5
Während die Bounder von Chastor wegsegelte, folgte ein Krug Kaffee auf den nächsten. Dann stopfte Umber Obst, Brot, Fisch und Käse in sich hinein und spülte alles mit einem Becher Bier hinunter. Allmählich kam Farbe in das schon so lange schrecklich blasse Gesicht, und Hap seufzte vor Erleichterung, als auch erste Anzeichen von Umbers fröhlichem Wesen zurückkehrten: ein Zwinkern in den Augen, ein Zucken der Braue, herumfuchtelnde Hände und unruhig zappelnde Füße. Umber sprach wenig, doch schließlich blickte er auf und lächelte zaghaft. Das Gefühl der Enge, das Hap in der Brust verspürt hatte, seit Umber in seine düstere Stimmung verfallen war, verschwand allmählich.
Umber tupfte sich die Mundwinkel mit einer Serviette ab. »Nun«, sagte er mit vom mangelnden Gebrauch heiserer Stimme, »mit Hameron hat es ein schreckliches Ende genommen.« Hap und die anderen nickten. »Er war unzweifelhaft ein Lump«, fuhr Umber, nun schon lauter, fort, »aber so etwas hat niemand verdient. Trinken wir auf ihn!« Er hob den Kelch und Balfour tat es ihm nach, während Hap und Sophie an dem Apfelsaft nippten, den Balfour ihnen gebracht hatte.
Umber lehnte sich zurück, rülpste leise und tätschelte seinen dicken Bauch. »Wo ist Oates?«
»Er sitzt in seiner Kabine und grämt sich«, erklärte Balfour. »Es setzt ihm zu, dass er … du weißt schon.«
»Oje«, sagte Umber. »Aber es war doch nicht seine Schuld, dass Hameron die Eier gestohlen hat. Und stellt euch erst mal vor, was passiert wäre, wenn der Drachenfürst die ganze Wahrheit erfahren hätte. Wenn diese Drachen sich nicht nur an Hameron gerächt hätten, hätten sie womöglich das gesamte Schiff verbrannt. So gesehen hat Hameron uns wahrscheinlich alle gerettet.« Umber schlug auf den Tisch. »Aber hast du diese großartigen Kreaturen gesehen, Sophie? Hast du auch genau hingeschaut, damit du sie zeichnen kannst? Diese Flügel, diese Schwänze – unglaublich! Aber ich glaube, das Beste ist, dass wir die Sache nicht weiter untersuchen, oder, was meint ihr? Wer hätte gedacht, dass ich mal so etwas sagen würde! Ha!« Er trommelte mit den Handflächen auf dem Tisch herum. Hap schüttelte den Kopf; er war erstaunt, wie schnell Umber aus seiner beinahe tödlichen Melancholie erwacht war.
Plötzlich erstarrte Umber mit den Händen über der Tischplatte. Sein Kopf flog zu Balfour herum. »Äh… Balfour. Mein letzter Schub … der war schlimm, oder?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Und hat Wochen gedauert?«
»Ja, das stimmt.«
Umber kniff sich in die Nasenspitze. »Wie immer erinnere ich mich nicht an viel aus dieser Phase … aber ich habe so ein seltsames Gefühl … Habe ich Fay gesehen? Balfour, ist Fay nach Aerie gekommen … während ich … du weiß schon?«
Balfour verzog den Mund und kratzte an einem Astloch in der Tischplatte herum. »Wer? Fay? Nun ja. Ja, die war da.«
Umber schlug sich gegen die Stirn. »Und hat sie mich gesehen? Von Angesicht zu Angesicht, meine ich? Hast du sie zu mir gelassen?«
Balfour zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ich … Ich hatte gehofft, es würde dir helfen. Du weißt schon, dich aus deinem Zustand reißen …«
Umber legte den Kopf in den Nacken und schmunzelte reumütig die Decke an. »Ich nehme nicht an, dass ich einen tollen zweiten Eindruck hinterlassen habe.«
Balfour und Hap wechselten einen Blick. »Was?«, fragte Umber, als er es sah. »Noch was? Was ist passiert? Fay ist doch noch in Kurahaven, oder?«
Balfour schien zusammenzuschrumpfen. »Ja, schon.«
»Wo habt ihr sie untergebracht? Doch an einem angenehmen Ort, oder? In deinem alten Gasthaus, Balfour?«
Balfour starrte auf den Tisch hinunter und antwortete nicht.
»Sophie? Hap?«, sagte Umber und schaute von einem zum anderen. »Sagt mir mal einer, was los ist?«
Oates wählte genau diesen Moment, um in die Kajüte getrampelt zu kommen, mürrisch und mit verquollenen Augen. Umber warf Balfour einen frustrierten Blick zu und rief: »Oates, da bist du ja!«
»Ja, da bin ich«, grummelte Oates. »Und dir geht’s besser. Wurde aber auch Zeit.«
»Danke für die netten Worte«, erwiderte Umber eingeschnappt. »Aber ich brauche gerade eine ehrliche Antwort: Was ist passiert, nachdem Fay mich auf Aerie besucht hat?«
Oates sah die anderen stirnrunzelnd an; dass ihm die Aufgabe zufiel, das zu erklären, gefiel ihm gar nicht. »Plötzlich ist Loden aufgetaucht; genau in dem Moment, als Fay und das kleine Mädchen aufbrechen wollten. Er hat Fay bezirzt und sie überredet, mit ihm zum Palast zu fahren. Und da ist sie immer noch, soweit wir wissen.«
Umber blieb der Mund offen stehen. Oates zuckte die Achseln, ließ seinen schweren Körper auf einen Stuhl fallen und schaufelte sich den Teller voll.
Hap beobachtete voller Angst, wie erneut alle Farbe aus Umbers Gesicht wich. Er beugte sich über den Tisch und umklammerte Umbers Arm. »Die geheimen Unterlagen, die Caspar geklaut hat, Lord Umber, die Dokumente über die Fädenzieher! Caspar hat sie in einer Schatulle aufbewahrt und die ist hier auf dem Schiff!«
Umbers Kopf schnellte hoch. »Hier? In einer Schatulle? Und was ist drin?«
Hap grinste. »Sie ist noch ungeöffnet. Ich wollte warten, bis es Ihnen besser geht.«
Umber stand auf und rieb sich die Hände. »Dann ist die Wartezeit jetzt abgelaufen. Lass sie uns sofort aufbrechen!«
Hap erhob sich ebenfalls und Balfour schloss sich ihnen an. Umber legte Balfour eine Hand auf die Schulter. »Mein lieber Freund«, sagte Umber, »ich glaube, Hap und ich sollten das allein machen. Wäre das sehr schlimm für dich?«
Balfour ließ die Schultern hängen. »Nein, gar nicht, Umber. Macht ihr nur. Die Schatulle stand die ganze Zeit in deiner Kabine.«
Umber und Hap saßen, Caspars Schatulle zwischen sich, im Schneidersitz auf dem Fußboden.
Umber ließ die Schultern kreisen und dehnte seinen Hals; ganz allmählich kehrte das Leben in ihn zurück. Dann kniff er die Augen zusammen und spähte auf Haps Kopf. »Du hast in der Zwischenzeit mehr von diesen Haaren bekommen, Hap«, sagte er. »Es sind bestimmt doppelt so viele wie vorher.«
»Ja, ich weiß«, antwortete Hap in einem kläglichen Ton. Einmal hatte er eins von ihnen ausgerissen, um es näher zu untersuchen. Auf den ersten Blick hatte es weiß ausgesehen, doch bei genauerer Betrachtung schimmerten Farben darin, als wären es auf einen Faden aufgezogene Diamanten. Das Haar hatte sogar ein bisschen Ähnlichkeit mit den Lichtfäden gehabt, die er hin und wieder sah. Er vermutete, dass die Veränderung seiner Haare zu seiner schrittweisen Verwandlung in einen Fädenzieher gehörte. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihm ganz anders, weshalb er Umbers Aufmerksamkeit schnell zurück auf die Schatulle lenkte. Er klopfte mit dem Finger dagegen. »Da ist noch etwas anderes drin. Man hört es darin herumkullern.«
Umber zog die Augenbrauen hoch. Er stieß die Schatulle an und es erklang ein dumpfes Klackern. »Jetzt bin ich aber doppelt neugierig.« Er zog die Kette über seinen Kopf, an dem der außergewöhnliche Schlüssel baumelte. Noch während er wie ein Pendel hin und her schwang, veränderte er seine Gestalt so, dass er in das nächstgelegene Schloss passte. Umber öffnete zuerst die Vorhängeschlösser und die Ketten fielen rasselnd zu Boden. Dann steckte er den Schlüssel in das Schloss der Schatulle und drehte ihn herum. Der Deckel hob sich mit einem ganz leisen Quietschen in den gut geölten Angeln.
Hap grub die Fingerspitzen in seine Knie. In dieser Schatulle befanden sich die gestohlenen Geheimnisse der Fädenzieher; die Antworten, die er suchte, seit er vor Monaten ohne jede Erinnerung in einer unter Vulkanasche begrabenen Stadt aufgewacht war.
Umber spähte ins Innere. Seine Augenbrauen hoben sich und seine gespitzten Lippen verzogen sich zu einem winzigen Lächeln. Dann griff er mit beiden Händen hinein und hob einen Gegenstand heraus, der in schweres Segeltuch gewickelt war. Er drehte ihn hin und her und zeigte Hap seine dicke ovale Form. »Hmm. Errätst du, was das sein könnte, Hap?«
Hap kräuselte die Nase. Die Vermutung, die schon jemand anders geäußert hatte, erschien ihm allzu wahrscheinlich: »Ein Totenschädel?«
»Gute Antwort! Lass uns mal nachsehen«, sagte Umber. Er drehte den Gegenstand in seiner Hand, um das Tuch abzuwickeln. Hap wappnete sich für den Anblick leerer Augenhöhlen und eines erstarrten Grinsens.
»Autsch!«, Umber saugte an seinem Daumen. Dann stellte er das Ding auf den Boden und entfernte behutsam die letzten Teile des Segeltuchs. Zum Vorschein kam ein großer brauner Gegenstand, der sich an einem Ende zu einer stumpfen Spitze verjüngte und mit langen Stacheln versehen war.
Hap schob seinen Kopf näher heran. »Was ist das?«
»Eine Nuss!«, verkündete Umber und blinzelte den Gegenstand an. »Glaube ich zumindest. Wir haben hier eine große stachelige Nuss vor uns.«
Hap runzelte die Stirn. »Aber die hat doch nichts mit den Fädenziehern zu tun, oder?«
»Wahrscheinlich nicht. Ich nehme an, dass Caspar sie in irgendeiner Ecke von Aerie gefunden hat und dann beschlossen hat, sie ebenfalls zu klauen.« Umber faltete die Finger zusammen und ließ sie knacken. »Aber legen wir sie einfach mal für einen Augenblick beiseite. Die Antworten, auf die wir die ganze Zeit gewartet haben, liegen direkt vor uns!« Er griff in die Schatulle und holte ein in Leder gebundenes Notizbuch heraus.
»Das sieht ja aus wie eins von Ihren Notizbüchern«, sagte Hap.
»Caspar hat dieselbe Sorte benutzt«, antwortete Umber. Seine Miene entspannte sich, als er die ersten Seiten überflog. »Und das ist Caspars Handschrift. Oh, das wird sehr hilfreich sein.« Er bemerkte, dass Hap sich vorbeugte, und drehte die Seiten so, dass er besser sehen konnte. »Hier hat er alles zusammengefasst, was er den Dokumenten entnehmen konnte.«
Umber legte das Notizbuch auf seinen Schoß und holte einen Stapel mit alten Pergamentpapieren aus der Schatulle. »Das hier ist das Quellenmaterial, und in dem Notizbuch finden wir die Schlussfolgerungen, die Caspar daraus gezogen hat. Wie großartig! Ich sag dir was. Du versuchst dich an dem alten Kram, weil du all diese Sprachen kannst, und ich lese mir das Notizbuch durch.«
Hap war über eins der alten Dokumente gebeugt, das in der untergegangenen Sprache eines fernen Landes geschrieben war und von einem seltenen Volk bösartiger grünäugiger Menschen handelte. Er hatte es halb durchgelesen, als Umber mit feierlicher Miene das Notizbuch sinken ließ. »Happenstance«, sagte er.
Hap bekam jedes Mal einen Schreck, wenn Umber seinen Namen vollständig aussprach. »Was ist?«
»Möchtest du wissen, wie Fädenzieher entstehen?«
Hap bekam sofort einen trockenen Mund vor Nervosität und sein Puls schien dreimal so schnell zu rasen. »W-Wie denn?«
»Es gibt eine Essenz – eine Flüssigkeit. Die wird in die Augen von jemandem geträufelt, der vor kurzem … nun, du weißt schon …« Umber holte tief Luft. »… verstorben ist.«
Hap zitterten die Glieder. Es war nicht unbedingt ein Schock, denn sie waren sich auch vorher schon fast sicher gewesen, dass Julian Penny, sein altes Ich, ertrunken war und dass sein Tod von einem Fädenzieher namens Willy Nilly in Kauf genommen worden war. Trotzdem traf ihn diese Bestätigung wie ein Schlag in die Magengrube.
»Eine … Essenz hat mich gemacht?«, fragte Hap und betastete seine Augenwinkel.
Umber nickte. »Sie hat dir deine ungewöhnlichen Begabungen verliehen – deine allumfassenden Sprachkenntnisse, deine Nachtsicht, deine kräftigen Beine und natürlich die Fähigkeit, diese Lichtfäden zu sehen. Außerdem hat sie deine alten Erinnerungen ausgelöscht.« Er schaute wieder in das Notizbuch. »Und es gibt nur eine Quelle für diese Essenz.«
Hap wartete.
»Das wird dir nicht gefallen«, sagte Umber. Er klappte das Büchlein zu, legte aber einen Finger zwischen die Seiten, die er gerade las.
Hap schluckte. »Mir hat noch nie irgendetwas davon gefallen.«
Umbers untere Zahnreihe drückte sich in seine Oberlippe. »Diese Essenz wird den Augen eines anderen Fädenziehers entnommen. Das ist die einzige Möglichkeit, an sie heranzukommen.«
»Das heißt also …« Hap wurde ganz schwindlig, während er verzweifelt versuchte, die naheliegende Schlussfolgerung von sich wegzuschieben.
»Das heißt, dass ein anderer Fädenzieher sterben musste, damit du gemacht werden konntest«, sagte Umber. »Oder er wurde geblendet.«
Hap presste die Handflächen auf seine Augen. Stöhnend wiegte er sich vor und zurück. Die Liste der Schrecken wurde immer länger. Er dachte an den armen Julian Penny – den Jungen, der er gewesen war und der doch ein Fremder für ihn war. Er dachte an Julians Eltern und die schicksalhafte Verkettung von Umständen, die ihn den Händen eines Monsters ausgeliefert hatte. Und jetzt hatte auch noch jemand anders seine Augen verloren und wahrscheinlich auch sein Leben, damit Hap ein Fädenzieher werden konnte. »Glaubst du, Willy Nilly hat das getan? Einen anderen Fädenzieher getötet, meine ich?«
»Möglicherweise«, sagte Umber. Er berührte Hap an der Schulter. »Mach dir keine Vorwürfe. Du hast um nichts von alldem gebeten. Es ist dir einfach passiert. Aber vergiss nicht: Du musst an das denken, was vor dir liegt, auch wenn du deine Entstehung einer Tragödie verdankst. Wir werden eine Welt retten, du und ich. Eine Milliarde Menschenleben oder mehr.«
Hap nickte und wischte sich eine Träne quer über die Wange. »Was hat Caspar denn sonst noch in Erfahrung gebracht?«
Umber klappte das Büchlein wieder auf. »Möchtest du, dass ich es dir erzähle, während ich lese, oder willst du alles auf einmal hören, wenn ich fertig bin?«
»Währenddessen.«
Hap beendete die Lektüre des alten Dokuments und nahm das nächste zur Hand. Darauf waren all die Namen aufgelistet, die irgendwo auf der Welt für die Fädenzieher verwendet worden waren: Springer, Pfuscher, Hüpfer, Schicksalsfürsten, Eingreifer, Wanderer, Grünaugen …
Als er aufschaute, sah er, dass Umber das Notizbuch schlaff in den Händen hielt und ausdruckslos vor sich hinstarrte. »Wie konnte ich nur so dumm sein?«, murmelte er. Das Notizbuch glitt ihm aus der Hand und knallte auf den Boden.
Hap stand auf, sein Magen zog sich zusammen. »Lord Umber?«
Umber schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. »Happenstance. Ich habe dir doch gesagt … Ich habe dir versprochen …« Er verdrehte die Augen und schloss sie dann. »Ich habe dir gesagt, wenn deine Fähigkeiten voll ausgebildet sind, könntest du in die Welt springen, aus der ich komme … und ich habe dir versprochen mitzukommen.«
Hap nickte, aber Panik kroch in ihm hoch wie eine Spinne. »Und das werden Sie doch auch, oder? Sie werden mir helfen?«
Umber starrte auf das Büchlein zu seinen Füßen. »Wir wissen, dass ein Fädenzieher einen anderen Menschen mitnehmen kann. Willy Nilly hat dich getragen – über Hunderte Meilen hinweg und durch sieben Jahre in die Zukunft, wo ich dich dann gefunden habe. Und ich bin sicher, dass auch mich ein Fädenzieher hierher gebracht hat, und zwar auf dieselbe Art und Weise, aus meiner Welt in seine. Vielleicht war das auch Willy, denn er hat uns schließlich zusammengebracht. Das würde Sinn ergeben, oder?«
»Ja«, sagte Hap.
»Das ist also nicht das Problem.« Umber grimassierte und zog eine Augenbraue hoch. »Aber wenn es stimmt, was Caspar herausgefunden hat … dann kann niemand zwei Mal durch die gleiche Zeit reisen. Weder ein Mensch noch ein Fädenzieher.«
»Aber …« Hap versuchte etwas zu sagen, konnte jedoch keine Frage formulieren und ließ schließlich einfach den Mund offen stehen.
»Hap, um meine Welt zu retten, musst du in ihre Vergangenheit springen. Und du kannst das auch, weil du noch nie dort gewesen bist – es ist nicht deine Vergangenheit. Aber es ist meine Vergangenheit. Ich kann nicht dorthin zurückkehren, außer ich springe in eine Zeit, die nach meinem Abschied von dort liegt. Aber das wäre natürlich zu spät. Dann wären ja alle Katastrophen schon passiert.«
Hap versuchte zu erfassen, was dies genau für ihn bedeutete. »Sie meinen … ich muss es allein tun? Sie werden nicht da sein, um mir zu helfen?«
Umber schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich mitkommen würde, wenn es irgendwie ginge. Aber ich glaube, es gibt keine Möglichkeit.« Er hob das Notizbuch vom Boden auf. »Vielleicht hat Caspar sich auch geirrt, Hap. Oder seine Quelle war falsch. Wir lesen einfach weiter, einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte Hap, doch während Umber wieder in das Notizbuch schaute, legte Hap die Arme um seine Knie und starrte ins Leere.
»Ich glaube, wir könnten eine Pause und ein bisschen frische Luft gebrauchen«, sagte Umber nach einer Weile. Er nahm das Segeltuch und wickelte es wieder um die stachelige Nuss. »Wenn ich nur wüsste, was das ist«, sagte er, reckte plötzlich den Hals und riss die Augen weit auf. »Moment mal! Ich kenne jemanden, der es vielleicht weiß. Komm mit, Hap!«
Umber und Hap betraten die Hauptkajüte des Schiffs. Balfour saß am Esstisch und hatte das Kinn in die Hände gestützt. »Balfour!«, rief Umber. »Hast du Sandar gesehen? Ist er auf dem Oberdeck?«
Balfour blickte auf. Es entstand eine seltsame kleine Pause, dann zeigte er mit dem Daumen auf die Kapitänskabine.
»Hervorragend«, sagte Umber. »Dein Kaffee hat mir so wahnsinnig gutgetan, alter Freund. Meinst du, ich könnte in näherer Zukunft noch so einen Becher bekommen?«
Balfour seufzte schwer. »Was immer du sagst, alter Freund.« Er schob seinen Stuhl geräuschvoll unter den Tisch und verschwand ohne ein weiteres Wort in der Kombüse.
Umber schaute zu, wie er mit verkniffenem Mund den Raum verließ. »Eigenartig. Wie’s aussieht, ist zur Abwechslung mal jemand anders schlecht drauf«, sagte er achselzuckend. Er ging zur Heckseite des Decks und klopfte an die Tür zur Kapitänskabine. »Herein!«, rief Sandar von drinnen. Umber öffnete die Tür und winkte Hap heran.
Die Kapitänskabine war auf der Bounder, wie auch auf jedem anderen Schiff, der größte und schönste Raum. Die gebogene Wand gegenüber der Tür war das Heck, und es war mit Glasscheiben versehen, durch die man aufs Meer hinausschauen konnte. Sandar stand, den Kopf auf die Arme gestützt, da und schaute auf das schäumende Kielwasser der Bounder hinaus.
»Ich möchte, dass wir unseren Kurs ändern, Kapitän«, sagte Umber. »Nichts Gravierendes, ich will nur auf dem Heimweg noch einen Zwischenstopp einlegen, weil ich jemanden besuchen muss.«
Sandar blieb mit dem Rücken zu ihnen stehen. »Sind Sie sicher, dass Sie mir zutrauen, diesen Ort zu finden?«
Umber legte den Kopf schief. »Ja, natürlich. Warum fragen Sie das?«
Sandar drehte sich mit einer steifen Bewegung um. »Weil ich mich entschuldigen muss. Ich habe die Bounder zu dicht an die Küste herangefahren. Deshalb musste Hameron sterben, und wir hätten sogar das ganze Schiff verlieren können, jeden einzelnen Mann.«
Umber schürzte die Lippen und kratzte sich an der Schläfe. »Hören Sie, Sandar. Das ganze war ein riskantes Unternehmen. Geradezu tollkühn! Aber wir haben erreicht, was wir erreichen wollten, und ein schreckliches Unrecht wiedergutgemacht. War Hamerons Leben mehr wert als die Leben dieser Drachen? Das zu beurteilen steht uns nicht zu. Also geißeln Sie sich nicht wegen eines Fehlers, Sandar.«
Der Kapitän atmete tief durch und nickte. »Danke, Lord Umber. Bitte verstehen Sie mich richtig … es ist mir eine Freude, Ihnen als Kapitän zu dienen, und ich bin stolz darauf. Aber ich mache mir Sorgen, dass Ihr Vertrauen in mich erschüttert sein könnte.«
»Nein, ganz und gar nicht. Und das ist auch gut so. Denn ich bitte sie um einen großen Gefallen, was unsere Heimreise betrifft.«
Sandar nahm Haltung an und reckte das Kinn vor. »Nur zu, Lord Umber.«
»Ich muss bald wieder in Kurahaven sein. Aber wir müssen erst noch einen Umweg machen. Bringen Sie uns zur Grünen Insel. Ich betone noch einmal: Es ist sehr wichtig, dass dies schnell vonstattengeht. Wann können wir dort sein, Kapitän?«
Der Absatz von Sandars Stiefel knallte auf den Holzboden, und er setzte einen entschlossenen Blick auf. »Wir werden jedes Segel hissen, das wir haben. Und wenn uns das schneller macht, hänge ich meine Wäsche noch dazu. Die Bounder wird Sie dorthin bringen, noch bevor morgen die Sonne untergeht, oder Sie können mich über Bord werfen.«
Sandar stürmte an ihnen vorbei aus der Kabine. Sie hörten ihn brüllen, während er aufs Oberdeck lief. »Beeilt euch, Männer, setzt die Segel! Ist der Bugspriet schon repariert? Flitzt die Webleinen hoch, Jungs, wir wollen mal sehen, wie schnell unsere Bounder sein kann!«
Umber grinste und stieß Hap mit dem Ellenbogen an. »Eigentlich sind wir gar nicht so in Eile, aber unser guter Kapitän braucht das Gefühl, dass er etwas wiedergutmachen kann.«
Hap hörte diesen Kommentar kaum. Er hatte genügend von Umbers Reisezielen gesehen, um eine gesunde Angst vor ihnen entwickelt zu haben. Seine brüchige Stimme verriet seine Sorge: »Was ist die Grüne Insel, Lord Umber?«
Umbers Lächeln wurde breiter und er wuschelte Hap durch die Haare. »Nichts, wovor du Angst zu haben brauchst! Ich habe dort einen Freund, der vielleicht weiß, was es mit dieser stacheligen Nuss auf sich hat. Und den habe ich ohnehin schon viel zu lange nicht besucht. Einen echten Zauberer hast du noch nicht getroffen, oder, Hap? Das wirst du aber bald – und noch dazu eine ganz besondere Art von Zauberer!«