Wie in 40,1–11 reicht dieses Heilsereignis auch hier über die unmittelbar betroffenen Israeliten hinaus; es wird von anderen, ja, von allen Menschen wahrgenommen (, 40,5;
, 52,10).'-1189 Dabei werden mit
(52,8.10) und
(52,8[2x].10) zwar zentrale Lexeme aus dem semantischen Feld der visuellen Wahrnehmung herangezogen, doch ohne dass das Aussehen Gottes selbst beschrieben würde. Stattdessen wird das Geschehen theologisch gedeutet, mit Begriffen wie
, sein heiliger Arm, und
, Rettung, „die für sein Geschichtshandeln zugunsten Israels stehen und insofern die sichtbare Folge der Rückkehr Jhwhs sind.“'-1190 Diese beiden Aspekte, das „Sichtbarwerden“ Jhwhs in der Sammlung Israels und die Augenzeugenschaft der gojim, werden aus den Paralleltexten eingespielt, so dass sie in Jes 60 nicht mehr eigens thematisiert zu werden brauchen.
Der Ausdruck , die Rettung unseres Gottes, am Ende von 52, 7–10 bildet die Brücke zu 56,1, dem Vers, der die Naherwartung programmatisch an den Beginn des letzten Buchteils stellt. Im Unterschied zu den bisher behandelten Stellen wird hier zurückhaltender (weniger anthropomorph) formuliert. Das Verb
wird nämlich nicht für Jhwh selbst, sondern für den von ihm bewirkten Zu stand verwendet:
, denn nahe ist mein Heil, dass es komme.1191 Dieselbe Tendenz lässt sich auch an den übrigen Parallelstellen feststellen, in 59, 19–20, das wegen seiner Position unmittelbar vor Kap. 60 eine wichtige lektüreleitende Funktion erfüllt,1192 und in 62,10–12, das die Sektion Kap. 60–62 beschließt.
Jes 59,19–20 prophezeit, JHWH bzw. seine Herrlichkeit1193 werde „wie ein drängender Strom“ kommen ( , v.19) und denen in Zion, die sich von ihrer Schuld abkehren, die Erlösung bringen (
, v.20). Auch hier wird mit einer Reaktion gerechnet, die die ganze Welt umspannt:
, vom Untergang und vom Aufgang der Sonne (v.19). Im Unterschied zu 40,5 und 52,10 geht sie über die optische Wahrnehmung ( ???) hinaus und führt zu einer tieferen Einsicht, nämlich zur Anerkennung und ehrfürchtigen Verehrung JHWHs (???).1194
In deutlicher Anlehnung an 40,1–11 greift 62,10–12 noch einmal die Vision der heimkehrenden Gottheit auf 1195 und macht sie zur Klammer um die drei Kapitel über die künftige Herrlichkeit Jerusalems. Sie wird als eine an die „Tochter Zion“ ergehende Botschaft präsentiert, wobei die Syntax ( + Ptz) die Gegenwärtigkeit der Erlösung unterstreicht:
, siehe, dein Heil kommt (v.11). Mit
als Subjekt wird auch hier das anthropomorphe Missverständnis vermieden. Im Unterschied zu 56,1 (
, mein Heil) wird das verheißene Gut aber nicht von Gott her, sondern wie in 60,1 (
, dein Licht) und 62,2 (
, deine Gerechtigkeit;
, deine Herrlichkeit) von Zion her definiert. Die universale Zeugenschaft wird auch hier vorausgesetzt, sie ist aber von der visuellen zur akustischen Wahrnehmung verschoben:
, bis ans Ende der Erde (62,11), wird die Nachricht von der göttlichen Erlösung vernommen. Die dort Wohnenden dürften es auch sein, die die neue Verfassung der Gottesstadt ins Wort heben:
, eine aufgesuchte, nicht verlassene Stadt (v.12). Dieses Appellativ widerspricht der Klage von 49,14, dass JHWH sie „verlassen“ habe (
), und bestätigt die Verheißung von 11,10, dass Menschen aus anderen Nationen sie „aufsuchen“ werden (
).
Von der Ankunft Gottes sprechen auch die letzten Kapitel des Jesajabuchs. Während sie in 63,1.4 Teil einer Gerichtstheophanie ist, hat sie in 66,18 wie an den bisher behandelten Stellen eine positive Funktion. Wenn man den masoretischen Text mit BHS zu 1196
, ich komme, um alle Nationen und Zungen zu sammeln, korrigiert, wird die Einholung der Völker hier direkt auf die Intervention Jhwhs zurückgeführt. Er kommt (nach Zion, wie aus dem Kontext zu ergänzen ist) und löst damit eine zentripetale Bewegung aus, die die Nationen der Erde mit Israel zu einer gemeinsamen Kultfeier zusammenführt.
Wo ist in diesem weit gespannten intertextuellen Netz nun der spezifische Ort von Jes 60,1? Die erste Besonderheit dieses Verses liegt in dem Vergangenheitstempus von .1197 Das Kommen Gottes wird dadurch als ein Faktum hingestellt, als eine Realität, deren Auswirkungen bereits zu spüren sind. In Jes 60 ist die Wende zum endgültigen Heil, die in den anderen Texten mehr oder weniger nahe bevorsteht, eingetreten. Die Bewohner Jerusalems können darauf reagieren, sie können ihr bisheriges Verhalten revidieren. Das Herbeiströmen von Nichtisraeliten zum Gottesberg hängt also nicht allein von Jhwh, sondern auch von ihnen, nämlich von ihrer Umkehr ab.
Die zweite, noch auffälligere Besonderheit ist die auf Gott bezogene Licht- und Sonnenmetaphorik.1198 Jhwh ist das Licht Zions, ihre wahre Sonne, die, einmal aufgegangen, nicht mehr untergeht (vgl. v.19–20), die sie nicht nur äußerlich bescheint, sondern mit ihren Strahlen gleichsam durchdringt, um sie selbst in Licht zu verwandeln. Diese „Interpenetration“ des göttlichen und des menschlichen Lichts soll im nächsten Abschnitt näher behandelt werden. An dieser Stelle wollen wir zunächst auf einige Passagen außerhalb des Jesajabuchs eingehen, die ebenfalls einen „Zionszug“ Gottes verheißen und durch ihre Ähnlichkeiten und Differenzen die Intention von Jes 60,1 noch stärker hervortreten lassen.
Unter diesen Texten hat die Einleitung des Mosesegens in Dtn 33,2 –
, Jawa kam vom Sinai und strahlte ihnen von Seir auf – eine besondere Bedeutung, nicht nur wegen ihrer unübersehbaren sprachlichen und inhaltlichen Parallelen,1199 sondern auch weil sie im biblischen Kanon dem Je-sajatext vorausgeht. Jes 60 wird auf diese Weise nämlich in den Vorstellungskreis der Sinai-Theophanie hineingezogen.1200 Dass JHWH über seiner Stadt erscheint und sie zum „Leuchtturm“ für eine heil- und orientierungslose Menschheit macht, wird für den kanonisch Lesenden zu einer Weiterführung der Gotteserscheinung am Sinai. Wo Dtn 33,2 auf ein vergangenes Ereignis zurückblickt, schildert Jes 60,1–3 ein begonnenes und noch im Werden befindliches Geschehen. Wo Dtn 33 definiert, woher das göttliche Licht kommt – „vom Sinai her“ –, beschreibt Jes 60, wohin es sich verfügt – „über Zion“. Wo die Torah nur Israeliten als Zeugen und Nutznießer der Erscheinung kennt,1201 differenziert die prophetische Vision zwischen den Erstadressaten, die sich bereits am Ort der Theophanie befinden, und der übrigen Menschheit, die ihn noch aufsuchen muss.
In Jes 60 findet somit eine „Übertragung der priesterschriftlichen Vision vom Erscheinen der Herrlichkeit über dem Sinai auf Zion-Jerusalem“1202 statt. Mit einer bedeutsamen Modifikation: Israel steht dem sich offenbarenden Gott nicht mehr allein, als ein isoliertes Sondervolk gegenüber, sondern erfüllt seine schon im Sinaibund angelegte Mission (vgl. Ex 19,3–6), die anderen Völker zu ihm zu führen.
In eine ganz andere Gedankenwelt führen die Texte aus dem Ezechielbuch, die ebenfalls mit Hilfe des Verbs das Kommen Gottes nach Jerusalem beschrei ben:1203 Ez 43,2 (
, und siehe, die Herrlichkeit des Gottes Israels kam von Osten her) und 43,4 (
, und die Herrlichkeit Jhwhs kam in den Tempel).1204 Eine Vermenschlichung Gottes wird auch hier umgangen, indem nicht dieser selbst, sondern sein
als Subjekt fungiert. Da sich der Vorgang vor dem Auge des Visionärs bereits vollzieht, steht das Verb wie in unserem Text im Qatal.
Entscheidend sind aber auch hier die inhaltlichen Unterschiede.1205 Ezechiel beschreibt im Unterschied zu Jesaja, auf welchem Weg die göttliche Herrlichkeit nach Zion zurückkehrt. Es ist die Schlussetappe einer langen Reise, auf der sie zuerst den Tempel verließ (vgl. 9,3; 10,4.18–19; 11,23), dann zusammen mit dem Volk in der babylonischen Verbannung weilte (wo sie dem Prophet erschien; vgl. 1,28; 3,12.23), um schließlich an ihren ursprünglichen Aufenthaltsort zurückzukehren. Genau diese Ereignisse, die Zerstörung des Tempels und die Deportation, also die ganze exilische Epoche sind im Jesajabuch aber ausgespart. Den Gedanken, dass Jhwh nach Zion zurückkehrt, kann es deshalb mit Ausnahme des kurzen Hinweises in Jes 52,8 nicht weiter entfalten, z. B. indem es die Route dieser Reise näher erläuterte.
Darüber hinaus wird auch der Ort, den der göttliche kavodaufsucht, unterschiedlich bestimmt. Der priesterliche Verfasser des Ezechielbuchs sieht, wie dieser nach seinem Exil wieder in den Tempel einzieht, um diesen neu mit Glanz zu erfüllen (, 43,5; vgl. 44,4). Nach Jes 60,1–2 erstrahlt er hingegen über der Stadt Jerusalem, also über dem dort lebenden Gottesvolk. Die Gegenwart Gottes „leuchtet“ nicht im Kultakt auf, sondern im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen. Deshalb wird das göttliche Licht auch nicht wie in Ez 43,2 von der Erde reflektiert (
), sondern von der „Frau Zion“, d. h. der gläubigen Jηwη-Gemeinde, nicht automatisch, nach einem physikalischen Gesetz, sondern als Folge eines religiös-ethischen Tuns.1206 Damit hängt nun auch die andere bedeutsame Differenz zusammen: In Ez 43 fehlt der für Jesaja wesentliche Völkerbezug! Dies entspricht dem auch sonst beobachtbaren Befund, dass dem Ezechielbuch die Idee einer Zionswallfahrt von Nichtisraeliten völlig fremd ist. Dass Jηwη nach Zion „kommt“ und unter der aktiven Mitwirkung der dort Versammelten einen universalen Pilgerzug auslöst, erweist sich somit als ein theologisches Spezifikum der Autoren, die in nachexilischer Zeit die Prophezeiungen Jesajas weiterschrieben.
Viel näher bei Jes 60 steht Sach 2,14.Es handelt sich um ein an die „Tochter Zion“ adressiertes Verheißungswort, das sich nahtlos in die Reihe der jesajani-schen Zionsgedichte einfügt. Mit , demselben Ruf wie in Jes 12,6 und 54,1 (vgl. Zef 3,14), wird diese zum Jubel aufgerufen:
, denn siehe, ich komme, um in deiner Mitte zu wohnen.Durch das Partizip wird Gottes Kommen als ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis gekennzeichnet (futurum instans). Das Ziel ist wie in Jes 60 Zion, nicht die Kultstätte im Speziellen, sondern die ganze Stadt Jerusalem; in ihrer Mitte will Jηwη Wohnung nehmen.1207
Die Nähe zu Jes 60 zeigt sich auch darin, dass sogleich von der Außenwirkung dieses Vorgangs die Rede ist. Nach Sach 2,15 führt er dazu, dass sich Menschen aus anderen Nationen Jηwη anschließen (). Mit dieser Prophezeiung wird Jes 56, das nur von der Bekehrung einzelner Fremde weiß, eschatologisch ausgeweitet und sein zentrales Problem – Gehören auch diese zum Gottesvolk? – definitiv entschieden:
, und sie werden zu meinem Volk.
Was aber bewegt diese gojim zu ihrem ungewöhnlichen Schritt? Genügt es ihnen, dass Zion in Jubel ausbricht, oder müssen sie darüber hinaus noch anderes wahrnehmen? Die Frage, wie Jerusalem sich durch die Ankunft Jhwhs verändert, wie sie sich derart verwandelt, dass Ausländer („Nichtglaubende“) angelockt werden, wird in Sach 2 nicht behandelt. In Jes 60 ist diese Transformation dagegen der Hauptgegenstand.
Der Chronologie nach beginnt die Reihe der Endzeitereignisse mit dem Kommen Jhwhs, rhetorisch aber stehen, wie die emphatische Anfangsposition zeigt, die Aussagen über das Tun Zions an der Spitze. Wie Trompetenstöße eröffnen die asyndetischen Imperative die Visionsschilderung und signalisieren damit, worin deren pragmatische Hauptfunktion liegt: Sie will das Gottesvolk, verkörpert durch seine Hauptstadt Jerusalem, zu einer grundlegenden Änderung seiner Lage und seines Verhaltens bewegen („direktiver Sprechakt“).
Dazu greift sie Metaphern und literarische Motive auf, die die Zionsgedichte des zweiten Buchteils prägten. So genügt der kurze Befehl (vgl. 51,17; 52,2),1208 um die ganze Bildwelt dieser und verwandter Texte aufzurufen: die Frau, die klagend am Boden sitzt (vgl. Klgl 1,1:
, einsam sitzt die Stadt; 1,14:
, ich kann nicht aufstehen), die über den Verlust ihres Gatten und ihrer Kinder trauert (Jes 49,14; vgl. 54,1), die mit der Aussicht auf das Ende ihrer Leiden getröstet wird (49,15–23; 51,22–23; 54,1) und nun selbst die Initiative ergreifen soll, damit ihre Trauer sich endlich in Freude wandeln kann (51,17; 52,1–2; 54,1–2).1209
Im Unterschied zu allen anderen Beteiligten (Gott, die Deportierten, die fremden Nationen) muss Zion, d. i. die dort ansässige Gemeinde, nicht aufbrechen und woandershin gehen. Sie ist ja bereits da, wohin alle anderen streben! Von ihr ist keine Veränderung des Ortes, sondern eine Veränderung am Ort verlangt, eine Veränderung ihrer „Haltung“. Sie müsste da, wo sie ist, „aufstehen“, also ihre Resignation, Trauer, Lethargie überwinden, müsste vor allem ihre negative Einschätzung der Lage ändern und einsehen, dass Jhwh bereits gekommen ist und ihre Erlösung somit angefangen hat.
Dieser anspruchsvolle theologische Gedanke – Zion müsste das von Jhwh her schon präsente Heil wahrnehmen und sich von ihm transformieren lassen, damit dessen Seinsweise zu seiner eigenen wird – ist in dem Imperativ ???? enthalten. Er wurde eigens für diesen Zweck geprägt, denn an keiner anderen Stelle der hebräischen Bibel erscheint dieses ohnehin seltene Verb im Imperativ. Dabei eignet sich der Begriff , Licht, für diesen Brückenschlag besonders gut, weil er sowohl eine Eigenschaft oder Wirkweise Gottes als auch das Handeln des Menschen und den Zustand der Welt überhaupt bezeichnen kann.1210
Als biblischer Hintergrund für die in dieser Prophezeiung verwendete Lichtmetaphorik wird gewöhnlich auf zwei Passagen im Pentateuch verwiesen: die Erschaffung des Lichts in Gen 1,3–51211 und die neunte ägyptische Plage in Ex 10,21–23.1212 Die sprachlichen Gemeinsamkeiten mit Jes 60 beschränken sich auf die beiden Wörter und
, so dass ein direkter intertextueller Bezug oder gar eine literarische Abhängigkeit nicht anzunehmen sind. Für die theologische Aussage sind die beiden Stellen dennoch äußerst wichtig. Nach Gen 1 besteht nämlich ein essentieller Unterschied zwischen dem Licht und der Finsternis. Nur das erste ist von Gott erschaffen und als „gut“ deklariert worden.1213 In der Pla-generzählung fungiert die Finsternis als Strafe für das Land des verstockten Pharaos. Sie verhindert, dass die Menschen einander erkennen und sich frei bewegen können (vgl. Ex 10,23). Dagegen wird dem Gottesvolk Licht gewährt, nicht nur in Ägypten, sondern auch auf seiner Wanderung durch die Wüste (vgl. Ex 13,21; Ps 78,14; 105,39). Sowohl in der universalen Schöpfungsordnung als auch in der partikularen Geschichtserfahrung Israels symbolisiert das Licht somit den Raum, in dem das Leben ohne Beeinträchtigung, im Einklang mit Gott und in der Begegnung mit dem Nächsten geführt werden kann.1214
Auf weitere Vergleichstexte außerhalb des Jesajabuchs (z. B. Mi 7,8–9; Ps 97,11; 112,4) kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.1215 Sie sind vor allem dadurch wichtig, dass sie Licht und Finsternis als Metaphern für das moralische Verhalten verwenden: wo die göttliche Rechtsordnung – – praktiziert wird, wird es „hell“, und wo sie durch unsoziales Verhalten außer Kraft gesetzt wird, wird es „dunkel“.
Der erste Intertext innerhalb des Buches ist Jes 2,5, der an das Haus Jakob gerichtete Appell, mit dem das erste Völkerwallfahrtsorakel schließt: . Wie 60,3 kombiniert auch er das Nomen
mit dem Verb
. Wie wir bei der Auslegung von Jes 2 bereits gesehen haben (s. o. I.1.3.8.), sind die Unterschiede jedoch größer als die Gemeinsamkeiten. Während unser Text prophezeit, dass die Nationen zuZions Licht strömen werden (
), ruft jener das eigene Volk auf, in Jhwhs Licht zu wandeln (
). Es handelt sich also um zwei Bewegungen, die zwar jeweils im Kontext einer internationalen Jerusalemwallfahrt stattfinden, aber unterschiedliche Funktionen haben. In Jes 60 wird der Pilgerzug der Nationen durch das Licht ausgelöst, das in Zion aufgestrahlt ist, ja, zu dem Zion selbst geworden ist, in Jes 2 sind die herbeiziehenden Völkerscharen der Anlass, um Israel zu einem gottgefälligen Lebenswandel aufzurufen.1216
Der zweite Intertext 5,30 schildert eine Welt, die im Dunkeln liegt. Neben dem Schlüsselbegriff ist es vor allem die auf
, Erde, bezogene Wendung
, siehe, Finsternis, die einen intertextuellen Bezug zu Jes 60 herstellt. Was diese Metapher inhaltlich bedeutet, geht aus dem Kontext ab 5,26 hervor: die furchtbaren Begleiterscheinungen eines Krieges wie Hunger, Gewalt, Tod und Verschleppung, die ein Volk über ein anderes bringt (in diesem Fall die Assyrer über die Israeliten). Auf diese Erfahrungen dürfte auch der Verfasser unseres Textes anspielen: Inmitten einer Welt, die im gesellschaftlichen Chaos zu versinken droht, soll Jerusalem eine Oase des „Lichts“, d. h. des friedlichen Zusammenlebens sein.
Auch 9,1 verwendet die Bildmotive „Licht“ und „Finsternis“, um aktuelle Kriegsnöte (wohl die Eroberung des Nordreichs durch die Assyrer) zu illustrieren.1217 Das erste Schlüsselwort fällt bereits in 8,22: , gefolgt von der Feststellung
, und siehe, Bedrängnis und Finsternis. In 9,1 häufen sich dann die lexikalischen Verbindungen zu 60,1–3:
, gehen, ist hier mit
in der Finsternis, verbunden, um die Epoche vor der Heilswende zu charakterisieren.
steht im Qal(gegenüber dem Nifal in 60,2), um auszudrücken, dass die Menschen das „große Licht“ (
) aktiv erblicken. Wie in 60,2 wird die im Dunkeln liegende Erde erwähnt (
), dann ein zweites Mal
, Licht.
, das in 60,3 als Substantiv erscheint, wird hier als Verb verwendet. Auch den Ort, an dem das göttliche Licht erstrahlt, bezeichnen 9,1 und 60,2 mit derselben Präposition:
, über ihnen, bzw.
, über dir.
Beide Orakel beschreiben also den Übergang von der „Finsternis“ zum „Licht“, von der kriegsbedingten Not und Gottverlassenheit zu einem Zustand des unverlierbaren Heils. Über den zahlreichen Parallelen darf aber ein gravierender Unterschied nicht übersehen werden, der in dem Wechsel eines Lexems und seines Numerus zum Ausdruck kommt: in 9,1 ist das Subjekt der Wanderung ein singularisches , in 60,3 ein pluralisches
. Die Erlösung, die zunächst nur einem Volk, nämlich Israel, zugedacht war, soll nun viele Nationen erreichen. Diese verharren aber nicht in der Kontemplation, sondern machen sich auf einen (in Jes 9 nicht vorgesehenen) Weg, der auch sie zum „Licht“, d. h. an den Ort der rettenden Gottesgegenwart führt.
Genau diese universale, Israel und die Nationen verbindende Dimension kennzeichnet den Ausdruck , Licht der Nationen, in den beiden Gottes-knechtstexten 42,6und 49,6.1218 Allerdings beschränken sich die intertextuellen Parallelen auf das Lexem
und sein Antonym
(vgl. 42,7; 49,9) und die durch
angezeigte Völkerperspektive. „Licht ist hier für die Völker das Symbol ihrer Befreiung aus Ohnmacht und jeglicher Form von Gefangenschaft oder Lebensminderung, sei sie gesellschaftlich oder von der Natur […] bedingt.“1219 Damit diese Erfahrung zu den nichtisraelitischen Völkern gelangen kann, muss Israel qua Gottesknecht zu einem „Licht“ werden, das heißt, es muss die göttliche Rechtsordnung in seinem sozialen Miteinander anschaubar, erlebbar machen. Es kann diesen Dienst erfüllen, weil Jhwh es in einem vorausgehenden Gnadenakt dazu instand setzt, wie 42,6 (
, ich werde dich bilden und dich machen...) und 49,6 (
, ich werde dich machen...) übereinstimmend betonen. Demgegenüber appelliert 60,1 an Zion, sich selbst zu transformieren, um durch ihre Existenz dieselbe Heilsbotschaft „auszustrahlen“.
Der wesentliche Unterschied besteht aber darin, dass der Eved in Jes 42 und 49 „vom Zentrum zur Peripherie“ geht, um das aufklärende Licht der Torah wie ein Missionar zu den Weltstämmen zu bringen, während Zion in Jes 60 wie in den anderen Völkerwallfahrtstexten die ruhende Mitte des Kosmos bildet, über die das Licht Jhwhs aufgeht, so dass die Völker „von der Peripherie zum Zentrum“ zie-hen.1220
Bevor der Leser des Endtextes aber zu dieser Prophezeiung gelangt, stößt er mit 58,8–10 und 59,9–11 auf zwei Texte, durch die die Lichtmetapher theologisch weiter aufgeladen wird.1221 Von diesen weist 58,8–10 besonders viele Referenz-signale auf. Mit (2x),
und
tauchen nicht nur alle zentralen Lexeme von Jes 60 auf,1222 sie werden auch inhaltlich erläutert. Das einleitende??, dann, definiert das „Hellwerden“ Israels als Folge des Verhaltens, das in v.6–7 geschildert wurde und in v.9–10 weiter entfaltet wird: Fesseln lösen, Gefangene befreien, Hungrige speisen, Flüchtlinge aufnehmen, Nackte bekleiden usw.Was ist das also für ein Licht, das in der Finsternis „aufstrahlt“ (
, v.10)? In Dtn 33,2 und Jes 60,2 bezeichnet dasselbe Verb die Epiphanie Gottes. Hier aber handelt es sich nicht um ein von außen oder von „oben“ kommendes Geschehen, sondern um eines, das vom Gottesvolk selbst ausgeht. Diese Ambivalenz wird eher noch verstärkt, wenn in 58,8
, dein Licht, mit
, deine Gerechtigkeit, und mit
, die Herrlichkeit Jhwhs, gleichgesetzt wird. „Dein Licht“ ist hier beides: die heilvolle Lebensordnung, die Israel von Gott her gnadenhaft empfängt, und die Lebensweise, die es durch sein Engagement für die Schwachen immer wieder selbst verwirklichen muss.1223
Dieselbe Botschaft, aber negativ formuliert, enthält 59,9–11.Mit , deswegen, zieht es die Konsequenz aus den zuvor geschilderten Vergehen des Gottesvolkes und beschreibt dessen Lage mit den bekannten Metaphern: ihm fehlt das Licht (
,v.9), es befindet sich im Dunkel (
), unterscheidet sich also nicht von der nichtisraelitischen Menschheit, wie sie in 60,2 geschildert wird (
). Eine inclusio(
,v.9a //
, v.11b) und ein mit ihr verschränkter Parallelismus (
, v.9b //
, v.11b) verdeutlichen, was diese Bilder meinen: „Licht“ geht von einer Gesellschaft aus, die den Grundprinzipien von ??ω? und ???? gehorcht, „Finsternis“ herrscht, wo Menschen sich von diesen abwenden und stattdessen dem Gesetz des Stärkeren folgen, um ihr eigenes Recht durchzusetzen.1224
In diesem Kontext wird deutlich, was es bedeutet, wenn Zion in 60,1 ohne nähere Erläuterungen zum Aufstehen und Lichtwerden aufgefordert wird. Sie soll den Zustand der Trauer und Hoffnungslosigkeit überwinden und sich von der Freude über die gekommene Erlösung, die Rückkehr der Exilierten und die un-erwartbare Dienstbereitschaft der anderen Nationen erfüllen lassen. Gleichzeitig soll sie durch eine tiefgreifende Reform ihrer gesellschaftlichen Praxis dazu beitragen, dass die ewige RechtsordnungJhwhs in einem konkreten Rechts- und Rettungshandelnerfahren werden kann.1225 Von diesem „Licht“ werden, so die prophetische Erwartung, dann auch Menschen angezogen, die nicht zu Israel gehören.
Während 60,1 beschreibt, wie Jhwh in seine Stadt zurückkehrt und wie sich diese daraufhin verwandelt (bzw. verwandeln soll), schildert 60,3 die Reaktion der „heidnischen“ Nationen. Die Brücke zwischen diesen beiden Prophezeiungen bildet v.2. Indem er die Konjunktion des vorhergehenden Verses wiederholt, präsentiert er sich als eine zweite Begründung für die an Zion herangetragene Forderung.1226 Zu diesem Zweck verweist er auf die Finsternis, die die Welt ringsum bedeckt (v.2a), und im Kontrast dazu auf das Licht, das sie, Zion, erleuchtet (v.2b).1227 Angesichts einer Welt, die von den todbringenden „Strukturen des Bösen“ beherrscht ist, soll sich die in Jerusalem versammelte Gemeinde ihrer privilegierten Position und der damit verbundenen Aufgabe bewusst werden. Gerade weil sie die Leben spendende Gegenwart Gottes schon erfährt, müsste sie sich von ihr transformieren lassen, damit dieses Heil auch von den Personen in ihrer Umgebung wahrgenommen werden kann.
V.2 begründet aber nicht nur die Forderung von v.1, er bereitet auch den in v.3 verheißenen Völkerzug vor. Diese Funktion erfüllen vor allem die Wörter am Ende der beiden Halbverse: nimmt über den allgemeinen Begriff ??? hinaus die in einzelne Volksgruppen gegliederte Menschheit in Blick,1228
macht deutlich, dass die Herrlichkeit Gottes nicht beziehungslos existiert, sondern wahrgenommen werden will. Sie „erscheint“ also nicht nur, sondern „wird gesehen“.Von wem aber wird sie gesehen? Natürlich von denen, die sich in Bewegung setzen, den
. Dass deren Aufbruch tatsächlich eine Folge des zuvor Geschilderten ist, wird sowohl stilistisch als auch syntaktisch signalisiert. Stilistisch, indem die Lexeme
und
aus v.1 jeweils an derselben Stelle im Vers wiederholt werden,1229 syntaktisch, indem v.3 mit einem weqatalbeginnt und dadurch einen Progress gegenüber dem zuvor Erzählten anzeigt.1230
Das Subjekt und das Ziel der Wanderung werden in dem folgenden paralle-lismus membrorumdoppelt benannt. Diejenigen, die nach Zion kommen, werden in Anlehnung an 49,22–23 als und
identifiziert (vgl. 60,11.16).1231 Als Wortpaar begegnen diese Lexeme bereits im zweiten Teil des Jesajabuchs, nämlich in zwei Sprüchen über den Perserkönig Kyros (41,2; 45,1) und in dem letzten Lied über den Gottesknecht (52,15).1232 Sie bezeichnen dort den Personenkreis, gegenüber dem diese beiden Gestalten im Auftrag Jhwhs handeln: die gesamte Menschheit, aufgegliedert in ethnische Einheiten, die von ihren Herrschern angeführt und repräsentiert werden. In Jes 60 tritt diesen nun die weiblich personifizierte Stadt Jerusalem gegenüber. Sie agiert nicht durch Waffen, nicht einmal durch Worte, sondern durch ihre bloße Existenz. Indem sie das Licht Jhwhs reflektiert, lockt sie die Völkerfamilie aus ihrer passiven Rolle (als Opfer von Militäraktionen, als unbeteiligte Beobachter der Rettung Israels) und ermutigt sie, selbst die Initiative zu ergreifen und eine Pilgerreise anzutreten.
Wie verhalten sich nun aber das geforderte Tun der Gottesstadt und das angekündigte Tun der Völker zueinander? Müssen diese herbeikommen, damit Zion sich bekehrt? Oder ist ihre Transformation die Voraussetzung dafür, dass jene kommen? Wenn 1233 die logische Folge aus dem Gesamtvorgang v.1–2 ist, müsste dieser auch die Umkehr Zions einschließen. Dies wird nachträglich von 62,2 bestätigt, wo in deutlichem Anschluss an 60,2 noch einmal
und
nebeneinander erscheinen:
, Völker werden deine Gerechtigkeit sehen und alle Könige deine Herrlichkeit. Was unsere Vision nur andeutet, wird dort explizit gesagt: Die fremden Nationen kommen nach Jerusalem, weil sie sehen, dass sich die Herrlichkeit Jhwhs in den konkreten Lebensverhältnissen ihrer Bewohner widerspiegelt, weil sie sehen, dass Seine Gerechtigkeit zu ihrerGerechtigkeit geworden ist.
Aus diesem Grund wird das Ziel des Völkerzugs hier auch nicht geographisch, sondern theologisch definiert. Die Nationen pilgern , zu deinem Licht, und
, zum Glanz deines Strahlens. Dabei hat nach dem soeben Ausgeführten dasselbe
in v.3 eine vollere Bedeutung als in v.1. Das Leuchten, das am Anfang erstrahlt, kommt allein von Jhwh. „Dein Licht“ ist deshalb nichts anderes als Er selbst und das von Ihm geschenkte Heil.1234 Demgegenüber geht das Leuchten, das die Menschen von den Enden der Erde herbeilockt, auch von Zion aus. Es ist „dein Licht“ (nun im Sinne eines gen. subi.), da das Gottesrecht in der dort lebenden Gemeinde eine anschaubare gesellschaftliche Gestalt gefunden hat. In dem pleonastischen
hat der Doppelcharakter dieses zugleich göttlichen und menschlichen, zugleich übernatürlichen und irdischen Lichts sogar einen adäquaten Ausdruck gefunden.
Wovon die fremden Nationen angelockt werden, ist also die gerechte, den Schwachen beschützende Gesellschaftsordnung. Sie kommt von Jhwh her, da er sie von Ewigkeit her „erdacht“ und offenbart hat und bleibend garantiert. Sie kommt aber auch von Zion her, da sie nur in dem Maße erfahrbar ist, in dem sie sich in dem Zusammenleben ihrer Bewohner inkarniert.
Dass die ausländischen Wallfahrer nicht mit leeren Händen kommen, sondern dem in Zion wohnenden Gott mit Geschenken huldigen und seinen Wohnsitz schmücken, schildern die folgenden Verse. In ihnen werden sie also nicht mehr um ihrer selbst willen erwähnt, als Protagonisten der Pilgerreise, sondern lediglich als Besitzer und Transporteure von Gütern.1235 Der Völkerzug als solcher wird dagegen noch einmal in v.14 thematisiert. Mit ?, sie werden zu dir gehen, das deutlich auf v.3 zurückverweist, kündigt dieser Vers eine zweite Wanderbewegung an. Nachdem alle anderen Völker ihre Gaben gebracht haben, kommen am Ende noch
, die Söhne deiner Bedrücker, also die Nachfahren derer, die die Stadt einst ausgebeutet und misshandelt haben.1236 Wie die grammatikalische Form des weqatalanzeigt, reagieren auch sie auf etwas, das unmittelbar zuvor geschieht, auf die Tatsache nämlich, dass das Jhwh-Heiligtum in neuem Glanz erstrahlt (vgl.v.13b:
). Sein Wiederaufbau muss sie, die es in Schutt und Asche legten, ganz besonders beeindrucken. Sie, die Zion mit den Worten
, bücke dich, damit wir hinüberschreiten (51,23), verspotteten, kommen nun selbst
, gebückt, und werfen sich zu ihren Füßen nieder (
).1237sc
Das ist nicht nur ein äußerlicher Gestus, der ihre politische Unterwerfung dokumentiert, es ist der sichtbare Ausdruck ihrer inneren Neuorientierung; sie anerkennen den besonderen Status dieser Stadt.1238s Das zeigt sich in den feierlichen Titeln, die sie ihr verleihen: , Stadt Jhwhs, und
, Zion des Heiligen Israels (v.14b). So sind ausgerechnet sie es, die zum ersten und einzigen Mal in diesem langen Kapitel Zion beim Namen nennen und ihre unvergleichliche Würde als die von Jhwh erwählte Stadt ins Wort heben.
Ob diese Huldigung und diese professiofreiwillig oder unter Zwang geschehen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Gewöhnlich wird die Frage entweder in der einen oder anderen Richtung beantwortet,1239ss ohne mit der Möglichkeit zu rechnen, dass in diesem Vorgang beide Dimensionen verbunden sind.
Dessen Ausgangspunkt wird in v.2–3 formuliert: Die Menschen, die im „Dunkel“, d. h. fern von Jhwh, in Unkenntnis seines Heilsplans, ohne Frieden und ohne eine gerechte Gesellschaftsordnung leben, sehen wie in einer Vision, dass all das, was ihnen fehlt, in Jerusalem vorhanden ist. So machen sie sich auf den Weg, zunächst nicht, um Tribute abzuliefern oder Opfer darzubringen, sondern um ein existentielles Defizit auszugleichen. Sie kommen auch nicht als Gefangene wie in 45,14, sondern ziehen, wie einem Naturgesetz folgend, von der Finsternis zum Licht, von einem Zustand des Mangels und der Trauer zu einem der Fülle und der Freude.
Die exilierten Judäer und ihre Reichtümer mitzubringen, wird ihnen hier nicht befohlen, sondern entspringt ihrem eigenen, spontanen Entschluss. Die Sehnsucht, an den Ort zu gelangen, an dem der wahre Gott wohnt, überträgt sich sogar auf ihren belebten und unbelebten Besitz: ihre Schätze kommen von selbst zu Zion (, v.5), ihre Tiere versammeln sich und steigen eigenständig auf den Altar (
, v.7). Wenn für dieses Tun das Verb ??vιΩ verwendet wird (v.7.10), ist damit nicht die Zwangsarbeit von Vasallen gemeint, sondern ein Dienst, der der „Stadt Jhwhs“, dem „Haus Seiner Herrlichkeit“ und dem „Ort Seiner Füße“ erwiesen wird, mit dem also wie in 56,6 letztlich Gott selbst gehuldigt wird.
Diese grundlegende Idee – ein freiwilliger Gottes-Dienst aller Nationen – wird in unserem Text dreifach konkretisiert. Wenn in dem bereits behandelten v.14die Ex-Unterdrücker in gebeugter Haltung kommen und sich den von ihnen einst Misshandelten unterwerfen, dann sind damit nicht nur die früheren Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt. Vor allem vollzieht sich darin eine theologische Korrektur, wie sie bereits das programmatische Orakel im Bucheingang 2,6–22angekündigt hatte: die überhebliche Menschheit beugt sich nieder (
, v.9; vgl.v.11.17) und erkennt Jhwh als den allein Erhabenen an (
, v.11.17).
Auch 60,11 spricht von dem Umsturz der bisherigen Verhältnisse. Die königskritische Aussage von 49,23 () fortführend, karikiert dieser Vers die Anführer der Völker als solche, die selbst wie Tiere oder Kriegsgefangene geführt werden (
).1240 Als Teilnehmer am universalen Völkerzug, zu denen sie nach 60,3 geworden sind, haben sie ihre Autonomie und ihren Führungsanspruch eingebüßt; sie sind (ob freiwillig oder gezwungen wird nicht geklärt) in den Dienst des wahren Königs getreten (vgl. v.10:
), dessen Order sie nun zu befolgen haben.
Im Anschluss daran formuliert v.12 ein noch schärferes Urteil zur Lage der Nationen: diejenigen, die Zion den Dienst verweigern, werden zugrunde gehen.1241
Dieses Drohwort ist, wie die sprachlichen Parallelen zeigen, in Anlehnung an Jer 27,8–10 formuliert.1242 Dort wird „der Nation und dem Königreich“ (), die sich dem babylonischen König nicht unterordnen (
), der Untergang angedroht (
). In unserem Text wird die Rolle Nebukadnezzars, den JHWH zu seinem irdischen Stellvertreter gemacht hatte (vgl. Jer 27,6:
, mein Knecht), auf Zion übertragen. In Zukunft soll der Bestand eines Reiches also nicht mehr von militärischer Stärke, von politischen Koalitionen und diplomatischem Geschick abhängen, sondern von seinem Verhältnis zur Zionsgemeinde und somit zu dem, der diese zum Mittelpunkt der Völkerfamilie gemacht hat.
Dieser Gedanke wird noch verstärkt, wenn die auffällige Wendung , und die Nationen werden völlig verwüstet(v.12b), als Anspielung auf Jes 37,18 par2 Kön 19,17 aufgefasst werden darf:
, die Könige Assurs haben die Nationen und ihre Länder verwüstet.1243 Mit ihr würde das anmaßende Gerede der Assyrer zurückgewiesen und dahingehend korrigiert, dass über das Schicksal der Völker nicht sie, sondern diese selbst bestimmen, nämlich durch den Dienst, den sie der Stadt JHWHs leisten.
Aus all dem folgt, dass sich die Zionswallfahrt der Nationen für den Verfasser von Jes 60 nicht in einem einmaligen Zug erschöpft. Tatsächlich sagt er in v.3 ja nicht voraus, dass alleNationen ( oder
) kommen werden. Vielmehr prophezeit er, dass
, also einige Nationen (gemeint ist wohl, einige aus den Nationen) nach Jerusalem ziehen werden. Es bleiben also noch Personen, die sich in einem zweiten Moment zu einer Pilgerfahrt entschließen könnten (was Jes 66 dann ausmalen wird).
Unter den gojimwerden wiederum einzelne erwähnt, die Zion, d. h. den dort Wohnenden spezielle Dienste erweisen: sie helfen beim Wiederaufbau der Mauern (v.10), beaufsichtigen den durch die Stadttore hereinströmenden Warentransport (v.11), hüten das Vieh und bestellen die Felder und Weinberge (61,5). Auf diese Weise erhalten sie dauerhaften Anteil am Leben Israels, zunächst an seiner täglichen Arbeit, dann aber, wie Jes 56 zeigt, auch an seinem Glauben und Gottesdienst.
Parallel dazu werden die Judäer für sie nicht Herren im üblichen Sinn, nicht Machthaber, die sich nur an den Abgaben und Dienstleistungen ihrer Untertanen bereichern. Wenn sie in 61,6 , Priester Jhwhs, genannt werden (und zwar wie in 60,14 durch die nichtjüdischen Ausländer!), dann liegt darin auch ein Auftrag, den sie diesen gegenüber erfüllen sollen. Sie sollen ihr priesterliches Amt, sei es, dass sie Opfer darbringen, sei es, dass sie die Torah auslegen, auch zugunsten jener ausüben, die aus der Fremde gekommen und bei ihnen heimisch geworden sind.1244
Jes 60,1–3 endet mit dem Blick auf die Völkerscharen, die zu dem im Licht Jhwhs erstrahlenden Zion strömen. Die folgenden Verse schildern nicht sukzessive Vorgänge, sondern lenken den Blick des Lesers auf die einzelnen Personengruppen und Güter, die miteinander den einen großen Zug bilden.1245 Als erste und wichtigste Gabe werden bezeichnenderweise nicht die Reichtümer der Nationen, sondern die „Kinder“ Jerusalems erwähnt, also die aus dem Exil heimkehrenden Judäer. Eine vergleichbare Vorstellung ist in außerbiblischen Schrift- und Bildzeugnissen nicht zu finden.1246 Dieses keineswegs nebensächliche Detail gibt Aufschluss über die Intention des Verfassers der Vision. Für ihn sind die innere Stärkung, die Sammlung und Erneuerung des Gottesvolkes wichtiger als seine äußere Bereicherung. Darüber hinaus zeigt die Beispiellosigkeit dieses Erzählzugs auch, dass die Sache selbst einzigartig ist. Dass nach einem mehrere Generationen dauernden Aufenthalt in der Fremde Deportierte in die Heimat zurückkehren, ja, überhaupt zurückkehren wollen, um die zu Hause gebliebene Restgemeinde zu stärken, ist schon geschichtlich betrachtet außergewöhnlich, für den gläubigen Blick aber ein von Gott gewirktes Wunder.
V.4afordert Zion mit zwei weiteren Imperativen auf, sich umzuschauen und wahrzunehmen, wer sich um sie versammelt hat: hebe deine Augen und sieh! Die Körperbewegung, die v.1 durch n]tp anzeigte, soll also fort gesetzt werden. Nachdem sie sich aus ihrer liegenden Stellung erhoben hat, soll sie nun auch ihre Augen erheben, um dessen inne zu werden, was um sie herum und ihretwegen geschieht.
Die Verszeile spiegelt Wort für Wort die erste Hälfte von 49,18 wider:
49,18a: | ![]() |
60,4a: | ![]() |
Durch dieses wörtliche Zitat wird das ganze Orakel 49,14–26 und seine Schilderung der Lage Zions eingespielt.1247 Dort galt es, die über den Verlust ihrer Kinder trauernde Mutter zu trösten und sie davon zu überzeugen, dass die vermisst Geglaubten schon „alle versammelt und zu dir gekommen sind.“ Mit , sie alle, sind dort die potentiellen Erbauer der Stadt, in erster Linie wohl die Diasporajuden gemeint, denn die übrigen Nationen treten erst in den folgenden Versen, in v.22–23 als Helfer, in v.24–26 als Feinde des Gottesvolkes auf.
In Jes 60 wird die Wendung unverändert wiederholt, durch den veränderten Kontext erhält sie aber einen neuen Sinn. , sie alle, bezieht sich nun auf die zuvor genannten
und
.1248 Zions Blick fällt zuallererst auf die Nationen, die mitsamt ihren Königen herbeigeeilt sind, um von dem Glanz der göttlichen Heilsordnung erleuchtet zu werden. Die ursprüngliche Aussage ist also universal ausgeweitet.
Dass diese völkerfreundliche Neuinterpretation als unpassend oder gar anstößig empfunden werden konnte, zeigen die griechische und die aramäische Übersetzung. Sie „renationalisieren“ das Orakel, indem sie das fehlende Subjekt ergänzen, die Septuaginta τὰ τέκνα σου, deine Kinder, der Targum Jonathan , alle Söhne des Volkes deiner Verbannten.Damit bewirken sie, dass die unruhig ausspähende Zionsmutter als erstes nicht unbekannte Ausländer, sondern ihre eigenen Kinder erblickt.
Im Unterschied dazu erwähnt der hebräische Text erst in v.4b, dass sich in dem Zug der „Heiden“ auch Angehörige des Gottesvolks befinden: . Mit diesem Bikolon (3+3) wird ein zentrales Thema von Jes 40 – 55, die Repatriierung der Diaspora, aufgegriffen. Der Rückbezug lässt sich sprachlich daran ablesen, dass unser Halbvers ein aus 49,12 und 49,22 zusammengesetztes Mischzitat ist:
49,12b: | ![]() |
49,22b: | ![]() |
60,4b: | ![]() |
Der Vergleich mit der weiter entfernten Parallele 43,5 – 61249 macht noch deutlicher, worauf 60,4 den Akzent legt. Beide Texte verwenden den Doppelbegriff „Söhne und Töchter“, um die Golah in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen und ihr überdies ein persönliches Gesicht zu verleihen. Sie präsentieren die Heimkehr der Verbannten also eher als eine Familienzusammenführung denn als eine staatlich verordnete Umsiedlungsaktion. Gleichzeitig ersetzt unser Text aber die Bezeichnungen , meine Söhne, und
, meine Töchter (43,6), die an die Erwählung Israels zum Volk JHWHs erinnern, durch
, deine Söhne, und
, deine Töchter(60,4). Das mag als eine theologische Abschwächung erscheinen. Vom rhetorischen Gesichtspunkt her verstärkt dieser Wechsel aber die Wirkung auf die Adressaten (die kollektive Adressatin). Denn wie 49,14–26 und die übrigen Zi-onsgedichte ist auch Jes 60 keine neutrale Zukunftsprognose. Die Vision will ihre Hörer/Leser auch emotional berühren (z. B. indem sie die Heimkehrer als deren Blutsverwandte vorstellt), damit sie sich das Prophezeite zu Herzen nehmen und es nach ihren Möglichkeiten unterstützen.
Eine aktive Teilnahme wird aber auch von den Exulanten erwartet. Im Unterschied zu 43,5–6 und 49,22 (und bereits 14,2) werden sie nämlich nicht von Gott oder ihren Gastvölkern nach Zion getragen ( hif.), sondern begeben sich selbst auf die Reise (
qal). Jes 60 betrachtet sie nicht mehr als Objekte fremder Entschlüsse oder als passive Empfänger von Wohltaten, sondern als selbstständig handelnde Subjekte.1250 Im Gefolge der anderen Völker kommen sie herbei, vielleicht auch sie angelockt von dem Glanz der torahgemäßen Lebensordnung, die in ihrer Heimatgemeinde nun verwirklicht wird.
Die Aussage über die „Söhne“ wird im zweiten Kolon durch die Parallelaussage über die „Töchter“ balanciert. Durch die Ortsangabe mit und die passive Verbform spielt sie 49,22 (
), durch die Wurzel
49,23 (
) ein. Auf diese Weise hält sie die Erwartung aufrecht, dass die Heimkehrer, genauer, die als schwächer erachteten Heimkehrerinnen von Fremden getragen werden. Ob der Wechsel von
(49,22) zu
(60,4) eine „eschatologische Umkehrung“ von Ez 34,21 darstellt1251 oder lediglich dem Grundsatz variatio delectatfolgt, kann offen bleiben. Unstrittig ist, dass
, sie werden gewartet werden, eine lexikalische Brücke zu 49,23 bildet, wo die ausländischen Könige als
, als Wärter der Kinder Zions fungierten. Auch wenn 60,4 das nicht ausdrücklich feststellt, dürfte dieser Dienst auch hier von ihnen ausgeübt werden. Sie stehen also schon während der Reise in einer positiven Beziehung zu der Stadt, die sie dann auch noch mit ihren Geschenken ausstatten werden.
Das Thema „Repatriierung der Exilierten“ wird in v.8–9 noch einmal aufgegriffen, in deutlichem Anschluss an v.4b, wie die von dort übernommenen Lexeme und
signalisieren. Eingeleitet wird diese Passage durch eine Frage, die in ihrer Formulierung
an 49,21 erinnert. Es könnte sich also auch hier um einen Einwurf Zions handeln, die verwundert auf die Menschen schaut, die „wie Tauben zu ihren Verschlägen fliegen.“1252 Das ist umso wahrscheinlicher, als an beiden Stellen die Frage mit einem Hinweis auf die Rückkehr „deiner Söhne“ (
,49,22; 60,9) beantwortet wird. Hier geht es speziell um den Teil der Diaspora, der im Westen, auf den Inseln und in den Küstenregionen des Mittelmeers bis hin nach Tarschisch1253 lebt. Von dort können sie nur per Schiff, nämlich mit Hilfe der berühmten „Tarschisch-Schiffe“ (
)1254 nach Jerusalem gelangen. Das ist der Grund, weshalb ihr Zug in diesem Vers erneut als ein Transport, ein Ge-brachtwerden (
hif.) beschrieben wird.
Eine entsprechende Aussage über die „Töchter“ fehlt, stattdessen werden die Umstände der Schiffsfahrt präzisiert: die Heimkehrer werden „mit ihrem Silber und ihrem Gold“ befördert ().1255 Was soll damit ausgedrückt werden? Dass ihr Aufbruch ihnen genügend Zeit lässt, um ihre Habe mitzunehmen? Oder dass sie für die Überfahrt nichts zu zahlen brauchen? Immerhin hatte 45,13 in Aussicht gestellt, dass Kyros die Verbannten ohne Gegenleistung freilassen werde (
). Vielleicht soll die Reise durch diesen Hinweis aber auch dem Auszug aus Ägypten gleichgestellt werden. Denn damals nahmen die Israeliten die silbernen und goldenen Gefäße ihrer Nachbarn mit (vgl. Ex 3,22; 11,2; 12,35). Oder in der theologischen Deutung von Ps 105,37: Damals führte Gott sie „mit Silber und Gold“ (
) heraus.
Weshalb die Gastgeberländer überhaupt bereit sind, die Exulanten per Schiff nach Hause zu bringen, erklärt die zweite Hälfte des Verses. Es handelt sich um ein leicht abgewandeltes Zitat aus 55,5:1256
55,5b: | ![]() |
60,9b: | ![]() |
Wie wir gesehen haben, ist auch dort von einer Völkerwallfahrt die Rede. Allerdings wird diese nur in unserer Prophezeiung auf Zion bezogen, wie das unterschiedliche Genus der Suffixe von und
, maskulin im ersten, feminin im zweiten Fall, zeigt. Vor allem aber ist das einleitende
der Vorlage durch
ersetzt. Was bedeutet diese unscheinbare und doch signifikante Abweichung? In 55,5 wird Jhwh durch
als Zweck, Finalursache und damit als eigentlicher Motor des Pilgerzugs präsentiert. In 60,9 wird er hingegen mit dem von
abhängigen? als Ziel der Prozession, genauer, als Empfänger der mitgebrachten Gaben erwähnt.1257 Weshalb ist das Tetragramm aber um ?? erweitert? Joseph Blenkinsopp nimmt an, dass damit Jer 3,17 eingespielt werde, ein Orakel, das die eschatologische Versammlung aller Nationen
, beim Namen Jhwhs, nämlich in Jerusalem, der Stadt, in der Sein Name wohnt, verheißt.1258
Wie in 55,5 geht es den Ankömmlingen auch hier nicht um ein theoretisches Erkennen Gottes. Nach Ausweis des Kausalsatzes, der den Vers beschließt, werden sie nämlich vor allem von der Schönheit Jerusalems angelockt: , denn er hat dich verherrlicht.1259 Damit ist ein, vielleicht sogar das Hauptmotiv von Jes 60 benannt: Zions Ausschmückung und Verherrlichung. Ähnlich wie
dient auch das Schlüsselwort
1260 dazu, das Verhältnis zwischen Jhwh, seiner erwählten Stadt und den anderen Nationen zu umschreiben. So wie er das „Licht“ ist, das sich in der Lebensweise der Jerusalemer Gemeinde widerspiegelt (
, v.1.3), ist er auch die „Schönheit“, die die ganze Stadt erfüllt (
, v.19). Er ist derjenige, der den Tempel schmückt und zu einem „schönen Haus“ macht (
, v.7), so dass auch Fremde angezogen werden und mit ihren Schätzen selbst an seiner Verschönerung mitwirken wollen (vgl. v.7.13).
Der letzte Beleg von in v.21 zeigt, dass dieser Glanz sich nicht in einem ästhetischen Erleben erschöpft und die Verherrlichung nicht eindimensional verläuft. Das eigentliche Ziel ist, dass Jhwh selbst „herrlich“ wird. Er verherrlicht sich (bzw. wird verherrlicht, wie man das Hitpaelauch übersetzen kann) durch ein Volk, das seine Weisung vollkommen erfüllt, weil es ganz aus
, Gerechten, besteht. Zions Pracht ist deshalb nicht ein passiver Reflex der Schönheit Gottes, sie legt auch aktiv von ihr Zeugnis ab, lässt sie, wenn man so sagen darf, überhaupt erst Gestalt annehmen, sodass sie sich in der materiellen Welt manifestieren kann. So kommt ihre Ausstrahlung zwar ganz von Jhwh, umgekehrt hängt aber auch dessen „Ansehen“ in den Augen der Menschen (ganz?) von der Gemeinde in Jerusalem ab.
Um zum Abschluss auf das Thema dieses Abschnitts zurückzukommen: In Jes 60 ist die Rückkehr der deportierten Judäer ein wesentliches Element der Völkerwallfahrt. Angezogen von der wunderbaren Verwandlung ihrer Mutterstadt kommen sie teils aus eigener Kraft, teils geleitet von den Bewohnern ihrer Exilländer, die die von Jhwh initiierte Rettungsaktion beobachten und unterstützen. Was mit den Heimkehrern geschieht, nachdem sie ihr Ziel erreicht haben, deuten die letzten Verse des Kapitels an: sie werden in die „Familie“ der Zionsmutter aufgenommen, Gerechte unter Gerechten, um zusammen mit denen, die in der Heimat blieben, Gottes „Pflanzung“ und „Werkstück“ zu sein und Seine Macht und Herrlichkeit zu bezeugen.
Was Jes 60 von allen anderen Völkerwallfahrtstexten abhebt, ist die Fülle der materiellen Güter, die nach Jerusalem gebracht werden. Damit wird ein Thema aufgegriffen, das für das politische und religiöse Denken des Alten Orients zentral ist: die Darbringung von Tributen durch unterworfene Völker. In 18,7 und 45,14 war dieses Thema bereits angeklungen, allerdings beschränkt auf die Völker Ägyptens und Afrikas. Nun wird es in aller Ausführlichkeit behandelt. Dabei wird der ganze Vorgang (im Unterschied etwa zu Hag 2,6–9) aus der Perspektive Zions geschildert. In 60,4 wurde sie zum Sehen aufgefordert (r?–), in v.5 wird ihr nun prophezeit, was sie erblicken wird () und was ihre innere Verfassung von Grund auf verwandeln wird. Sie hat den Zug der Nationen durch das über ihr erschienene und von ihr reflektierte Licht zwar selbst ausgelöst, doch wirkt dieser seinerseits auf sie zurück; durch die erwartungsfroh herbeieilenden Fremden wird sie in ihrer Umkehr bestärkt, wird das Dunkel, das auch über ihr lag, vertrieben und ihr Leuchten gemehrt –
, und du wirst strahlen.
Dass die Nationen in friedlicher Absicht kommen, ist nicht von Anfang an klar. Vielleicht sind die semantischen Ambiguitäten der ersten Vershälfte1261 sogar beabsichtigt, um den Leser in die emotionale Konfusion der Gottesstadt hineinzunehmen. Die Unsicherheit geht auch in v.5bweiter, wo zwei Kategorien von Waren unterschieden werden: solche, die vom Meer (), und solche, die vom Land kommen (
). Neben der neutralen Bedeutung „Fülle, Menge“ können die Lexeme
und
aber auch in einem militärischen Kontext verwendet wer-den.1262 So begegnet das Nomen
, Getöse, zusammen mit dem zugrunde liegenden Verb ???, tosen, wie in der Einleitung aufgezeigt (vgl. dort 4.2.4.), nicht selten in Texten über den Völkersturm: Jes 17,12 vergleicht das Lärmen der Angreifer mit dem Tosen der Meeresfluten (
), und 29,7–8 beschreibt, wie die Nationen unter großem Lärm (
) den Zi-onsberg bestürmen.1263 In Ri 4,7; Ps 46,4.7; Dan 11,10–13 nimmt
dann überhaupt die Bedeutung „Heer“ an. Die negative Assoziation wird in unserem Vers syntaktisch sogar noch verstärkt:
nif.regiert die Präposition
, die nicht selten die feindliche Annäherung („gegen“) bezeichnet.
Nicht weniger zweideutig als ist der Parallelbegriff
. Senden die fremden Nationen „Schätze“ oder „Truppen“ nach Jerusalem? Jes 8,4; 10,14; 30,6 verwenden das Wort in der ersten Bedeutung, die späteren Passagen 36,2; 43,17 aber in der zweiten,1264 und auch die aktive Verbform
passt eher zu marschierenden Soldaten als zu unbelebten Gütern.
Durch diese sprachliche Doppeldeutigkeit wird dem Leser die Lage Zions lebhaft vor Augen geführt. Sie sieht eine Masse von Menschen, Tieren und Waren auf sich zukommen und weiß nicht, ob sie sich fürchten oder freuen soll.1265 Die Ungewissheit löst sich im Grunde erst in dem Moment auf, in dem das unheimliche Schweigen gebrochen wird und aus dem Mund der Ankömmlinge Loblieder auf Jhwh erklingen (vgl. v.6b: ).
Aus allen Himmelsrichtungen werden Gaben nach Jerusalem gebracht: aus den arabischen Ländern im Süden und Osten (v.6–7), von den Inseln und Küstenstädten des Mittelmeers im Westen (v.8–9), aus dem Libanon im Norden (v.13).1266 Als erste Gruppe nennt v.6 eine Karawane, die Edelmetalle und Weihrauch aus Midian, Efa und Saba1267 bringt. So wie in v.2 Finsternis die Erde bedeckte (????), „bedeckt“ nun eine Menge von Kamelen und Dromedaren Jerusalem (). Um zu unterstreichen, dass an der Vollzahl nichts fehlt, wird dasselbe
, sie alle, wie in v.4 verwendet, und um das Kommen der Tragetiere auszudrücken, zum fünften Mal nach v.1 (Jhwh), v.4 (die Völker und die Exulanten) und v.5 (die Schätze der Völker) das Verb
, zum dritten Mal in derselben Form. Die mangelnde Abwechslung könnte als stilistische Schwäche bemängelt werden. Doch hat die sprachliche Monotonie einen starken rhetorischen Effekt: alle, von Gott selbst über die Menschen der verschiedenen Nationen bis hin zu den Tieren, vollziehen einegemeinsame Bewegung; sie marschieren sozusagen im Gleichschritt von den Rändern der Erde nach Jerusalem, dem Nabel der Welt.
Ähnlich wie in Jes 45,14–25 reduziert sich der Völkerzug auch in Kap. 60 nicht auf die militärische, politische und wirtschaftliche Dimension. Indem eine Reihe kultischer Elemente hinzugefügt werden, verwandelt sich der Tributzug unterworfener Vasallen in eine Prozession von Gaben, die freiwillig dargebracht werden, um den Wohnort Jhwhs zu zieren.1268 Der liturgische Charakter des Geschehens wird bereits in v.6 durch , Weihrauch, angedeutet,1269 am Ende des Verses aber ausdrücklich festgestellt: Die Herbeikommenden singen Loblieder auf Jhwh (
), legen also wie echte Pilger in Gesang und Gebet ein Bekenntnis zum Gott Israels ab.
V.7 unterstreicht diesen Aspekt, indem er darüber hinaus die Opfertiere, den Altar und den Tempel (in dieser Reihenfolge) erwähnt. Die Schafe und Widder kommen von Kedar und Nebajot, zwei weiteren arabischen Stämmen, die sich nach Gen 25,13 von dem Abrahamssohn Ismael ableiten. Wie schon in v.5 und v.6 wird auch diesen Tieren durch die Verben, die sich auf sie beziehen, eine wundersame Eigeninitiative zugeschrieben: Sie versammeln sich (), leisten Zion – wie die Könige in v.10! – einen Dienst (
) und bringen sich schließlich selbst als Opfer dar (
).1270 Die von der Gottesstadt ausgehende Faszination ist demnach so groß, dass sie nicht nur die Menschen, sondern auch deren Vieh erfasst und zum Handeln drängt.
Die erste Beschreibung der Völkerschätze mündet in ein Resümee, das durch einen unerwarteten Subjektwechsel (von der 3. Pers. Pl. zur 1. Pers. Sg.) und die zweimalige Verwendung der Wurzel besonders markiert ist:
, und das Haus meiner Herrlichkeit werde ich verherrlichen(v.7bβ). Es hält zweierlei fest: Alle Gaben haben nur den einen Zweck, den Ort zu schmücken, an dem Jhwh allen Menschen begegnen will. Und: In den vielfältigen Aktivitäten der israelitischen und nichtisraelitischen Menschheit, in der erstaunlichen Eigentätigkeit der Schätze und Opfertiere handelt letztlich Er, um seinen Plan zum Ziel zu führen.1271
Das Schlüsselwort begegnet auch in v.9 und v.13 am Ende einer Beschreibung von Tributen. Auf diese Weise wird unterstrichen: es geht nicht darum, dass die einen ausgebeutet und die anderen bereichert werden. Vielmehr geht es darum, dass an einemOrt der Erde Gott sinnlich erfahren werden kann. Der Überfluss der materiellen Güter, die an diesem Ort zusammenkommen, soll die Fülle und Schönheit des göttlichen Lebens widerspiegeln.
Im Anschluss an die Ausführungen über den Heimtransport der „Zionskin-der“ (v.8–9) und über die Dienste, die die Fremden leisten werden, wenn sie mit diesen in Jerusalem eingetroffen sind (v.10–11), spricht v.11b noch einmal über die Schätze der Nationen.Wie v.5 fasst er sie in dem Abstraktbegriff zusammen. Sie werden durch die Tag und Nacht offen stehenden Stadttore herbeigebracht (
hif.), und mit ihnen kommen die Könige, die, wie bereits erwähnt, nun nicht mehr ihre Völker leiten, sondern selbst zum Zionsgott geleitet werden.
V.13 schildert die letzte, aus dem Norden kommende Karawane. Dabei knüpft er mit dem aktiven anv.5–6, mit der Richtungsangabe
anv.11 an, während er mit
, das semantisch
ersetzt,1272 auf v.1–2 zurückverweist. Die Herrlichkeit, die dort die Epiphanie der göttlichen Transzendenz ist, wird somit in eine materielle, irdische Realität „übersetzt“. Sie manifestiert sich auch in den Zierbäumen, die zum Schmuck der Gottesstadt, genauer, des Heiligtums in ihrer Mitte herbeigebracht werden.1273 Die Baumarten
, Zypresse, Pinie und Buchs, wurden in derselben Reihenfolge und ebenfalls mit einem abschließenden
bereits in 41,19 erwähnt. Dort wurde die Transformation der Wüste in eine wasser- und vegetationsreiche Landschaft verheißen, Symbol einer sozialen Neuordnung zugunsten der „durstigen“ Armen im Gottesvolk.1274 In unserem Text wird dieses Bild von der Wüste auf die Stadt übertragen. Dasselbe Wunder soll also, sind die Verbannten erst einmal heimgekehrt, auch in Zion geschehen.1275
Ähnlich wie in v.7 erläutert auch hier die zweite Vershälfte, zu welchem Zweck das kostbare Material herbeigebracht wird. Wie die Tiere aus den arabischen Ländern sollen auch die Bäume des Libanon den Jerusalemer Tempel schmücken. Diese Aussage wird erneut dadurch akzentuiert, dass Jhwh selbst das Wort ergreift und sein Vorhaben in der ersten Person erläutert. Die Zeile beginnt mit dem Schlüsselwort (vgl. v.7fin) und endet mit dem theologisch aufgeladenen
. Auf diese Weise entsteht ein doppelter Rahmen: Der äußere, der den ganzen Vers einfasst, basiert auf der Wurzel
(im ersten Wort
und im letzten Wort
), der innere, der die zweite Vershälfte umschließt, basiert auf den synonymen Verben
pi. und
pi., die zusammen mit ihren Objekten
und
einen Chiasmus bilden (A–B–B'–A').1276 Alle Kostbarkeiten, die die Fremden herbeischleppen, dienen nur dazu, die Pracht der Wohnstätte Jhwhs zu vermehren. Im Letzten aber ist es dieser selbst, der seine Stadt und seinen Tempel „verherrlicht“, denn mit ihren Schätzen fügen die Nationen nur etwas zu dem kavodhinzu, den er über Zion bereits gebreitet hat. So wird die grundlegende Aussage von v.1–3 in v.13 weitergeführt und konkretisiert. Der Glanz der göttlichen Präsenz soll sich materialisieren, im Miteinander der in Zion lebenden Personen ebenso wie in der Schönheit des weltlichen Stoffs: in funkelndem Silber und Gold, im Duft des Weihrauchs, im „wohlgefälligen“ Opfer von Nebajot-Widdern, im angenehmen Schatten eines Tempelgartens.