Diese Spannung wird oft literarkritisch beseitigt. V.18 und v.19 böten zwei alternative Endzeitszenarien, „das eine mit einer Versammlung der Völker vor Jhwh, das andere mit der Aussendung der Missionare zu den Völkern.“1345 Im Endtext stehen die beiden Entwürfe aber nebeneinander, und der, der sie zusammenfügte, sah darin offensichtlich keinen Widerspruch.

Die Vertreter der literarischen Einheitlichkeit bieten zwei Erklärungen an. Die einen unterscheiden zwei Kategorien von Völkern: solche, die in der näheren Umgebung leben und deshalb als erste in Zion eintreffen, und solche, die in der Ferne, nämlich an den in v.19 genannten Orten wohnen.1346 Die in v.18 erwähnten Personen seien nicht wirklich alleNationen (wie etwa in 2,2 und 25,7), sondern nur diejenigen, die in der Nähe Jerusalems ansässig sind. Der Text selbst gibt jedoch keinen Hinweis darauf, wo die zuerst genannten gojim leben, und der Zusatz „alle Sprachen“ macht es noch unwahrscheinlicher, dass sie nur in der unmittelbaren Nachbarschaft leben.

Andere Autoren greifen deshalb zu der These, v.19 sei nicht die chronologische Fortsetzung von v.18, sondern dessen Ausfaltung und Erklärung.1347 V.18 schildere nicht konkrete Aktionen, sondern konstatiere lediglich, dass die Zeit gekommen sei, um die nichtjüdischen Nationen in Zion zu versammeln. Wie das im Einzelnen geschieht und was jene dort tun werden, würden die folgenden Verse ausmalen. Dadurch entsteht aber ein anderes Problem. Ist v.18 nur eine Art Überschrift und fängt die eigentliche Handlung erst mit dem folgenden Vers an, dann fehlt den Pronominalausdrücken in v.19 Image, an ihnen, und Image, von ihnen, das Bezugswort. Wem sollte Jhwh ein Zeichen aufdrücken und wen sollte er aussenden, wenn von den Nationen noch niemand gekommen wäre?

Dieses Dilemma zeigt einmal mehr, dass prophetische Texte oft nicht streng logisch funktionieren, sondern bildhaft-assoziativ vorgehen.1348 Wichtiger als den exakten narrativen Verlauf zu rekonstruieren, ist es deshalb zu verstehen, wie der Völkerzug theologisch eingeordnet wird.

Eine erste wichtige Qualifikation erfolgt durch die Vokabel Image, mit der andere jesajanische Sammlungsworte eingespielt werden. Dabei müssen jedoch zwei Aussagesysteme auseinandergehalten werden. Das eine handelt von der Heim-holung des zerstreuten Gottesvolks (vgl. Jes 11,12; 40,11; 43,5; 54,7 und die zahlreichen Belege bei Jeremia und besonders Ezechiel), das andere von einer Gerichtsverhandlung, zu der die nichtisraelitischen Nationen einberufen werden (vgl. Jes 43,9; 44,11; 45,20; 48,14).Von ihrer Syntax und pragmatischen Funktion her sind diese Reihen deutlich unterschieden. Die erste besteht in repräsentativen oder kommissiven Sprechakten, die in der Regel durch das yiqtol von ??? pi.ausgedrückt werden, die zweite in direktiven Sprechakten, die mit dem Imperativ von Image nif.formuliert werden. Im einen Fall verspricht Gott, er werde Israels Golahheimführen, im zweiten befiehlt er den „Heidenvölkern“, dass sie sich zum Prozess einfinden.

Syntaktisch und textpragmatisch ist die in 66,18 angekündigte Versammlung der ersten Aussagereihe zuzuordnen. Die zweite enthält zwar die Völkerperspektive, ist hier aber nur als negative Hintergrundfolie präsent.1349 Eine Sonderstellung kommt 60,4 zu. In ihm ist die innerisraelitische Sammlungsaussage nämlich bereits universal ausgeweitet: Image – in Jerusalem sind „alle“ versammelt, die Nationen zusammen mit den Verbannten Israels.

Der wichtigste Vergleichstext ist aber zweifellos 56,8. Nicht nur weil dieser Passus das Verb Image gleich dreimal verwendet, sondern auch weil er zum vorderen und 66,18 zum hinteren Rahmen des „Tritojesajabuchs“ gehören.1350 In ihm wurde eine über die jüdische Diaspora hinausreichende Sammlung angekündigt, nachdem zuvor gezeigt worden war, dass einzelne Nichtjuden aufgrund ihrer ethischen und religiösen Integrität zum Gottesvolk gehören können. In unserem Text wird diese Verheißung eingelöst, indem das für einzelne „Gerechte“ geltende Prinzip auf alle Menschen ausgeweitet wird. Dazu wird ein Ausdruck verwendet, der das einfache Image, falls überhaupt möglich, noch übertrifft: ImageImage, alle Nationen und Sprachen.1351 Im Anklang an Formulierungen aus der Urgeschichte (vgl. Gen 10,5.20.31) verheißt Jes 66,18 somit eine Sammlung, die ausnahmslos alle ethnischen und linguistischen Gruppen umfasst.

Die Teilnehmer an dieser Reise erblicken als erstes die göttliche Herrlichkeit (Image), erfahren also wie die Israeliten beim Exodus die machtvolle Präsenz des richtenden und rettenden Jhwh (vgl. Ex 16,7; 24,17; Lev 9,23; Num 14,10.22; 16,19 u. ö.). Damit wird nicht nur die Erwartung von Jes 40,5 besiegelt, dass alle Menschen Seine Herrlichkeit schauen werden.1352 Es werden auch zwei konkurrierende Theologumena aus dem ersten Teil des Jesajabuchs miteinander versöhnt: dass der göttliche kavod an einer bestimmten Stätte, nämlich in Zion, erscheint (4,5; 11,10; 24,23) und dass er die ganze Welt erfüllt und deshalb von allen Menschen gesehen werden kann (6,3). 66,18 hält an der lokalen Fixierung fest, erweitert den Kreis der Zeugen aber auf alle Menschen, sodass die partikulare und die universale Dimension in einer spannungsvollen Beziehung verbunden bleiben.

Lässt sich noch genauer sagen, was unter Image hier zu verstehen ist? Ist es richtig, dass, wie Judith Gärtner mit der Mehrheit der Ausleger behauptet, der göttliche „Herrschaftsglanz“ hier nicht Heil, sondern Gericht bewirkt?1353

Für das Verständnis unseres Textes sind die Stellen besonders relevant, die die göttliche Herrlichkeit als ein visuelles Phänomen beschreiben und mit dem Verb ??? verbinden. Neben 35,2 und 40,5 sind das vor allem zwei Passagen aus Jes 60 – 62.1354 In 60,2 lässt Jhwh sein Licht über Jerusalem erstrahlen, um sich den ausländischen Nationen zu offenbaren (Image). Sie sehen seine Herrlichkeit, weil die dort lebende Bevölkerung selber licht geworden ist, weil SeinGlanz zu ihremGlanz geworden ist. Unter dieser Voraussetzung genügt es, wenn die Völker der Erde, wie 62,2 prophezeit, die Gerechtigkeit und Herrlichkeit Zionssehen (Image). Dieselbe „Anverwandlung“ ist in 66,11 vorausgesetzt, wenn die Knechte JHWHs eingeladen werden, sich an JerusalemsHerrlichkeit bzw. Reichtum (Image) zu ergötzen.

Der Glanz, der von der Stadt und ihrer Bevölkerung ausgeht, verweist also auf den unsichtbaren Gott als Ursprung und Quelle des Lichts. Neben dieser theologisch-religiösen Dimension hat er aber auch eine praktische, soziale und materielle Seite. Er entsteht nämlich da, wo Menschen sich in ihrem Verhalten an der Torah orientieren und eine Gesellschaft bilden, in der die Schätze und Güter aller Völker dem einzigen Gott dienen.

All diese Aspekte sind präsent,1355 wenn der kavod-Begriff in 66,18–19 noch einmal (richtiger, noch dreimal) verwendet wird. Gleichzeitig wird er auf seine Grundbedeutung zurückgeführt. Durch das Possessivpronomen der 1. Pers. – „meineHerrlichkeit“ (Image) – wird nämlich JHWH als sein Haupturheber präsentiert. Er ist eine göttliche und erst in einem zweiten, abgeleiteten Sinn eine menschliche Qualität. Wie die vorhergehenden Verse erläuterten, beinhaltet er auch das Gericht, nämlich die Trennung zwischen den „Knechten“ und den „Feinden“ Gottes.1356 Dieser Aspekt, die Macht zum Vergelten und zum Strafen, steht in 59,19 im Vordergrund. Der kavodist dort tatsächlich ein „Schreckensglanz“, der nicht nur gesehen, sondern auch gefürchtet wird (Image). Aus diesem Grund ist auch die Leichenschau von 66,24 kein unpassendes, fremdes Element, sondern gehört zu der Schau der Herrlichkeit hinzu. Die parallele Syntax scheint sogar zu signalisieren, dass die beiden Vorgänge in einer inneren Beziehung stehen (Image, v.18// Image, v.24). Ohne das Gericht über die Apostaten würden die ausländischen Pilger tatsächlich nur eineSeite JHWHs erleben. Gerade das aber zeichnet diesen Völkerwallfahrtstext genauso wie den in Sach 14 aus: dass die Nationen in Zion das mysterium tremendumerleben, um für das mysterium fascinosumbereit zu sein.

In diesem größeren Zusammenhang muss auch die Frage nach dem „Zeichen“ (???) in v.19 gesehen werden.1357 Mit welchem Zeichen versieht JHWH die Nationen, die seine Herrlichkeit gesehen haben?1358 Das nur hier belegte Syntagma Image scheint aus zwei unterschiedlichen Redeweisen zusammengesetzt zu sein: ImageImage und Image. Die erste Wendung findet sich in Gen 4,15, wo Gott den Mörder Kain mit einem Schutzzeichen versieht, die zweite in Ex 10,2und einigen verwandten Stellen (Ps 78,43;105,27; Jer 32,20), wo er an den Ägyptern Strafwunder vollbringt. Soll die Mischform vielleicht die doppelte Natur des Zeichens ausdrücken? Die Ausgesandten haben in Zion ja das göttliche Erbarmen undden göttlichen Zorn erlebt. Sie waren, um das Bild von Dan 3 zu verwenden, im Feuerofen, doch wurden sie vor dem Flammentod bewahrt.

Die Missionare tragen diese Erfahrung, dieses Wissen wie ein Zeichen, das ihre Worte veranschaulicht und bestärkt, in die Welt hinaus. Sie tragen es an sich, es ist ihnen unauslöschlich aufgeprägt. Anders gesagt: sie selbst sind das Zeichen, gerade als Image, als solche, die dem Endgericht entronnen sind. Ihre Rettung ist das „Zeichen“, das ihre Verkündigung beglaubigt, weil Gott selbst es ihnen wie ein Siegel aufgedrückt hat.1359

Mit dem Terminus Image werden zentrale Aussagen aus dem ersten und zweiten Buchteil eingespielt. Ähnlich wie Jes 66 prophezeit auch 4,2–6, dass die göttliche Herrlichkeit (Image, v.2.5) in der künftigen Heilsära in Jerusalem (Image, v.3[2x].4; Image, v.3.4; Image, v.5) erscheinen wird. Der Tempelberg wird dann ein Ort der Zuflucht und Rettung sein, jedoch nur für die Image (v.2), die Entronnenen des Volkes Israel. Eine ebenso partikuläre Heilsvorstellung vertritt 37,30–32. Dort wird zunächst ein Zeichen (Image) angekündigt und dann mit der im Jesajabuch häufigen Pflanzenmetaphorik der Image, dem Überrest des Hauses Juda (v.31), neues Wachstum verheißen. Dabei wird ausdrücklich festgestellt, dass dieser Rest (Image), aus dem das Gottesvolk neu erstehen soll, von Jerusalem bzw. vom Zionsberg ausgeht (Image).1360

Der Gedanke eines national umgrenzten Restes wird bereits in 45,18–25, dem unmittelbaren Referenztext von 66,18–19, überschritten.1361 Dort werden die Überlebenden der „heidnischen“ Nationen (Image , v.20) angesprochen.1362 Sie sollen sich versammeln und herbeikommen (Image), damit sie Israels Gott kennenlernen und ebenfalls von ihm gerettet werden (v.21–22). Auch dessen feierlicher Eid, „alle Knie“ (Image) und „alle Zungen“ (Image) würden ihm huldigen (v.23), klingt in unserem Text an. Nach 66,18 kommen die Wallfahrer nämlich aus „allen Nationen und Zungen“ (Image), und 66,23 fasst jene metonymischen Ausdrücke in dem Kollektivbegriff „alles Fleisch“ (Image) zusammen. Wenn dieses kommt (Image) und vor JHWH anbetend niederfällt, erfüllt sich, was dieser zuvor geschworen hatte.

In einem Punkt geht unser Text jedoch über Jes 45 hinaus. In kreativer Weiterentwicklung der Völkerwallfahrtsidee weist er den „Entronnenen der Nationen“ eine neue Aufgabe zu: sie sollen ihre Gotteserfahrung weltweit bekannt machen. Dazu wird mittels einer Liste von Ortsnamen, wie sie sich ähnlich in Ez 27,10–13 findet,1363 der gesamte Vordere Orient und Mittelmeerraum umschrieben. Die Aufzählung endet mit einer Zielangabe, die durch den Atnach von den vorhergehenden getrennt und dadurch besonders hervorgehoben ist: Image (Jes 66,19binit). Diese „entfernten Inseln“ haben nicht nur eine geographische, sondern auch eine symbolische Bedeutung. In Jes 40–55 repräsentieren sie die Menschen, die am äußersten Ende des Erdkreises leben und vielleicht auch deshalb am intensivsten auf das göttliche Heil harren (vgl. 41,1.5; 42,4.10.12; 49,1; 51,5). In 60,9 warten sie nicht mehr, sondern werden selbst aktiv, indem sie zusammen mit den Bewohnern von Tarschisch die verbannten Judäer nach Jerusalem bringen. Von dort übernimmt unser Vers den Doppelausdruck „die Inseln – Tarschisch“, stellt ihn aber um, sodass die Kette der Orts- und Stammesnamen mit Tarschisch beginnt und mit dem allgemeinen, um Image noch gesteigerten Image endet. Wenn die Erkenntnis JHWHs, die Kunde von seiner in Zion aufscheinenden Herrlichkeit bis zu ihnen gelangt, dann hat sie wirklich die ganze Welt erreicht! Die Adressaten der Heilsbotschaft werden aber nicht nur geographisch, sondern auch theologisch definiert. Sie sind Menschen, die noch nichts1364 von JHWH gehört oder gesehen haben (Image). Das Wortpaar Image und Image fungiert dabei als Merismus, der die gesamte sinnliche Wahrnehmung umschließt; negiert bedeutet es somit die totale Ignoranz.1365 Durch die Antithese zwischen Image in v.19b und Image in v.18b wird darüber hinaus die unterschiedliche, ja, gegensätzliche Lage der beiden Personengruppen hervorgehoben: die einen (zu ihnen gehören selbstverständlich auch die Fremden von Jes 56) haben die göttliche Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen und deren heilende Kraft in ihrem Leben erfahren, die anderen haben noch nicht einmal davon gehört. Der Image, der in Jerusalem offenbar wurde, ist deshalb der einzige Inhalt der „Missionspredigt“. Die Boten, die ihn gesehen haben, können zwar das Nicht-Sehenihrer Adressaten nicht beseitigen, sie können sie nicht zu „Sehenden“ machen. Wohl aber können sie ihr Nicht-Hörenüberwinden, indem sie ihnen von JHWHs Herrlichkeit erzählen (Image hif.), nicht von einem äußerlichen Spektakel, sondern von einer Wirklichkeit, die ihre Existenz zutiefst verwandelt hat. Den zweiten Schritt müssen die, die durch ihr Zeugnis zu „Hörenden“ wurden, selbst tun. Sie müssen aufbrechen und sich an den Ort begeben, an dem auch sie den Herrlichkeitsglanz des einen Gottes erleben können.

3.3.3. Sammlung Israels und ewiger Bestand (v.20–22)

Die am Ende von v.19 aufgebaute Lesererwartung wird in den folgenden Versen nicht erfüllt. V.20 schildert nicht, wie die Nationen nach Zion pilgern, sondern wie die bei ihnen lebenden Exiljudäer heimkehren. Mit dem kausativen Image, sie werden bringen, werden dabei noch einmal all die Texte eingespielt, die die Repatriierung der Verbannten prophezeien.1366

Wer aber führt den Transport durch, das heißt, wer ist das Subjekt von Image Die Boten, die die herrlichen Taten JHWHs verkündet haben und die das Subjekt des letzten Verbs von v.19 sind?1367 Oder die Empfänger ihrer Botschaft, auf die sich das letzte Wort dieses Verses, Image, bezieht?1368 Tatsächlich werden die Nationen auch am Anfang des Verses erwähnt (Image, v.19a), sodass sie ihn umrahmen und auf der Ebene der Textsyntax den hauptsächlichen Diskursgegenstand bilden. Satzsyntaktisch ist der Übergang von Image (v.19bβ) zu Image (v.20aα) jedoch so glatt, dass es schwer fällt, einen Subjektwechsel anzunehmen, zumal Image grammatikalisch eher als Ortsangabe denn als persönliches Objekt fungiert. Vor allem aber würde, wenn gojim das Subjekt von Image wäre, das Paradox entstehen, dass die Nationen die Exulanten aus den Nationen(Image, v.20aα) herausführten. So bleibt als die wahrscheinlichste Option, dass das Werk der am Anfang von v.19 genannten „Entronnenen“ mit der Verkündigung der göttlichen Heilstaten noch nicht abgeschlossen ist, sondern auch noch die Aufgabe umfasst, die über die ganze Welt verstreuten Glieder des Gottesvolkes heimzuholen.

Jes 66,20 steht damit am Ende einer Reihe von Texten, die in immer neuen Variationen prophezeien, dass Ausländer den heimkehrenden Judäern assistieren werden (vgl. 14,2; 49,22; 60,4.9). Anders als diese verwendet unser Text ein doppeltes Image – „all eure Brüder aus allenNationen“ – und macht damit deutlich, dass wirklich alle aus der Verbannung zurückgeholt werden.

Dass die Heimkehrer Image, eure Brüder, genannt werden, ist zweifach bedeutsam. Zum einen wird damit ein Bogen zu v.5 geschlagen, wo derselbe Ausdruck eine Gruppe von Personen bezeichnete, die die Gottesknechte hassen und verfolgen (Image). Diese „Brüder“, die in Wahrheit Feinde Jhwhs sind (vgl. v.6.14), werden nun durch die „wahren Brüder“ aus der Diaspora ersetzt.1369 Zum anderen wird damit die Redesituation in den vorhergehenden Passagen, zuletzt in v.12–14, wiederhergestellt, wo Jhwh („Ich“) sich an die in Jerusalem Lebenden („Ihr“) wandte. Tatsächlich wird dieser mittlere Abschnitt (nach der Struktur von Webster, s. o. 3.2.) durch die 2. Pers. Pl. nicht nur eingeleitet, sondern in Image, euer Same und euer Name (v.22), auch abgeschlossen. Die direkte Anrede signalisiert, dass er hauptsächlich von dem Schicksal der Jhwh-Knechte, also der „leiblichen“ Kinder Zions handelt. Indem er die Heimholung ihrer „Brüder“ aus der Golahbeschreibt, unterbricht er den narrativen Faden, der von der „Heidenmission“ in v.19 zu der daraus resultierenden Zionswallfahrt in v.23 verläuft. Das Gottesvolk, so lautet die implizite Botschaft, muss erst wiedervereinigt (v.20), in seinem priesterlichen Dienst gestärkt (v.21) und auf Zukunft hin konsolidiert werden (v.22), damit die nichtjüdische Menschheit kommen und anbeten kann.

Trotz seiner inklusiven, völkeroffenen Haltung macht also auch dieser letzte Völkerwallfahrtstext des Jesajabuchs eine wichtige Unterscheidung. Auch wenn er die fremden Nationen nicht wie 14,2 und 49,22–23 zu Untertanen Israels degradiert, spricht er doch nicht zuihnen, sondern bis zuletzt übersie. Trotz der zentralen Rolle, die sie in Gottes Geschichtsplan spielen, präsentiert er sie dennoch nicht als dessen direktes Gegenüber, als Partner, mit denen er kommuniziert und seine Gedanken teilt.1370 Dieses Privileg bleibt bis zuletzt den Söhnen Israels vorbehalten.

Wie umsichtig und zuvorkommend die Fremden ihre jüdischen Mitbürger behandeln, illustriert die phantasievolle Aufzählung der Transportmittel.1371 Auch frühere Texte hatten die Umstände der Heimkehr mit Hilfe der Präposition Image beschrieben. Während es dort aber um abstrakte, emotionale Zustände ging (Image Image, nicht in Eile, 52,12; Image, in Freude und in Frieden, 55,12), werden hier konkrete, materielle Bedingungen genannt: Image, mit Pferden und mit Wagen, usw. Der Leser soll sich den Zug in allen Details und möglichst bildhaft vorstellen: eine Karawane, aus Tieren, Wagen und anderen Beförderungsmitteln bunt zusammengesetzt, mit Menschen jeden Alters und Geschlechts, die in mehreren Abteilungen aus allen Himmelsrichtungen auf Jerusalem zusteuert.1372

Die Reise zum Zion wird aber nicht nur in ihrer materiellen Ausstattung beschrieben, sie wird darüber hinaus auch theologisch gedeutet. Durch die Apposition Image, eine (Opfer)gabe für Jhwh, und den Vergleich mit der kultischen Prozession der „Söhne Israels“, die ihr Opfer in reinen Gefäßen (Image) herbeibringen, wird dem profanen Tun der Völker ein sakraler Charakter zugeschrieben. Die Heimführung der Diasporajuden dient nicht nur dem praktischen Zweck, den Einwohnermangel Jerusalems zu beheben. Sie manifestiert zugleich die Bekehrung der „Heiden“ zu Jhwh. Indem sie nämlich Zion diesen wertvollen Dienst erweisen, ehren sie den Gott, der in ihr wohnt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Exulanten nicht wie in v.7–14 und in den anderen bereits erwähnten Texten als Kinder Zions vorgestellt werden. Natürlich sind sie auch eine Gabe für „Mutter Zion“, vor allem aber sind sie eine Gabe für Jhwh, eine Opfergabe, welche die Tieropfer, die in anderen Völkerwallfahrtsorakeln im Vordergrund stehen, ersetzt.

Dies hat auch Konsequenzen für die Ausländer, die dieses besondere Opfer darbringen. In dem Moment, in dem die Deportierten zu einer „Gabe für Jhwh“ werden, sind auch diejenigen, die sie bringen, keine einfachen Lastenträger mehr, sondern üben ipso facto ein liturgisches Amt aus.1373 Dass sie dennoch keine Kultfunktionäre im üblichen Sinn sind, macht der Vergleich mit Mal 1,11 deut-lich.1374 Auch dort wird verheißen, dass Nichtisraeliten Jhwh ein „reines Opfer“ (Image) darbringen. Damit sind wirkliche Speiseopfer gemeint, die diese „vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang“, d. h. an ihren jeweiligen Wohnsitzen darbringen. Dagegen müssen sie in unserem Text ihren Aufenthaltsort verlassen und nach Jerusalem ziehen. Ihr Opfer besteht auch nicht aus Getreide oder anderen Vegetabilien, sondern darin, dass sie sich an der Neusammlung Israels beteiligen. Die Feststellung, das profane Tun der Völker werde kultisch interpretiert, könnte deshalb auch umgekehrt werden: In Jes 66 wird eine un-kultische Gottesverehrung propagiert, eine Form der Anbetung und des Opferns, die (zumindest was die gojim betrifft) in einem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Engagement für die Wiederherstellung der Gottesstadt besteht.

Der Vergleich mit Maleachi zeigt, wie wichtig die Ortsangabe ist, die das Ziel des endzeitlichen Völkerzugs definiert: Image, auf meinen heiligen Berg Jerusalem. Sie ist eines der Signale, die die Völkerwallfahrtsorakel 56,1–9 und 66,15–24 intertextuell verbinden.1375 In 56,7 wird verheißen, dass einzelne Fremde zum Tempelberg geführt werden, um auf diese Weise ihre Zugehörigkeit zum Gottesvolk zu besiegeln. 66,20 geht noch einen Schritt weiter. Ortskundige Fremde führen nun ihrerseits Judäer herbei, damit die auf dem Zion lebende Gemeinde ihre fehlenden Mitglieder zurückerhält. Wie wir gesehen haben, verdeutlicht der Vergleich mit dem Opfergang der Israeliten in der zweiten Vershälfte, dass sie einen Gottesdienst ganz eigener Art verrichten. Indem Image syntaktisch an die Stelle von Image etc. tritt, werden ihre Pferde, Maulesel und Kutschen nämlich den „reinen Gefäßen“ gleichgestellt. So wie Sach 14,20–21 die Kochtöpfe als heilig deklariert, betrachtet Jes 66,20 die von den „Heiden“ benutzten Transportmittel als rein.1376 Wie die liturgischen Geräte dienen auch sie Jhwh, und diejenigen, die sie zur Verfügung stellen, sind „Priester“, die nichtkultische Gaben in einer nichtsakralen Prozession darbringen.

Woher werden aber nun die levitischen Priester von v.21 genommen? Von den Judäern, die heimgeführt werden, oder von den Nichtjudäern, die sie heimführen? Mit anderen Worten: Bezieht sich das emphatisch am Satzanfang stehende Image, von ihnen, auf das Objekt des Verbs Image in v.20, also die judäischen Exulanten, oder auf dessen Subjekt, also die „heidnischen“ Missionare?

Die wichtigsten Argumente hat jüngst noch einmal Jacob Stromberg abgewogen und daraufhin für die zweite, inklusive Deutung plädiert.1377 Für sie spricht die Tatsache, dass ??? am Anfang von v.21 Vorläufer in Image und Image in v.19 hat, Präpositionalausdrücke, die beide eindeutig die Nationen als Referenten haben. Vor allem aber werden in den vorhergehenden Versen alle Aktionen (mit Ausnahme derer, die Jhwh selbst verrichtet) von der Gruppe der „Entronnenen“ vollzogen. Sie agieren als Werkzeuge des göttlichen Heilsplans und üben bereits nach v.20 ein quasi-liturgisches Amt aus.

Doch selbst die ausführliche Diskussion bei Stromberg lässt wichtige Aspekte außer Acht: Sind die beiden Gruppen, die Juden und die Nichtjuden, am Ende von v.20 überhaupt noch klar getrennt? Das heißt: Könnte das vage Image nicht auch die ganze Menschenschar meinen, die Jerusalem in einer einzigen großen Prozession erreicht?1378 Und müsste sich der Autor nicht deutlicher ausdrücken, wenn er eine so umstürzende Neuerung wie die Bestellung von Heiden zu Jhwh-Priestern ankündigen wollte?

Ein bisher zu wenig beachtetes Argument für das Verständnis von v.21 ergibt sich aus der Position des Verses innerhalb der Texteinheit 66,15–24. Er gehört zu dem Abschnitt v.20 – 22, der in der von Webster erarbeiteten chiastischen Gesamtstruktur das mittlere Glied „C–c“ bildet (s.o.). Dieser ist, wie bereits gezeigt, durch die „Ihr“-Anrede gerahmt: durch Image, eure Brüder, in v.20aα, und Image euer Same und euer Name, in v.22b. Angeredet sind also die in Jerusalem Lebenden, die Gemeinde der Jhwh-Knechte, die durch die Heimführung der exilierten „Brüder“ und die Ernennung neuer Priester gefestigt werden soll.

Auch wenn eine eindeutige Antwort u. E. nicht möglich ist,1379 sollte v.21 deshalb zuerst als eine innerisraelitische Verheißung verstanden werden. Sie gewinnt ihr volles Gewicht, wenn man sie auf dem historischen Hintergrund liest, den Joachim Schaper aus den antilevitischen Passagen im Ezechielbuch rekonstruiert hat.1380 Nach seiner Auffassung zeugen Aussagen wie Ez 44,10–14 von dem Versuch der Zadokiden, die Leviten zu Priestern zweiter Klasse zu degradieren und ihnen die niedrigen Tempeldienste zuzuweisen. Dieser Konflikt habe dazu geführt, dass nur wenige Leviten aus dem Exil nach Juda zurückgekehrt seien. Unser Passus hätte demnach die Absicht, die in Babylonien lebenden Leviten zur Rückkehr zu motivieren, indem er ihnen die Aufnahme in die Priesterschaft des nachexilischen Heiligtums in Aussicht stellt.1381

Die Vermutung, dass dieses Heilsorakel Angehörigen des Gottesvolkes gilt, wird durch v.22 bestätigt. Mit einem einleitenden Image zieht dieser Vers die Konsequenz aus den beiden vorhergehenden.1382 Die Neusammlung Israels und die Ergänzung seines Kultpersonals sind die entscheidenden Voraussetzungen seines Fortbestands. Das Wortpaar Image und Image1383 zeigt dabei an, dass es um einen zweifachen Fortbestand geht: um den Erhalt seiner biologischen Existenz dank leiblicher Nachfahren und um die Bewahrung seines guten Rufs, damit es vor den anderen Nationen weiterhin als Zeuge Jhwhs auftreten kann. Diese „Unvergänglichkeit“ wird wie in Jer 31,35–36; 33,25–26 an der Schöpfungsordnung festgemacht. Dort dient das bestehende Universum als Vergleichsmaßstab, hier sind es „der neue Himmel und die neue Erde“, deren Erschaffung Jes 65,17 angekündigt hatte.1384

Dass es dabei nicht nur um bloße Dauer (Image im Sinne von „bestehen, existieren“), sondern auch um eine bestimmte Existenzweise geht (Image im Sinne von „dienend vor jemandem stehen“), hat Willem A. M. Beuken richtig erkannt.1385 Der Kontext mit dem Pilgerzug in v.20 und der Priesterwahl in v.21 verlangt geradezu, Image als kultischen Terminus auszulegen (vgl. Lev 9,5; Num 16,9; Dtn 4,10; 10,8 u. ö.). So wie die neue Schöpfung Jhwh dient, indem sie seinen unbegrenzten Heilswillen dokumentiert, soll auch das erneuerte Israel ihm dienen, indem es Sein Handeln in der Geschichte bezeugt und dadurch die Verehrung aller Menschen vorbereitet. In der „Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse im nachexilischen Jerusalem“ und in der „Beständigkeit derer, die dem gottgefälligen Kult vorstehen“,1386 soll sich erweisen, dass die Welt tatsächlich neu geworden ist.

3.3.4. „Alles Fleisch“ als Pilger in Jerusalem (v.23)

Auf den Abschnitt über die Wiederherstellung Israels folgt eine kurze Szene, die v.18–19 weiterführt und den Abschluss und Höhepunkt aller jesajanischen Völ-kerwallfahrtsorakel bildet. Eingerahmt durch den Tempusmarker Image, und es wird geschehen, und die Gottesspruchformel Image, spricht Jhwh, schildert v.23, wie die gesamte Menschheit zur Anbetung Jhwhs nach Zion pilgert. Noch vor der Hauptaussage Image werden in einem sonst nirgends belegten Doppelausdruck die zeitlichen Umstände dieser globalen Pilgerreise erläutert. Sie soll in dem zyklisch wiederkehrenden Rhythmus der Neumondfeste und Schabbate stattfinden.

Die Ähnlichkeit mit der eschatologischen Vision im Schlusskapitel des Sacharjabuchs ist unübersehbar:1387

Jes 66,23:Image
sach 14,16:Image

Unabhängig davon, ob man von einer literarischen Abhängigkeit ausgeht oder nicht,1388 sind neben den Parallelen auch klare Unterschiede festzustellen. So ist der Zyklus der Pilgerzüge bei Jesaja intensiviert. Statt einer jährlichen Wallfahrt zum Sukkotfest prophezeit er monatliche, ja sogar wöchentliche Reisen nach Jerusalem. Daraus zu folgern, dass diese nur von Bewohnern der Stadt und deren näherer Umgebung, also nur von Juden unternommen werden könnten,1389 zeugt von einer zu einlinig rationalen Betrachtungsweise. Es könnten ja verschiedene, sich abwechselnde Pilgergruppen gemeint sein. Vor allem aber besteht die Stärke einer solchen poetischen Vision gerade darin, die Grenzen des Realistischen, Menschenmöglichen zu überschreiten und den Blick auf das von Gott Erwünschte und Ermöglichte zu lenken.

In diese Richtung zielt auch die zweite Abweichung von Sach 14. Dort wird Jhwh nur von einem „Rest“ angebetet. Er setzt sich aus denen zusammen, die den endzeitlichen Kampf um Jerusalem überlebt haben (vgl. v.16: ImageImage). In unserem Text sind es alle, die, über die ganze Welt verstreut, die Kunde der Emissäre vernommen und daraufhin den Ort der göttlichen Herr lichkeit aufgesucht haben. Dabei ist das Subjekt des Bewegungsverbs Image im Unterschied zu v.18 und den übrigen Völkerwallfahrtstexten nicht Image oder einzelne Ethnien; es ist zum ersten und einzigen Mal Image, alles Fleisch, d. h. alle Menschen.1390 Wie das Gericht (vgl. v.16) soll also auch das endgültige Heil die ganze Menschheit erfassen, so dass die ethnischen Differenzen in den Hintergrund treten. Inder gemeinsamen Anbetung Jhwhs sollen die vielen verfeindeten Nationen wieder eineMenschheitsfamilie werden.

Für Judith Gärtner liegt in dieser „Entgrenzung der Völkervorstellungen“ der Hauptunterschied zu Sach 14.1391 Bedeutet dies aber, dass Jes 66 „einGottesvolk aus Israel und den Völkern“ prophezeit? Oder dass, wie Walter Groß es zuspitzt, das Gottesvolk-Konzept als solches in die Krise gerät, ja, als untauglich aufgegeben wird?1392 Obwohl die beiden Thesen gegensätzlich klingen, teilen sie doch die Überzeugung, dass durch den Terminus „alles Fleisch“ die Unterscheidung zwischen Israel und den Nationen beseitigt werde und Israel seinen Sonderstatus als Gottesvolk verliere.

Doch lässt sich das aus Jes 66 wirklich ableiten? Wenn v.23 einen Gottesdienst ankündigt, der die ganze Menschheit umfasst, folgt daraus nicht, dass die Prophezeiungen von v.20 – 22, vor allem die über den ewigen Bestand der Nachkommenschaft und des Namens(!) Israels ausgelöscht würden. „Alles Fleisch“ mag wie in v.15–17 die ganze Menschheit, Juden wie Nichtjuden umfassen. An der regelmäßigen Wallfahrt nach Jerusalem mögen sich alle Menschen, aus Israel und den Nationen, beteiligen, um Jhwh, dem Schöpfer des neuen Himmels und der neuen Erde und dem Erbauer des neuen Jerusalem, zu huldigen. Das heißt aber nicht, dass damit alle Differenzen (der Sprache, der Kultur, der geschichtlichen Herkunft usw.) verschwinden und Israel und die Völker „aufgehoben“ würden.1393

Israel und die Nationen werden nicht zu einer dritten Größe, zu einem nicht näher definierten „mixtum compositum“ verschmolzen, sondern durch die Verehrung des einen Gottes zusammengeführt. Das einende Band ist nicht eine neu geschaffene gesellschaftliche Struktur, es ist eine neue Ordnung der Zeit, durch die ihre Aktivitäten „synchronisiert“ werden. Wie schon in Jes 56 ist der Schabbat das Instrument, das die Nichtjuden mit dem jüdischen Volk verbindet. Allerdings geht es in unserem Text nicht um die Heiligung bzw. Entweihung eines einzelnen Tages.1394 Vielmehr wird durch „Neumond und Schabbat“ der durch die zyklischen Feste geregelte Kalender umschrieben, den nun auch Nichtisraeliten übernehmen. Durch ihre Zionswallfahrt treten sie in die heilvolle Zeiterfahrung und Vergegenwärtigungsliturgie des Gottesvolkes ein, in dessen „nicht endenden Rhythmus von Festzeiten“.1395

Über die intertextuelle Beziehung zu Jes 1,13, die durch das Begriffspaar ImageImage geschaffen wird,1396 wird aber auch eine andere Erfahrung eingespielt: die Erinnerung daran, dass die Neumond- und Schabbatfeiern „unerträglich“ geworden waren, weil an ihnen gleichzeitig Image, Frevel und Festversammlung, begangen wurden. Dieser gravierende Missstand, der Israels Gottesbeziehung im Innersten bedrohte, wird behoben, wenn in der kommenden Heilszeit auch fremde Völker zum Zion ziehen. Wo einst die Opfernden aus Israel vor JHWH traten (Image+ Image, 1,12) und von ihm zurückgewiesen wurden, wird dann die ganze Menschheit kommen und sich gemeinsam vor ihrem Schöpfer niederwerfen (Image + Image, 66,23).

Das dabei verwendete Verb Image eštaf. zeigt, dass Jes 66 auch in diesem Punkt über die bisherigen Völkerwallfahrtsvisionen hinausgeht. In 45,14; 49,23; 60,14 vollziehen die ausländischen Pilger ihre Proskynese vor der königlich thronenden „Frau Zion“. Sie vermittelt zwischen diesen und ihrem(!) Gott und erhält dadurch eine quasi-göttliche Aura. Demgegenüber verheißt 66,23, dass die Ankömmlinge JHWH direkt begegnen und ihn ohne weitere Vermittlung anbeten werden Image, so dass sein Schwur aus 45,23 – „vor mir wird jedes Knie sich beugen…“ – in Erfüllung geht.

Jes 27,13, das wie 66,23 eine größere Buchsektion (die „Jesaja-Apokalypse“) beschließt, wird damit universal ausgeweitet.1397 Wie die in Assur und Ägypten lebenden Judäer werden nun Menschen aus allen Nationen, allen Orten kommen, um den auf dem Zion residierenden Gott zu verehren (Image, 27,13b). Dass unsere Weissagung statt Image die Präposition Image verwendet, ändert nichts an der inhaltlichen Aussage. Es ist aber ein intertextuelles Signal, das auf zwei Stellen im Psalter verweist, die ebenfalls von Völkerwallfahrt und -huldigung handeln: Image, vor dir werden sich alle Geschlechter der Nationen niederwerfen (Ps 22,28), und Image, alle Nationen werden kommen und sich vor dir niederwerfen (Ps 86,9).1398 Im Wortlaut sind sie fast identisch mit Jes 66,23, doch haben sie, wie das unterschiedliche Suffix – „vor mir“ bzw. „vor dir“ – signalisiert, eine andere Intention. Im einen Fall verkündigt JHWH, der Herr der Geschichte, dass alle Menschen an ihn glauben werden, im anderen äußert der Beter die zuversichtliche Erwartung, dass sich eines Tages alle Völker seinem Gott unterwerfen werden. Der Leser, der dem (hebräischen) Kanon folgt, wird das Erste als Voraussetzung des Zweiten verstehen, den von Jesaja überlieferten Spruch als ein göttliches Verheißungswort, das sich der Psalmist im betenden Vollzug zu eigen macht.

Israel und die Nationen – im letzten Völkerwallfahrtsorakel des Jesajabuchs sind sie sowohl der Schöpfungsordnung nach (durch ihr gemeinsames Image-Sein) als auch der Erlösungsordnung nach (durch ihre gemeinsame Gottesverehrung) eng verbunden. Doch werden damit ihre Differenzen, ihre ethnische und kulturelle Verschiedenheit, vor allem aber ihre unterschiedliche Geschichte nicht aufgehoben. Es ist ja nicht dasselbe, ob einer aus dem Exil nach Jerusalem heimkehrt oder ob er zum ersten Mal dorthin kommt, ob einer zum wahren Gott zurückfindet oder ob er ihn neu kennenlernt, ob einer sich von einem falschen JHWH-Kult abwendet oder ob er den Kult der falschen Götter verlässt. Auch wenn in der Schlussvision des Jesajabuchs „alles Fleisch“ in einem gemeinsamen Gottesdienst derselben Gottheit huldigt, wird damit all das, was zu diesem Punkt geführt hat, nicht ausradiert.

Der Terminus Image als solcher (der in dem „Ihr“ von v.20 –22 ja immer noch einen Gegenpol hat) konstituiert deshalb keine „neue Bezugsgröße, die ein von den Völkern geschiedenes Israel ersetzt“, keine „neue[…] Heilsgemeinde“, in der „die ethnische Herkunft […] keine Rolle mehr [spielt].“1399 Nicht nur die sprachliche Nähe zu der unseligen Substitutionstheorie verhindert es, dass wir uns diesem Urteil anschließen. Der Gedanke eines „neuen Gottesvolkes“1400 aus Juden und Heiden lässt sich aus Jes 66 einfach nicht ableiten. Was die Wallfahrer ex gentibus untereinander und mit den Israeliten verbindet, ist nicht die Zugehörigkeit zu einem übergeordneten Ganzen. Verbunden sind sie zuerst durch ihre „fleischliche“ Natur, ihr Menschsein im Allgemeinen und dann durch ihr gemeinsames Tun: dass sie sich zu regelmäßigen Festzeiten versammeln, um JHWH im gottesdienstlichen Lobpreis und im täglichen Leben als ihren Herrn zu bekennen und zu ehren.

3.4. Jes 66,15 –24 als Abschluss des Jesajabuchs

Das kanonische Jesajabuch endet mit der Doppelvision vom göttlichen Strafgericht und von der dann einsetzenden Zionswallfahrt der nichtisraelitischen Menschheit. In ihr werden ein letztes Mal zentrale theologische Themen aus den drei Hauptteilen des Buches aufgegriffen, wobei die sprachlichen und inhaltlichen Bezüge zu den einleitenden Kapiteln Jes 1–2, Jes 40 und Jes 56 besonders eng sind. Jes 65– 66 und die letzte Texteinheit im Besonderen fungieren somit gleich dreifach als hinterer, abschließender Rahmenteil.1401

3.4.5. Fremde auf dem Zionsberg – intertextuelle Bezüge zu Jes 56,1–9

Das zentrale Thema von 56,1–9 – „Wer sind die Knechte JHWHs und welches ist ihr Los?“ – wird bereits in 66,14 zum Abschluss gebracht: Image. Sie bilden die Mitte der auf dem Zion neu konstituierten Gemeinde, mit ihnen verwirklicht sich der Heilsplan JHWHs, an ihnen kann sein Wirken („seine Hand“) erkannt werden. Nach 56,6 gehören zu ihnen auch Ausländer, die aufgrund ihrer ethischen und religiösen Praxis zu einem integralen Teil des Gottesvolks geworden sind.

Dass es dabei nicht nur auf das Bekenntnis, sondern vor allem auf die Verwirklichung der Ideale ankommt, unterstreicht das dreifache Image in 56,1–2. Auch wenn es nicht alle sind, so müssen doch wenigstens einige, eine ausreichend große qualifizierte Minderheit die Gerechtigkeit tun (v.1) und das Böse nicht tun (v.2). Um diesen Kern herum verheißt v.8 dann eine Sammlung, die über die jüdische Diaspora hinaus Personen aus allen Völkern zusammenführt.

Jes 66,15–24 greift diese Motive auf und integriert sie in eine umfassende endzeitliche Gerichts- und Heilsvision.1402 Zunächst verheißt es, dass JHWH seine „Feinde“ und mit ihnen ihre bösen Taten (Image, v.18) vernichten wird. Diese Scheidung, die Israel ebenso wie die anderen Nationen betrifft, ist die Voraussetzung, damit die Knechtsgemeinde nicht eine elitäre, auf sich selbst bezogene Gruppe bleibt, sondern zum Ferment für die Erlösung aller Menschen wird. Zu diesem Zweck werden in Fortführung von 56,8 „alle Völker und Zungen“ versammelt. Sie sollen erkennen, wie der auf dem Zion verehrte Gott, ohne auf die ethnische Herkunft zu achten, straft und erlöst.

Bevor wir auf das Subjekt der Völkerwallfahrt näher eingehen, muss von dem Verb Image die Rede sein, das mit sechs Vorkommen unseren Abschnitt prägt. Noch bevor die Nationen nach Jerusalem ziehen, schildert 66,15, wie Gott selbst, unter umgekehrten Vorzeichen wie in Jes 60, herbeikommt. Indem er die Apostaten richtet, macht er den Weg frei, damit diejenigen, die bisher ebenfalls Idole verehrten, zum Ort der „wahren Religion“ kommen können. Was 56,7 einzelnen Gerechten verheißt, weitet 66,18 somit auf alle Nichtisraeliten aus. Der Zug zum Zion ist nun nicht mehr der Lohn, der denen gewährt wird, die sich vorbildlich verhalten. Vielmehr entsteht er daraus, dass Menschen die Verkündigung der Boten hören und von der Sehnsucht ergriffen werden, die gloria Dei mit eigenen Augen zu erblicken.1403

Die Vorstellung, dass solche Personen die Exilierten in die Heimat zurückbringen (66,20), begegnet auch in anderen Orakeln. Neu ist, dass diese dadurch nicht in eine untergeordnete, dienende Stellung geraten. Im Gegenteil, durch die Bezeichnung Image und den Vergleich mit dem Opfergang der Israeliten wird ihrem Tun die Qualität einer liturgischen Handlung zugesprochen. Die Brand- und Schlachtopfer aus 56,7 werden damit zwar nicht negiert, wohl aber in ihrer Bedeutung relativiert. Das Wertvollste, was die ausländischen Nationen mitbringen können, sind nicht Tiere,Weihrauch oder Baumaterial, es sind die noch fehlenden Glieder des Gottesvolkes, die JHWH ebenfalls als Priester dienen sollen (vgl. 66,21).

Bei der Bestimmung des Ziels der Wallfahrt ist die Parallele am auffälligsten: dasselbe Image aus 56,7 kehrt in 66,20a wieder, und Image aus 56,5.7 entspricht Image Image in 66,20b. Auch die Zweckangabe Image, um anzubeten (66,23), kommt nicht unvorbereitet, definiert doch bereits 56,7 den Tempel als den Ort, an dem die Völker zu JHWH beten werden Image. Die Fremden erhalten somit in beiden Texten eine neue Würde, wie sie sonst nur noch in den Psalmen bezeugt ist: sie dürfen ohne Einschränkung (zumindest wird eine solche nicht erwähnt) am Gottesdienst Israels teilnehmen.

Gerade an diesem Punkt geht Jes 66 aber noch einmal über sein literarisches Gegenstück hinaus. Denn statt Image, das die Verheißung von 56,7 einspielen und bestätigen würde, verwendet es in v.23 wie zuvor schon in v.16 Image. Auf diese Weise schafft es eine Parallele zu Jes 40,5, auf die wir im folgenden Abschnitt einzugehen haben. Aber auch jetzt schon kann festgestellt werden, dass damit die Kluft zwischen dem Gottesvolk und den übrigen Völkern überwunden wird. Das Dilemma, das im Hintergrund von 56,1–9 stand, und die Spannung, die selbst 2,1–5 prägte, sind am Ende des Jesajabuchs beseitigt. Die Scheidelinie verläuft nun nicht mehr zwischen Israel und den gojim, sondern zwischen den Gerechten und den Sündern, zwischen denen, die sich von dem Licht JHWHs leiten lassen, und denen, die ihre eigenen „dunklen“ Wege gehen.

Die völkerübergreifende Perspektive wird durch ein weiteres Textsignal verstärkt. Im Unterschied zu Sach 14 findet der universale Gottesdienst in Jes 66 nämlich nicht an einem spezifisch jüdischen Fest (dem Laubhüttenfest) statt. Es ist der periodische Wechsel von Neumond und Schabbat, also der Monats- und Wochenrhythmus, der die Pilger zum Zion führt. Damit ergibt sich ein weiterer Unterschied zu Jes 56. Dort ist der Schabbat, nämlich seine korrekte Observanz, das Kriterium, das über die Mitgliedschaft im JHWH-Volk entscheidet. In unserem Text ist er kein Brauch, keine Mizwah, die ähnlich wie die Beschneidung das Judesein definiert. Er ist vielmehr eine Institution, die nach dem Zeugnis von Gen 2 und Ex 20 in der Schöpfung gründet.1404 Sie schenkt allen Menschen, den observanten Juden (schomre schabbat) wie den nichtobservanten „Heiden“ (und Juden!), die Möglichkeit, in die göttliche Zeitordnung einzutreten.

In Jes 66 verwandelt sich die Völkerwallfahrt somit in eine „Menschheitswallfahrt“. Alle Menschen sollen – nicht nur einmal, sondern regelmäßig wiederkehrend – zum Zion pilgern. Sie sollen JHWH, den Urheber der neuen Schöpfung und des neuen Jerusalem, verehren und Zeugen seiner Herrlichkeit sein, die sich im Richten und im Retten offenbart.

3.4.6. Gottes Herrlichkeit vor allen Menschen – intertextuelle Bezüge zu Jes 40

Wie das „tritojesajanische“ Thema der Gottesknechte wird auch das „deutero-jesajanische“ Thema der Tröstung Jerusalems unmittelbar vor unserem Abschnitt zum Abschluss gebracht. Das strukturelle Gegenstück zu der programmatischen Eröffnung in 40,1 – Image – ist nämlich mit vier Belegen für die Wurzel Image 66,10 –14. Zwischen diesen beiden Polen wird ein Bogen gespannt, der mit dem Aufruf, das Gottesvolk zu trösten, beginnt und mit der Zusage, JHWH selbst werde den Seinen Trost und Freude schenken, endet. An seinem Anfang steht die niedergeschlagene, trostbedürftige Stadt, an seinem Ende die in überirdischem Glanz erstrahlende Metropole, die für Einheimische und Fremde eine Quelle des Trostes ist.

Aber auch die folgende Texteinheit, das große Finale von Jes 56–66, ist mit dem Proömium von Jes 40–55 durch eine Reihe von Referenzsignalen verbunden. Beide verheißen eine Sammlung Image, 40,11 die der exilierten Judäer, 66,18 die der übrigen Nationen. In beiden spielt Zion-Jerusalem die Schlüsselrolle, wobei sie allerdings in 40,2.9 als Person, in 66,20 als Toponym erscheint.

Die wichtigste Parallele betrifft jedoch das Kommen JHWHs nach Jerusalem. Die Heilsankündigung von 40,10Image – wird in 66,15 aufgenommen und durch Hinzufügung von Image in eine Gerichtsansage transformiert: Image. Damit wird die heilsgeschichtliche Abfolge, auf die wir in Kap. 60 stießen, nochmals unterstrichen: Bevor die Verstreuten Israels eingesammelt werden und die nichtisraelitischen Nationen den Marsch antreten, kehrt JHWH selbst nach Zion zurück, in Kap. 40, um Jerusalem zu erlösen, in Kap. 66, um alle Menschen zu richten.

Die zweite wichtige Parallele ist die Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit. Sie wird in 40,5 mit Stichwörtern beschrieben Image, die einen intertextuellen Bezug und gleichzeitig eine theologische Differenzierung signalisieren. Auch Jes 66 erblickt das Ziel der Geschichte darin, dass alle Menschen das machtvolle Wirken JHWHs, seinen kavod wahrnehmen (Image, v.18). Doch im Unterschied zu 40,3–5, das dessen Offenbarung in der Wüste erwartet, bestimmt es seinen Ort im Anschluss an 56,7 (und darüber hinaus 11,9 und 65,25): Nicht unterwegs im Niemandsland, sondern auf dem Zion, inmitten der dort lebenden Knechtsgemeinde sollen die Menschen den Glanz Gottes erblicken. Dabei fügt unser Text noch eine Zwischenphase auf dem Weg zum Sehen ein, bei der denen, die JHWH nicht kennen, über dessen kavod erzählt wird (Image, v.19). Neben der unmittelbaren, persönlichen Schau gibt es also auch eine vermittelte Form, das Hören von der göttlichen Herrlichkeit. Sie ist kein Endzweck, aber ein wichtiger Motor, um die Zionswallfahrt in Gang zu setzen.

Am Höhepunkt der Vision wird 40,5 noch einmal eingespielt. Mit dem Stichwort Image hatte dieser Vers eine universale Theophanie prophezeit, hatte aber nicht geschildert, wie die Augenzeugen reagieren. Das wird in 66,23 nachgeholt. Die Menschen, die von JHWHs Herrlichkeit zunächst gehört und die sie dann selbst geschaut haben, werden ihn anbeten und damit als einzigen Gott anerkennen.

Ist diese Verbindung, die Aufnahme und Weiterführung von 40,5 in 66,23, erst einmal erkannt, kann darüber nachgedacht werden, ob nicht auch die folgenden Passagen 40,6–8 und 66,24 korrelieren. Die eine beschreibt die vergängliche Natur des Menschen Image im Unterschied zu dem unvergänglichen Gotteswort. Die andere schildert, wie eben dieser hinfällige Mensch Image die ewige Pein derer erlebt, die sich gegen JHWH auflehnen. Sie ist ihm Abschreckung Image, gerade weil er weiß, dass er in sich nur „Gras“ ist, das verdorrt, vom Wind verweht und vom Feuer verbrannt wird. Bestand haben kann er nur „vor JHWH“ (Image, 66,22), nur wenn er sich „vor Ihm“ (Image, v.23) niederbeugt.

3.4.7. Abfall, Gericht und wahrer Gottesdienst – intertextuelle Bezüge zu Jes 1,1–2,5

Bei der Suche nach intertextuellen Verbindungen zwischen dem letzten und dem ersten Kapitel des Jesajabuchs stoßen wir zum dritten Mal auf das Phänomen, dass ein zentrales theologisches Anliegen kurz vor dem Finale noch einmal aufgegriffen wird. In diesem Fall handelt es sich um den „protojesajanischen“ Befehl, auf das Wort JHWHs zu hören: Image In 1,10 erklingt er zum ersten Mal, um die korrupten Anführer des Volkes zu warnen, in 66,5 zum letzten Mal, um denen, die wegen ihres Festhaltens am göttlichen Wort verfolgt werden, Mut zuzusprechen.1405

Was die Intertextualität von 66,15–24 selbst betrifft, ist zunächst ein Wortpaar zu erwähnen, das in dem ersten Orakel des Jesajabuchs unmittelbar nach dem Titel begegnet: Image, Himmel, und Image, Erde (1,2). Sie werden dort angerufen, um Zeugen zu sein, wenn JHWH gegen sein Volk Anklage erhebt. Dieselbe globale Perspektive prägt auch die Schlussvision, doch wird sie nun durch den neuen Himmel und die neue Erde (66,22) angezeigt. Diese müssen nicht die Klage gegen einen degenerierten Kult anhören, sondern dürfen ihrerseits die Macht und unerschütterliche Treue JHWHs bezeugen.

Image, Untreue, Abfall, Rebellion wird den Menschen sowohl in Kap. 1 als auch in Kap. 66 vorgeworfen. Ja, das in 66,24 verwendete Image könnte geradezu aus Image in 1,2 und Image in 1,28 zusammengesetzt sein. Beide Kapitel erwähnen Obstgärten als Stätten idolatrischer Praktiken (Image, 1,29; 66,17; vgl. 65,3), beide prophezeien das Ende der Götzendiener, mit Image in 1,28 und dem synonymen Image in 66,17, und beide schließen mit dem abschreckenden Bild eines nicht verlöschenden Straffeuers Image.

Jes 66 erschöpft sich aber nicht in der Polemik gegen den illegitimen bzw. pervertierten Gottesdienst, es entwirft darüber hinaus ein positives Gegenbild. 1,12–13 kritisiert die Bewohner Jerusalems, weil sie unerwünscht vor JHWHs Angesicht treten Image, wertlose Opfer darbringen Image und ihm mit ihren Neumond- und Schabbatfeiern Image lästig sind. Mit signifikanten lexikalischen Bezügen verheißt Jes 66 demgegenüber eine Zeit, in der JHWH – nicht von Israeliten, sondern von „Heiden“ – eine wohlgefällige Image dargebracht wird (v.20), in der die zyklische Abfolge von Neumond und Schabbat den Lebensrhythmus aller Menschen bestimmt und diese zur Anbetung, nicht aber zum Geschäftemachen vor ihm erscheinen (v.23). Woran Israel gescheitert war, nämlich Kult und mitmenschliche Solidarität in Einklang zu bringen, wird also wieder möglich, wenn sich die „Gerechten aus den Nationen“ mit ihm verbünden werden.

Die Endzeitvision von Jes 66 umfasst deshalb neben dem universalen (aber lokal fixierten) Gottesdienst auch das universale Gericht. Gott richtet (Image, v.16), um die Menschheit von dem Bösen zu reinigen. Er tut, was in Jerusalem vernachlässigt wurde (vgl. 1,17.23), was aber unabdingbar ist, um Gerechtigkeit und Frieden zu stiften und zu bewahren. Genau dies erwarten auch die Völker, die in Jes 2 zum Zion strömen: dass Er unter ihnen Recht schaffe (v.4).

Auf die Theologie dieser beiden Völkerwallfahrtsverheißungen, der ersten und der letzten im Jesajabuch, werden wir im Schlussteil dieser Arbeit noch einmal eingehen. An dieser Stelle soll nur auf die Textsignale eingegangen werden, die mit ihrer Rahmenfunktion zusammenhängen. Es sind erstaunlich wenige, keine typischen Wendungen, sondern nur einzelne Vokabeln, die durch das Thema vorgegeben sind. Neben der bereits erwähnten Richterfunktion betreffen sie das Subjekt und das Ziel der Völkerwallfahrt. Die Wallfahrer werden in beiden Texten Image genannt, wobei 66,18 Image, 2,2 aber Image ergänzt. Das Ziel der Reise wird in 66,20 Image und Image genannt; diesen Angaben entsprechen in 2,3 Image und Image.1406 Der Name „Jerusalem“ schließlich findet sich einerseits in 66,20, andererseits in 2,3 (parallel zu „Zion“) und in der Überschrift in 2,1 (neben „Juda“).

„Jerusalem“ erscheint aber auch schon im Buchtitel, der das Folgende als eine Vision „über Juda und Jerusalem“ (Image, 1,1) definiert. Diese Definition gilt vom ersten bis zum letzten Kapitel, bestimmt also auch die Deutung von Jes 66 und aller übrigen Völkerwallfahrtsorakel. Deren theologische Intention kann somit nicht auf die Bekehrung der „Heidenvölker“ reduziert werden. Genauso wichtig ist die Bekehrung Jerusalems, ihre Neuschöpfung als Ort der Gottesgegenwart (vgl. 65,18). Denn ihr Friede, ihre Freude, ihr Getröstet- und Getrostsein machen die Suchenden aus allen Nationen auf den Einen aufmerksam. Sie sind die „Attraktion“, die jene zum Aufbruch motiviert, weil sie ihre Sehnsucht wecken, ebenfalls an Zions Glück teilzuhaben.