Die Ausführungen über den Tribut der Nationen gipfeln in v.16in einer kühnen Metapher: Wie ein Kleinkind saugt Zion an den Brüsten der Könige die Milch der Völker.1277 Stilistisch ist diese Prophezeiung dadurch hervorgehoben, dass die beiden Parallelausdrücke und ????? ?? durch das am Zeilenbeginn und Zeilenende stehende Verb ??? gerahmt werden. Das seltsame Bild der stillenden Könige, das schon die Septuaginta irritierte,1278 ist offensichtlich von 49,23 inspiriert. Dort fungierten sie als Betreuer der Kinder Zions (
), die Königinnen aber als deren Ammen (
). Diese Aufgabe wird nun steigernd ihnen übertragen,1279 wobei sie allerdings nicht mehr die Heimkehrer, sondern Jerusalem selbst, also die gesamte Stadtbevölkerung zu versorgen haben.
Doch zu welchem Zweck wird diese so reich ausgestattet? Weshalb müssen ihr die Völker, die sie zuvor unterdrückten, nun dienen und ihr Bestes zur Verfügung stellen? Natürlich wird durch die Umkehrung der bisherigen Verhältnisse Unrecht wiedergutgemacht und Gerechtigkeit wiederhergestellt. Noch wichtiger aber ist, dass daraus eine Lehre gezogen wird.
Was aber lehrt die Geschichte, was diese Geschichte? Und wer ist es überhaupt, der aus der Geschichte die richtige Lehre zieht? Die Antwort auf diese Fragen wird durch eine Erkenntnisaussage gegeben, die fast wörtlich aus 49,26 übernommen ist:
49,26b: | ![]() |
60,16b: | ![]() |
Die Sätze unterscheiden sich nur darin, dass das einleitende Verb in der vermutlichen Vorlage in der 3. Pers. Pl. steht, in unserem Text aber in der 2. Pers. Sg. f.1280 In beiden Fällen geht es darum, hinter die Ereignisse zu blicken und den als Hauptakteur der Geschichte zu erkennen, der sich als präsentiert. Er ist kein weltentzogener, beziehungsloser Gott, sondern einer, der sich an Israel bindet und in dessen Errettung seine Macht erweist. Diese Einsicht sollen nach 49,26 alle Menschen (
), nach 60,16 Zion (und nur sie!) erlangen. Die einen, weil sie sehen, wie Jhwh die Feinde seines Volkes straft, die andere, weil sie sieht, wie eben diese Feinde sie mit Schätzen überhäufen.1281
Die Beschreibung des Gütertransports geht in v.17 weiter, jedoch mit einer auffälligen Änderung. Die Waren werden nicht mehr von den Völkern, sondern von Gott selbst herbeigebracht!1282 Dass das Subjekt gerade an dieser Stelle, nach der Erkenntnisaussage von v.16 wechselt, ist höchst bedeutsam. Es signalisiert nämlich, dass nicht eine reale Veränderung auf der Aktantenebene gemeint ist (als ob nun Jhwh anstelle der Kamele die Waren tragen würde), sondern eine Veränderung auf der Ebene der Erkenntnis.Wenn die Bewohner Jerusalems erkennen, dass der „Starke Jakobs“ ihr Retter ist, können sie auch den Tributzug der Völker tiefer verstehen: „[I]t is Yahweh who brought the people and the votive offerings to Zion.“1283 „Ich bringe...“ ist daher die theologische Kurzfassung für eine andere, ausführlichere Aussage: „Es ist Gottes Ziel, dass die nichtisraelitischen Nationen ihn erkennen, gemeinsam nach Zion kommen und ihn dort mit dem, was sie besitzen, verehren. Und es ist sein Ziel, dass diejenigen, die bereits zu seinem Volk gehören, in diesem Vorgang seine Hand erkennen und in ihrem Glauben gefestigt werden.“
Auch diese letzte Etappe der Gabenprozession endet mit einer theologischen Deutung. Sie definiert die „geistlichen Güter“, die durch die materiellen Güter gefördert werden sollen: in Zion sollen und
herrschen (v.17b), ein gerechtes und friedvolles Miteinander, das wie ein Licht die Anwesenheit des heilschaffenden Gottes Jhwh anzeigt (vgl. v.19–20).
Das Spezifikum der Vision von Jes 60 tritt klar hervor, wenn man sie mit anderen biblischen Texten konfrontiert, die ebenfalls von der altorientalischen Vorstellung der Völkerhuldigung beeinflusst sind. Thematische Parallelen und eine Reihe intertextueller Signale lassen Ps 72 als wichtigsten Vergleichstext erscheinen.1284 Beide lassen im Rahmen eines phantasievoll ausgemalten Endzeitszenariums Vertreter ausländischer Staaten nach Jerusalem kommen, um durch Tribute ihre Loyalität zu bekunden. In beiden Texten werden dieselben Herkunftsorte genannt: im Osten , Saba (Jes 60,6; Ps 72,10.15), im Westen
, Tarschisch, und
, die Inseln (Jes 60,9; Ps 72,10), im Norden
, Libanon (Jes 60,13; Ps 72,16). Das mythische Saba wird jeweils mit Gold (???, Jes 60,6; Ps 72,15) assoziiert.1285 Parallel dazu erwähnt Ps 72,10 (wohl aus lautlichen Gründen) auch
, Seba, dessen Bewohner in Jes 45,14 zu den Zionspilgern gehören.
Sowohl Jes 60 als auch Ps 72 heben die Könige als Repräsentanten ihrer Völker hervor (: Jes 60,3.10.11.16; Ps 72,10[2x].11). Neben den Geschenken, die sie Zion überreichen, bringen sie ihre Unterwerfung insbesondere durch den Akt der Proskynese zum Ausdruck.1286 Der terminus technicus
eštaf.erscheint sowohl in Ps 72,11 als auch in Jes 60,14. Daneben erwähnt Ps 72,9 noch, dass die Vasallen sich vor dem von Jhwh eingesetzten König verneigen (
, vgl. Jes 45,23) und den Staub zu seinen Füßen küssen (
, vgl. Jes 49,23).
Die sprachlichen Parallelen ließen sich noch vermehren. Trotz der frappierenden äußeren Ähnlichkeiten weisen die beiden Völkerzüge jedoch einen gravierenden Unterschied auf. Ps 72 bleibt nämlich in dem Rahmen der altorientalischen Königsideologie, indem er die Rolle des Großkönigs auf den in Jerusalem residierenden Davididen überträgt.1287 Dagegen interpretiert der prophetische Verfasser von Jes 60 diese Rolle neu. Er weissagt nicht den idealen, messianischen König, sondern die ideale, messianische Gesellschaft, der er in der Figur der „Mutter Zion“ ein personales Angesicht verleiht.1288 Sie bezwingt ihre Feinde nicht durch militärische Stärke, sondern durch den Glanz, der von ihrer inneren (geistigen, sozialen) und äußeren (materiellen) Wiederherstellung ausgeht.
An die Stelle der einzelnen (männlichen!) Herrschergestalt, die kraft ihres Amts für Recht und Frieden sorgt (vgl. Ps 72,1–4.12–14), tritt die weiblich vorgestellte Stadt, der Jhwh Gerechtigkeit und Friede als Früchte eines Lebens nach seiner Weisung schenkt (vgl. Jes 60,17). Die königlichen Prärogativen sind also ähnlich wie in Jes 11,10 und 55,1–5 auf das Volk, das in Zion lebt (vgl. 60,21: ???), übertragen. Diese „Demokratisierung“ (bzw. „Israelisierung“, wie wir präzisierend sagten) äußert sich in einem kleinen, vielsagenden Detail. Nach Ps 72,7 wird im Reich des Messiaskönigs der (im Singular!) gedeihen, nach Jes 60,21 werden in der endzeitlichen Gottesstadt überhaupt nur noch
(im Plural!) leben. Wo in der einen Vision die göttliche Gerechtigkeit sich in einigen herausragenden Einzelgestalten manifestiert, kennzeichnet sie in der anderen das ganze Gottesvolk, die Existenzweise aller, die ihm zugehören.
In diesem „starken Volk“ (, Jes 60,22), mit dem sich die Verheißung an Abraham erfüllt (vgl. Gen 18,18:
),wird der Glanz Jhwhs anschaubar; es ist das „Werk“, an dem er seine Herrlichkeit der nichtjüdischen Menschheit zeigt. Dazu muss es aber instand gesetzt werden, muss sich vor allem selbst instand setzen, indem es auf Seine Weisung hört, um so von deren überirdischem Licht erleuchtet zu werden.
Wie aber partizipieren die ausländischen Nationen an dem Heil, das Zion zugedacht ist? Ist es nicht eine Diskriminierung, wenn ihre einzige Aufgabe darin besteht, der Gottesstadt dienstbar zu sein?1289 Gold, Weihrauch und Opfertiere herbeizuschaffen, den Exilierten eine kostenlose Schiffspassage zu gewähren, die Mauern der Stadt zu errichten und ihre Tore zu bewachen? Oder ist gerade das die Weise, wie sie Erlösung erfahren? Ausdrücklich wird das nicht behauptet, doch wird diese Antwort durch eine doppelte lexikalische Verknüpfung immerhin angedeutet. Die Mauern (), die die Fremden in v.10 erbauen, bezeichnet Zion selbst in v.18 als
, Rettung, und die Tore (
), die sie in v.11 bewachen, nennt diese wiederum in v.18
, Lobpreis.Indem sie sich am Wiederaufbau Jerusalems beteiligen, der Stadt zu Hilfe kommen, die Jhwh erwählt hat, tragen sie also dazu bei, die Erlösung und das Gotteslob (das in v.6 erstmals angestimmt wurde) zu mehren. So wie das Gottesvolk selbst durch Erkenntnis und Umkehr zum Heil gelangt, können auch sie umkehren und aus Unterdrückern, die sie waren, zu Unterstützern der Sache Gottes werden.
In der Exegese werden die Völkerwallfahrtsvisionen üblicherweise als „eschatologisch“ charakterisiert.1290 Dabei wird die Unschärfe dieses Begriffs kaum geringer, wenn man ihm Attribute wie „biblisch“, „prophetisch“ oder „apokalyptisch“ hinzufügt. Tatsächlich weist jeder der in Betracht gezogenen Texte so individuelle Züge auf, dass er sich nur um den Preis der Vergröberung einer Kategorie zuordnen lässt, die nicht der Bibel, sondern der dogmatischen Lehre von den novissimaentnommen ist.
Um den Schwierigkeiten einer exakten Definition zu entgehen, formuliert Yair Hoffmann drei Kriterien, die eine Prophetie erfüllen muss, um als „eschatologisch“ zu gelten. Sie muss a) auf die Zukunft ausgerichtet sein, b) eine universale Perspektive haben und c) von wunderbaren, übernatürlichen Zuständen han-deln.1291
Dass sich auch solch allgemeine Leitlinien an einem konkreten Text schwer verifizieren lassen, wird schnell deutlich, wenn sie auf unseren Text angewendet werden. Das Völkerwallfahrtsorakel Jes 60 ist zweifellos universal, da es über die nichtisraelitische Menschheit prophezeit. Doch ist die universale Perspektive nicht einer partikularen, nationalen Erwartung untergeordnet? Das heißt, geht es in ihm wirklich um das Heil der Völker oder nicht eher um die Verherrlichung Zions?1292 Und worin besteht das Wunder der künftigen Heilsära: in der Außerkraftsetzung der kosmischen Ordnung, nämlich im Aufhören des Sonnen- und Mondkreislaufs (vgl. v.19 – 20),1293 oder nicht eher darin, dass die Erzfeinde Israels zu Verehrern JHWHs werden?
Fragwürdig ist aber auch das erste Kriterium, das für eschatologische Weissagungen unentbehrlich zu sein scheint: die Zukunftsperspektive. Jes 60 verwendet zwar überwiegend das futurische Tempus (x-yiqtol und weqatal-x), an zentralen Stellen, vor allem wenn es das göttliche Handeln beschreibt, aber auch Perfekta (x-qatal). Bereits die ersten Worte machen klar, dass dieses prophetische Orakel nicht einfach ein zukünftiges Geschehen vorhersagen und Heilszustände schildern will, die früher oder später eintreten werden. Es fehlen ja jegliche Zeitangaben: der Tempusmarker , die Wendung
, die sog. „eschato-logischen Formeln“
oder
u. ä. Stattdessen steht ein zweifacher Imperativ, der zwar auch auf Zukünftiges verweist, aber nicht deskriptiv, sondern präskriptiv, nicht als repräsentativer Sprechakt, der sagt, was geschehen wird, sondern als direktiver Sprechakt, der sagt, was geschehen sollte.Die Ereignisse, die den größten Teil des Kapitels ausmachen (die Ankunft der Heidenvölker, die Karawanen mit den kostbaren Waren, die Wiederaufbauarbeiten, die Huldigung der einstigen Bedrücker etc.), treten also nicht „automatisch“ ein. Sie werden auch nicht direkt von Gott herbeigeführt, indem er wie in Jes 49,22 ein wirkmächtiges Signal gäbe oder wie in Hag 2,6–9 Himmel und Erde erschütterte. Vielmehr folgen sie aus dem in v.1–2 geschilderten Prozess, zu dem die Eigenaktivität Zions, nämlich die geistige und moralische „Erhebung“ ihrer Bewohner wesentlich gehören.
Jes 60 ist daher kein eschatologisches Orakel im üblichen Sinn, nicht eine pure Vorhersage der kommenden, endgültigen Erlösung, sondern zunächst ein an die Gottesstadt gerichteter Umkehrappell. Dabei malt es die bevorstehende Herrlichkeit auch deshalb mit so leuchtenden Farben aus, um dieser die positiven Folgen ihres Tuns vor Augen zu stellen und sie zu motivieren, die von Gott initiierte Heilswende nicht zu ignorieren, sondern sich von ihr ergreifen und verwandeln zu lassen.
Damit ist bereits das zweite nicht-futurische Tempus angesprochen, das Perfekt, das in v.1 (), aber auch in v.9 (
) und v.10 (
) auf ein Tun Gottes verweist und damit die Zukunftsansagen unterbricht.1294 Zion kann sich aus ihrer bisherigen Niedergeschlagenheit erheben und zu einer neuen, exemplarischen Gesellschaft werden, weil Gott das Seine getan hat: er istzu ihr zurückgekehrt! In der prophetischen Imagination erstrahlt JHWHs Lichtglanz bereits über der Stadt, er ist ein Faktum, das die Gegenwart des Gottesvolkes prägt (prägen sollte). Wenn v.2 dasselbe noch einmal im Futur formuliert (
), so ist das kein Widerspruch, sondern eine wichtige Ergänzung. Es weist nämlich auf die dem Erlösungsprozess inhärente Spannung hin: dass die göttliche Herrlichkeit in dem Maße über der Jerusalemer Gemeinde erstrahlt, in dem diese sie mit den Augen des Glaubens erkennt (vgl. v.16b) und sich von ihr prägen und umgestalten lässt. Das Perfekt und das Futur sind somit der grammatikalische Ausdruck für zwei unauflösbar verschränkte Wirklichkeiten: das „Schon“ der göttlichen Gnade und das „Noch nicht“ der menschlichen Antwort.
Dieselbe Tempuskonstellation kommt in v.4–5 noch einmal vor. Auch hier wird Zion angesichts einer bestehenden Situation (qatal) zu einer Verhaltensänderung aufgerufen (Imperativ), deren positive Folgen dann ausgemalt werden (yiqtol). Sie soll ihren auf sich selbst bezogenen Blick erheben und wahrnehmen, dass die Nationen, die sich in v.3 auf den Weg machten, schon angekommen sind und sich um sie versammelt haben. Dass sie den Ort der Theophanie erreichen, hängt also nicht nur von ihnen, sondern auch von der dort lebenden Gemeinde ab. Sie muss den Fremden mit ihrer wachen Aufmerksamkeit gleichsam entgegengehen, die Ankömmlinge willkommen heißen und bei sich aufnehmen. Die anderen, im Futur geschilderten Vorgänge (die Rückkehr der Exilierten und der Transport der Völkerschätze) sind dann „nur“ noch Auswirkungen dieses Grundvorgangs, den Zion im hic et nunc des Angesprochenwerdens vollzieht.
Dass die ganze Völkerwallfahrt auf dem vorgängigen Handeln Gottes beruht, wird noch zweimal konstatiert. In beiden Fällen wird der Kausalzusammenhang durch die Konjunktion?? deutlich zum Ausdruck gebracht. V.9 erklärt die Tatsache, dass Ausländer die Repatriierung der Judäer unterstützen, damit, dass Jhwh Zion geschmückt und anziehend gemacht hat (). Wodurch geschmückt? Durch sich selbst, d. h. durch seine eigene Anwesenheit, wie v.19 erklärt:
, und dein Gott wird zu deinem Schmuck.Nach v.10 ist die Mithilfe der Fremden am Mauerbau eine Folge davon, dass Er seinen Zorn begraben und sich seines Volkes wieder erbarmt hat (
). Nach Jes 60 ist die entscheidende Wende also bereits eingetreten; die Erlösung hat für Zion begonnen, sodass auch Menschen fremder Provenienz sie erfahren könnten. Sie müsste dazu allerdings erkennen, was von Jhwh her bereits geschehen ist, und gläubig darauf reagieren.
Im abschließenden Vers wird auf die Frage nach dem Zeitpunkt der Erlösung expressis verbiseingegangen: , ich binJhwh, zu seiner Zeit werde ich es1295 beschleunigen(v.22b). Durch das in den Psalmen häufige, in Jesaja aber seltene Verb
1296 ist diese rätselhafte Ankündigung intertextuell mit 5,19verbunden:
, er (sc. Jhwh) beeile sich, er beschleunige sein Werk, damit wir es sehen. 60,22 erscheint dadurch als eine Antwort Gottes auf die Kritiker, die ihm ein zu langsames Vorgehen vorwerfen.1297
Die Ankündigung, Gott werde das von ihm Verheißene beschleunigen, wird durch die Zeitangabe näher erläutert. Statt zu präzisieren, verdunkelt sie aber eher das Gesagte, indem sie ein Oxymoron erzeugt. Denn wie kann etwas beschleunigt werden und gleichzeitig zu seiner, d. h. zu der vorhergesehenen, vorbestimmten Zeit1298 eintreten? Oder ist damit gemeint, dass Jhwh sein Werk zwar nicht jetzt, wohl aber später und dann umso intensiver betreiben wird?1299 Dem widersprechen jedoch die Aussagen über das „Schon“ der göttlichen Heilswirk-lichkeit. Wäre die „angemessene“ Zeit für Zions Verherrlichung dann nicht die Gegenwart, nämlich der Augenblick, in dem sie dem Ruf zur Umkehr folgt?
Die Septuaginta hat diese spannungsvolle Polarität in eine Sammlungsverheißung wie in 43,5 und 56,8 aufgelöst: έγώ κύριος κατá καιρόν συνάξω αύτούς, ich, der Herr, werde sie zur rechten Zeit zusammenführen.Demgegenüber drückt der harte hebräische Ausdruck eine tiefere, fast möchte man sagen, paradoxe Glaubenserfahrung aus, die mit der zuvor beschriebenen „Ungleichzeitigkeit“ des göttlichen und menschlichen Tuns zusammenhängt: Wenn die Erlösung aus dem Miteinander zweier Freiheiten, aus der Kooperation zwischen Gott und seinem Volk hervorgeht, kann keiner der beiden Partner über ihr Eintreffen allein verfügen.
In unübertrefflicher Kürze wird diese wechselseitige Verschränkung im babylonischen Talmud benannt. Im Rahmen einer ausführlichen Diskussion über das Kommen des Messias zitiert bSanh 98a eben dieses Wort aus Jes 60,22: „R. Joshua b. Levi pointed out a contradiction. It is written, in its time (will the Messiah come), whilst it is also written, I (the Lord) will hasten it! – If they are worthy, I will hasten it: if not, (he will come) at the due time.“1300 und
würden demnach die zwei Faktoren bezeichnen, von denen das Kommen der messianischen Erlösung abhängt: Gottes Entschluss, sie schnell herbeizuführen, und Israels Bereitschaft, sie anzunehmen und sich aktiv anzueignen. Wenn sie sich wider Erwarten verzögert, so liegt das nicht an Gott, an seiner Unwilligkeit oder Unfähigkeit, sie zu bringen, sondern an einem Volk, das nicht „würdig“ ist, weil es sie durch seinen Ungehorsam, seinen Unglauben blockiert.
Mit diesen Überlegungen haben wir den Rahmen einer rein historischen und literarischen Exegese überschritten. Wir wollen sie beschließen, indem wir noch zwei mittelalterliche Ausleger zu Wort kommen lassen, die die Frage nach dem Zeitpunkt der Völkerwallfahrt ausdrücklich in den Horizont einer lebendigen Glaubenstradition stellen: Abraham Ibn Ezra und Nikolaus von Lyra. Bei allen Unterschieden ist ihnen gemein, dass sie die Prophezeiung nicht auf den historischen oder textinternen, sondern auf den realen Leser hin interpretieren, nicht als Auskunft über eine vergangene Epoche, sondern als aktuelle Botschaft für ihre eigene Lese- und Glaubensgemeinschaft. Nach ihrer Überzeugung liegt darin die „wörtliche“ Bedeutung des Textes (sensus litteralis), das, was der Autor wirklich sagen wollte.
Ibn Ezra formuliert seine hermeneutische Grundentscheidung bereits in den einleitenden Bemerkungen zum zweiten Teil des Jesajabuchs. Dort setzt er sich nämlich von der Position des Mosche Ibn Gikatilla ab, der die auf Jes 40 folgenden Orakel auf Ereignisse zur Zeit des Zweiten Tempels bezieht. Diese Kapitel, so Ibn Ezra, enthielten in der Tat Prophezeiungen über das babylonische Exil, doch nur zu dem Zweck, um den Zustand des zeitgenössischen Israel zu illustrieren. In Wirklichkeit handelten sie von „the coming redemption from our present exile“.1301
Auf diesen Punkt kommt Ibn Ezra immer wieder zurück. Das Orakel 52,1–12, zum Beispiel, bezieht er nicht auf die Befreiung und Rückkehr der babylonischen Diaspora, also auf ein Ereignis, das für ihn in der Vergangenheit liegt, sondern auf die künftige Erlösung seiner noch immer unter den Nationen zerstreuten Glau-bensgenossen.1302 Im ersten Fall müssten nämlich auch die damit verbundenen Verheißungen wie „Nicht mehr wird ein Unbeschnittener und Unreiner zu dir kommen“ (52,1) eingetreten sein. Da dies aber nicht der Realität entspricht, müsse der ganze Abschnitt auf die noch ausstehenden Tage des Messias bezogen werden.
Dasselbe Auslegungsprinzip wendet Ibn Ezra auch auf unser Kapitel an. Nach seiner Ansicht enthält es einen Verheißungsüberschuss, der in der Zeit des Zweiten Tempels nicht eingelöst wurde. Ohne auf die paränetische Dimension des Textes einzugehen, deutet er das über Jerusalem erstrahlende Licht als Wiederherstellung des israelitischen Königtums oder der Prophetie.1303 Diese messianische Epoche meine der Ausdruck , die Zeit der Befreiung, die Jhwh eilends herbeiführen will.1304 Weshalb verzögert sich dann aber das Heil, so dass das jüdische Volk nach Hunderten von Jahren noch immer in der Zerstreuung lebt, wo Gott selbst doch ankündigte, dass es
, nahe am Kommen(56,1), sei? Ibn Ezra beantwortet diese beunruhigende Frage ebenso wie der Talmud: ob es bald kommt oder sich verspätet, hängt allein daran, ob Israel die göttlichen Gebote hält.1305
Der Auslegung Ibn Ezras, der mit ein Grundprinzip jüdischer Prophetenexegese formuliert, steht die des Nikolaus von Lyra diametral entgegen. Sein hermeneutischer Zugang zu den Propheten ist ganz durch die neutesta-mentliche Offenbarung bestimmt, nach der die Erlösung bereits gekommen ist.1306 Das Licht, von dem Jes 60,1– nicht im Futur, sondern im Perfekt! – spricht, deutet er deshalb mit einem Zitat aus dem Johannesevangelium (Joh 1,9; vgl. 8,12; 9,5; 12,46) auf Jesus von Nazareth: „quia venit lumen tuum, id est Christus qui est vera lux.“ In ihm ist Gottes Herrlichkeit sichtbar geworden – „et gloria Domini, id est Filius qui est gloria Dei Patris“ –, und durch seine Inkarnation ist sie über Jerusalem aufgegangen – „super te orta est, in natura humana assumpta.“1307
Die Grundthese, Jesaja habe über Jesus Christus prophezeit und mit diesem sei die verheißene Endzeit gekommen, schließt zwei andere Interpretationen, die historische und die futurisch-messianische, aus. Für Nikolaus von Lyra handelt Jes 60 also weder „vom Wohlergehen der aus Babylon Zurückkehrenden“1308 noch von „der Zeit bei der Ankunft des Messias“,1309 weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft, sondern allein von der gegenwärtigen Wirklichkeit der „ecclesia militans“.1310 In dieser Vision werde „zuerst […] das Wohlergehen der kämpfenden Kirche aufgrund des Anwachsens der Zahl der Gläubigen beschrieben, dann aufgrund der Errichtung von Kirchen […] und drittens aufgrund des Erlangens von Gütern.“1311 All dies sei im Laufe der Kirchengeschichte eingetreten: in der Ausbreitung des Evangeliums durch die Apostel, in der Bekehrung der heidnischen Völker, in der Anerkennung des Christentums durch Kaiser Konstantin und in den reichen Zuwendungen von Königen und Fürsten für den Bau und die Ausstattung von Kirchen. Die Vorhersagen von Jes 60 seien demnach in der christlichen Kirche in Erfüllung gegangen und zwar auf eine sichtbare, von jedem nachprüfbaren Weise.1312
Mit dieser Erfüllungseschatologie setzt sich der christliche Ausleger radikal von seinem jüdischen Gegenüber ab. Zwar enthält Jes 60 auch für ihn Verheißungen, die auf ein noch ausstehendes Heil verweisen. Ihren Umfang beschränkt er aber auf v.18–22, und ihre Art definiert er anders. Wo Ibn Ezra nämlich die irdische, innergeschichtliche Befreiung Israels erwartet, spricht Nikolaus von der transzendenten, himmlischen Herrlichkeit der Kirche.1313 Dennoch liegt für beide Exegeten der hermeneutische Schlüssel zum Verständnis des Prophetentextes in ihrer eigenen, zeitgenössischen Erfahrung. Für den einen ist das „unsere Galut“, für den anderen die „ecclesia militans“.
Worin aber zeigt sich, dass das Geweissagte tatsächlich eingetroffen ist? Was erweist, dass Gott in der Gemeinde der Jünger Jesu anwesend ist und durch sie seine Wohnung, die „domus maiestatis meae“ (v.7), den „locus sanctificationis meae“ (v.13), verherrlicht? Die Antwort liegt in den Schlüsselbegriffen „gloria“ (v.1.2.13.19) und „glorificare“ (v.7.9.13.21), die zum Ausdruck bringen, dass der unsichtbare Gott in einer menschlichen Gemeinschaft „gesehen“ werden kann. Für Nikolaus von Lyra geschieht dies „durch das Wirken von Wundern, die die Herrlichkeit der göttlichen Kraft anzeigen“1314 und so „die Lehre der Kirche be-kräftigen.“1315 Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen und Totenerweckungen sind also nicht nur Kennzeichen Jesu und der Apostel, sondern jeder Gemeinde, in der der Geist Gottes wirkt. Dabei sind die Träger dieses Charismas nicht spezielle Wundertäter, sondern die Bischöfe selbst, die Nachfolger der Apostel: „usque ad tempora satis nobis propinqua omnes fere episcopi faciebant mira-cula“, bis zu der Zeit, die uns ziemlich nahe ist, taten fast alle Bischöfe Wunder.1316 Auch wenn die Sache in dem zu Ende gehenden Mittelalter fast schon verloren ist, hält dieser bedeutende Exeget doch das Wissen fest, dass der „neue Zion“ an der ebenso realen wie wunderbaren Veränderung der individuellen und gesellschaftlichen Verhältnisse erkannt wird.
Die klaren Kategorien des Mittelalters, hier „Galut“, dort „Gloria“, sind durch die geschichtlichen Ereignisse der Neuzeit obsolet geworden. Die Kirche fragt sich heute, inwiefern sie durch eine „Lehre der Verachtung“ (Jules Isaac) und einen Mangel an realer Solidarität Mitschuld an der Schoah trägt und warum sie das Wunder als „Normalzustand“ christlicher Existenz verloren hat. Das Judentum versucht, die Existenz eines säkularen Staates neben einer fortdauernden, freiwilligen Diaspora theologisch einzuordnen. So wenig wie jene die gekommene Messiaszeit ohne Zeichen verkünden kann, kann dieses einfach alles (handelt) von unserer Erlösung, als neues Auslegungsprinzip wählen. Noch mehr als zur Zeit von Ibn Ezra und Nikolaus verlangen die prophetischen Visionen heute nach einer gemeinsamen jüdisch-christlichen Perspektive – um miteinander die zurückliegende Heils- und Unheilsgeschichte zu reflektieren, um einander zu ermutigen, auf die noch ausstehende Erfüllung zu harren, vor allem aber um gegenwärtige Erfahrungen mit einer gerechten und friedvollen Gesellschaft auszutauschen und dann auch gemeinsam zu machen.
Jes 66, das zusammen mit Jes 65 das Jesajabuch beschließt,1317 greift zwei theologische Hauptthemen auf – die Sammlung und Wiederherstellung Israels und die Wallfahrt der Nationen zum Zionsberg – und fügt sie zu einer grandiosen Vision zusammen, die gleichermaßen Heil wie Gericht umfasst.1318 Während v.7–14 im Anschluss an die Zionstexte in Kap. 49–55 und 60–62 die wunderbare „Neugeburt“ des Gottesvolkes beschreibt, weitet v.15–24 den Blick auf die ganze Völ-kerwelt.1319 Dabei bewirkt die Bindung an Jerusalem (v.10.13.20; vgl. v.8: Zion), dass die beiden Vorgänge aufeinander bezogen bleiben, ja, vom Leser als sukzessive Phasen eines einzigen Gesamtprozesses wahrgenommen werden.
Die erste Phase, die religiöse, soziale und wirtschaftliche Neukonstituierung der Jhwh-Gemeinde, wird bereits im „Deuterojesajabuch“ mit Hilfe der Mutter-Kind-Metapher thematisiert. Das zerstörte und entvölkerte Jerusalem wird als eine kinderlose Mutter präsentiert, eine Frau, die Mann und Kinder verloren hat. Dieses aus Jeremia und dem Buch der Klagelieder übernommene Motiv ist aber nur der Ausgangspunkt, um ebenso plakativ die neue Trostbotschaft zu verkünden: die Weggeführten kehren zu ihrer „Mutter“ zurück und werden dabei sogar von den Bewohnern ihrer Gastländer unterstützt. Alle diese Prophezeiungen einer natio nalen Restauration werden in 66,7–14 zusammengeführt und zu einem eindrucksvollen Bild verdichtet, das einerseits den Gegenpol zu den Gerichtsansagen gegen die Gottesfeinde in und außerhalb Israels (vgl. 66,1–6.15–17.24) und andererseits die Grundlage der universalen Heilsbotschaft bildet (vgl. 66,18–23).
Worin bestehen nun aber die Parallelen und die Differenzen zu den bisherigen Zionstexten? Welchen theologischen Akzent setzt dieser Text, das heißt, wie muss nach ihm die neugesammelte Gemeinde beschaffen sein, damit die fremden Nationen die Herrlichkeit ihres Gottes sehen und ihn zusammen mit ihr verehren können?1320
Noch vor allen Detailbeobachtungen muss auf einen wesentlichen Unterschied hingewiesen werden: Zion erscheint nicht in der zweiten, sondern in der dritten Person; sie wird also nicht angesprochen, sondern es wird über sie gesprochen. In den vorangegangenen Kapiteln fungierte sie als Gesprächspartnerin Jhwhs, ihr Schicksal, ihre Leiden und ihre Hoffnungen standen im Mittelpunkt des Interesses. In diesem letzten Zionstext ist dieser Fokus durch eine veränderte Kommunikationsstruktur verschoben. Das wird besonders deutlich, wenn der Autor nach dem Heilsorakel in v.7–91321 in v.10 zur direkten Anrede übergeht, sich dann aber nicht an die „Mutter“, sondern an deren „Kinder“ wendet (vgl. 50,1).1322 Die 2. Pers. Pl. prägt auch den Rest der Rede, in der, wie wir sogleich sehen werden, frühere Aussagen über Jerusalem auf deren Bewohner übertragen werden. Für den Leser entsteht dadurch der Eindruck: Die erste Etappe des Wiederaufbaus, die die Stadt als solche betraf, ist abgeschlossen. Nun geht es um ihre Bevölkerung, um deren Zusammensetzung und innere Struktur, um ein Problem also, das schon in 56,1–9 diskutiert wurde und das in Kap. 65–66 abschließend beantwortet wird.1323
Dass die neue Heilsepoche, die in 65,17–18 als „neuer Himmel und neue Erde“, aber eben auch als „neues Jerusalem“ angekündigt wurde, tatsächlich angebrochen ist, zeigt die in 66,7 –9 geschilderte wunderbare Geburt.1324 Eine Entbindung, die so schnell verläuft, dass sie vor dem Einsetzen der Wehen bereits abgeschlossen ist – mit diesem eindrücklichen Bild wird die Wiederbesiedlung Jerusalems als ein nicht zu erwartendes, von Gott gewirktes Wunder gedeutet. Dabei unterstreicht die im qatalformulierte Hauptaussage – , doch Zion hat gekreißt und ihre Söhne auch geboren (v.8b) –, dass eingetreten ist, was bisher nur eine tröstliche Verheißung war. Im Besonderen antwortet sie auf die Frage von 49,21, wer die neuen Bewohner geboren habe (
), und revidiert das Urteil von 54,1, dass die „unfruchtbare“ Gottesstadt nichtgeboren und nicht gekreißt habe (
).1325
Neben den Geburtsaussagen sind es vor allem die „Kinder“ (), die eine lexikalische und thematische Brücke zwischen diesem und den früheren Zions-texten bilden. Jes 51,17–21 hatte im Rückblick auf den Fall Jerusalems die Abwesenheit ihrer Söhne beklagt (v.18) und geschildert, wie diese tot am Straßenrand liegen (v.20). Im Kontrast dazu hatte Jes 54 der vereinsamt (wörtlich: „verödet“) Zurückgebliebenen eine große Kinderschar verheißen (v.1). Wie es dazu kommen würde, hatte 49,14–26 beschrieben und Jes 60 mit weiteren farbigen Details ausgemalt: Die Kinder Zions würden aus dem Exil zurückkehren, ja, sie würden von den Anführern der nichtjüdischen Nachbarstaaten behutsam heimgeführt.
Jes 66,7–14 transponiert diese Zukunftsansagen in die Gegenwart, holt den Leser gleichsam an das Bett der Gebärenden. Dabei führt dieser Text die Personifizierung konsequenter durch als die vorhergehenden, in denen die Metapher immer wieder durch Stadtattribute gestört wurde, und zeigt Zion wirklich als eine glückliche Mutter, die ihre Kinder in den Armen hält. Für die Idee, dass die Exilierten in festlicher Prozession nach Hause wandern, ist damit kein Platz mehr. Sie würde auch nicht passen, ist doch die Dramaturgie des Gesamtwerks mit Jes 66 an einen neuen Punkt angelangt, nämlich in der Zeit nach der Diaspora, in der das Gottesvolk inJerusalem neu entstehen soll.1326
In dieser vorletzten Texteinheit des Buches treten deshalb nicht wie in 49,22–23 und 60,3–4.16 fremde Könige und Königinnen als Ammen auf. An ihrer Stelle greift eine andere Gestalt entscheidend in das Geschehen ein. Mit einem betont am Satzanfang stehenden „Ich“ (66,9init) stellt Jhwh sich als derjenige vor, der die Geburt der Zionskinder möglich macht. Dabei handelt er nicht wie eine Hebamme, die bei der Entbindung nur assistiert. Er tut, was sie und auch sonst niemand zu tun vermag: er öffnet den Mutterschoß ( hif.) und lässt die Schwangere gebären (
hif.). Das ist keine natürliche, sondern eine übernatürliche Geburt! Die übliche Geburtsmetapher genügte dem Verfasser offensichtlich nicht, um die theologische Dimension der Wiederbevölkerung Jerusalems auszudrücken. Die neuen Bewohner sind wirklich Kinder Zions. Sie sind aber auch Kinder Gottes, als die sie andernorts ja auch bezeichnet werden (vgl. 43,6). Dass Jhwh „zeugt“ bzw. „gebären lässt“,1327 ist eine durch den Kontext bedingte kühne Metapher. Eine vergleichbare, nichtfigurative Aussage findet sich bereits in 49,25:
, und deine Kinder werde ich retten. Doch geht unser Vers noch darüber hinaus, wenn er für Zion und für Jhwh dasselbe Verb
verwendet. Die neue Generation wird demzufolge aus dem innigen Zusammenwirken von Gott und Mensch „geboren“.
Der folgende Abschnitt 66,10–11 lädt die Adressaten ein, sich über Jerusalem zu freuen, d. h. an dem Glück ihrer unverhofften Mutterschaft teilzunehmen. Jes 54,1 hatte (mit anderem Vokabular) die Stadt selbst zum Jubel aufgefordert: Nun wird ein ähnlich eindringlicher, ebenfalls aus drei Imperativen bestehender Appell an deren Bewohner gerichtet:
Diejenigen, die mit der Verlassenen, Betrübten, Niedergeschlagenen (vgl. 54,6:
) getrauert haben, sollen nun auch ihren Jubel teilen. Auf diese Weise geht anfanghaft in Erfüllung, was 60,15 angekündigt hatte: Jhwh werde Zion für alle Menschengeschlechter zum Anlass der Freude machen (
vgl. Ps 48,3:
).1328
Auch bei dem folgenden Motiv, der Ernährung der Neugeborenen, werden frühere Aussagen über Jerusalem auf deren Bewohner übertragen.1329 Jes 60,16 hatte Zion als ein Mädchen dargestellt, das an der „Brust von Königen“ () die „Milch“, d. i. die materiellen Güter der Nationen, saugt (
, 2x). Nun sind es ihre Kinder, die saugen (
) und sich an ihrer Brust (
) sättigen. Aus dem Säugling ist also eine Mutter geworden, aus der Empfängerin eine Vermittlerin von Nahrung. Der Reichtum, den sie von den Nationen empfing (
, 60,13; 61,6), ist zu ihremReichtum geworden (
, 66,11), so dass sie ihn an andere weiter-schenken kann.
Genau diesen Zusammenhang hebt der dritte Abschnitt 66,12–14 hervor. Im Rückgriff auf 8,7–8 und 30,281330 schildert er, wie Jhwh „die Herrlichkeit der Nationen“ ()1331 nach Jerusalem strömen lässt. Damit wird nun doch ein zentrales Motiv der Völkerwallfahrt eingespielt: die Ankunft der Völkerschätze in der Gottesstadt. Im Unterschied zu Jes 60 werden hier aber nicht die einzelnen Waren, sondern die göttliche Initiative in den Vordergrund gestellt. Jhwh ist das eigentliche Subjekt, der souveräne Lenker der Geschichte, der über den Besitz der Nationen frei verfügen kann.
Noch vor diesen materiellen Gütern erreicht die Stadt aber ein anderes, immaterielles Gut: der Schalom, die Fülle des physischen, sozialen, geistigen und seelischen Wohlergehens. Er wird nicht unter die Gaben der Nationen gerechnet, ganz offensichtlich, weil nur Jhwh ihn schenken kann. In 48,18 hatte dieser darüber geklagt, dass der Friede Israel schon längst „wie ein Strom“ () erfüllen könnte, wenn es die Gebote befolgte.1332 In 54,13 hatte er ihn den Kindern Zions versprochen, nachdem er ihn zuvor explizit als sein Eigentum deklariert hatte (????ω, mein Friede, 54,10). Und in 60,17 hatte er ihn neben ???? als Hauptpfeiler der künftigen Zionsgemeinde benannt. All diese Verheißungen sind hier nun aufgenommen und durch das futurum instans
im Sinne einer präsentischen Eschatologie aktualisiert.
V.12bbietet nach 49,22 und 60,4 die dritte Version des Bildes von den Kindern, die auf der Schulter, am Busen, an der Hüfte oder auf den Knien getragen werden. Die lexikalischen Variationen brauchen uns hier nicht weiter zu beschäftigen.1333 Wichtiger ist, dass im Zuge der bereits beobachteten Transformation die Rolle der Aktanten neu bestimmt wird: Die „Kinder“ werden nicht mehr von den Nationen, sondern von Zion getragen. Dies kommt vor allem in dem zweiten Kolon zum Ausdruck, das keine Entsprechung in den genannten Versen hat:
. Es zeigt Kleinkinder, die auf den Knien ihrer Mutter geschaukelt werden. Sie können gar nicht von Fremden herbeigetragen werden, wurden sie doch vonJerusalem inJerusalem geboren!
Das für das exilische Jesajabuch so zentrale Trostmotiv, das in v.11 bereits angeklungen war, wird in v.13mit einem dreifachen ??? zum abschließenden Höhepunkt gebracht. Wie v.12 erläuterte, woher Zions kavodstammt, wird nun auch dessen Parallelbegriff „Brust der Tröstungen“ (, v.11) präzisiert. Im Anschluss an 49,13 (
) und insbesondere 51,12 (
) wird emphatisch statuiert, dass Jhwh selbst der Urheber des Trostes ist:
.1334 Jerusalem hingegen ist der Ort, an dem, bzw. die Vermittlerin, durch die dieser gespendet wird (
).
Auch hier findet also eine Art Generationswechsel statt. In den früheren Prophezeiungen war stets die personifizierte Gottesstadt die Protagonistin: die tröstliche Botschaft vom Ende des Exils sollte das „Herz Jerusalems“ (vgl. 40,1–2) erreichen und der „Ungetrösteten“ (, 54,11; vgl. 51,19) die Freude wiederbringen. Dies ist in Jes 66 eingetreten, sodass aus der Empfängerin des Trostes eine (Mit)spenderin werden kann. Die Protagonistenrolle wird nun von ihren Kindern eingenommen. Sie sind das grammatikalische Subjekt und damit die Adressaten sowohl des Appells als auch der Verheißung.
Wenn v.14babschließend die Knechte JHWHs erwähnt, wird der in 54,17 eröffnete Bogen geschlossen. Die Identifikation, die dort nur angedeutet war, wird nun besiegelt: Die Kinder Zions sind die Gottesknechte! An denen, die von Jerusalem geboren werden, die sich von ihr ernähren und trösten lassen, kann die „Hand“ JHWHs, d. h. sein rettendes Handeln abgelesen werden (). Ihnen stehen andere Personen gegenüber, die in den vorhergehenden Kapiteln und zuletzt in 66,1–6 ausführlich beschrieben wurden und nun kategorisch als Feinde Gottes (
) apostrophiert werden. An ihnen wird der göttliche Zorn offenbar.
Indem zum Abschluss von Jes 66,7–14 diese entgegengesetzten Gruppen im Gottesvolk mit ihrem jeweiligen Geschick beschrieben werden, wird die Gerichts-und Heilsbotschaft vorbereitet, die im letzten Abschnitt des Buches auf die ganze Menschheit ausgeweitet wird.1335
Die imposante Vision, mit der das letzte Kapitel des Jesajabuches schließt, weitet den Blick von den „leiblichen Kindern“ Zions auf die gesamte Menschheit. Auch deren Heil und Verderben sind unlösbar mit der Gottesstadt verbunden. Doch erscheint diese nun nicht mehr als fürsorgliche Mutter, also als Person, sondern als topographischer Begriff, als Ausgangs- und Zielpunkt einer zentrifugalen und zentripetalen Doppelbewegung.
Unter den zahlreichen Vorschlägen zur Abgrenzung und Gliederung dieser Texteinheit ist die von Edwin C. Webster erarbeitete chiastische Struktur immer noch am überzeugendsten.1336 Sie berücksichtigt nicht nur die rahmende Funktion der Leitwörter ?? in v.15[2x].16 und v.24 und in v.16 und v.23.24, sondern vermag auch zu erklären, weshalb nach den endzeitlichen Heilsereignissen im letzten Vers noch einmal das Weltgericht in Blick genommen wird. In dieser Struktur folgen auf drei längere Abschnitte, diese gleichsam sekundierend, in umgekehrter Reihenfolge drei kürzere: A–B–C–c–b–a. Die auf diese Weise doppelt behandelten Themen sind: „iniquity repaid“ (v.15–171337 + v.24), „the nations gathered“ (v.18–19 + v.23) und „the dispersed returned“ (v.20–21 + v.22).
Dass mit v.15 eine neue Texteinheit beginnt, ergibt sich aus dem besonderen Charakter von v.14b. Indem dieser Halbvers die „Knechte“ und die „Feinde“ Gottes antithetisch gegenüberstellt, beschließt er einerseits den vorhergehenden Abschnitt und bereitet andererseits den nachfolgenden, der den einen Heil, den anderen Gericht ankündigt, vor. Ein einleitendes weist auf diesen logischen Zusammenhang hin.1338 Dass zwischen v.14 und v.15 eine Zäsur liegt, geht auch daraus hervor, dass die Perspektive von der nationalen zur universalen Ebene wechselt, dass nicht mehr von der „Mutter Zion“ die Rede ist und dass ein neues Vokabular verwendet wird. In
a ist dieser Einschnitt durch eine Setumamarkiert, in 1QIsaa durch ein Alineaund ein Paragraphos-Zeichen, in 1QIsab durch ein freies Zeilenende nach v.14 und ein Alinea am Anfang von v.15.
Das Ende der Texteinheit in v.24 ist durch das Ende des Buches bzw. der Rolle eindeutig definiert. Bis dahin finden sich im MT keine Abschnittmarker, während die λ?ä,-Handschriften vor v.20b (z.T. auch vor v.22) frZE/NZ haben.1339 Vor v.18, wo die meisten modernen Ausleger eine neue Einheit beginnen lassen, hat überhaupt keine der hebräischen Hauptmanuskripte einen Texteinschnitt.
a Im Unterschied zu verwenden 1QIsaa und LXX zweimal dieselbe Präposition:
bzw. ὡς πῦρ... καὶ ὡς καταιγίς. Es handelt sich um unterschiedliche Harmonisierungen des ma-soretischen Textes, der deshalb als ursprünglich anzusehen ist. Ihm folgen sowohl
(„in igne… et quasi turbo“) als auch
(
…
). 1QIsab liest beim ersten Ausdruck wie MT, beim zweiten hat er eine Textlücke. Vgl. Stromberg, Isaiah After Exile, 117 n.135.
b Der Nifal-Stamm von ??? hat hier keine passive, sondern eine reziproke Bedeutung, die der aktiven Bedeutung des Qal-Stammes nahe kommt (vgl. Waltke – O'Connor, 23.4e). Aus diesem Grund haben einige Ausgaben der Vulgata, wie Nikolaus von Lyra bemerkt, „diiudicabit“, andere hingegen „diiudicabitur“ – „und so heißt es auch im Hebräischen. Es ist derselbe Sinn“ (Nicolaus de Lyra, Postilla litteralis, ad Is 66,16).1QIsaa vereinfacht die Grammatik, indem er das Verb aus v.15a wiederholt und eine finale Infinitivkonstruktion mit
qalbildet:
, er wird kommen, um zu richten(vgl. Ps 96,13; 98,9). Wieder anders LXX: Sie fasst das Verb passivisch auf und ergänzt parallel zum zweiten Kolon ein Subjekt: κριθήσεται πόσα f γfl, die ganze Erde wird gerichtet werden.Beide Lesarten vereinfachen die lectio difficilior, die nicht nur im MT, sondern auch in 1QIsab belegt ist.
c 1QIsaa hat hier ebenso wie in v.23 und v.24 den Artikel: . Die artikellose Lesart von SAt wird für v.16 durch 1QIsab und für v.24 durch 4QIsab gestützt. Innerhalb des Jesajabuchs findet sie sich noch in 40,5 und 49,26, wo 1QIsaa jeweils
liest. Da sie in der Sintflutgeschichte Gen 6–9 die Normalform ist (12x ohne, 1x mit Artikel), dürfte sie auch in Jes 66 ursprünglich sein.
d 1QIsaa liest , seine Durchbohrten. Doch ist die cs.-Verbindung mit dem Tetragramm auch in 1QIsab bezeugt (vgl. Jer 25,33). Hat 1QIsaa das Tetragramm ausgelassen, um die anstößige Vorstellung abzumildern? Den Gottesnamen haben jedenfalls auch
und %, obgleich sie den Ausdruck präpositional auflösen. Dabei hebt erstere die Urheberschaft Jhwhs hervor (πολλοί τραυματίαι σονται irπd κυρίου, viele Erschlagene wird es durch den Herrn geben), letzterer drängt sie zurück (
, and those slainbefore the Lord shall be many, Chilton, Isaiah Targum, 127).
e Das Ketiv hat ein maskulines , der eine, das Qereein feminines
, die eine.Im ersten Fall ist an einen Priester zu denken, der einen Mysterienzug anführt, im zweiten Fall an eine Priesterin oder „a statue of a goddess such as Asherah, which stood in the center of the garden used for pagan worship“ (Oswalt, Isaiah II, 686). Da die Vorstellung als solche dunkel ist, fällt eine textkritische Entscheidung schwer (vgl. das gespaltene Votum bei Barthélemy, Critique textuelle, 461–2).Wegen der äußeren Bezeugung durch die beiden
-Handschriften folgen wir dem Qere. Die Versionen
(„Abteilung auf Abteilung“) und Ø („einer nach dem anderen“) haben den Text sekundär vereinfacht. LXX verbindet den ihr unverständlichen Ausdruck mit dem folgenden Kolon und bietet mit καί ύν τοτς προθύροις, und in den Vorhallen, „eine weitere, wohl auf Ez 8 beruhende Lokalisierung der Götzenkulte“ (K. Koenen, „Erläuterungen zu Jes 56–66“, M. Karrer u. W. Kraus [Hg.], Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament II. Psalmen bis Daniel [Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2011] 2690).
f In 1QIsaa steht anstelle der Jhwh-Spruchformel das synonyme , vor allem aber fehlt das vorhergehende Prädikat. 1QIsab hat an dieser Stelle eine Lücke. Die Versionen stützen aber die
-Lesart.
(όναλωθήσονται) und
(„consumentur“) formulieren passivisch, während
die hebräische Vorlage exakt wiedergibt (
).
g Der Versanfang stellt eine crux interpretum dar, weil 1. syntaktisch nicht eingebunden ist und 2. die feminine Verbform
nicht mit dem Subjekt
kongruiert (s. dazu die folgende textkritische Anmerkung). Die Vorschläge zur Lösung des ersten Problems gehen in zwei Richtungen. Die eine Option besteht darin, die beiden Wörter an eine andere Stelle zu versetzen, entweder an das Ende von v.16a (vgl. BHS) oder an den Beginn von v.17b (vgl. Duhm, Jesaia, 486–487) oder an das Ende von v.17b (vgl. Mello, Isaia, 442–3). Die andere Möglichkeit ist, im Gefolge von
(„doch ich kenne [ύπίσταμαι] ihre Werke und ihr Denken“) und
(„for before me their works and their conceptions are disclosed [
]“, Chilton, Isaiah Targum, 127) ein Verb zu ergänzen. Dabei sprechen sich die meisten Kommentatoren für „ich kenne“ aus (vgl. EÜ), De-litzsch, Jesaia, 633, aber für
, ich werde bestrafen, „was der Stärke des Affekts besser entspricht.“ Nach Barthélemy, Critique textuelle, 462–464, sind die Versionen jedoch als sekundäre Erläuterungen des ursprünglichen Textes zu betrachten. MT sei beizubehalten, da sein elliptischer Text die schwierigere Lesart darstellt, die zudem von 1QIsaa bezeugt und von
entsprechend übersetzt wird („ego autem opera eorum et cogitationes eorum…“).
sei demnach ein absoluter Nominativ (vgl. Jes 59,21; Ps 73,2.28:
), auf den eine Aposiopese folge (vgl. Ez 43,8; Ps 89,36). Insgesamt liege „un style très coupé exprimant la vive émotion de l'auteur“ (Barthélemy, Critique textuelle, 464) vor.
h Das feminine Partizip ist nach Auffassung vieler Ausleger unverständlich (vgl. Dim, Eschatological Implications, 178). Sie ändern es deshalb in Anlehnung an LXX (έρχομαι) in die maskuline Form , so dass es mit dem angenommenen Subjekt
kongruiert: „ich (= Jhwh) komme…“ 1QIsaa hat die pluralische Verbform
. Sie passt zwar grammatikalisch zu den vorhergehenden Nomina, ergibt aber keinen rechten Sinn, es sei denn, man ergänzt mit Raschi
: „eure Taten und eure Gedanken sind zu mir gekommen“ (vgl. M. Cohen, Isaiah, 402). Die MT-Lesart, die sich auch in 1QIsab findet, kann aber beibehalten werden, wenn man
ergänzt: „die Zeit kommt“ (so schon David Kimchi und Ibn Ezra, vgl. M. Cohen, Isaiah, 402–403). Nach Delitzsch, Jesaia, 634, kann die feminine Verbform aber „auch schon für sich neutrisch venturum (futurum) est… bed.[euten].“ Als Belege für diesen Gebrauch lassen sich neben dem von ihm genannten Ez 39,8 noch Ez 7,6; 21,12; 24,14; 30,9; 33,33 anführen. Die nächste Parallele findet sich aber in einem anderen Völkerwall-fahrtstext, nämlich in Ps 102,14:
, denn es ist Zeit, ihr gnädig zu sein, ja, die Zeit ist gekommen.
i 1QIsab liest wie den Singular, dagegen haben 1QIsaa und
den Plural
bzw. σημετα. Soll damit ein Bezug zu den „Wunderzeichen“ beim Auszug aus Ägypten (vgl. Ex 10,2; Dtn 6,22; Jer 32,20 u. ö.) hergestellt werden? Im Rahmen des Jesajabuchs ist aber eher an die Bestätigungs- und Erinnerungszeichen in 7,11.14; 19,20; 20,3; 37,30; 38,7.22; 55,13 (im Singular!) zu denken. Nach eingehender Diskussion der Argumente urteilt Stromberg, Isaiah After Exile,126: „[T]he evidence is slightly in favor of the singular.“
j LXX liest Φουδ. BHS schlägt deshalb vor, in
zu ändern, ein Ortsname, der in der hebräischen Bibel siebenmal vorkommt, davon dreimal in dem Doppelbegriff „Put und Lud“ (Jer 46,9:
; Ez 27,10:
; Ez 30,5:
). Dagegen findet sich das Wortpaar „Pul und Lud“ nur hier. Die von MT und darüber hinaus von 1QIsaa und 1QIsab bezeugte Variante (vgl. %:
) ist deshalb zweifellos die lectio difficilior. Die LXX-Lesart könnte auf eine Vorlage zurückgehen, in der das seltene
bereits an die Parallelstellen angepasst war. Oder es liegt „une déformation […] à l'intérieur de la transmission du *G“ (Barthélemy, Critique textuelle, 464) vor, nämlich eine Verlesung von
zu Δ, was im Griechischen viel leichter möglich ist als die Verlesung von
zu
im Hebräischen. Zur textkritischen Diskussion vgl. Oswalt, Isaiah II, 681 n.62.
k LXX hat statt der cs.-Verbindung einen weiteren Ländernamen: =
. Dieser erscheint auch in Gen 10,2; Ez 27,13; 32,26; 38,2.3; 39,1; 1 Chr 1,5 neben Tubal. Jedoch werden die Bewohner von Lud auch in Jer 46,9 als Bogenspanner qualifiziert (
). Bei der von Barthélemy, Critique textuelle, 464–5, referierten Abstimmung ergab sich keine Mehrheit für eine der beiden Lesarten. In beiden
-Handschriften ist das erste Wort am Ende beschädigt, das zweite aber als
entzifferbar. Weil die masoretische Lesart darüber hinaus durch
,
und
gestützt wird, halten wir an ihr fest.
l Die MT-Lesart wird auch von 1QIsaa bezeugt. LXX übersetzt μου τd όνομα, meinen Namen, als ob sie gelesen hätte. Dennoch ist nicht von einer abweichenden (
v auszugehen, da die figura etymologica
auch an anderen Stellen mit áκούειν τd όνομα wiedergegeben wird (z. B. Gen 29,13; Num 14,15). In den anderen Versionen wird
entweder wie in
zu „de me“, über mich, verkürzt oder wie in
zu
, die Kunde meiner Stärke, erweitert.
m ist auch in 1QIsaa (versehentlich doppelt) und in 1QIsab belegt.Vgl.
(„omnes fratres vestros“) und
(
). Die Auslassung in
könnte stilistisch oder inhaltlich bedingt sein.
n LXX übersetzt hier mit δώρον, Geschenk, in der zweiten Vershälfte aber mit θυσία, Opfer. Sie macht also einen terminologischen Unterschied zwischen der nichtkultischen Prozession der Fremden und dem Opfergang der Israeliten. „Offenbar sollte die Völkerwelt […] nicht mehr als gleichberechtigter Opferherr erscheinen, sondern nur als untergeordneter Überbringer von Tributen“ (M. Tilly, „Das Heil der Anderen im hellenistischen Diasporajudentum. Anmerkungen zur griechischen Übersetzungvon Jesaja 66,14b–24“, H. Frankemölle u. J.Wohlmuth [Hg.], Das Heil der Anderen. Problemfeld „Judenmission“ [QD 238; Freiburg; Basel; Wien: Herder, 2010] 218).
o Es handelt sich um ein hapax legomenon, das nach HALAT, 474, von ??? I, auf dem Rücken tragen, abzuleiten ist und traditionell als „Kamelstute“ gedeutet wird. Die MT-Lesart wird von 1QIsab gestützt. in 1QIsaa dürfte durch Buchstabenverwechslung entstanden sein. Die Versionen haben das Wort wohl nicht verstanden; so übersetzen
μετό σκιαδίων, mit Verdecken,
hingegen
, mit Gesängen.
p Die Präposition in 1QIsaa könnte als sekundäre Angleichung an 56,7 (
) erklärt werden. Dagegen wird die im MT überlieferte Präposition von 1QIsab und von
bezeugt. In der LXX-Lesart εiς τdν άγίαν πόλιν, in die heilige Stadt, spiegelt sich dieselbe theologische Tendenz wie in der Wiedergabe von
mit δώρον (s. o.): die Beteiligung von Heiden am Kult Israels soll ausgeschlossen werden. In diesem Fall wird ihnen zwar der Zutritt zur Stadt, nicht aber in den eigentlichen Tempelbereich zugestanden (vgl. Baer, When We All Go Home, 262–7; Koenen, „Erläuterungen“, 2690; Tilly, „Heil der Anderen“, 219).
q LXX fügt hier und in v.21 ύμοι, mir, ein (dort hat auch 1QIsaa ???). Für Baer, When We All Go Home, 70, ist das ein Fall der von ihm so genannten „personalizing readings“.
r Die LXX-Lesart μετό ψαλμών, mit Psalmen, wird von A. Schenker, „Dans un vas pur ou avec des psaumes? Une variante textuelle peu étudiée en Isa 66:20“, M. N. van der Meer u. a. (Hg.), Isaiah in Context. Studies in Honour of Arie van der Kooij on the Occasion ofHis Sixty-Fifth Birthday (VT.S 138; Leiden; Boston, MA: Brill, 2010) 407–412, für ursprünglich gehalten. Sein Hauptargument, der griechische Ausdruck sei singulär, während der hebräische Text die konventionelle Sorge um kultische Reinheit widerspiegle, ist aber angesichts der eindrucksvollen äußeren Bezeugung (die MT-Lesart ist auch in 1QIsaa, ?, ? und ? belegt) zu schwach.Vielmehr dürfte sich der Übersetzer an der Parallele „mit Pferden etc. – mit reinen Gefäßen“ gestoßen haben und seine Vorlage entsprechend seiner Tendenz, die Prozession der Fremden als unkultische Handlung darzustellen, geändert haben.
s LXX verbindet die beiden Wörter durch eine Konjunktion, unterscheidet also zwei Klassen von Amtsträgern: iερετς και ?ευίτας, Priester und Leviten. Das entspricht dem Textbefund vieler hebräischer Handschriften, der Syrohexaplaris, der Peschitta und Vulgata. Dagegen hat MT ein Asyndeton, das sich auch in den drei erhaltenen ?-Handschriften findet und deshalb beibehalten werden sollte. Nach Dim, Eschatological Implications, 190, liegt eine Apposition vor, die „an entity meaning servants at the holy place, sacred ministers“ bezeichne, nämlich die in der deute-ronomistischen Literatur erwähnten „levitischen Priester“. Zur grammatikalischen Erklärung des Ausdrucks s. Stromberg, Isaiah After Exile, 140.
t Im späten biblischen Hebräisch nimmt ??? die Bedeutung „andauern, bestehen“ an und wird so zu einem Synonym des in Jes 8,10;14,24, aber auch in 40,8 verwendeten klassischen ??? (vgl. S. M. Paul, „Signs of Late Biblical Hebrew in Isaiah 40–66“, C. L. Miller-Naudé u. Z. Zevit [Hg.], Di-achrony in Biblical Hebrew [LSAWS 8; Winona Lake, IN: Eisenbrauns, 2012] 297).
u In der singulären Konstruktion sind zwei unterschiedliche Ausdrücke für zyklisch wiederkehrende Ereignisse verschmolzen (vgl. Delitzsch, Jesaia, 638, und Lau, Schriftgelehrte Prophetie,149): 1. bzw.
(Num 28,10.14) und 2. ??ω? ??ω ??? (1 Sam 7,16; 2 Chr 24,5; Sach 14,16). Die wörtliche Übersetzung wäre nach Dim, Eschatological Implications, 194–5: „as often as month comes in its month“ und „as often as Sabbath comes in its Sabbath.“
v 1QIsaa und 4QIsac haben die grammatikalisch korrekte Form (Suffix der 3. Pers. sg. f.).
wird aber auch in 56,2.6 als maskulines Nomen behandelt (s. o. IV.1.2.). MT, der zudem von 1QIsab gestützt wird, kann deshalb mit Dim, Eschatological Implications, 194, beibehalten werden.
w LXX hat zusätzlich ἐν ?ερουσαλημ. Lau, Schriftgelehrte Prophetie, 149 n.36, beurteilt dies als eine „frühe Textbearbeitung“, die den Ort der gemeinsamen Gottesverehrung hervorheben will.
x Der Targum bietet eine paränetisch erweiterte Version des Schlussverses, die die Stätte des Gerichts als „Gehenna“ identifiziert, jedoch ohne textkritischen Wert ist.
Jes 66,15–24 ist nicht nur das letzte der jesajanischen Völkerwallfahrtsorakel, es ist auch das eindrucksvolle Finale des gesamten Jesajabuchs. Das Unheil, das über die Feinde Jhwhs kommt (v.15–17; 24), und das Heil, das seine Knechte aus Israel und den Nationen in Jerusalem erlangen (v.18 – 23), ist somit das letzte, definitive Bild der einen, in Jes 1,1 angekündigten Vision.
Dieser hervorgehobenen Stellung entspricht es, dass die Schilderung der endzeitlichen Zionswallfahrt einige Besonderheiten enthält, die in den anderen Texten nicht anzutreffen sind. Vor allem wird die für die Eved-Jhwh-Lieder charakteristische Idee der Sendung zu den Nationen aufgenommen und in das Grundthema integriert. In 66,15–24 sind Völkersammlung und Völkermission, die zentripetale Bewegung von den Rändern der Welt nach Jerusalem und die zentrifugale Bewegung vom Zentrum an die Peripherie zu einemGesamtprozess verschmolzen, der in zwei bzw. drei aufeinanderfolgenden Phasen verläuft und Israel und die Nationen umfasst.
Wie aber werden die Hauptkomponenten unseres Motivs, das Subjekt der Wallfahrt, die Bewegung und das Ziel, hier sprachlich realisiert?
Diejenigen, die die Wallfahrt unternehmen, sind auch hier die Nationen. Sie werden nicht nur oder wie in 2,2
, sondern
genannt, ein Ausdruck der Steigerung, der neben der ethnischen auch die sprachliche Vielfalt hervorhebt. Im Folgenden treten die fremden Nationen darüber hinaus als Adressaten der Verkündigung (
) und als Gastvölker der deportierten Judäer auf (
). Zur Veranschaulichung werden einzelne Orte und Volksstämme aufgezählt, darunter Tarschisch und die Inseln (????), die wie in 60,9 den äußersten Rand der bewohnten Welt markieren. Am Ende der Vision wird ???? als Subjekt der Pilgerfahrt durch einen anderen Terminus abgelöst:
, alles Fleisch. Er signalisiert, dass in der „letzten Zeit“, wenn JHwH von Israel und den Völkern gemeinsam angebetet wird, die nationalen Gegensätze überwunden sind.
Die Bewegung der Wallfahrer wird mit dem üblichen Verb ??? zum Ausdruck gebracht und zwar sowohl im Qalals auch im Hifil.Im einen Fall geht es um die herbeiziehenden Scharen (, v.18;
, v.23), im anderen um die Exulanten, die heimgebracht werden (
, v.20). Daneben gibt es aber auch eine von Jerusalem wegführende Gegenbewegung, die durch das Verb
, senden (v.19), angezeigt wird und die eine kleinere Gruppe innerhalb der Nationen, die „Entronnenen“ (
), betrifft.
Das Ziel der Reise ist Jerusalem, genauer, der „heilige Berg“ (, v.20), derselbe Ort also, zu dem nach 56,7 die ausländischen JHwH-Verehrer geführt werden, um ihre Opfer darzubringen. Am Ende von 66,20 wird auch das „Haus JHwHs“ (
) erwähnt, doch nur im Rahmen eines Vergleichs. Der Zug der Fremden wird nämlich mit der Kultprozession, welche die Israeliten zu ihrem nationalen Heiligtum unternehmen, in Parallele gesetzt. Dass auch jene den Tempel betreten würden, wird damit aber nicht gesagt. In v.23 wird die Stätte der Anbetung dann auch gar nicht mehr geographisch oder architektonisch, sondern theologisch definiert: die Menschheit kommt, um sich „vor JHwH“ niederzuwerfen (
).
Die Schlussvision des Jesajabuchs ist durch zwei Szenen gerahmt, die das Ende der in v.14b erwähnten Widersacher Gottes zeigen. Durch dieses Gericht wird der Ort, an dem die Zionskinder zur „Knechtsgemeinde“ werden und an dem sich auch die anderen Nationen einfinden sollen, von dem gereinigt, was dem authentischen Gottesdienst entgegensteht. Wie in Jes 60 wird der endzeitliche Völkerzug auch hier von JHwH selbst ausgelöst. Er ist der erste in einer die ganze Welt erfassenden Wanderungswelle, deren einzelne Etappen durch das sechsmal vorkommende Verb gekennzeichnet sind. Er kommt im reinigenden und vernichtenden Feuer (
, v.15)1340 und bereitet damit das Kommenaller anderen Akteure vor: der gojim(
, v.18), der jüdischen Exulanten (
, v.20) und der zur Huldigung herbeiströmenden Menschheit (
, v.23).
Beschreiben v.15–17 aber nun ein innerisraelitisches oder ein universales Strafgericht?1341 Von der narrativen Logik her müsste an dieser Stelle die Spaltung des Gottesvolkes, die in den vorhergehenden Kapiteln das Hauptproblem war, endgültig überwunden werden: die Spaltung zwischen denen, die über das Elend Zions trauern (66,10), und denen, die sich nicht darum kümmern (65,11), zwischen denen, die Gottes Wort mit ehrfürchtigem Beben empfangen, und den „Brüdern“, die sie dafür hassen (66,5), zwischen den Knechten und den Feinden Jhwhs, wie sie in 66,14 abschließend genannt werden. Im Endgericht müssten die Abtrünnigen aus Israel getilgt werden und die Gerechten als „Same“ (vgl. 65,9) und als „heiliger Rest“ übrig bleiben. Und tatsächlich weisen die Kultpraktiken derer, die „ein Ende nehmen“ (v.17), durch ihre Nähe zu 57,5–9; 65,3–5.7; 66,3 und insbesondere auch zu 1,29–31 auf eine innerisraelitische Gruppe hin.
Umso überraschender ist, dass v.16 als Objekt der göttlichen Strafaktion nicht innere Feinde, sondern , alles Fleisch, benennt. Damit wird der nationale Rahmen überschritten und werden „Motive der Gerichtstheophanie an den Völkern eingearbeitet.“1342
In Bezug auf unsere Texteinheit schafft dieser in v.16 und v.23–24 vorkommende Leitbegriff einen Rahmen, der die gesamte Unheils- und Heilsverkündigung und somit auch die Aussagen über die Völkerwallfahrt umfasst. Im Buchkontext verweist er auf die beiden anderen Belege in 40,5und 49,26. Nun erfüllt sich die Verheißung, „alles Fleisch“ werde Jhwhs Herrlichkeit schauen (, 40,5) und ihn (nach der endgültigen Bestrafung seiner Feinde!) als Retter Israels erkennen ( …
, 49,26).
Das universale, Gottesvolk wie Heidenvölker umfassende ?t???? hat aber auch eine über das Buch hinausreichende Verweisfunktion. Mit zwölf Belegen ist die Sintfluterzählung Gen 6–9die erste und wichtigste Fundstelle dieses Begriffs. Die noch nicht in Nationen aufgeteilte Menschheit wird dort dem göttlichen Strafgericht unterworfen (vgl. 6,12–13.17; 7,21), bevor sie in ihrer Gesamtheit den göttlichen Segen erhält (vgl. 9,11.15–17). Auch wenn am Anfang und am Ende derselbe Ausdruck steht, ist er doch nicht deckungsgleich, weil dazwischen eine radikale Scheidung stattgefunden hat (vgl. 6,19; 7,16; 8,17: ). So ist „alles Fleisch“ in Wirklichkeit ein kleiner Rest, der die Katastrophe überlebt hat, mit dem aber stellvertretend für alle kommenden Geschlechter der ewige Bund geschlossen wird.
Ein analoger Vorgang wird in Jes 66 prophezeit.1343 Wie in der Urzeit so wird auch in der Endzeit die ganze Menschheit gerichtet, dort durch Wasser, hier durch Feuer. Alle, die am Götzendienst festhalten, werden „ein Ende nehmen“ (, v.17b), und nur die Überlebenden (
, v.19) werden nach Zion kommen, um Gottes Herrlichkeit zu sehen. Das endzeitliche Heil ist somit gleichzeitig universal und partikular: es ist für „alles Fleisch“, für alle Menschen, Juden wie Heiden, bestimmt und wird dennoch nur von einem Rest aus Juden und Heiden emp-fangen.1344
V.17 spricht also von dem Ende der Sünder in Israel und auf der ganzen Welt. Ihre Bestrafung, die v.24 in grellen Farben ausmalen wird, bedeutet aber nicht, dass damit auch die Konsequenzen ihres Tuns beseitigt sind. Negative Verhaltens-und Denkmuster prägen eine Gesellschaft auch nach dem Tod ihrer Verursacher, sie existieren weiter und beeinflussen auch noch die nachgeborenen Generationen. Vielleicht spricht v.18a deshalb von „ihren Taten und Gedanken“ (), die, wie anzunehmen ist, ebenfalls ausgelöscht werden. Sie motivieren JHWH jedenfalls, den verbliebenen Völkern, die sich in Jerusalem versammeln, seinen kavodzu zeigen und so den Unheilszusammenhang ein für alle Male zu durchbrechen.
Das Verständnis des zweiten Abschnitts wird dadurch erschwert, dass in v.18 alleNationen nach Jerusalem kommen und die Herrlichkeit JHWHs erblicken und in v.19 Boten ausgesandt werden, um diese Erfahrung unter den Nationen bekannt zu machen. Wer aber bleibt als Adressat ihrer Verkündigung noch übrig, wenn alle schon in Jerusalem waren und Zeugen der göttlichen Offenbarung wurden?