In v.7 wurde mit , mein heiliger Berg, bereits Jes 11,9 eingespielt. Der Platz, an dem die Fremden getröstet werden, wurde auf diese Weise mit dem Friedensreich des Isai-Sprosses identifiziert. Die Rolle des davidischen Herrschers bleibt hier jedoch unbesetzt. Das ist nur konsequent, nachdem 55,1–5 seine heilsvermittelnde Funktion ja auf Ganzisrael übertragen hat. Mit
und dem futurischen
wird nun auch noch 11,12 aufgerufen, nämlich die im Chiasmus formulierte Doppelverheißung:
, er wird die Zerstreuten Israels zusammenholen und die Versprengten Judas sammeln.1132 Diese Sammlung des „Restes Israels“ (
), v.11.16) wird durch 56,8 übertroffen, wie das emphatisch vorangestellte
, weiter, noch mehr, signalisiert. JHWH will nicht nur die Angehörigen der Diasporagemeinden,1133 sondern auch andere Menschen zusammenführen, die wie die Fremden und Eunuchen seinen Willen tun und darin „Seligkeit“ erfahren.
Das Epizentrum dieser globalen Sammlungsbewegung ist das Volk Israel (, zu ihm, um es herum), ihr geographischer Ort der Zionsberg und auf diesem wiederum das „Haus JHWHs“ (vgl. 2,2:
), ihr Ziel eine gemeinschaftliche Lebensform, deren Pfeiler die soziale Gerechtigkeit, die Feier des Schabbats und der am Tempel praktizierte Gottesdienst sind.
Dadurch, dass die Gottesspruchformel (im Unterschied zu 3,15, dem einzigen anderen Beleg mit dem Doppelnamen ) den Vers nicht abschließt, sondern eröffnet, kann v.9 als Fortsetzung der Gottesrede verstanden werden. Doch wie ist er mit der großartigen Völkersammlungsvision verbunden? Die übliche Interpretation als Drohwort gegen die Führer Israels (die wilden Tiere sollen kommen und sie verschlingen) basiert darauf, dass der Vers mit v.10–12 verbunden wird.1134 Sie kann sich auf die Parallele zu dem Gerichtsorakel Jer 12,9 berufen:
, kommt, sammelt euch, alle Tiere des Feldes, kommt zum Fraß! Ähnlich formuliert auch Ez 39,17. Allerdings sagen die intertextuellen Bezüge als solche nichts darüber aus, ob die Metapher an beiden Stellen analogverwendet ist oder ob sie einen neuen, u. U. sogar gegensätzlichen Sinn erhält. Es könnte nämlich auch hier das mehrfach beobachtete Phänomen vorliegen, dass ein jeremianisches Drohwort im exilisch-nachexilischen Jesajabuch in ein Heilsorakel verwandelt wird.1135
Die Auslegung verändert sich, wenn man der überlieferten Textgliederung folgt und v.9 als Schlusswort von v.1–8 betrachtet. Der zu kurze, syntaktisch unvollständige v.9a könnte sogar mit v.8b, dem ein direktes Objekt fehlt, verbunden werden. Dadurch entstünde ein metrisch (4+3) und inhaltlich stimmiges Bikolon: , weiter werde ich zu ihm, zu seinen Gesammelten sammeln, (nämlich) alle Tiere des Feldes. Die Tiere stünden dann allegorisch für die Nationen, die JHWH zu seinem Volk und zu den bereits bekehrten „Heiden“ noch hinzufügen will.1136 Diese Deutung ist aber auch dann möglich, wenn man die masoretische Versteilung beibehält und
als Vokativ interpretiert, der im zweiten Halbvers durch
wieder aufgenommen wird.1137
Dass das Bild der fressenden (äsenden) Feldtiere auch positive Aussagen illustrieren kann, belegt ein bisher nicht beachteter Vergleichstext. Im Rahmen der Schmittah-Gesetzgebung ordnet Ex 23,11 an, dass die Erträge, die Äcker, Weinberge und Olivenhaine im siebten Jahr bringen, zuerst den Armen des Volkes und dann den Tieren des Feldes überlassen werden sollen: , und ihren Rest soll das Vieh des Feldes fressen. So wie das wilde Getier Anteil an der Ernte Israels erhält, wären also in Jes 56,9 die „wilden“ Nationen eingeladen, zum Haus JHWHs zu kommen, um gemeinsam mit seinem Volk von ihm bewirtet zu werden.
Diese positive Auslegung wird noch wahrscheinlicher, wenn unser Vers, wie Wolfgang Lau vermutet,1138 tatsächlich Ps 104 zitiert. Dort kommen nämlich beide Tiergruppen vor, , alle Tiere des Feldes (v.11), ebenso wie
, alle Tiere des Waldes (v.20). „Der Psalm bot sich als Vorlage an, weil die Tiere dort als Geschöpfe Gottes beschrieben werden, denen Jahwe Speise zukommen lässt.“1139
Der abschließende Vers unserer Texteinheit wäre somit ein Völkerwall-fahrtsspruch in metaphorischer Verkleidung. Auf in v.7 folgt als Bewegungsverb nun das seltenere Synonym
, auf die Zusage Gottes, er werde seine nichtisraelitischen Anbeter zum Zion bringen, der Appell, sich selbst auf den Weg zu machen, um dort gesättigt zu werden.
Eine Parallele zum großen Völkermahl in 25,6 –8 kann vermutet werden, sie lässt sich aber intertextuell nicht fassen. Dagegen bestehen klare sprachliche und inhaltliche Bezüge zu 55,1–3.1140 Hier wie dort lädt JHWH Personen ein, herbeizukommen und zu essen (). Im ersten Fall sind es die „Knechte“, die auf sein Wort hin nach Jerusalem zurückkehren, im zweiten die Ausländer, die das Wunder der Auferstehung des Volkes Gottes miterleben und sich daraufhin zu Ihm bekehren. Dass sie mit wilden Tieren verglichen werden, ist nicht so unvorbereitet, wie es erscheinen mag. Mit
wurden ja bereits zwei intertextuelle Links zu dem Heilsorakel in Kap. 11 gesetzt. Nun wird auch noch die Tieridylle von v.6–8 eingespielt, mit den Tieren des Feldes und des Waldes,1141 die friedlich nebeneinander lagern, die fressen, ohne einander aufzufressen (vgl. v.7:
), und sich von einem schwachen Kind leiten lassen.
Diese Friedensbotschaft wird nun auf alle wilden Tiere, sprich, auf alle Völker der Erde ausgedehnt. Sie sind eingeladen, zum Zion zu kommen, um ihren Hunger (nicht nur nach Nahrung, sondern auch nach Einheit, Frieden und Gerechtigkeit) zu stillen.1142 In 43,20 hatte JHWH verheißen, die „Tiere des Feldes“ würden ihn ehren (), wenn sie sehen, wie er für sein Volk Wasser in der Wüste entspringen lässt, und wenn sie dessen Lobpreis hören (vgl. 43,21). Mit Jes 56 ist ein neues Stadium erreicht: einige aus den Nationen haben sich zu JHWH bekehrt und haben dadurch die Völkerwallfahrt in Gang gesetzt. Gott selbst wird sie in seine Stadt führen und in die Gemeinde seiner Anbeter aufnehmen. Gleichzeitig ergeht an alle anderen, die sich noch „auf dem Feld“ oder „im Wald“ befinden, die Einladung, ja, der dringliche Ruf, ebenfalls zu kommen, um in Zion zusammen mit den bereits Gesammelten erquickt zu werden.
Jes 56,1– 9 setzt da an, wo 55,1– 5 aufhört. Wie verheißen sind Personen, die Israel zuvor nicht kannte ( ), ethnisch Fremde also (
), zu ihm gekommen, haben seinen Gott kennengelernt und sich zu ihm bekehrt. Ihre Integrationsprobleme, d. h. der Widerstand gegen ihre Integration, sind der Anlass, um die Kriterien für die Mitgliedschaft im Gottesvolk und die Rolle des Zion als Zentrum der Menschheitsfamilie zu überdenken. Im Unterschied zu 49,14–26 (und dann auch Kap. 60) antwortet dieser Völkerwallfahrtstext also nicht auf die Misere der zerstreuten Israeliten, sondern auf die Not von Nichtisraeliten, die im Gefolge der Exilierten ihre Heimat verlassen haben und nach Juda gekommen sind.
Die Verheißung einer von Gott geführten Zionswallfahrt in v.7 bildet den Höhepunkt des Orakels, doch erst die Rahmenteile in v.1–2 und v.8–9 erzeugen den richtigen Deutehorizont. So definiert die Einleitung zum einen den heilsge-schichtlichen Kairos und zum anderen die universale Dimension des Vorgangs. Der gegenwärtige Augenblick ist durch die Nähe des göttlichen Heils bestimmt. Gott ist dabei, seine Erlösung zu bringen, sie ist so nahe, dass sie sich nur noch zu offenbaren, d. h. erkannt zu werden braucht. Sie ist nicht unabhängig vom menschlichen Tun, vielmehr sind menschliche und göttliche „Gerechtigkeit“ unlösbar verbunden. Ibn Ezra sieht einen so engen Kausalzusammenhang, dass er das Kommen der messianischen Heilszeit von dem Verhalten des Menschen, genauer, des Volkes Israel abhängig macht: „You know that God will redeem you […]; keep, therefore, His judgments, for, if you do this, »salvation is near to come«. We may learn from this verse that the coming of Messiah is delayed because of our sins ().“1143
Für den christlichen Ausleger Nikolaus von Lyra stellt sich dieses Verhältnis etwas anders dar.Wenn sich der Mensch „iuste erga proximum“, gerecht gegenüber dem Nächsten (v.1), und „devote erga Deum“, fromm gegenüber Gott (v.2), verhält, dann ist das nicht die Voraussetzung, sondern lediglich die Vorbereitung des Heils („salutis praeparatio“). Eine solche Lebensweise schafft in dem Einzelnen nämlich die Empfänglichkeit („dispositio“), um die durch Christus gewirkte Erlösung zu erlangen.1144
Es ist hier nicht der Ort, um das Problem des Miteinanders von Gott und Mensch, des Zusammenwirkens von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit zu diskutieren. Unsere Exegese hat aber immerhin gezeigt, wie die beiden Wirklichkeiten (die beiden zedaqot) syntaktisch verbunden sind: durch die Konjunktion (lateinisch: „quia“), auf die eine futurisch aufzufassende Verbalkonstruktion folgt. Sie drückt aus, dass Gottes Heil nicht die Folge des menschlichen Tuns ist, nicht ein Lohn für diejenigen, die gerecht handeln, sondern der Grund, dass sie überhaupt gerecht handeln können. Im Unterschied zum üblichen Kausalnexus ist diese Ursache aber keine vorhandene, verfügbare Realität, sondern eine, die im Kommen ist. Deshalb kann sie den Menschen nur insofern beeinflussen, als dieser in der freudigen Erwartung des Heils dem Nächsten Gerechtigkeit und Gott Verehrung erweist, indem er „wählt, was Ihm gefällt“ (v.3). Er handelt, als ob die neue Rechtsordnung schon existierte, antizipiert sie also in seinem Tun. Auf diese Weise wird die für später verheißene neue Weltordnung „hier und jetzt“ erfahrbar. Das ist der Sinn von v.2: wer sich ihr entsprechend verhält, ist selig, denn er genießt bereits die Früchte des Heils.
Damit haben wir auch das zweite grundlegende Moment angesprochen: die Universalität. Sie gilt für den ethischen Imperativ „Übt zedaqah!“ ebenso wie für die Zusage der nahe bevorstehenden zedaqah JHWHs. Jeder Mensch () kann selig werden, indem er das eine tut und das andere empfängt. Wie wir gesehen haben, bildet der „jüdische“ Schabbat dazu keinen Widerspruch. Er ist ja in die Schöpfung eingestiftet (vgl. Gen 2,2–3; Ex 20,8–11), so dass die wöchentliche Ruhe der Natur eines jeden Menschen entspricht. Außerdem fördert er die soziale Gleichheit (vgl. Ex 20,10; Dtn 5,14), die in unserem Kontext ebenfalls alle Menschen betrifft.
In diesen Horizont der Naherwartung und des ethischen Universalismus wird auch der Fall der diskriminierten Ausländer gestellt. Dass sie den Glauben Israels angenommen haben (ein Phänomen, das in Jes 14,1 nur gestreift wird), ist der Grund, weshalb Jes 56 keinen direkten Kontrast zu Dtn 23, zu den Stellen in Esra und Nehemia oder zu Ez 44 darstellt. Dort ist ein solcher Ausnahmefall – ein „Heide“ bekennt sich zu JHWH! – nämlich gar nicht vorgesehen.
Entsprechendes gilt auch für die Stellen in Jes 60–62, die von Fremden handeln.Wer diese Kapitel für den ältesten Teil des „Tritojesajabuchs“ hält, kommt zu dem Schluss, dass unser Text die dort vertretene fremdenfeindliche Position korrigiere.1145 Aus der Rolle von Gastarbeitern Israels erhöbe er sie zu Dienern Js und überwinde so die Klassenunterschiede im Gottesvolk. Das ist aber nur bedingt richtig. Jes 56 vertritt nicht eine grundsätzlich fremdenfreundliche Haltung, es reagiert vielmehr auf eine gewandelte Situation. Jes 60–62 sieht die Ausländer als potentielle Helfer bei der Rückführung der Exilierten und bei dem Wiederaufbau Jerusalems. Darin bestände ihr Glück: nicht mehr Beherrscher, sondern Diener des Gottesvolks zu sein. Demgegenüber geht Jes 56 davon aus, dass die Prophezeiungen von 45,14–25 zumindest teilweise eingetroffen sind. Fremde haben, wie erhofft und dennoch unerwartet, J als den einzig wirkmächtigen Gott erkannt und sich zu ihm bekehrt. Dieser Religionswechsel hat aber, wie sich nun zeigt, auch Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander. Indem sie sich Jangeschlossen haben, ist ein neues Verhältnis zu Israel entstanden. Sie sind Teil des Qahal geworden und können deshalb nicht mehr als Untertanen behandelt werden.
Um die Integration der „Heiden“, die nicht nur eine neue Religion, sondern auch eine neue Lebensweise angenommen haben, zum Ausdruck zu bringen, verwendet v.7 das Vokabular der Völkerwallfahrt (). Das Motiv selbst ist aber auf den speziellen Fall hin abgewandelt.1146 So wird das Kommen nach Jerusalem nicht den Nationen im Allgemeinen verheißen, sondern einzelnen Personen, die sich bereits als „Gottesknechte“ erwiesen haben. Sie müssen nicht mehr Zion dienen, indem sie dieser ihre Kinder zuführen (vgl. 49,22–23), sondern werden selbst von Gott herbeigeführt. Sie müssen sich auch nicht mehr vor der Gottesstadt beugen, sondern dürfen betend und opfernd an ihrem Kult teilnehmen, was ihre volle Mitgliedschaft und Gleichberechtigung besiegelt. Damit sind sie die Erstlinge all derer, die noch kommen und den Je-rusalemer Tempel zum „Gebetshaus für alle Nationen“ machen werden.
So wird die J-Verehrung in Jes 56,1–9 zwar entnationalisiert und für die ganze Menschheit geöffnet, durch die Bindung an den Zion bleibt sie aber gleichwohl geortet; der Universalismus behält auch hier seine von Helmut Schmidt hervorgehobene zentralistische Gestalt.1147 Dies wird im abschließenden Gotteswort noch einmal unterstrichen (v.8 – 9). Sammlung geschieht ja nur, indem Zerstreute (der „Rest Israels“ und die „Entronnenen der Nationen“) zu einem Kern bereits Gesammelter hinzugefügt werden. Deshalb gefährdet der Universalismus der Völkerwallfahrt die Existenz und den Vorrang Israels auch nicht. Im Gegenteil, er setzt diese voraus und festigt sie.
Die Heimholung der Verbannten Israels und die Zionswallfahrt der Völker sind deshalb nicht zwei sukzessive, getrennte Phasen, sie sind zwei sich verstärkende Momente desselben Prozesses: dass einige aus den gojim, die „Erstlinge der Nationen“, den einen Gott JHWH erkennen und dass ihr Kommen Sein Volk in der Zuversicht bestärkt, dass die ersehnte Erlösung nahe gekommen ist.
Jes 60–62 „grenzt sich […] wegen seiner inhaltlichen Thematik (Verherrlichung des Zion) und zahlreicher Bezüge zur Heilsbotschaft des Deuterojesaja deutlich von den übrigen acht Kapiteln in Jes 56–66 ab und stellt den Kernbereich der jetzt konzentrisch angelegten tritojesajanischen Sammlung dar.“1148 Im Unterschied zu den Rahmenteilen Kap. 56–59 und 63–66 wird das Gottesvolk in diesen drei Kapiteln als eine einheitliche, kollektive Größe präsentiert und wie in den Zi-onstexten des zweiten Buchteils als Frau und Mutter personifiziert. Die Anrede an diese weibliche Gestalt ist das hauptsächliche, anhand der 2. Pers. Sg. f. auch grammatikalisch verifizierbare Charakteristikum dieses Textblocks.
Seine durchgängig positive Botschaft, die in der Verheißung und dein Volk wird aus lauter Gerechten bestehen (60,21), kulminiert, steht in deutlicher Spannung zu der Theologie der sie umrahmenden Partien. Diese kündigen Gericht für Angehörige des Gottesvolkes (vgl. 56,10–57,14; 66,1–6) und Heil für Fremde an (vgl. 56,1–9; 66,18–24), so dass ein Rest aus Israel und den Nationen entsteht, eine Gemeinde von „Knechten“, die sich auf dem Zion versammeln und gemeinsam Gott anbeten.1149
Während Jes 60–62 das eigene Volk optimistischer beurteilt, indem es z. B. keine Trennung unter den „Söhnen Zions“ macht, ist seine Haltung gegenüber den anderen Nationen reservierter. Sie sind nicht Protagonisten wie in 56,1– 9, sondern Funktionsträger, die einen Beitrag zur Verherrlichung der Gottesstadt leisten. Das Hauptinteresse gilt nicht ihrem, sondern Zions Heil.
Auch wenn sie theologisch nur eine sekundäre Rolle spielen, tragen die Völker, d. h. die Aussagen über sie, doch wesentlich zur sprachlichen Gestalt von Jes 60–62 bei. Für Sandra Labouvie sind es nämlich gerade die Vokabeln, die Nichtisraeliten bezeichnen, die diesen Kapiteln ihre sprachliche und thematische Geschlossenheit verleihen.1150
Welche Tätigkeiten üben die fremden Völker und ihre Könige aus? Welche Aufgaben erfüllen die Fremden, die nach Jerusalem hinaufziehen?
Die Nationen () ziehen zu dem Licht, das von Zion ausgeht (60,3), stellen der Stadt ihren Reichtum zur Verfügung (60,5.11.16; 61,6), treten in ihren Dienst (60,12), erkennen die göttliche Erwählung ihrer Bewohner (61,9), werden zu Zeugen der Erlösung, die JHWH seinem Volk schenkt (61,11; 62,2). Parallel dazu wird zweimal
, Völker (61,9; 62,10), verwendet, um zu unterstreichen, dass das göttliche Heilswirken die nationalen Grenzen überschreitet und von der nichtisraelitischen Menschheit wahrgenommen wird. Die Könige (
) werden oft im zweiten Glied eines Parallelismus erwähnt, um die entsprechende Aussage zu verstärken. Sie kommen zusammen mit ihren Untertanen nach Jerusalem (60,3), leisten dieser einen nicht näher definierten Dienst (60,10), begleiten als Mitgeführte die Karawane (60,11), versorgen Zion mit ihren Gütern (60,16), erblicken die Herrlichkeit, die JHWH in seiner Stadt offenbart (62,2). Die Fremden (
), die im Unterschied zu 56,3.6 grammatikalisch nicht bestimmt sind, bauen Zions Mauern auf (60,10), hüten ihre Herden, arbeiten auf ihren Feldern und in ihren Weinbergen (61,5); sie treten nicht mehr als Feinde auf, die den Ertrag der besiegten Stadt an sich reißen (62,8).
Der geschichtliche Hintergrund dieser Prophezeiungen lässt sich aus Hinweisen im Text erschließen. Der Tempel ist wieder aufgebaut, und auf dem Altar werden wie in 56,7 Schlachtopfer dargebracht (60,7).1151 Im Vergleich zum früheren Gotteshaus ist seine Ausstattung aber noch so bescheiden, dass er durch die Schätze anderer Völker bereichert und verschönert werden muss (60,7.9.13).1152 Dagegen scheinen die Mauern der Stadt in Ruinen zu liegen, so dass sie neu errichtet werden müssen (60,10; vgl. 49,16 – 17).1153
Ebenso wichtig wie die politischen Bedingungen ist der traditionsgeschichtliche Hintergrund. Die Völkerwallfahrtsvision von Jes 60 rezipiert nämlich ein zentrales Motiv der altorientalischen Königsideologie: die Vorstellung, dass der Großkönig auf dem Thron sitzend den Tribut und die Huldigung seiner Vasallen entgegennimmt.1154 Ihr unmittelbarer Bezugspunkt dürfte die persische Ausprägung dieses Motivs sein, die durch zwei Elemente charakterisiert ist: den Völkerjubel und die freiwillige Darbringung der Gaben.1155 Im jesajanischen Orakel wird dieses Bild übernommen und im Sinne der biblischen Zionstheologie transformiert. An die Stelle des göttergleichen Herrschers tritt die Gestalt Zions, an die Stelle des siegreichen Truppenführers die königliche Frau, deren Macht nicht auf Waffen, sondern auf dem Gehorsam gegenüber dem Willen JHWHs beruht.1156
Jes 59 endet mit einem kurzen Gottesspruch, der durch die zweifache Zitationsformel gerahmt ist (v.21). Die feierliche Schlusswendung
, von nun an bis in Ewigkeit, macht deutlich, dass ein Abschnitt zu Ende geht. Mit 60,1 beginnt eine neue literarische Einheit, die durch die Anrede an die 2. Pers. Sg. f. von dem vorhergehenden und nachfolgenden Kontext abgesetzt ist.1157
MT hat vor v.1 und nach v.22 eine Setuma, dazwischen keine weiteren Ab-schnittsmarker, betrachtet also das ganze Kapitel als eine Texteinheit. 1QIsab hat am Anfang ebenfalls eine Setuma, am Ende aber ein freies Zeilenende, das einen stärkeren Einschnitt signalisiert. In 1QIsaa markieren frZE/NZ und das Randzeichen ?1158 nach 59,21, dass mit 60,1 ein HA beginnt. Er reicht bis 61,9 und ist durch mehrere unterschiedlich große Spatien untergliedert.1159
Zur Struktur von Jes 60 werden in der modernen Exegese zahlreiche divergierende Vorschläge gemacht. James Muilenburg unterscheidet zwischen einer Eröffnungsstrophe (v.1–3) und drei Hauptteilen (v.4–9; v.10–16; v.17–22), die aus jeweils drei Strophen bestehen.1160 Odil Hannes Steck identifiziert nach Abzug der von ihm als sekundär beurteilten Teile fünf Abschnitte: v.1–3; v.4; v.5–9.13; v.14; v.15 –16.1161 Für Wolfgang Lau besteht das Kapitel nach Ausschluss der Zusätze in v.10–12 und der Überleitung in v.21–22 ebenfalls aus fünf Abschnitten, die mit Ausnahme des ersten aus je vier Versen bestehen: v.1–3; v.4– 7; v.8–11; v.13–16; v.17–20.1162 Joseph Blenkinsopp nimmt sechs Strophen ungleicher Länge an: v.1–3; v.4– 7; v.8–9; v.10–16; v.17–20; v.21–22.1163 Gregory J. Polan entdeckt eine konzentrische Struktur: „A1 The dawning light of salvation (vv. 1–3) – B1 The movement to Zion (vv. 4–9) – C Service to Zion (vv. 10 –14) – B2 The establishment of Zion (vv. 15 –18) – A2 The everlasting light of salvation for Zion (vv. 19 – 22).“1164
Am überzeugendsten ist u. E. der Gliederungsvorschlag von Gabriela I.Vlková, da er metrische und inhaltliche Kriterien gleichermaßen berücksichtigt.1165 Nach ihm gliedert sich das Kapitel in zwei Hälften aus jeweils drei Strophen. In der ersten Hälfte (v.1–14), die aus den Abschnitten v.1–3, v.4–9 und v.10–14 besteht, dominiert das Thema des „Kommens und Bringens“, während die zweite Hälfte (v.15–22) in den Abschnittenv.15 –17, v.18–20 und v.21–22 von dem neuen Zustand Jerusalems handelt.
Die Strukturmodelle ließen sich noch vermehren. Sie stimmen darin überein, dass sie die drei ersten Verse als die „Grundaussage des ganzen Kapitels“1166 betrachten, weichen für den restlichen Text aber erheblich voneinander ab. Da die einen vom Endtext, die anderen von einem literarkritisch rekonstruierten Grundtext ausgehen, lassen sie sich schwer gegeneinander abwägen. In Anbetracht dessen, dass auch der masoretische Text nicht gegliedert ist und die Auslegung nicht wesentlich an der einen oder anderen Struktur hängt,1167 verzichten wir darauf, einen eigenen Vorschlag vorzulegen.
a LXX lässt den ersten Imperativ aus, verdoppelt dafür den zweiten und ergänzt den im MT fehlenden Adressaten: φωτίζου φωτίζου ?ερουσαλημ, leuchte, leuchte, Jerusalem! Diese Änderungen bewirken eine stilistische und inhaltliche Verbesserungundverstärken überdies die Parallelität zu Stellen wie 51,17 und 52,1. Nach Baer, When We All Go Home, 228, spiegelt sich in ihnen die Tendenz des Übersetzers, Zion positiv hervorzuheben und ihren Namen zu ergänzen, wo er in der hebräischen Vorlage fehlt. Die Lesart von MT, die auch von den beiden -Handschriften und von
bezeugt wird, ist deshalb mit Barthélemy, Critique textuelle, 418, als ursprünglich zu betrachten. b 1QIsaa liest
, hat also einen asyndetischen Satzanschluss. Die verbindende Konjunktion findet sich aber nicht nur in
, sondern auch in 1QIsab und
.
c Im MT ist determiniert, der Parallelbegriff
aber indeterminiert. Die meisten Exegeten (so schon A. B. Ehrlich, Randglossen zur Hebräischen Bibel. Textkritisches, Sprachliches und Sachliches IV. Jesaia, Jeremia [Leipzig: J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung, 1912] 214, und in neuerer Zeit M. Arneth, „Sonne der Gerechtigkeit“. Studien zur Solarisierung der Jahwe-Religion im Lichte von Psalm 72 [BZAR 1; Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2000] 172 n.7; Blenkinsopp, Isaiah III, 206) nehmen eine Dittographie an und streichen den Artikel. In LXX sind beide Wörter indeterminiert, in 1QIsab und
beide determiniert, was auf unterschiedliche Harmonisierungen hinweist. Die Bezeugung durch 1QIsaa ist ein weiteres Argument dafür, die MT-Lesart als lectio difficilior beizubehalten. Der Artikel würde dann auf frühere Aussagen über die Dunkelheit hinweisen, insbesondere auf die beiden Stellen mit
, und siehe, Finsternis, nämlich Jes 5,30 und 59,9. d In
ist die Reihenfolge der Subjekte invertiert: zuerst βασιλεῖς, dann ἔθνη. Für
spricht aber nicht nur die Übereinstimmung mit den übrigen Textzeugen, sondern auch die Tatsache, dass an allen anderen Stellen im Jesajabuch, an denen diese Begriffe im parallelismus membrorum stehen, das allgemeinere
dem spezielleren
vorangeht (vgl. 41,2; 45,1; 52,15; 60,11.16; 62,2).
e 1QIsaa liest , gegenüber (vgl.
). Diese Präposition folgt zwar auch in Gen 33,12 auf, dürfte hier aber auf eine Verlesung zurückzuführen sein (so Blenkinsopp, Isaiah III, 206). Auch als solche ist sie aber noch ein Argument für die längere Lesart von
(
) und
(„in splendore ortus tui“) gegen die kürzere von
(
).
f Die erste Vershälfte ist ein wörtliches Zitat von 49,18a (vgl. Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 34–51). In LXX ist die Parallele dadurch gestört, dass sie statt τὰ τέκνα σου, deine Kinder, liest (und das ausgelassene „alle“ am Beginn der zweiten Vershälfte einfügt: πάντες οἱ υἱοί σου, alle deine Söhne). Da in ihrer Vorlage kaum zweimal
gestanden haben dürfte, ist von einer absichtlichen Textänderung auszugehen (s. u. 2.3.4.).
g Gegenüber der Parallelstelle 49,22bβ weist der masoretische Text zwei Abweichungen auf: steht anstelle von
und das seltene
II anstelle des geläufigen
. Dagegen hat
an beiden Stellen fast denselben Wortlaut, mit dem einzigen Unterschied, dass das Verb nicht im Aktiv, sondern im Passiv steht: καὶ αἱ θυγατέρες σου ἐπ' ?μων ἀρθήσονται, und deine Töchter werden auf Schultern getragen. Da MT auch von 1QIsaa gestützt wird, ist davon auszugehen, dass der Verfasser des hebräischen Textes hier bewusst anders formulieren wollte und der Übersetzer die beiden Passagen sekundär aneinander angeglichen hat (vgl. O. H. Steck, „Heimkehr auf der Schulter oder/und auf der Hüfte Jes 49,22b/60,4b“, ZAW 98 [1986] 275–7; Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 35–8; Koole, Isaiah III.3, 227). Eine Mittelposition nimmt 1QIsab ein. Bei der Ortsangabe
stimmt er mit MT und 1QIsaa überein, beim Verb
harmonisiert er ähnlich wie
mit 49,22 und 66,12 (vgl. Tov, Textkritik, 217).
h Statt (a
, sehen) lesen viele Handschriften
(a
, fürchten), offensichtlich unter dem Einfluss von
im folgenden Kolon. Mit BHS sollte die MT-Lesart, die auch durch 1QIsaa,
und
gestützt wird, beibehalten werden (vgl. Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 39).
i Eine Ableitung von I, strömen, wie in 2,2 ist unwahrscheinlich; die Stadt kann sich ja nicht wie dort die Nationen in Bewegung setzen (s. aber
: „afflues“). Da im Kontext die Lichtmetapher dominiert, spricht vieles dafür, mit HALAT, 639, eine Form von ??? II, (vor Freude) strahlen, anzunehmen. In 1QIsaa ist das Verb auf
bezogen („und dein Herz wird strahlen“) und das folgende
, wohl weil es als unpassend empfunden wurde, ausgelassen. Umgekehrt gibt LXX
wieder (in der 2. Pers. Sg.), lässt dafür aber
aus: καὶ φοβηθήσ? καὶ ἐκστήσ? τ? καρδί?, und du wirst dich fürchten und außer dir sein im Herzen. Beide Varianten erscheinen als intentionale Änderungen der ursprünglichen, im MT und auch in 1QIsab bezeugten Lesart.
j Der Numerus von Subjekt und Prädikat kongruiert nicht. Da aber zu den Kollektivbegriffen gehört, die „gern – ihrer Bedeutung gemäß – mit dem Plural des Prädikats konstruiert [werden]“ (G–K §145b), kann die von
und 1QIsaa bezeugte Lesart beibehalten werden (gegen Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 40 n.78). Die von BHS vorgeschlagenen Emendationen zu einem singularischen
oder zu der Hifil-Form
(so auch Blenkinsopp, Isaiah III, 206) sind Versuche, die lectio difficilior zu vereinfachen.
k 1QIsaa weist in der Schreibweise der drei Eigennamen Abweichungen von MT und 1QIsab auf: statt
(vgl. LXX: ?αδιαμ),
statt
,
statt
e. Es dürfte sich dabei um orthographische Varianten handeln.
l LXX übersetzt ?ξουσίν σοι, sie werden zu dir kommen (vgl. v.6), und umgeht damit die kühne Vorstellung, dass sogar die Widder Zion „dienen“ ( hat sonst nie Tiere als Subjekt). Vgl. Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 44.
m Statt der aktiven hat LXX eine passive Verbform: ἀνενεχθήσεται, sie werden hinauf-/dargebracht werden.Wie in der ersten Vershälfte ist der Text absichtlich geändert, um den seltsamen Gedanken eigenständig handelnder Opfertiere zu vermeiden. Nach Auffassung von Barthélemy, Critique textuelle, 420, ist das passivische δοξασθήσεται am Versende (mit dem das aktive wiedergegeben wird) als Assimilation an diese Verbform zu erklären.
n BHS schlägt vor, mit 1QIsaa, einigen hebräischen Handschriften, ,
und
wie in 56,7
zu lesen. Anders als dort steht hier aber das Verb
, das den Akkusativ regieren kann (so Delitzsch, Jesaia, 579, und Friedländer, Ibn Ezra on Isaiah, 277 mit n.8, mit Verweis auf Gen 49,4 und Num 13,17). Die ungewöhnliche, aber grammatikalisch nicht unmögliche
-Lesart ist als lectio difficilior zu beurteilen, die Variante als Assimilation an 56,7. In 1QIsab (
) ist
durch Haplographie nach
ausgefallen.
o Wörtlich: „das Haus meiner Herrlichkeit“. Die ?-Handschriften lesen wie ?. Dagegen hat ? ό οικος τfς προσευχfς μου, das Haus meiner Anbetung, was auf eine Vorlage hindeuten würde. Mit Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 45 n.104, ist jedoch davon auszugehen, dass der Übersetzer den Text in Anlehnung an 56,7 änderte, um den als unschön empfundenen Pleonasmus zu vermeiden.
p 1QIsaa hat mit eine Form des Polel, ohne dass sich dadurch die Bedeutung änderte. Die feminine Verbform könnte durch
im folgenden Vers oder eher noch durch das ebenfalls feminine
im zweiten Kolon bedingt sein.
q Nach der masoretischen Vokalisation liegt eine Formvon I pi.vor: „die Inseln werden auf mich hoffen.“ Da im Kontext aber nicht eine Aussage über den Glauben, sondern über die Bewegung der Inselbewohner zu erwarten ist, werden von den Auslegern unterschiedlich tiefgreifende Korrekturen vorgenommen (vgl. Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 46 n.109; Koole, Isaiah III.3, 235–6; Vlková, Cambiare la luce,172 n.32). Der von
und
überlieferte Konsonantentext braucht jedoch nicht geändert zu werden, es genügt, das Verb mit BHS in
, d. h. in eine Form von
II nif., sich sammeln, umzuvokalisieren (vgl. Gen 1,19 und vor allem Jer 3,17). Nach Paul, Isaiah, 526, ist die fehlerhafte Vokalisation der Masoreten unter dem Einfluss von 51,5 (
) zustande gekommen.
r 1QIsaa liest, wohl unter dem Einfluss von 43,6, , meine Söhne. Die Parallele zu v.4 und das übereinstimmende Zeugnis von 1QIsab,
und
sprechen jedoch für die Ursprünglichkeit von
.
s MT und die beiden Handschriften von Qumran haben dieselbe Schlusswendung wie in 55,5. LXX übersetzt dort δτι έδόξασέν σε, weil er dich verherrlicht hat, hier aber διό τό... νδοξον ειναι, weil er herrlich ist. Sollte diese lectio dissimilis als ursprünglich, die MT-Variante aber als sekundäre Angleichung betrachtet werden? Allerdings ist dies die einzige Stelle in Jes-LXX, an der das Adjektiv νδοξος für Gott verwendet wird, und bereits in der ersten Zeilenhälfte ist der Text erweitert („um des heiligen Namens des Herrn willen“). Wir gehen deshalb davon aus, dass der Übersetzer seine Vorlage theologisch korrigiert hat, um Jhwh als Quelle der Herrlichkeit hervorzuheben.
t BHS schlägt vor, eine Form des Nifal oder Pual zu lesen, um wie in den Versionen einen passiven Ausdruck zu erhalten. Eine Änderung erübrigt sich aber, wenn man mit Koole, Isaiah III.3, 239–40, einen unpersönlichen Ausdruck annimmt oder noch einfacher mit Koenen, Ethik und Eschatologie, 141 n.490, aus v.10 als Subjekt ergänzt.
u Im Gefolge von Duhm, Jesaia, 450, möchte eine Reihe von Exegeten ein aktives Partizip lesen, da der Kontext von einem freiwilligen Zug nach Zion spreche. Die passive Form ist aber nicht nur in ? und ?, sondern auch in ? (βασιλετς άγομένους) belegt. Mit Stansell, „Nations' Journey“, 239 n.21; Vlková, Cambiare la luce, 173 n.34, u. a. m. halten wir deshalb an der überlieferten Textform fest.
v wiederholt das Begriffspaar θνη und βασιλετς aus v.11, verbindet den Vers (den die meisten Ausleger für sekundär halten) also stärker mit dem Vorhergehenden. Dabei ist dem Übersetzer jedoch entgangen, dass hier eine Anspielung auf Jer 27,8 vorliegt (s. u. 2.3.3.).
w 1QIsaa ergänzt , er wird dir gegeben, und lässt mit
(statt
) einen zweiten Satz beginnen. Es handelt sich um eine aus 35,2 übernommene sekundäre Erweiterung, nach Rosenbloom, Dead Sea, 65, ein „unnecessary explanatory padding“.
x Übersetzung nach Aster, The Unbeatable Light, 335. Die Baumarten und
sind nur hier und in 41,19 belegt. Zu ihrer Identifizierung mit Hilfe neuassyrischer Bauinschriften s. S. M. Paul, „Deutero-Isaiah and Cuneiform Royal Inscriptions“, ders., Divrei Shalom. Collected Studies of Shalom M. Paul on the Bible and the Ancient Near East 1967–2005 (CHANE 23; Leiden; Boston, MA: Brill, 2005) 14–7.
y Das letzte Kolon findet sich in ,
,
und
, fehlt aber in
. Auch wenn diese damit die lectio brevior bietet, sollte es aus metrischen Gründen und wegen der guten äußeren Bezeugung dennoch beibehalten werden. Nach Baer, When We All Go Home, 111–3, wollte der griechische Übersetzer die darin enthaltene anthropomorphe Gottesvorstellung unterdrücken (vgl. unseren textkritischen Kommentar zu v.14aβ).
z Die -Lesart wird nicht nur von
, sondern auch von
(
) und
(„curvi“) gestützt. LXX verschiebt mit der Wiedergabe δεδοικότες, voll Furcht, den Akzent von der Körperhaltung zur seelischen Disposition.
aa 1QIsaa und 1QIsab ergänzen bzw.
, wohl eine sekundäre Angleichung an
im zweiten Kolon. Die nicht assimilierte, kürzere MT-Lesart, die sich auch in den Versionen widerspiegelt, dürfte ursprünglich sein.
bb Da in LXX bis auf das gesamte zweite Kolon fehlt, schlägt BHS eine Streichung vor. Jedoch ist mit Koole, Isaiah III.3, 245, auch wegen der Parallele zu 45,14 und 49,23, an der Lesart von
und
festzuhalten. Baer, When We All Go Home, 111–3, vermutet, dass die Lücke in LXX mit v.13 zusammenhängt. Dort hatte der Übersetzer das anthropomorphe
, meine (= Gottes) Füße, gestrichen. Infolge eines Missverständnisses oder um ein solches zu vermeiden, habe er auch hier
, deine (= Zions) Füße, weggelassen.
cc Ein Ortsname als nomen regens einer cs.-Verbindung ist ungewöhnlich, aber, wie Koole, Isaiah III.3, 246; Blenkinsopp, Isaiah III, 207, zeigen, nicht unmöglich. Da auch LXX „Zion“ hat, ist gegen BHS an der masoretischen Vokalisierung festzuhalten.
dd LXX hat die kausale Präposition διà, wegen. Jedoch ist nicht nur in den hebräischen Textzeugen, sondern auch in
(
) und
(„pro eo“) bezeugt. In v.17, wo dieselbe Präposition erneut in der betonten Anfangsposition steht, gibt LXX sie korrekt mit àντt wieder.
ee hat καt ούκ ν ό βοηθών, und keiner war da, der half. In
v müsste also
gestanden haben, eine Wendung, die sich in Jes 63,5 und darüber hinaus in 2 Kön 14,26; Ps 72,12; 107,12; Klgl 1,7; Dan 11,45; Sir 51,7 (vgl. Ps 22,12) findet. Mit Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 57 n.154, gehen wir davon aus, dass der Übersetzer nicht eine abweichende Vorlage hatte, sondern diese lediglich interpretierte, nämlich im Sinne von „keiner, der vorbeikam und geholfen hätte.“
ff Die LXX-Lesart πλοϋτον βασιλέων φάγεσαι, du wirst den Reichtum der Könige essen, erweist sich als eine inhaltlich und stilistisch motivierte Änderung. Der Übersetzer hat das zweite „saugen“ durch den korrelierenden Begriff „essen“ ersetzt und gleichzeitig das eigenartige Bild der mit Brüsten versehenen Könige getilgt.
gg Mit θεός ?σραηλ umgeht den ambivalenten Begriff
, Stier, starker Mann. Nach Baer, When We All Go Home, 113–5, handelt es dabei um eine anti-anthropomorphe Übersetzung. An der Parallelstelle 49,26 hat der Übersetzer den Ausdruck überhaupt nicht als Gottesbezeichnung aufgefasst. Dass er auch die Epitheta
und
zweimal unterschiedlich übersetzt, zeigt, dass er 60,16 nicht als Zitat von 49,26 erkannte.
hh Der Parallelismus und die klare metrische Gestalt der beiden Bikola (4+4 und 3+3) sprechen für die von und
überlieferte Textgestalt (vgl.
). LXX wiederholt das Verb auch im dritten Kolon und fügt jeweils das indirekte Objekt hinzu: οτσω σοι, ich werde dir bringen. Nach Baer, When We All Go Home, 65–6, hat sie die hebräische Vorlage absichtlich geändert, um einerseits die Ellipse auszufüllen und andererseits die Aussage zu intensivieren.
ii LXX gibt den Abstraktbegriff persönlich wieder – τοές &ρχοντάς σου, deine Machthaber – und harmonisiert so die beiden parallelen Ausdrücke. Indem sie diese als direkte Objekte, und
aber als Umstandsbestimmungen konstruiert („ich werde deine Machthaber in Frieden einsetzen und deine Aufseherin Gerechtigkeit“), verwandelt sie die allegorische Redeweise des hebräischen Originals in eine reale Aussage.
jj Im Unterschied zu MT und 1QIsab lesen 1QIsaa eine maskuline Form (, wie in 58,13) und LXX ein Passiv (κληθήσεται, sie werden genannt werden). Während es sich bei der ersten Variante um einen offensichtlichen Fehler handelt, könnte die zweite durch Assimilation an ähnliche Texte (z. B. 54,5; 56,7; 62,4) entstanden sein.
kkBlenkinsopp, Isaiah III, 207, nimmt an, dass die eigenartige LXX-Übersetzung γλύμμα, Schnitzwerk, durch Korruption aus &γαλμα oder άγαλλίαμα entstanden ist. Diese Verwechslung könnte dadurch erleichtert worden sein, dass &γαλμα sowohl „Freude“ als auch „Götzenbild“ bedeuten kann.
llEin Plus gegenüber MT haben 1QIsaa und(
bzw.
, in der Nacht) wie auch
(τ ν νύκτα, die Nacht). Im ersten Fall wurde offensichtlich der Parallelbegriff zu
, am Tag, vermisst, im zweiten das Objekt zu
hif. (das nach HALAT, 23, aber auch absolut stehen kann). Die im MT und in 1QIsab überlieferte kürzere Lesart ist mit Barthélemy, Critique textuelle, 421; Arneth, Sonne der Gerechtigkeit, 174 n.11; Vlková, Cambiare la luce, 200 n.128, als ursprünglich anzusehen.
mm In 1QIsab fehlen von hier ab alle Wörter bis zum zweiten in v.20b. Da der Text neben MT auch in 1QIsaa und
bezeugt ist, muss ein durch Parablepse hervorgerufener Textausfall angenommen werden.
nn Analog zu dem täglichen Sonnenuntergang ist an das morgendliche Abnehmen des Mondlichtes zu denken. Vgl. Delitzsch, Jesaia, 583: „ein Mond […], der nicht gegen Morgen wie eine Lampe hereingenommen wird.“ Zu dieser Bedeutung von nif. vgl. Jes 16,10.
oo Der Wechsel von der 3. zur 1. Pers. – „der Sprössling seiner Pflanzung, das Werk meiner Hände“ – wird allgemein als Fehler angesehen. Die Masoreten haben ihn korrigiert, indem sie das Qere , meine Pflanzung, an den Rand schrieben. Die -Handschriften lesen stattdessen zweimal die 3. Pers.: 1QIsaa
, der Sprössling der Pflanzungen Jhwhs, die Werke seiner Hände, und 1QIsab
, seine Pflanzungen, das Werk seiner Hände. LXX hat ??? als Partizip aufgefasst: φυλάσσων τd φύτευμα έργα χειρών αατοϋ, bewahrend die Pflanzung, die Werke seiner Hände (zum Hintergrund dieser Änderung s. Baer, When We All Go Home, 224). Die meisten modernen Autoren folgen MTQ (z. B. Vlková, Cambiare la luce, 201; Aster, The Unbeatable Light, 336; Labouvie, Gottesknecht, 26–7). Allerdings bietet MTk zweifellos die schwierigste aller Lesarten. Zu beachten ist, dass die grammatikalische Person, mit der Gott bezeichnet wird, im ganzen Text mehrfach wechselt. Narratologisch könnte dies als ein Wechsel der Perspektive verstanden werden: der Erzähler lässt Jhwh in der 1. Pers. reden, um das Geschehen von seinem Gesichtspunkt aus wiederzugeben, und verwendet die 3. Pers., um es aus dem Blickwinkel Zions darzustellen. Wenn man darüber hinaus berücksichtigt, dass in v.20 Jhwh in der 3. Pers., in v.22 aber in der 1. Pers. auftritt, lässt sich der Personenwechsel in v.21 als Übergang von der einen zur anderen Perspektive erklären.
In keinem anderen Text wird der Zug der Völker zum Zion so ausführlich, so detailliert, so wort- und bildreich beschrieben wie in Jes 60.1168 Die Handlung wird dabei im Wesentlichen von drei Akteuren getragen: von Jhwh, Zion und den Nationen.
Durch die Anrede an die 2. Pers. Sg. f., die sich vom ersten bis zum vorletzten Vers zieht, wird die personifizierte Gottesstadt in das Zentrum des dramatischen Geschehens gestellt. Wie in 49,14–26; 51,17–52,2 und 54,1–17 wird sie als Mutter vorgestellt, die nach ihren heimkehrenden Kindern Ausschau hält. Dabei geht es nicht allein darum, dass die entvölkerte Stadt ihre Bewohner zurückerhält, sondern auch darum, dass sie in diesen Ereignissen ihren Gott „wiederfindet“, ihn als ihren Retter wiedererkennt (v.16; vgl. 49,23).
Während Zion in der Kommunikationsstruktur die Rolle der Angesprochenen einnimmt („Du“), ist Jhwh derjenige, der sich sprechend an sie wendet. Zu Beginn tritt er in der dritten Person auf („Er“), dann aber immer häufiger in der ersten („Ich“),1169 bis er sich zuletzt mit der -Formel (v.22) als derjenige präsentiert, in dessen Hand die Fristen für die Erfüllung des Verheißenen liegen.
Was die eigentliche Handlung betrifft, nehmen die ausländischen Nationen den breitesten Raum ein. Sie reagieren auf die Theophanie, die sich in Jerusalem ereignet, und pilgern von der Peripherie zum zentralen Heiligtum.Wie wir gesehen haben, werden sie wie sonst auch genannt. Im zweiten Teil des Parallelismus folgt auf diesen allgemeinen Begriff meist
um das Gesagte zu unterstreichen oder zu entfalten (v.3.10.16). Die einzelnen Angehörigen dieser nicht näher defi nierten (anonymen) Völker heißen
, Fremde (v.10). Neben diesen neutralen Bezeichnungen finden sich aber auch zwei Ausdrücke, in denen sich die negativen Erfahrungen Israels widerspiegeln:
, die Söhne deiner Bedrücker, und
, deine Verächter (v.14).Wenn diese nun „gebückt“ herbeikommen, erscheint das wie eine Wiedergutmachung für ihre früheren Untaten.
Das Ziel der Wallfahrt wird zunächst metaphorisch umschrieben – , zu deinem Licht;
, zum Glanz deines Rufstrahlens (v.3) – und erst in einem zweiten Schritt mit Zion identifiziert. Wie in anderen Texten ist diese auch hier gleichzeitig Person und geographischer Ort. In v.4–7 dominiert das Bild der vornehmen Frauengestalt, auf die sich eine Schar von Menschen, Tieren und Gütern zubewegt (vgl. v.4.5.7:
, dir, zu dir). Im weiteren Verlauf treten die personalen Züge aber zugunsten der geographischen Vorstellung zurück. Das zeigt sich auch daran, dass das Ziel nicht mehr mit dem lamed dativum,1170 sondern mit der direktionalen Präposition
angegeben wird (
, zu dir hin, v.11.13.14). Es umfasst sowohl den religiösen als auch den profanen Raum: einerseits den Tempel und den Altar (
, v.13), andererseits die Stadt und ihre Mauern und Tore (
, v.10.18;
, v.11.18). Schließlich wird Zion auch namentlich erwähnt und ihre privilegierte Stellung als Wohnort Jhwhs hervorgehoben (
, v.14).
So ist Jerusalem zwar das Ziel, zu dem die Nationen strömen, doch nur insofern, als diese in ihr Gott selbst begegnen. Diese theologische Wahrheit, die in der Lichtmetapher indirekt zum Ausdruck kommt, wird in v.9 explizit formuliert: Die Völker ziehen , zum Namen Jhwhs, deines Gottes, und zu dem Heiligen Israels.
Um die Bewegung, das dritte konstitutive Element der Völkerwallfahrt, auszudrücken, wird eine Fülle von Verben aufgeboten. An erster Stelle die auch anderswo belegten Grundwörter (v.1.4[2x].5.6.13)1171 und
(v.3.14). Der weiteren Ausschmückung und Präzisierung dienen
nif., sich versammeln (v.4.7),
nif., zugewendet werden (v.5),
, hinaufsteigen (v.7),
, fliegen (v.8),
nif., sich sammeln (v.9), und
, hindurchziehen (v.15). Der Transport der Personen und Güter wird durch das Hifil von
, bringen (v.9.11.17[2x]), das synonyme
(v.6) und
, führen (v.11), bezeichnet.
Ein Blick auf die Syntax dieser Verben zeigt, dass die grundlegende Vision – die Völker ziehen nach Jerusalem – in Jes 60 in viele einzelne Aspekte ausdifferenziert ist. Grammatikalisches Subjekt sind nämlich nicht nur die Nationen, das heißt, sie sind nicht die einzigen, die aktiv an der Reise teilnehmen. Mit ihnen „kommen“ auch ihre Schätze nach Jerusalem (v.5), die Opfertiere „steigen“ eigenständig auf den Altar (v.7), und die deportierten Judäer werden nicht wie in 49,22–23 getragen, sondern „kommen“ aus eigener Kraft herbei (v.4). Die Zions-wallfahrt erweist sich somit als ein komplexes Geschehen, in dem der ursprüngliche Impuls auf immer mehr Akteure übergreift, so dass sich am Ende die ganze menschliche, tierische und dingliche Welt in Bewegung setzt.
Mehr noch: Jhwh selbst kommt nach Jerusalem! In Jes 60 fungiert nämlich auch er als Subjekt des Verbs . Er setzt die globale Wanderung in Gang, indem er bzw. sein kavod nach Zion „kommt“ (v.1), und er führt sie zum Abschluss, indem er das Material „bringt“, mit dem die Stadt wieder aufgebaut wird (v.17).1172 Er, der die heimkehrende Golah als Vorhut und Nachhut begleitete (vgl. 52,12:
), geht also auch dem Pilgerzug der Nationen voran und vollendet das Werk, das sie zugunsten seiner Stadt verrichten.
Jes 60 beginnt nicht, wie von einer Vision zu erwarten wäre, mit einer futurischen Aussage, sondern mit einem Imperativ: – die trauernd auf der Erde Hockende soll sich erheben,
– die im Dunkel der Gottferne Sitzende soll ins Licht treten! Die emphatische Anfangsstellung dieses doppelten Befehls macht deutlich, dass das breit ausgemalte Heil nicht automatisch eintritt, sondern auch von Zion, d. h. von ihrer Bevölkerung abhängt. Formal hat der Appell somit den Vorrang vor der Ankündigung,1173 der direktive Sprechakt, der auf eine Änderung im Verhalten der angesprochenen Gottesstadt zielt, den Vorrang vor der repräsentativen Rede, die beschreibt, was die anderen Aktanten tun werden.
Der imperativische Auftakt (der ja nur aus zwei Wörtern besteht) wird allerdings durch die unmittelbar folgende und dann alles dominierende Begründung rhetorisch „überrollt“. Wie die kausale Konjunktion und die qatal-Form der Verben1174 verdeutlichen, geht dem Tun, das von Zion gefordert wird, ein Handeln Jhwhs voraus, nicht nur zeitlich, sondern als dessen notwendige Voraussetzung. Ihr Aufstrahlen erscheint so von Anfang an als Reaktion auf eine vorgängige Aktion Gottes, als Reflex Seiner aufstrahlenden Herrlichkeit.
Mit der knappen Formulierung , die durch das chiastisch angefügte
erläutert wird,1175 wird ein zentraler theologischer Gedanke aus Jes 40–55 aufgegriffen: das Kommen bzw. die Rückkehr Jhwhs nach Jerusalem.1176 So wichtig die mit den Begriffen
und
angezeigte Licht- und Sonnensymbolik und das damit verbundene Theophaniemotiv sind,1177 nimmt dieses Thema in der synchronen Lektüre des Jesajabuchs doch den ersten Rang ein. Denn dass das göttliche Licht erscheint, ist letztlich nur eine von vielen Metaphern, mit denen der Prophet die grundlegende Erwartung formuliert, dass Jhwh erneut und endgültig in Jerusalem erfahren werden kann.
Eine Reihe intertextueller Bezüge verbinden unsere Weissagung mit 40,1–11, das den zweiten, exilischen Buchteil eröffnet.1178 Dass Jhwh zum Zion kommt, dass er gleichsam sein Exil verlässt1179 und in seine Stadt, die , wie es in 60,14 heißt, zurückkehrt, ist die tröstliche Nachricht, mit der die neue Heilsära beginnt. Das Verb
, das in 60,1 die Ankunft Gottes anzeigt und mit zehn weiteren Belegen das Leitwort dieses Kapitels ist, trägt auch in Kap. 40 die Hauptaussage:
, siehe, der Herr Jhwh kommt mit Kraft (v.10).
Durch wird dieses Kommen als ein vor Augen liegendes Faktum ausgewiesen und gleichzeitig durch die Verbform des yiqtol in die Zukunft verlegt. Die normalen Zeitkategorien sind aber noch weiter aufgeweicht, weil in v.9 ein präsentisch aufzufassender Nominalsatz –
, siehe, euer Gott! – vorangeht. Jhwh ist also bereits da, er hat sich so weit genähert, dass die Freudenbotin, die auf den Berg gestiegen ist, ihn schon „sehen“ kann. Aber er ist auch unterwegs, befindet sich noch auf seinem Weg (
), der nach v.3 überhaupt erst gebahnt werden muss.1180 Was als Mangel an grammatischer Präzision erscheinen könnte, erweist sich bei näherem Hinsehen als Reflex einer mit der Sache selbst gegebenen Spannung. Die glaubend und hoffend nach Ihm Ausschau halten, erfahren nämlich beides: seine stets vorgängige Präsenz und sein immer neues, immer unberechenbares Kommen.
Die freudige Nachricht von der Heimkehr Gottes wird in Jes 40 zweifach präzisiert: er kommt nicht allein und er kommt nicht unbemerkt.
Dass Jhwh mit zahlreichem Gefolge nach Jerusalem zurückkehrt, wird in v.10 abstrakt formuliert (, Lohn;
, Ertrag)1181 und in v.11 durch die aus anderen Prophetentexten vertraute Hirtenmetapher1182 veranschaulicht. Die „Herde“, die er weidet, die „Lämmer“, die er sammelt, die „Mutterschafe“, die er leitet, sind dabei nichts anderes als die in der Diaspora lebenden Angehörigen des Gottesvolkes.1183 Sie sollen nun zusammen mit ihrem „Hirten“ nach Jerusalem heimkehren.
Dieser feierliche Zug wird, zweitens, von Menschen aus anderen Nationen wahrgenommen (v.5). In ihm, d. h. in der wunderbaren Sammlung und Repatriierung der Exulanten, wird der sichtbar. Nicht nur für die mitziehenden Israeliten und die Bewohner Jerusalems, die nach ihnen Ausschau halten, sondern für
, für alle Menschen, selbst diejenigen, die Jhwh bisher nicht kannten.1184
Neben dem Hauptthema der Ankunft Jhwhs in Zion kehren auch diese beiden Begleitmotive in unserem Text wieder. Doch mit einem wesentlichen Unterschied: Was Jes 40 für die Zukunft erwartete, ist in Jes 60 eingetreten, nicht irgendwo, z. B. in der Wüste (vgl. 40,3), sondern in Jerusalem, dem neuen Zentrum der Völkerwelt. Während 40,5 nämlich verheißt, dass die Herrlichkeit Jhwhs den Völkern offenbar werden wird ( = weqatal), verkündet 60,1, dass sie über Zion aufgestrahlt ist (
= qatal). Und während die Deportierten nach 40,11 gesammelt und heimgeführt werden (
usw. = yiqtol), sind sie nach 60,4 im Umkreis der Gottesstadt bereits zusammengekommen (
= qatal). Auch darin spiegelt sich also wider, was in Bezug auf die Hauptaussage zu beobachten ist: was bisher Verheißung war, ist in das Stadium der Erfüllung getreten; Jhwh ist nicht mehr nur der Ankommende, er ist auch der Angekommene.
Nach 40,1–11 ist 52,7–10 der zweite Text, der von Jhwhs Weg nach Zion handelt.1185 In Jes 60 ist er weniger durch textliche Anleihen als durch seine inhaltliche und strukturelle Korrelation mit Jes 40 präsent.1186 Das Allerweltswort ist hier durch das präzisere
) ersetzt:
, Auge in Auge sehen sie, wie Jhwh zu Zion zurückkehrt (52,8).'1187 Es hebt hervor, dass der Kommende schon einmal an diesem Ort war, dass er ihn zeitweise verlassen hat und nun endgültig zu ihm zurückkehrt. Darüber hinaus unterscheidet sich die Aussage aber auch in ihrer syntaktischen Form von den Parallelen in 40,10 und 60,1. Der mit der Präposition
verbundene inf. cs.
„synchronisiert“ nämlich die beiden Ereignisse: das Ankommen Gottes und das Sehen der Beobachter, das seinerseits als ein sich aktuell vollziehendes Geschehen präsentiert wird.'1188