Bruder“ (
, Dtn 17,15).
Das Gegenüber, der feindliche Gegensatz, der in dem ersten Buchteil dominiert, wird in diesem letzten Teil in ein Miteinander überführt. In Jes 60–62 werden die Ausländer nicht mehr als Feinde betrachtet, allerdings auch nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinde, sondern als Helfer und Mitarbeiter. Sie dienen der Gottesstadt als Bauhandwerker (60,10), dem Gottesvolk als Hirten, Bauern und Winzer (61,5). In 62,8 werden sie zwar parallel zu , deine Feinde, als Unterdrücker Israels erwähnt, doch nimmt dieser Passus insofern eine Sonderstellung ein, als er Zustände der Vergangenheit in Erinnerung ruft (vgl. 1,7), die sich in Zukunft nicht mehr wiederholen sollen. Nach der üblichen Auffassung, die diese drei Kapitel als ältesten Teil und Nukleus des „Tritojesajabuchs“ identifiziert, lassen sich diese Aussagen als eine Reaktion auf die Tatsache erklären, dass mit den Exilierten auch Bewohner der Diasporaländer in das Land kamen. Diese sollen, wie in 14,2 vorhergesagt, zu Israels „Knechten und Mägden“ werden.
Auf diesem Hintergrund erstaunt es umso mehr, dass Jes 56 den Fall diskutiert, dass Einzelne aus dieser Gruppe „sich JHWH angeschlossen haben“ ( ), und diesen sogar den Zutritt zum Tempel gewährt (v.7). Vielleicht ist es kein Zufall, dass sie nur hier
genannt werden, sonst aber immer indeterminiert bleiben (
).1063 Während die anderen Texte von ihnen im Allgemeinen sprechen, als eine Kategorie von Menschen, für die bestimmte sakralrechtliche Regeln gelten, handelt Jes 56 von Individuen, die ein spezielles Anliegen vorbringen (auch wenn der prophetische Bescheid dann eine über den Einzelfall hinausreichende Geltung beansprucht).1064
Das literarisch spätere Kapitel Jes 56 würde also eine neue Position formulieren, die auf das nicht zu erwartende Phänomen reagiert, dass Ausländer den Glauben Israels übernehmen. Entgegen der literargeschichtlichen Reihenfolge wäre es an den Anfang des letzten Buchteils gestellt worden, damit die nachfolgenden Texte aus seiner völkerfreundlichen Perspektive heraus gelesen werden.
Jes 55 schließt mit der Ankündigung des Auszugs aus der Diaspora und der damit einhergehenden wunderbaren Transformation der Natur. Der Eindruck, dass damit eine Texteinheit zu Ende geht, wird durch den Hinweis auf die ewige Gültigkeit dieses „Zeichens“ (, v.13) zusätzlich verstärkt. Nach einer Setuma1065 beginnt mit 56,1 ein neuer Abschnitt, der durch die Botenformel
eingeleitet ist. 1QIsaa signalisiert den Beginn eines Haupteinschnitts, indem er nach 55,13 das Zeilenende freilässt und mit 56,1 eine neue Zeile beginnt. Darüber hinaus weist er ein Paragraphos-Zeichen nach 55,13 und ein Kreuz neben 56,1 auf.
Durch zwei Setumot vor und nach v.3 grenzt MT die wörtlich zitierte Klage der beiden Personengruppen, der Fremden und der Eunuchen, als einen eigenen Unterabschnitt ab. Auch diese Einschnitte sind in 1QIsaa deutlich markiert (freies Zeilenende und Zeilensprung, Kreuz am Seitenrand). Die Antwort Gottes wird durch eine zweite Botenformel am Anfang von v.4 eröffnet und ist sowohl im MT als auch in 1QIsaa durch eine Setuma nach v.5 in zwei Hälften unterteilt (v.4–5; v.6–7).
Das Orakel scheint in v.8 mit einer durch eine Gottesspruchformel eingeleiteten Sammlungsverheißung zu enden. V.9 wird deshalb von fast allen Exegeten als Eröffnung des folgenden Gerichtsorakels aufgefasst. Doch setzen sowohl MT (L durch eine Setuma,
A durch eine Petucha) als auch 1QIsaa (durch ein Paragraphos-Zeichen und ein Kreuz) das Ende der Texteinheit erst nach diesem Vers an. 1066 Wir folgen dieser uberlieferten Gliederung und versuchen, v.9 als Abschlussder gesamten Texteinheit zu verstehen.
b, c, d, e, f, g, h, i, j, k, l, m, n, o, p, q
b Das maskuline ePP steht in Spannung zu dem femininen Genus von . 1QIsaa hat hier und in v.6 die grammatikalisch korrekte Form
. Wie schon Ibn Ezra annimmt (vgl. Friedländer, Ibn Ezra on Isaiah, 256), spielt die von SAt und auch von 1QIsab bezeugte Form auf den vollen Ausdruck
an, der im Dekalog zusammen mit dem maskulinen Personalpronomen gebraucht wird (z. B. Dtn 5,12:
, beachte den Schabbat-Tag, ihn zu heiligen). Vgl. auch Ex 31,14–15, wo
unterschiedslos nebeneinander gebraucht werden.
c Die verbindende Konjunktion ist auch in 1QIsab, und
(„et non...“) bezeugt. In 1QIsaa (
) und LXX (μὴ) ist sie ausgelassen, so dass der neue Absatz mit einer Asyndese beginnt. Gegenüber MT erscheint das als eine lectio facilior.
d Nach der masoretischen Vokalisation handelt es sich um eine finite Verbform (3. Pers. Sg. m. qatal), mit einem Artikel, der als Relativpronomen fungiert (vgl. Friedländer, Ibn Ezra on Isaiah, 257 mit n.5; Delitzsch, Jesaia, 545). In v.6 erscheint dieselbe Wendung jedoch als Partizip () und wird von
und
auch an beiden Stellen mit einem Partizip wiedergegeben. Die ungewöhnliche MT-Lesart dürfte infolge einer sekundären Umdeutung entstanden sein, die die Faktizität der Konversion betonen wollte. Mit BHS lesen wir die partizipiale Form
(vgl. G–K §138k und Haarmann, JHWH-Verehrer, 207 n.884), ohne dass sich dadurch etwas an der Übersetzung änderte.
e Die Partikel wird auch von 1QIsab bezeugt, in LXX fehlt sie, 1QIsaa hat wie in den meisten Fällen das synonyme . Da die Wendung
auch in Jes 49,21 (und Ex 6,30) eine Klage einleitet, sollte MT beibehalten werden.
f Die metrische Gestalt des Verses scheint gestört, vor allem in der zweiten Hälfte, die nur aus einem zweifüßigen Monokolon besteht. Das Problem lässt sich jedoch nicht mit Textänderungen metri causa lösen, da keine reine Poesie, sondern rhythmisierte Prosa vorliegt. Typische Elemente der prosaischen Sprache sind hier neben der Redeeinleitung die Relativpronomina und die nota accusativi.
g Die Deutung als „Platz, Anteil“ wird u. a. von Ibn Ezra (vgl. Friedländer, Ibn Ezra on Isaiah, 257), von Delitzsch, Jesaia, 546, und neuerdings wieder von E. M. Obara, Le strategie di Dio. Dinamiche comunicative nei discorsi divini del Trito-Isaia (AnBib 188; Roma: Gregorian & Biblical Press, 2010) 78 n.86, vertreten. Sie kann sich auf die alten Übersetzungen von und
(„locus“) und die paraphrasierende Wiedergabe in Weish 3,14 (κλῆρος... θυμηρέστερος, ein köstlicher Anteil) berufen. Für die Deutung als „Denkmal“ spricht jedoch die sprachliche und inhaltliche Parallele zu 2 Sam 18,18. Die von Abschalom errichtete Stele–
–soll garantieren, dass sein Name nicht in Vergessenheit gerät. Dasselbe wird in unserem Text den ebenfalls kinderlosen Eunuchen zugesichert (
). Mit Belegen aus der alt orientalischen Literatur und Ikonographie ist diese Interpretation durch I. J. de Hulster, Iconographic Exegesis and Third Isaiah (FAT II.36; Tübingen: Mohr Siebeck, 2009) 147–68; J. L.Wright u. M. J. Chan, „King and Eunuch. Isaiah 56:1–8 in Light of Honorific Burial Practices“, JBL 131 (2012) 99–119, neu begründet worden.
h BHS schlägt vor, die singularische Form mit 1QIsaa, LXXund anderen Versionen in oder
zu ändern. Doch werden in diesem Abschnitt dieselben Personengruppen einmal mit dem Singular, einmal mit dem Plural bezeichnet (
). Mit Delitzsch, Je-saia, 546, gehen wir davon aus, dass das singularische Pronomen hier eine individualisierende Bedeutung hat (vgl. Barthélemy, Critique textuelle, 411: „une valeur particularisante“).
i 1QIsaa konstruiert nif. hier und in v.3 mit
, 1QIsab mit
, während MT einmal
und einmal
verwendet. Die beiden
-Handschriften dürften die masoretische Lesart je unterschiedlich harmonisiert haben.
hat einmal den Dativ und einmal die Präposition πρός, weist also ebenfalls eine lectio dissimilis auf.
j BHS schlägt vor, in i und das ePP der folgenden Infinitive jeweils in die 1. Pers. zu korrigieren. Auf diese Weise würde vermieden, dass Jhwh über sich in der 3. Pers. redet. Doch ist der Übergang von der 1. zur 3. Pers., ohne dass damit ein Sprecherwechsel verbunden wäre, ein für Gottesreden nicht seltenes Phänomen.
k 1QIsaa hat eine deutlich abweichende, kürzere Textform: der erste Infinitiv fehlt, der dritte steht an erster Stelle, im zweiten ist durch
ersetzt. Nach Paul, Isaiah, 65–6, handelt es sich um „tendentious omissions and emendations“, nach Haarmann, JHWH-Verehrer, 206–7, dienen sie dazu, die Verheißungen für die Fremden abzuschwächen (ähnlich schon Rosenbloom, Dead Sea, 62–3). Insbesondere sollen jenen die priesterlichen Funktionen, die mit
verbunden sein könnten, vorenthalten werden. Mit „den Namen Jhwhs preisen“ statt des singulären „den Namen Jhwhs lieben“ folgt 1QIsaa einer in der Liturgie üblichen Ausdrucksweise, wie sie sich z. B. in Ps 113,2 findet (so E. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik [Stuttgart; Berlin; Köln: W. Kohlhammer, 1997] 219). Die
-Lesart, die auch von 1QIsab und
(und teilweise von
) gestützt wird, ist deshalb beizubehalten.
l LXX ergänzt καὶ δούλας, und Mägde. Da Frauen per se keine kultischen Funktionen ausüben können, dürfte auch diese Hinzufügung den Zweck verfolgen, dem Eindruck zu wehren, dass den Fremden hier ein priesterliches Amt übertragen wird. Vgl. V. Haarmann, „»Their Burnt Offerings and their Sacrifices will be Accepted on my Altar« (Isa 56:7). Gentile Yhwh-Worshippers and their Participation in the Cult of Israel“, R. Achenbach, R. Albertz u. J. Wöhrle (Hg.), The Foreigner and the Law. Perspectives from the Hebrew Bible and the Ancient Near East (BZAR 16; Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2011) 161 n.18.
m 1QIsaa hat mit , und die den Schabbat wahren, eine mit den anderen Partizipien kongruierende pluralische Form.
setzt auch das Objekt in den Plural (wie in v.4) und scheint im Übrigen beide Textformen zu kombinieren: καὶ πάντας τοὺς φυλασσομένους τὰ σάββατά μου, und alle, die meine Schabbate wahren. 1QIsab stimmt auch in diesem Fall mit MT überein. Deren syntaktisch schwierigere Lesart sollte beibehalten werden.
n Wörtlich: „in dem Haus meines Gebets“. Doch ist wie bei (wörtlich: „der Berg meiner Heiligkeit“) das pronominale Suffix auf den ganzen Ausdruck zu beziehen (vgl. Waltke–O'Connor, 9.5.3b).
o Durch Einfügung von , sie werden hinaufsteigen (vgl. 60,7), bzw. ἔσονται, sie werden sein, erzeugen 1QIsaa und LXX einen Verbalsatz. Der verblose Ausdruck von
, der sich auch in 1QIsab und 4QIsai findet, ist die lectio brevior et difficilior und deshalb als ursprünglich zu betrachten. Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 276, erklärt das Fehlen des Verbs als kontrastierende Anspielung auf Jer 6,20 (
).
p In 1QIsab fehlt , in LXX das einleitende
. Das letzte Wort steht in 1QIsab im Singular (
), in LXX ist es mit συναγωγήν, eine Sammlung (sammeln), wiedergegeben. Demgegenüber bietet MT den syntaktisch schwierigeren Text, der in diesem Fall auch von 1QIsaa und von
gestützt wird. Für die Konstruktion
gibt Delitzsch, Jesaia, 547, zwei Erklärungen: 1.
ist ein erklärendes Permutativ, in dem
dieselbe Bedeutung wie das vorhergehende
hat; 2.
be-zeichnet die Ausweitung der Sammlung über Israel hinaus,
das Hinzusammeln zu den Gesammelten Israels. Dieser letzten Deutung von
widersprechen jedoch die Parallelen in 1 Kön 11,24 und 2 Chr 13,7, wo
(als gleichbedeutende Variante von
) die Person angibt, um die sich andere versammeln. Da
in seiner Grundbedeutung ebenfalls die Richtung bezeichnet, dürften beide Präpositionalausdrücke dieselbe syntaktische Funktion erfüllen (so mit Stromberg, Isaiah After Exile, 82 n.35). Das ePP ist am ehesten auf das unmittelbar vorangehende Nomen „Israel“ zu beziehen (gegen Berges, Buch Jesaja, 422, der
auf den in v.7 genannten Tempel bezieht).
q Die masoretischen Akzente verbinden , deuten es also als dessen direktes Objekt. Diesem Textverständnis, das u. a. Raschi vertritt (
, M. Cohen, Isaiah, 352), stehen aber zum einen sachliche Gründe entgegen („Die Annahme […] widerspricht sich durch die Natur der Sache, da die Feldtiere niemals die Waldtiere fressen“, Philippson, Israelitische Bibel, 892). Zum anderen fassen
und
den Ausdruck als zweiten Vokativ neben
auf. 1QIsaa hat
und führt sie damit als eine zweite Gruppe von Tieren ein; auch dies spricht gegen eine Deutung als Akkusativobjekt.
In keinem anderen Völkerwallfahrtstext wird der Zug nach Jerusalem so eindeutig als ein liturgischer Akt präsentiert. Mit , den beiden Hauptopferarten, ist der gesamte Tempelkult gemeint, wobei die Fremden nicht nur wie in Jes 60 das Material liefern (Tiere, Weihrauch etc.), sondern selbst aktiv daran teilnehmen. Neben den Opfern werden auch Gebete dargebracht, mehr noch, das Heiligtum, in dem der Pilgerzug endet, wird mit einem im Tanach einmaligen Ausdruck überhaupt als „Haus des Gebets“ definiert.
Dennoch fehlt zu einer Völkerwallfahrt das Wichtigste: die Akteure, die sie unternehmen. Die Völker werden nämlich erst am Ende des Textes erwähnt, wenn es darum geht, den Jerusalemer Tempel zur universalen Gebetsstätte der es-chatologischen Zeit zu deklarieren. Die Wallfahrer selbst sind einzelne Personen, die sich trotz ihrer ethnischen Verschiedenheit dem Gott Israels angeschlossen haben. Als Antwort auf ihre Klage wird ihnen die Reise nach Jerusalem versprochen. Sie erwächst hier also nicht aus der Suche nach dem völkerverbindenden Frieden, nicht aus dem Leiden des Gottesvolks in der Heimat und im Exil, auch nicht aus dem Eifer für die Verbreitung des monotheistischen Glaubens, sondern aus dem konkreten Missstand einer gesellschaftlichen Randgruppe.
Die dritte Besonderheit des Orakels besteht darin, dass diese Reise zwar als ein Transport geschildert wird ( hif.), dass die Fremden aber nicht wie in Kap. 49 und 60 die Träger, sondern die Getragenen sind. Ihr Träger und Begleiter ist JHWH selbst! So wie er in 40,10 –11 und 43,5–6 die Angehörigen seines Volkes heimführte, will er nun auch die „Söhne der Fremde“ dahin bringen, wo er wohnt und angebetet wird.
Jes 56 wird durch einen kurzen Spruch eröffnet, der die Debatte um den Umgang mit den Ausländern und Eunuchen in einen weiteren Rahmen stellt. Er statuiert, dass die Beziehung zu Gott wesentlich mit dem persönlichen Einsatz für soziale Gerechtigkeit zusammenhängt (). Dass es dabei nicht um eine theoretische Stellungnahme, sondern um ein praktisches Tun geht, wird durch die je dreimal vorkommenden Schlüsselwörter
, tun, und
, bewahren, beachten, unterstrichen.1067
Dieses ethische Fundamentalgebot wird in zwei kurzen, parallelen Imperativsätzen zum Ausdruck gebracht (, v.1), mit einer Heilsansage begründet (
) und durch einen motivierenden Makarismus abgeschlossen (
, v.2). Unübersehbar ist die intertextuelle Verbindung zu Ps 106,3:
.1068 Dieser Ausruf des Beters wird in der prophetischen Rede Gott selbst in den Mund gelegt, und aus der Seligpreisung derer, „die das Recht bewahren und Gerechtigkeit üben“, wird die Mahnung, eben dies zu tun, abgeleitet.
Indem der Verfasser unseres Textes die in Ps 106 erzählte Abfallsgeschichte einspielt, bereitet er den Boden für die folgende Diskussion. In der Vergangenheit haben sich die Israeliten nämlich immer neu gegen Gott versündigt, haben die Bewohner des Landes nicht ausgerottet (v.34), sondern sich mit den gojim vermischt und deren Taten imitiert (v.35). In Jes 56 werden ihnen nun Menschen vorgestellt, Eunuchen und Ausländer, die auf vorbildliche Weise den Willen JHWHS erfüllen. Ihre Taten sollten nachgeahmt und sie selbst als Mitglieder der Tempelgemeinde akzeptiert werden!
Doch an wen richtet sich der einleitende Appell? Dass keine bestimmten Adressaten genannt werden, zwingt den Leser, zu 55,12–13 zurückzugehen und dessen Subjekt in 56,1 einzutragen. Gott wendet sich hier also an die Rückwanderer aus der Diaspora, an die er ja, wie 55,13b erklärt, seine eigene Reputation geknüpft hat (). In der Heimat angekommen sollen sie eine Gesellschaft aufbauen, die von Seiner Rechtsordnung geprägt ist, und dadurch die Ankündigung wahr machen, dass Zion
, durch Recht, und
, durch Gerechtigkeit, erlöst wird (vgl. 1,27). Sich so zu verhalten, ist möglich, weil die von Gott her kommende Erlösung nahe ist:
.1069
Wie Rolf Rendtorff gezeigt hat,1070 werden an dieser Stelle zwei theologische Konzepte zusammengeführt. Indem einen, das in Jes 1–39 dominiert, ist ein ethischer Begriff, der mit
ein Begriffspaar bildet, in dem anderen, das in Jes 40–55 zu finden ist, fungiert
als ein soteriologischer Begriff, der durch Wörter wie
erläutert wird. „Im ersten Teil (sc. des Jesaja-buchs) bezieht es sich ganz überwiegend auf das menschliche Verhalten, auf das Schaffen und Bewahren oder das Missachten von Recht und Gerechtigkeit. Im zweiten Teil bezeichnet es meistens das Handeln oder Verhalten Gottes. […] Die »Gerechtigkeit« Gottes ist hier Bestandteil seines Heilshandelns an Israel und den Völkern.“1071
Wie aber verhalten sich menschliches und göttliches Tun, ethischer Appell und Heilszusage zueinander?
Zu allgemein bleibt Walter Brueggemanns Resümee, „imperative and promise locate both Yahweh and the community of Jews as contributors to coming wellbeing.“1072 Aber auch Shalom M. Paul verfehlt den entscheidenden Punkt, wenn er formuliert: „For the first time in Deutero-Isaiah’s prophecies, salvation is made conditional upon acting justly toward one’s fellows […] and observing divine precepts.“1073 Die Verheißung von v.1b ist nämlich nicht in dem Sinn konditional, dass das Eintreten des künftigen Heils von der Erfüllung der Torah abhinge („wenn ihr das Recht bewahrt, dann kommt mein Heil“).1074 Aber auch umgekehrt wird das menschliche Handeln nicht einfach durch die göttliche Gnade hervorgerufen („wenn mein Heil gekommen ist, dann werdet ihr das Recht wahren“). Sie ist ja noch nicht gekommen, ist noch nicht in ihrer Fülle offenbar geworden! Sie ist nur nahe und kann deshalb nicht, um es mit einem scholastischen Begriff zu sagen, als Kausalursache, sondern nur als Finalursache wirken.1075 Das gottgefällige Verhalten ist also in dem Maß möglich, in dem sich jemand von der Freude über die Heimkehr der Diaspora erfassen lässt (vgl. 55,12: ) und die sich darin ankündigende Erlösung Zions herbeisehnt.1076 Deshalb genügt es auch nicht zu konstatieren, die beiden
-Konzepte seien derart kombiniert, dass „das nahe bevorstehende Offenbarwerden der göttlichen Heilsgerechtigkeit die Forderung an die Menschen, Recht und Gerechtigkeit zu wirken, [begründet].“1077 Es begründet die Forderung nämlich nicht nur, sondern schafft auch die effektive Voraussetzung, dass der Mensch sie erfüllen kann.
Göttliche und menschliche „Gerechtigkeit“, heilschaffendes Handeln Gottes und sozialethisches Verhalten des Menschen sind nicht monokausal aufeinander bezogen, sondern korrelieren miteinander. Auf Seiten des Menschen braucht es zuallererst die richtige Erkenntnis, die Einsicht nämlich, dass die Erlösung „nahe“, d. h. von Gott her gesehen bereits da ist. Ein solcher radikaler Perspektivenwechsel ermöglicht dann auch eine neue Praxis, die sich als Mit-Tun mit Gott beschreiben lässt. Jes 45,8 drückt diese „Synergie“ metaphorisch aus: Der Himmel lässt von oben regnen, während die Erde von unten
hervorsprießen lässt (vgl. Ps 85,12).
In v.2 wird der Forderung und der Verheißung ein Makarismus hinzugefügt. Mit der Aussicht auf eine glückliche Existenz motiviert er einerseits dazu, den Aufruf zu befolgen, andererseits unterstreicht er dessen universale Geltung. Se-liggepriesen werden ja nicht die heimgekehrten Exulanten, nicht die einstigen und künftigen Bewohner Jerusalems, seliggepriesen wird jeder „Mensch, der dies tut“ ().1078 Auf diese Weise wird hier, im Vorspann zur eigentlichen Diskussion, ein allgemeines, für Israeliten wie Nichtisraeliten gültiges Prinzip aufgestellt, nach dem die in v.3 genannten Konflikte zu beurteilen sind.
Die generelle ethische Forderung wird in v.2b durch ein doppeltes 1079 ergänzt. Dabei ist die Anweisung, Unrecht zu vermeiden, die den Vers beschließt (
, v.2bβ), nichts anderes als die negative Formulierung des positiven Grundgebots. Dagegen bildet die Schabbatobservanz (
, v.2bα) auf den ersten Blick einen Kontrast zu diesem universalen Ethos, da sie ja ein Spezifikum Israels darstellt.1080 Der Schabbat als solcher ist zwar Teil der Schöpfungsordnung (vgl. Gen 2,1–3) und „gehört“ von daher allen Menschen, doch ist er dort nicht mit einem Gebot verbunden. Erst auf dem Sinai/Horeb wird befohlen, des Schabbats zu gedenken (
, Ex 20,8), ihn zu bewahren (
, Dtn 5,12) und zu heiligen (
, Ex 20,8; Dtn 5,12). Er wird dadurch zu einem wesentlichen Merkmal des Bundesvolkes Israel.
Die größte sprachliche Nähe besteht jedoch nicht zu den Bestimmungen des Dekalogs, sondern zu Ex 31,13 –17.1081 Auch dort wird nämlich nebeneinander zur Beobachtung des Schabbats aufgefordert () und vor seiner Profanierung gewarnt (
pi.). Er ist das Signum der Beziehung zwischen JHWH und seinem Volk (
, v.13), so dass, wer ihn missachtet, nicht länger Mitglied der Gemeinde sein kann (vgl. v.14). Auf diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die Eunuchen und die Fremden charakterisiert werden, indem die Formulierung von Jes 56,2 wiederholt und dabei ihre Schabbatobservanz hervorgehoben wird (
). So wird nämlich an das Grundprinzip erinnert, das über die Zugehörigkeit zum Qahal entscheidet: wer den Schabbat heiligt (indem er z. B. keine Arbeit verrichtet, wie Ex 31,14 erläutert), gehört ipso facto zum Gottesvolk. Wer ihn nicht entweiht, kann deshalb legitimerweise nicht aus diesem ausgeschlossen werden.1082
Von einer formalen Konversion und einem Übertritt zur israelitischen Nation ist dabei nicht die Rede. In diesem einleitenden Abschnitt geht es vielmehr um die grundlegende Feststellung: Gottes Heilsplan, der durch die Heimkehr der Verbannten in eine neue Phase getreten ist, umfasst nicht nur einige Privilegierte, sondern alle, die ihre ethische und religiöse Praxis an der Lebensweise des neu gebildeten „Knechtes“ Israel ausrichten.
In v.3 werden in der Form eines Parallelismus – – die Klagen zweier Personengruppen zitiert, deren Existenzgrundlage fraglich geworden ist.1083 Ihre Vergangenheit (die nichtjüdische Abstammung) bzw. ihre Zukunft (die Kinderlosigkeit) machen sie zu Außenseitern, die um ihren Stand im Gottesvolk fürchten müssen. Ab v.4 werden diese Befürchtungen in einem mit der kausalen Konjunktion
eingeleiteten Gotteswort einzeln zurückgewiesen. Die Basis für diese Zurückweisung liegt aber, wie festgestellt, nicht in den speziellen Verheißungen von v.5 und v.7, sondern bereits in dem allgemeinen Axiom von v.1–2. Es kann doch nicht sein, so muss sich der Leser sagen, dass im Umfeld der Gemeinde Menschenleben, die sich durch moralische Integrität auszeichnen und überdies den Schabbat einhalten und deshalb seliggepriesen werden, und dass diese Menschen gleichzeitig derartige Klagen von sich geben! Dieser logische Schluss vom Allgemeinen zum Speziellen wird sowohl syntaktisch als auch lexikalisch vorbereitet. Zum einen ist v.3 durch
an das Vorhergehende angeschlossen, eine Syndese, die sich auch kausal verstehen lässt („deshalb soll der Fremde nicht sagen…“). Zum anderen weist die zweifache Redeeinleitung
, er soll nicht sprechen, intertextuell auf
, so hat JHWH gesprochen (v.1init), zurück. Die Reden der Ausländer und Eunuchen werden auf diese Weise mit dem, was JHWH selbst kurz zuvor geäußert hat, parallelisiert. Nach seinen programmatischen Eröffnungsworten wirken ihre Klagerufe wie ein schriller Misston, der nicht unbeachtet bleiben kann.
Worüber beschweren sich die beiden am Rand der Volksgemeinschaft stehenden Gruppen? Ihre Ausrufe und die Antworten Gottes sind chiastisch gestellt: Klage des Fremden (v.3a) – Klage des Eunuchen (v.3b) – Verheißung für die Eunuchen (v.4–5) – Verheißung für die Fremden (v.6–7). Das Schwergewicht liegt dabei eindeutig auf den Ausländern, da sie als erste erwähnt, ausführlicher charakterisiert und zitiert und als letzte getröstet werden.
Die Gruppe der Eunuchen (wohl Israeliten, die aufgrund ihres Dienstes an einem fremden Königshof kastriert wurden)1084 wird als zweite erwähnt, ihre Klage aber zuerst beantwortet. Mit der Metapher des verdorrten Baumes () beschreiben sie ihr trauriges Schicksal als Kinderlose: zu Lebzeiten verachtet und nach dem Tod vergessen! Dieser Missstand wird in v.5 behoben, indem ihnen ein Denkmal (
) im Tempel verheißen wird, das ihren Namen (
) für alle Zeiten in Erinnerung halten wird. Mit der Wendung
wird diesem Namen dieselbe Unauslöschlichkeit zugesprochen wie dem Zeichen (die wunderbare Verwandlung der Natur), das nach 55,13 den Auszug der Deportierten begleiten wird.
Den zweiten Personenkreis bilden nicht irgendwelche Angehörige anderer Nationen, sondern solche, „die sich JHWH angeschlossen haben“ ( ), einzelne Ausländer also, die in der Begegnung mit Israel die rettende Macht JHWHs erfahren und sich daraufhin zu ihm bekehrt haben. Für Volker Haarmann, der zwei Formen der Konversion von „Heiden“ unterscheidet, liegt hier der Fall einer religiösen Hinwendung zu J vor, die von der sozialen, kulturellen Assimilation und ethnischen Integration in das jüdische Volk zu trennen sei.1085 Beide Vorgänge würden mit dem Ausdruck
nif. bezeichnet, das Objekt sei aber im ersten Fall Gott (vgl. Jes 56,3.6; Sach 2,15), im zweiten das Volk (vgl. Jes 14,1; Est 9,27; Dan 11,34). Trotz der Attraktivität dieser subtilen These und obwohl die spätere rabbinische Doktrin tatsächlich zwischen
, dem Proselyten, der Jude wird, und
, dem Fremden, der seine nichtjüdische Identität bewahrt, unterscheidet, lassen sich aus den wenigen alttestamentlichen Belegen doch nicht zwei Konversionsmodelle ableiten. Die unterschiedliche Formulierung drückt u. E. lediglich aus, ob bei der Annäherung an das Judentum eher das religiöse oder das soziologische Moment überwiegt, ohne dass der jeweils andere Bereich dadurch ausgeschlossen wäre.
Von Jes 56 her lassen sich die Verehrung Js und die Zugehörigkeit zu seinem Volk jedenfalls nicht trennen.1086 Für den Targum ist das so selbstverständlich, dass er v.3a folgendermaßen konkretisiert: , a son of Gentiles who has been added to the people of the Lord.1087 Doch auch aus dem hebräischen Urtext geht klar hervor, dass der Fremde sich im Zuge seiner religiösen Neuorientierung der Gemeinde der J-Verehrer angeschlossen oder zumindest angenähert hat. Wie könnte er sich sonst darum sorgen, aus ihr ausgeschlossen zu werden (
, v.3aβ)?
Was steht im Hintergrund dieser Befürchtung? Die Annahme, die Klagen der Ausländer und der Verschnittenen seien durch das Gemeindegesetz Dtn 23,2–9 und seine restriktiven Bestimmungen über den Beitritt zur Kultversammlung () veranlasst, lässt sich nicht begründen. Dazu fehlt nicht nur jeglicher inter-textuelle Bezug, vor allem werden die Adressaten unterschiedlich definiert. Damit gerät aber auch die weiterführende These, die Rechtsnormen von Dtn 23 würden durch die Verheißungen von Jes 56,4–7 abrogiert, ins Wanken.1088 Wenn überhaupt, dann kritisiert Jes 56 nicht das Gesetz als solches (das ja nur wenige Spezialfälle betrifft), sondern dessen Ausdehnung auf weitere Personenkreise.
Genau dies geschieht in zentralen Passagen der Bücher Esra und Nehemia, die durch zahlreiche Referenzsignale mit unserem Text verbunden sind. Unter diesen spielt das Verb eine Schlüsselrolle; hier durch den inf. abs. besonders betont, wird es dort neunmal verwendet, um das nachexilische Israel zu definieren.1089
Dabei begegnet die grundlegende Idee, dass das Volk des Bundes durch einen Prozess der ethnischen und religiösen Absonderung entsteht, dem kanonisch versierten Leser nicht erst in den chronistischen Büchern, sondern bereits in der Torah. Nach dem „Heiligkeitsgesetz“ ist es JHWH selbst, der Israel von den übrigen Nationen trennt (, Lev 20,24), damit es ihm allein gehöre (
, 20,26; vgl. 1 Kön 8,53). Dieselbe „Volk-Gottes-Theologie“ wird im Esrabuch vertreten, wenn es beklagt, dass Israel sich nicht von den „Völkern der Länder“ abgesondert habe (
, Esra 9,1), sondern seinen „heiligen Samen“ mit diesen vermischt habe (
, 9,2), und dann die radikale Trennung von allem Fremden fordert (
, 10,11).1090
Neh 9 –10 schildern, wie sich das Gottesvolk durch einen feierlich ratifizierten Vertrag neu konstituiert. Bereits zur vorbereitenden Fast- und Bußzeremonie trennen sich die Israeliten , von allen Fremden (9,2; vgl. 10,29). Im Vertrag selbst wird vor allen anderen Bestimmungen dekretiert, dass Angehörige des JHWH-Volkes mit den „Völkern des Landes“ (
) keine Ehe eingehen (10,31) und am Schabbat keinen Handel treiben dürfen (10,32).
In Neh 13, dem letzten Kapitel des Buches, lässt Nehemia die Vorschriften von Dtn 23,4–6 verlesen (v.1–2) und daraufhin die nichtisraelitischen Bevölkerungselemente ausschließen (, v.3).1091 Dabei wird die Gesetzesvorschrift zwar unverändert zitiert, über die dort erwähnten Ammoniter und Moabiter hinaus wird sie aber auf alle Nichtisraeliten ausgeweitet. Auf welche Weise diese die Heiligkeit des jüdischen Volkes gefährden, wird wiederum am Beispiel der Schabbatverletzung (v.15–22) und der Mischehen (v.23–27) demonstriert. Indem er diese Missbräuche abstellte, hat Nehemia, wie er sich abschließend rühmt, sein Volk
, von allem Fremden (v.30), „gereinigt“.
Ist Jes 56,1– 8 demnach zwar keine juridische Stellungnahme gegen die Torah, wohl aber ein Protest gegen deren einseitige Auslegung unter Nehemia und Esra?1092 Auch gegen diese Deutung lassen sich Argumente anführen.1093 Ein genereller Ausschluss von Ausländern oder gar von ausländischen Proselyten wird in den angeführten Texten nämlich nicht postuliert. Die „Völker der Länder“, die „Fremden“ und das „Völkergemisch“, von denen immer wieder die Rede ist, sind Nichtisraeliten, die gerade keine Beziehung zum Glauben Israels aufgenommen haben. Hingegen könnten Personen wie die in Jes 56 durchaus auch in Esra 6,21 gemeint sein. Dort wird , jeder, der sich von der Unreinheit der Nationen des Landes zu ihnen hin abgesondert hat, zur Feier des Pesach zugelassen. Und nach Neh 10,29 darf
, jeder, der sich von den Völkern der Länder abgesondert hat, dem erwähnten Vertrag beitreten. Beide Stellen rechnen also mit der Möglichkeit, dass Menschen, die von ihrer ethnischen Herkunft her keine Israeliten sind, ihre bisherigen Bräuche, vor allem ihre bisherige „unreine“ Religion aufgeben und sich dem Volk JHWHs anschlie-ßen.1094
Ein weiterer Grund, die Fremden von Jes 56 mit diesen Personen zu identifizieren, hängt mit der Schabbatfrage zusammen. Neh 13 verurteilt den Missstand, dass ausländische Kaufleute ihre jüdischen Geschäftspartner dazu verleiten, den Schabbat zu entweihen ( pi., v.17.18). Demgegenüber qualifiziert Jes 56,6 diejenigen, die sich JHWH angeschlossen haben, mit der Apposition
und stellt ihnen damit ein doppeltes „Unbedenklichkeitszeugnis“ aus: Diese Ausländer beachten den Schabbat, sie entweihen ihn nicht. Ja, sie erfüllen die Forderungen des Bundes (
)1095 und stellen deshalb keine Gefahr für gesetzestreue Juden dar.
Jes 56 vertritt also nicht einfach eine liberalere Position zur Ausländerfrage, sondern eine differenziertere. Die ethnische Abstammung ist kein ausreichendes Kriterium, um jemandem die Mitgliedschaft im Volk JHWHs zu gewähren oder zu verweigern. Entscheidend ist seine ethisch-religiöse Praxis, die Treue zu den Geboten, vor allem dem Schabbatgebot, und das Verhalten innerhalb der Kult-gemeinde (vgl. v.6). Deshalb spricht der prophetische Verfasser auch nicht verallgemeinernd von (wie z. B. Sach 2,15) oder
(wie Esra und Ne-hemia), sondern von
, von einzelnen Fremden. Statt alle Fremden als Bedrohung für die Heiligkeit Israels zu diskreditieren, lobt er einige, die durch ihre Bekehrung und ihr nachahmenswertes Beispiel zu einem positiven Element im Gottesvolk geworden sind.
Die Zitationsformel in v.4 wird unterstreichen, dass diese Neuerung nicht auf menschliches, sondern auf göttliches Recht zurückgeht. Dieselbe Tendenz spiegelt sich aber auch schon in der Klage in v.3. Die Fremden protestieren ja nicht gegen das Vorgehen irgendwelcher religiöser Autoritäten und appellieren nicht an deren Großzügigkeit, sondern legen die Frage ihrer Gemeindezugehörigkeit direkt in die Hände JHWHs.1096 Er allein entscheidet, ob jemand in sein Volk, wie es ausdrücklich heißt, aufgenommen oder aus ihm ausgeschlossen wird.
Die Aussagen über die Fremden in v.6–7 sind nicht nur ähnlich konstruiert wie die über die Eunuchen in v.4–5,1097 durch die Konjunktion am Anfang von v.6 sind sie mit diesen sogar wie die zweite Tafel eines Diptychons verbunden. In beiden Fällen ist der Name, im Unterschied zu v.3 nun im Plural, emphatisch vorangestellt: . Darauf folgt jeweils eine Reihe von Appositionen, die die Personen näher charakterisieren. Die eigentliche Verheißung steht im zweiten Vers, der jeweils mit einem weqatal beginnt, den casus pendens präpositional oder als Suffix wieder aufnimmt und dann die Intervention Gottes beschreibt: (
=).
V.6 wiederholt zunächst das Hauptmerkmal der Fremden aus v.3 – – und schildert dann mit drei Infinitiven, was ihre Hinwendung zu Jim Einzelnen bedeutet: sie dienen ihm (
), sie lieben seinen Namen (
), sie agieren als seine Knechte (
).1098
Das Verb pi. kann sowohl den profanen als auch den liturgischen Dienst bezeichnen.1099 Da hier Gott selbst als Objekt fungiert (vgl. Dtn 10,8; 21,5; Ez 40,46 u. ö.) und der folgende Vers überdies die Opfer der Fremden erwähnt, ist u. E. die zweite Bedeutung vorzuziehen. Auf welche Weise sollten sie Jsonst dienen? Für das kultische Verständnis sprechen auch die Parallelen zu Jes 60,7, wo die Tiere, die aus dem Ausland herbeigebracht werden, Zion „dienen“, indem sie sich opfern lassen, und insbesondere 61,6, wo die Begriffe
synonym verwendet werden, um die Stellung der Israeliten als Mittler zwischen J und den übrigen Menschen zu definieren.1100 Dieser Dienst wird hier den „Söhnen der Fremde“ übertragen, die sich dem priesterlichen Volk angeschlossen haben.
Die Wendung , den Namen JHWHs lieben, ist in der hebräischen Bibel ohne Parallele. Sie dürfte auf das im Deuteronomium und in der deute-ronomistischen Literatur vielfach bezeugte Gebot der Gottesliebe anspielen,1101 um es auf die Fremden, die sich dem Glauben Israels angeschlossen haben, auszudehnen. Indem diese den Zion aufsuchen, den „Ort des Namens Js der Heere“ (
, Jes 18,7), verlassen sie den Kreis der
, die diesen Namen fürchten müssen (
, Ps 102,16; vgl. Jes 59,19). Deshalb muss auch für sie gelten, was die Psalmen denen verheißen, die den Namen Gottes lieben: dass sie von Freude erfüllt werden (
, Ps 5,12) und als treue Knechte Gottes ein Wohn- und Bleiberecht auf dessen Berg erhalten (
, Ps 69,37).
Während der erste Gedanke in der Verheißung Jes 56,7a wiederkehrt, findet sich der zweite als drittes Charakterisierungsmerkmal am Ende von v.6a: . Wegen des Kontextes ist wie bei
auch hier von der religiösen Bedeutung der Wurzel
auszugehen: die Anbetung und Verehrung der Gottheit, die sich besonders im Kult vollzieht, die aber auch das tägliche Sozialverhalten einschließt.1102 Die Fremden haben den Dienst ihrer Götter, der
(vgl. Dtn 31,16; Jos 24,20; Jer 5,19) quittiert, um „Knechte“ JHWHs zu werden.
Welch privilegierte Stellung sie dadurch erhalten, geht aus dem Vergleich mit Jes 14,2 hervor. Dort wurde den Völkern, die die Diasporajuden in die Heimat zurückführen, prophezeit, sie würden im Land zu Israels Knechten und Mägden werden (). Hier wird diese allgemeine Bestimmung für den konkreten Einzelfall revidiert: Wer den Glauben und die Lebensweise Israels übernimmt, wird nicht anderen Menschen, sondern Gott allein untertan!
Wegen der besonderen strukturellen Position von Jes 56 im Gesamtjesajabuch erhält der Terminus an dieser Stelle noch eine weitere, tiefere Bedeutung. In Jes 40–55 wurde der
als Modell des gläubigen Israel präsentiert, als derjenige, der das göttliche Recht (
, 42,1) und das göttliche Heil (
, 49,6) zu den Nationen bringt und für die Sünden der „Vielen“ Sühne leistet (53,11–12). In 54,17 wurde erstmals die pluralische Bezeichnung
verwendet, um die einzelnen Mitglieder des kollektiven Eved zu identifizieren, diejenigen, die sein Charisma, seine Erwählung und seine Sendung weitertragen. In 56,6 wird dieser Ehrenname nun zum ersten Mal verliehen – ausgerechnet an die neubekehrten, fremdstämmigen JHWH-Verehrer! Das neue Gottesvolk, das die folgenden Kapitel beschreiben und das sich um die Avadim herum konstituiert, schließt also von Anfang an Fremdstämmige ein.1103 Nicht als eine zweite, untergeordnete Klasse, sondern als Angehörige mit der gleichen Würde, der gleichen unmittelbaren Gottesbeziehung. Im Grunde schreibt ihnen das „Manifest der Knechtsgemeinde“ sogar eine Vorbildfunktion zu, indem es sie als solche präsentiert, die wider Erwarten alle Eigenschaften eines Gläubigen besitzen.1104 Von ihrer Begeisterung, ihrer „ersten Liebe“ sollten sich die eingeborenen Glieder des Gottesvolkes anstecken lassen.
Die letzten beiden Qualitäten in v.6b heben sich von den ersten drei dadurch ab, dass sie nicht als Infinitive, sondern als Partizipien formuliert sind. Diese greifen zum einen auf die Seligpreisung in v.2, zum anderen auf die Charakterisierung der Eunuchen in v.4 zurück. Wie jenen bescheinigt JHWH auch den ausländischen Konvertiten, dass sie den Schabbat beachten () und sich an die Satzungen seines Bundes halten (
). Die partizipiale Konstruktion legt nahe, dass sie tatsächlich so handeln.1105 Im Satzzusammenhang, als Protasis der inv.7 folgenden Apodosis, können diese Appositionen aber auch in einem einschränkenden, konditionalen Sinn verstanden werden:1106 jeder, das heißt, nur der, der den Schabbat bewahrt und den Bund festhält! Von daher ist es falsch, die folgende Verheißung auf alle Ausländer zu beziehen und aus Jes 56 eine oberflächliche Xenophilie herauszulesen. Es ist nicht so, dass alle
zum Gottesdienst der JHWH-Gemeinde eingeladen werden. Vielmehr wird denen, die sich durch die Beobachtung des Schabbats und eine torahgemäße Lebensart bereits als Glieder der „Knechtsgemeinde“ erwiesen haben, die volle, uneingeschränkte Teilnahme zugesichert.
Wie wir gesehen haben, ist in Ex 31,12–17, das hier eingespielt wird (s. o. 1.3.1.), der wöchentliche Ruhetag das wesentliche Kriterium für die Zugehörigkeit zur JHWH-Gemeinde. Er ist das sichtbare Zeichen (, v.13) der exklusiven Beziehung zwischen JHWH und Israel, das unverwechselbare Charakteristikum der
, des ewigen Bundes (v.16). Von daher stehen die beiden Tugenden der Konvertiten, die Schabbatobservanz und die Bundestreue, in einem inneren Zusammenhang. Der Endtextleser wird diese
, nicht zuletzt dank Ex 31 als Brückentext, mit der
von 55,3 identifizieren. Für ihn sind die Fremden von Jes 56 dann solche, in denen sich die Weissagung von 55,5 erfüllt. Sie haben das durch die Heilszu-sagen Davids „geschmückte“ Israel aufgesucht und sind in dessen Bund einge-treten.1107
Die Verheißung von v.7 wird in einem Trikolon (3+3+4) entfaltet, das aus zwei Verbalsätzen (weqatal-x) und einem Nominalsatz besteht.Wie in v.5 fungieren auch hier JHWH als handelnde Person und die Empfänger der Verheißung als Objekte seines Tuns. Auffällig ist, dass nicht zu ihnen, sondern über sie geredet wird. Das Orakel will also nicht in erster Linie die um ihre Zukunft Bangenden trösten, sondern gegenüber ungenannten Kontrahenten eine bestimmte theologische bzw. religionsgesetzliche Auffassung durchsetzen.1108 Den Platz der Fremdstämmigen innerhalb der Kultgemeinde zu bestimmen, ist zwar für sie persönlich wichtig, noch wichtiger aber ist es, ausgehend von diesem Problem die richtige Form und Zusammensetzung des Gottesvolkes selbst zu finden.
Die erste Verheißung entspricht mit dem Verb und der Zielangabe
auf den ersten Blick dem üblichen Völkerwallfahrtsschema. In zweifacher Hinsicht unterscheidet sie sich jedoch grundlegend von den verwandten Texten. Eine Völkerwallfahrt wird hier gar nicht prophezeit. Nicht ganze Nationen, auch nicht deren politische Führer kommen zum Zion, sondern Einzelne, die bereits eine existentielle Entscheidung für JHWH getroffen haben. Von daher könnte es sein, dass sie noch nicht im Land sind oder sich wenigstens noch nicht fest angesiedelt haben. Sie könnten sich im Ausland (d. h. in ihrem eigenen Heimatland) einer jüdischen Gemeinde angeschlossen haben und nun darauf hoffen, die Exilierten bei ihrer Alijah zu begleiten. Der Konflikt wäre entstanden, als ihre jüdischen Nachbarn sich zur Reise rüsteten und sie nicht mitziehen durften oder als sie in Jerusalem ankamen und ihre Zugehörigkeit zum Gottesvolk in Zweifel gezogen wurde.1109 Eine solche Rekonstruktion ist historisch plausibel und kann sich zudem auf buchinterne Indizien stützen. Jes 55,12–13 kündigt nämlich nicht nur den Auszug der Judäer an, sondern im Bild der in die Hände klatschenden Bäume auch die freudige Anteilnahme von Sympathisanten aus den Nationen.1110 Was dort von jenen gesagt wird – sie ziehen in Freude (
) aus und werden von Gott selbst geführt (
) –, wird hier in umgekehrter Reihenfolge auch den neubekehrten Ausländern zugesagt: JHWH selbst wird sie zum Zionsberg geleiten (
) und ihnen dort die Freude seiner Gegenwart schenken (
).1111 In einer fortlaufenden synchronen Lektüre entsteht somit der Eindruck, dass ihr Zug auf den der Exilierten folgt und diesen vollendet.
Damit ist bereits der zweite Unterschied zu anderen Wallfahrtsorakeln benannt. Zwar ist es nicht das erste Mal, dass Gott selbst eine Reise zum Zion initiiert, doch in 43,5 bringt er sein eigenes Volk herbei () und in 60,17 verschiedene Güter, mit denen er seine Stadt bereichern will (
). Die Rolle der Ausländer ist sonst diejenige der Begleiter und Transporteure: in 14,2 bringen sie die Israeliten nach Hause (
; vgl. 66,20), in 49,22 tragen sie die Kinder Zions auf ihren Schultern (
; vgl. 60,4), in 60,9 transportieren sie diese auf Schiffen (
), während sie in 60,11 Schätze befördern (
). Demgegenüber vertritt Jes 56 zum ersten Mal die revolutionäre Auffassung, dass Nichtisraeliten den Wohnort JHWHs nicht nur betreten dürfen, sondern sogar von diesem selbst dorthin geführt werden.
Das scheint im Widerspruch zu Ez 44,6–9 zu stehen, einer Passage, die aufgrund einer Reihe intertextueller Signale als wichtigster Intertext von Jes 56,3–7 anzusehen ist.1112 Hier wie dort ergeht im Namen Gottes (, Jes 56,4;
, Ez 44,6.9) eine prophetische Weisung, die den Zutritt von Ausländern (
, Ez 44,7.9) zum Tempel bzw. Tempelberg (
, Ez 44,7.8.9) regelt. Die Urteile der beiden Propheten lauten aber genau entgegengesetzt. Während für Ezechiel ihre bloße Anwesenheit ein Gräuel (
) darstellt, erlaubt Jesaja ihnen sogar die Darbringung von Opfern. Besonders eklatant wird der Kontrast, wenn unter Verwendung desselben Verbs
hif. Ez 44,7 den Israeliten vorwirft, sie ließen Fremde das Gotteshaus betreten (
), Jes 56,7 aber erklärt, JHWH werde diese persönlich hineinführen (
).
Der naheliegenden These, die beiden Prophetentexte formulierten konträre Positionen, ist auch widersprochen worden. So weist Paul A. Smith darauf hin, dass Ez 44 nicht von Ausländern im Allgemeinen, sondern von unbeschnittenen Ausländern spricht, Jes 56 aber von solchen, die sich JHWH angeschlossen ha-ben.1113 Da Letztere beschnitten gewesen seien, gehörten sie nicht zu den von Ezechiel gemeinten Personen. Dies kann aus unserem Text, der die Beschneidung überhaupt nicht erwähnt, aber nicht gefolgert werden.1114 Doch auch für Ezechiel ist sie nicht das alles entscheidende Kriterium. In Wirklichkeit wendet er sich nämlich gegen Fremde, die , unbeschnitten am Herzen und un-beschnitten am Fleisch (44,7.9), sind. Hätte ihm das körperliche Unbeschnittensein als Ausschlussgrund genügt, hätte er das „geistliche“ nicht hinzuzufügen brauchen. Indem er das zweite dem ersten voranstellt, erweckt er sogar den Eindruck, dass das moralische Defizit mehr wiegt als das physische, das Herz, das gegenüber den Weisungen der Torah verschlossen ist, mehr als die Vorhaut. Jeremia kann denselben Vorwurf gegen das eigene Volk richten (
, Jer 9,25), weshalb er an anderer Stelle sogar dessen Berechtigung, den Tempel zu betreten, in Frage stellt (
, 11,15). Auf die in Jes 56 geschilderten Personen, egal ob beschnitten oder unbeschnitten, trifft dieser Vorwurf jedenfalls nicht zu.1115
Aus all dem folgt, dass Jes 56 und Ez 44 durch signifikante Referenzsignale verbunden sind, aber nicht einfach denselben Kasus gegensätzlich entscheiden. Vor allem scheinen sie nicht denselben Personenkreis zu meinen. Des Weiteren ist zu beachten, dass sie unterschiedliche Anliegen verfolgen. Während der eine Text sakralrechtliche Normen (, Ez 44,5) formuliert, um die Heiligkeit des Tempels zu garantieren, geht es dem anderen darum, den religiösen und sozialen Status von Randgruppen zu klären.
Daraus ergeben sich die abweichenden Positionen. Dass Ausländer zum Zion kommen, um JHWH anzubeten, ist für Ezechiel ein Problem, für die jesajanische Tradition ein vorzügliches Kennzeichen des endzeitlichen Gottesvolkes. Das wird u. a. dadurch zum Ausdruck gebracht, dass das Zionsepitheton , mein heiliger Berg, an dieser Stelle zum ersten Mal wieder nach 11,9 vorkommt.1116 Der Berg, auf dem der Isai-Spross seine Friedensherrschaft ausübt, soll nach dem Willen Gottes also auch Nichtisraeliten beherbergen, so dass sich die in 11,10 ausgesprochene Prophezeiung erfüllt. Derselbe Universalismus prägt auch die Vision von 66,20, wenn sich ganz am Ende des Buchs der Blick noch einmal auf den „heiligen Berg“ richtet. Auf ihm versammeln sich die „Entronnenen“ Israels und der Nationen, um gemeinsam dem einen Gott zu huldigen.
So ist es nur konsequent, dass die ausländischen JHWH-Verehrer auch an der Freude, die ja ein zentrales Element des Jerusalemer Kultes ist,1117 teilhaben dürfen (, 56,7aβ). In 65,13 wird sie eines der Merkmale sein, das die Gottesknechte von ihren Gegnern unterscheidet:
, siehe, meine Knechte werden sich freuen.
Zum Schluss werden dann noch ihre Opfer als gültig deklariert (, 56,7aγ). Ob diese von ihnen selbst oder von anderen dargebracht werden, ob sie also als Priester fungieren oder nicht, ist u. E. nicht definitiv zu klären.1118 In jedem Fall werden sie mit dieser Formulierung von denen abgehoben, die JHWHs Volk zwar angehören, aber nicht dementsprechend leben. Von ihnen statuiert Jer 6,20 nämlich, dass ihre Brand- und Speiseopfer Gott nicht wohlgefällig sind (
).1119
Am Tempel werden aber nicht nur Opfer dargebracht, er ist auch eine Stätte des Gebets. Diese zweite Funktion hebt unser Text dadurch hervor, dass er den priesterlichen Kultbescheid durch eine Bezeichnung einrahmt, die im Alten Testament nur hier begegnet: , Bethaus, bzw.
, mein Bethaus. Damit soll nicht der Opfer- durch den Gebetskult abgelöst werden; auch in der künftigen Heilszeit werden nach Jes 56 beide Formen des Gottesdienstes praktiziert. Der Hauptakzent liegt vielmehr auf den beiden Wörtern, die den Vers beschließen und die eigentliche Neuheit enthalten. Der Tempel ist jetzt schon ein „Haus des Gebets“, durch die Zionswallfahrt der Fremden aber wird er ein „Haus des Gebets für alle Völker“ (
) werden!1120 Dieser neue Name ist keine Äußerlichkeit, sondern steht für eine neue Wirklichkeit (vgl. 60,14.18; 61,3.6 u. ö.). In ihm manifestiert sich JHWHs Wille, nicht nur von seinem Volk, sondern von allen Völkern angebetet zu werden, nicht nur die Bitten der Israeliten, sondern die aller Menschen zu erhören.
In diesem Anliegen trifft sich die jesajanische Weissagung mit einem anderen theologisch bedeutsamen Text, der den Jerusalemer Tempel ebenfalls als internationale Gebetsstätte konzipiert: dem Tempelweihegebet Salomos in 1 Kön 8,22 – 53 (insbesondere v.41–43).1121 In beiden Fällen ist die Hauptperson bzw.
(1 Kön 8,41.43; Jes 56,3.6), d. h. ein Fremder, der im Unterschied zum ger keinen bleibenden Wohnsitz und keinen gesicherten Rechtsstatus besitzt. Sein Abstand von Israel als Volk JHWHs wird ausdrücklich festgestellt (
, 1 Kön 8,41;
, Jes 56,3), sein Kommen nach Jerusalem wird geschildert (
qal, 1 Kön 8,41.42;
hif., Jes 56,7), der Tempel wird erwähnt und als Ort identifiziert, an dem auch Ausländer zu JHWH beten (
, 1 Kön 8,42;
, Jes 56,7). In beiden Texten spielt der Name Gottes eine zentrale Rolle: er ist der Grund, weshalb der Fremde sein Land verlässt und die Pilgerreise antritt (
, 1 Kön 8,41), und er wird von denen, die zu JHWH konvertieren, geliebt (
, Jes 56,6). Die Erwartung schließlich, dass in der Zukunft alle Völker diesen einzigartigen Namen anerkennen und verehren werden (
, 1 Kön 8,43), entspricht der Ankündigung, dass in dem Tempel alle Völker (
, Jes 56,7) ihr Gebet verrichten werden.
Die intertextuellen Parallelen sind aber auch hier nur der Ausgangspunkt, um das je Besondere der beiden Aussagesysteme und damit auch ihre Differenzen zu erfassen. Zu allgemein bleibt das Resümee: „Die beiden Stellen verbindet nicht nur die Thematik des Tempels als Haus des Gebets, sondern auch die Erwähnung von JHWH-Verehrern der Völker, die an diesem Gebet teilnehmen.“1122 Aber auch die Behauptung, Jes 56,7 gehe weit über 1 Kön 8,41–43 hinaus, „denn nicht nur können Fremde im Tempel beten, sondern auch in einer gottgefälligen Weise () Opfer darbringen,“1123 ist problematisch, da das Tempelweihegebet dieses Thema ja nicht berührt.
Auch wenn sich nicht entscheiden lässt, ob zwischen den Texten eine literarische Abhängigkeit besteht und welcher der beiden den anderen beeinflusst hat, lassen sie sich doch vergleichen und in ein kanonisches Gespräch bringen.Vor allem ist auch in diesem Fall zu beachten, dass sie trotz ähnlicher Termini verschiedene Arten von Ausländern vor Augen haben: 1 Kön 8 unterstreicht ihre ethnische und geographische Distanz (, v.41) und geht ausführlich auf die Motive ihrer Pilgerreise ein (
, v.41fin;
, v.42a).1124 Dabei ist klar, dass sie diese aus eigener Initiative unternehmen, um in Jerusalem ihr Gebet zum Tempel hingewandt zu verrichten (
, v.41–42).1125 Ganz anders ist die Situation in Jes 56. Über den Aufenthaltsort und die Motivation der Fremden verlautet dort nichts. Wichtig ist aber, dass sie den Glauben an Jangenommen haben und dieser Schritt nun ihr Verhalten, ja, ihre ganze Existenz bestimmt. Die Befürchtung, vom Gottesvolk getrennt zu werden (v.3), setzt voraus, dass sie sich ihm angeschlossen haben und ihm (zumindest ihrer eigenen Einschätzung nach) nun angehören.1126 Die Reise nach Jerusalem ist dann kein persönlicher Entschluss, sondern ein von Gott gewährtes Privileg. Er selbst wird sie zum Zion bringen, so dass sie den Tempel betreten und ihre Opfer und Gebete verrichten können (v.7). Er handelt damit auf eine bis dahin unerhörte Weise an den „Heiden“. Gleichzeitig handelt er aber auch an seinem Volk, das durch deren Anwesenheit im Heiligtum selbst verwandelt wird.
Wollte man die Gestalten von 1 Kön 8 und Jes 56 zueinander in Beziehung setzen, könnte man das Geschehen am ehesten so rekonstruieren: Jes 56 beschreibt den Fall eines Ausländers, der die in 1 Kön 8,41–43 beschriebene Wallfahrt unternommen hat, dann aber nicht in seine Heimat zurückgereist ist, sondern sich zu Jbekehrt und in Jerusalem niedergelassen hat.1127 Er ist der erste, in dem sich die Erwartung von 1 Kön 8,43 erfüllt, dass „alle Völker der Erde“ () J erkennen werden.
Was aber, wenn Ausländer tatsächlich zu derselben Gotteserkenntnis wie Israel () gelangen? Gehören sie dann nicht automatisch zum Eigentumsvolk JHWHS? Auf diese Frage, die den Denkhorizont von 1 Kön 8 und auch der Esra-/Nehemiatexte1128 übersteigt, antwortet Jes 56,7 mit einer neuen Verheißung. Indem JHWH den fremdstämmigen Konvertiten Zutritt in „sein Haus“ gewährt, nimmt er sie in die Gemeinde seiner Gläubigen auf, erhört also, wie in 1 Kön 8,43 vorgesehen, die Bitte des zu ihm rufenden Fremden. Auch wenn es sich nur um wenige Einzelfälle handeln sollte, hat sich doch in ihnen die Vision, eines Tages würden alle Völker der Erde den Gott Israels verehren, schon anfanghaft erfüllt.
Der Begründungssatz in v.7b, der dem Tempel, dem Ort des Trostes für die Fremden ebenso wie für die Eunuchen, eine neue, völkerverbindende Funktion zuschreibt, hat bereits den Charakter eines literarischen Abschlusses.1129 Dennoch folgt in v.8 noch ein kurzes Gotteswort, das durch die Spruchformel mit dem feierlichen Doppelnamen besonders hervorgehoben ist. Das partizipiale Epitheton
, der die Versprengten Israels sammelt, bildet die Grundlage der eigentlichen Verheißung:
, ich werde sammeln. Es unterstreicht, dass das Sammeln von Menschen nicht nur ein Zukunftsprojekt Js ist, eines von vielen, sondern zu seinem Wesen selbst gehört.1130 Sein innerstes Anliegen ist es, dass das Gottesvolk nicht zerstreut, sondern gesammelt, nicht gespalten, sondern geeint sei. Denn nur so kann es in der Welt „sammelnd“ wirken, kann es verbinden, versöhnen, Frieden stiften und Motor für die Einigung der Menschheit sein. Seine Einigkeit ist aber auch die notwendige Bedingung, um Zeugnis für seinen Erschaffer, den einen Gott abzulegen.
Über seine „Gesammelten“ ( , v.8b), d. h. über die bereits nach Zion heimgekehrten Judäer hinaus will J„weiter sammeln“ (
). Im Kontext sind damit die um Anerkennung und Integration kämpfenden Ausländer und Eunuchen gemeint. Darüber hinaus dürften all die Menschen eingeschlossen sein, die durch ihre Herkunft oder ihre körperliche und geistige Verfassung behindert sind, aber durch ihr Verhalten (sie üben Gerechtigkeit, halten den Schabbat, bewahren den Bund etc.) zu Js „Hausgemeinschaft“ gehören.1131 Die Völkerwallfahrtsidee wird so in einzelne Etappen aufgeteilt und in eine auf konkrete Fälle anwendbare Handlungsmaxime übersetzt.