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Hap ließ das Buch fallen, in dem er gerade las. Er sprang auf und rannte ans Fenster. Voller Hoffnung und zugleich auf eine Enttäuschung gefasst drückte er sein Gesicht gegen die Gitterstäbe.
Tief unter ihm kam Barkin auf seinem kastanienbraunen Ross die Auffahrt nach Aerie hochgetrottet, dem hochaufragenden Felsenturm, den Lord Umber sein Zuhause nannte. Hap erhaschte einen Blick auf einen kastenförmigen Gegenstand, der hinter dem Sattel auf das Pferd geschnallt war. »Ich glaube, er hat es«, sagte er laut und sein Herz schlug einen Purzelbaum.
Er raste die Treppen hinunter und zur Tür hinaus und kam genau in dem Moment am Pförtnerhaus an, als Barkin einritt. Die Fracht sah aus wie eine Geldschatulle, etwas breiter als hoch und aus Schmiedeeisen hergestellt. In die Seite war ein Schlüsselloch eingelassen und handtellergroße Vorhängeschlösser sicherten die dicken Ketten, die rings um die Schatulle gewickelt waren. Barkin sah erschöpft aus von der Reise, aber stolz, und als er Hap von einem Fuß auf den anderen springen sah, grinste er. »Hallo, Happenstance. Kann ich etwas für dich tun?«
»Zieh mich nicht auf, Barkin«, bettelte Hap, »nicht, was diese Sache angeht.«
Barkins teuflisches Grinsen verwandelte sich in ein mitfühlendes. Er saß ab und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Kassette. »Ach so. Dieses Ding enthält also etwas, was dir wichtig ist?«
Hap nickte eifrig. »Ja, sehr wichtig.« Mehr sagte er nicht; Umber zog es vor, in diesen Dingen Stillschweigen zu bewahren. Die Schatulle enthielt vielleicht all die verloren gegangenen Geheimdokumente, die Caspar, Umbers ehemaliger Bibliothekar, aus Aerie gestohlen hatte. Caspar war tot; er war auf einer weit entfernten Insel durch einen Pfeil getötet worden, der eigentlich Umber gegolten hatte. Aber die Schatulle hatte er seinem Cousin zur Aufbewahrung gegeben, und Barkin hatte sie von dort abgeholt.
Welkin und Dodd, die übrigen Wachmänner Umbers, traten vor; Welkin mit einem Krug Bier für Barkin und Dodd mit einem Eimer Wasser für das Pferd. »Hat er es dir denn sehr schwer gemacht?«, fragte Dodd.
»Ach was, kaum der Rede wert«, erwiderte Barkin und presste dabei die Zunge von innen gegen die Wange. »Caspars Cousin war allerdings auch nicht gerade erpicht darauf, sich von dieser Kassette zu trennen. Zuerst wollte er nicht mal zugeben, dass er sie überhaupt besaß. Und als ich ihm erzählte, dass Caspar tot ist, wollte er mir nicht recht glauben. Er dachte, ich wollte ihn reinlegen, sogar dann noch, als ich ihm Umbers Beutel mit Gold anbot.« Barkin schnallte die Schatulle von seinem Pferd ab, redete dabei aber weiter: »Ich hab ihm angesehen, dass er in Versuchung geriet, doch er bat mich, am nächsten Tag noch mal wiederzukommen, wenn er darüber nachgedacht hätte.«
»Und? Was hat er am nächsten Tag gesagt?«, fragte Welkin.
»Woher soll ich das wissen? Da war ich längst über alle Berge. Ich bin gleich in derselben Nacht zurückgekehrt, habe den Kerl mit Umbers Schlafmittel außer Gefecht gesetzt – ganz schön praktisch, das Zeug – und sein Haus so lange durchsucht, bis ich sie gefunden habe.«
»Du hast sie gestohlen?«, rief Hap.
Barkin legte in gespielter Entrüstung die Hand auf die Brust. »Ich habe natürlich dafür bezahlt! Ich habe den Beutel Gold in seinem Haus zurückgelassen, zusammen mit einem Brief, in dem ich meinem aufrichtigen Bedauern Ausdruck verlieh. Puh, ist die schwer«, sagte er, als er die Schatulle vom Pferd hob.
Dodd schlug Hap auf den Rücken. »Vergiss nicht, dass die Dinge, die sich in dieser Kassette befinden, ursprünglich Umber gestohlen wurden. Er hat Barkin aufgetragen, alles zu tun, was notwendig ist, um sie zurückzuholen. Nur die Anwendung von Gewalt hat er verboten.«
»Also war es absolut gerechtfertigt«, sagte Barkin. »Ganz davon zu schweigen, dass es Spaß gemacht hat. Ich kam mir vor wie der größte Gauner! Aber sagt mal, was befindet sich denn nun in dem Ding?«
»Alte Dokumente, glaube ich«, sagte Hap.
»Nein, da muss noch mehr drin sein«, erwiderte Barkin. »Horcht mal.« Er kippte die Schatulle erst auf die eine und dann auf die andere Seite. Irgendetwas kullerte darin herum, stieß an die Seitenwand, rollte wieder zurück und polterte dann gegen die andere Wand. »Was mag das wohl sein?«
»Wie ich Umber kenne, ein Totenschädel«, sagte Welkin. Er wurde es müde, das Bier für Barkin in der Hand zu halten, und leerte den Krug in einem Zug bis zur Hälfte.
»Das werden wir bald herausfinden. Vorausgesetzt, Umber kann die Kiste öffnen«, sagte Barkin.
Welkin verdrehte die Augen. »Die Schlüssel hast du nicht mitgebracht?«
»Die konnte ich nicht finden«, sagte Barkin. »Aber ich bin sicher, Lord Umber schafft das.«
Hap nickte; er wusste, dass das kein Problem sein würde. Umber hatte einen Schlüssel, mit dem man jedes Schloss der Welt aufbekam – eins seiner außergewöhnlichen, magischen Besitztümer. Nein, die Schatulle zu öffnen, war nicht das Problem.
Umber selbst war das Problem.
»Lord Umber?«
Hap suchte die Gärten auf dem Dach von Aerie ab. Umber war nicht an seinem bevorzugten Platz, der Bank unter seinem Lieblingsbaum, welcher wie immer unter einer Vielzahl an Früchten und Beeren zusammenzubrechen drohte. Auch sonst konnte Hap Umber nirgends finden, er saß weder auf einer anderen Bank, noch lehnte er am Balkon. Die Tür zu Umbers kleinem runden Turm war verschlossen, das Fenster zu seinem Arbeitszimmer hoch oben jedoch geöffnet und die Fensterläden waren weit aufgerissen. Der Vorhang wölbte sich in einer kurzen Brise. Also wird er da drinnen sein und Trübsal blasen, dachte Hap. Er überlegte kurz, zum Fenster hochzuspringen, um einen schnellen Blick zu riskieren, ließ es dann aber doch lieber bleiben.
Nach ihrer Rückkehr aus Sarnica, wo sie ein Versteck mit gestohlenen Dracheneiern ausgehoben und ein lebendes Drachenjunges gerettet hatten, war Umber in hoffnungslose Melancholie versunken. Sie hatten auf dieser Reise große Erfolge gefeiert – ein Königreich befreit, Tyrannen entthront und Rätsel gelöst. Doch bei ihrer Rückkehr warteten schreckliche Neuigkeiten auf sie: Prinz Galbus, ein guter Mann, der dem alten König auf dem Thron nachfolgen sollte, war gestorben. Diese Nachricht hatte Umber in Verzweiflung gestürzt, weil sie all seine Hoffnungen auf ein besseres Königreich zunichtemachte.
Umber war ein Mann der Extreme. Meistens befand er sich in einer Stimmung ausgelassener, rast- und furchtloser, ja geradezu überschäumender Lebensfreude. Doch oft versetzten ihn auch Erinnerungen an die Zerstörung der Welt, aus der er ursprünglich stammte, oder schlimme Nachrichten wie die vom Tod des Prinzen Galbus in einen Zustand erdrückender Traurigkeit. Dann erlahmten seine Lebensgeister, seine Energie verschwand zusammen mit seinem Appetit und er entzog sich jeder Art von Gesellschaft.
»Lord Umber?«, rief Hap erneut und trat einen Schritt zurück. So konnte er ein Stück von Umbers Kopf sehen; offenbar saß er in sich zusammengesunken am Schreibtisch. »Barkin ist zurück! Er hat eine Schatulle mitgebracht, die Ihre geheimen Dokumente aus dem Archiv enthalten muss. Endlich können wir mehr über die Fädenzieher in Erfahrung bringen. Ist das nicht aufregend?«
Umbers Kopf neigte sich zur Seite.
»Aber die Schatulle ist verschlossen«, fuhr Hap fort. Um sicherzugehen, dass ihm niemand auf die Dachterrasse gefolgt war, schaute er sich prüfend um, dann sagte er: »Aber ich bin sicher, Sie können sie öffnen … wenn Sie wissen, was ich meine.« Er wartete, bekam jedoch keinerlei Antwort. Seine Hoffnung, Umber durch diese Neuigkeit aus seiner gedrückten Stimmung zu reißen, schwand. Frustriert stampfte er mit dem Fuß auf. Und das, wo er es doch gar nicht erwarten konnte nachzuschauen, welche Geheimnisse die Kiste barg. »Ich könnte sie auch selbst öffnen, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, schlug er vor.
Umber erhob sich und trat ans Fenster. Haps Herzschlag setzte für einen kurzen Moment aus, weil er dachte, Umber würde etwas sagen, was die Rückkehr seines vergnügten Wesens bezeugte – oder wenigstens den Schlüssel hinunterwerfen, damit Hap ihn benutzen konnte.
Doch stattdessen zog Umber einfach die Läden zu. Hap sah, wie Umbers verhärmtes, fahles Gesicht aus seinem Blickfeld verschwand, ein Gesicht, aus dem alle Fröhlichkeit gewichen war.