7

Nach ein paar Dutzend Schritten endete der Tunnel, und sie traten auf eine Lichtung hinaus. Im Inneren der riesigen Hecke, die die Insel umgab, flatterten Schmetterlinge herum und das Summen von Bienen erfüllte die Luft. Sie folgten dem steinernen Pfad bis in die Mitte der Insel, wobei sie schmale Streifen extrem unterschiedlicher Vegetation durchquerten. Sie kamen an einer duftenden Wiese mit leuchtenden Blumen in hundert verschiedenen Farben vorbei; Rehe und Hirsche grasten darauf und beobachteten die Vorbeiziehenden gelangweilt und gleichgültig. Daneben stand eine Gruppe Kiefern inmitten eines Teppichs herabgefallener Nadeln.

»Denkt alle daran, keine Blumen zu pflücken«, sagte Umber. »Und nehmt euch auch keine Früchte, es sei denn eine Ranke bietet euch etwas an.«

Als Nächstes kamen sie an einer sandigen Stelle vorbei, an der Kakteen wuchsen und Schildkröten herumkrabbelten und ihre Hälse reckten. Noch immer zog sich die Ranke vor ihnen her und wölbte und streckte sich wie eine Raupe, während sie ihren Weg fortsetzte.

»Wie lang ist dieses Ding denn?«, fragte Hap Sophie.

»Sehr lang.«

Schließlich erreichten sie das Herz der Insel, einen seltsam feuchten Garten voller exotischer Pflanzen, Büsche und Bäume. Dort verzweigte sich der Weg in kleinere Pfade, die sich über die Lichtung schlängelten. »Bleibt immer auf den Steinen, tretet nicht auf die Pflanzen«, mahnte Umber, aber Hap war schon von selbst darauf gekommen, dass das wohl das Klügste wäre. »Es gibt allerdings auch einige Moosflechten, denen es nichts ausmacht, wenn man sich auf ihnen ausruht.«

Sie kamen an einem Strauch mit leuchtend orangenfarbenen Blüten vorbei, die sich schlossen, als sie vorbeigingen. »Sie haben Angst vor Fremden«, erklärte Umber. In der Nähe stand eine Gruppe blassblauer Pilze, die so groß waren, dass Oates unter ihren Hüten hätte spazieren gehen können. Hoch aufragende Farne wehten in der sanften Brise.

Als sie die Lichtung betraten, kam ein Vogel mit einem langen blauen Schwanz aus dem hoch stehenden Gras geschossen, und als Hap ihm mit den Augen folgte, erspähte er vor ihnen ein altes Gebäude.

Es war ein aus groben weißen Steinen erbautes Haus mit einer Kuppel und bogenförmigen Öffnungen in den gekrümmten Mauern, die Luft und Licht hindurchließen. Zu beiden Seiten dieses Hauses standen modernere Gebäude: lange rechteckige Gewächshäuser aus Schmiedeeisen und milchigem Glas. In ihrem Innern erblickte Hap ein wildes Durcheinander an merkwürdigen Pflanzen, die in feuchter Luft wuchsen und sich an die beschlagenen Fensterscheiben drückten.

Die Ranke, der sie gefolgt waren, rollte sich zusammen wie eine Schnecke, wobei die Ringe sich sehr hoch auftürmten. Aus allen bogenförmigen Öffnungen kamen noch mehr von diesen blassgrünen und blutroten Armen und krochen wie die Tentakel eines Meerestieres in den Garten. Einige wuchsen in die Höhe, legten sich über das Kuppeldach und teilten sich in schlanke Finger, die die Steine vielleicht überhaupt erst an Ort und Stelle hielten.

Hap zupfte Umber am Ärmel. »Diese Ranken. Stammen die alle von einer einzigen Pflanze?«

Umber nickte. »Das alles ist Dendra.«

Ein alter Mann in einer langen braunen Robe kam, auf einen gewundenen Stock gestützt, durch einen der Durchgänge gehumpelt. Eine weitere kleine Ranke schwebte wie ein Geländer neben seinem Ellenbogen. Der Mann war ohnehin schon nicht groß, wirkte aber wegen seines gebeugten Gangs noch kleiner. Sein krummer Rücken zwang seinen Kopf nach unten, so dass er den Hals recken musste, um seine Besucher anblinzeln zu können. Sein dünnes seidiges Haar hing ihm über die Ohren, aber oben auf dem Kopf war der alte Mann, von dem dort wachsenden faserigen grauen Moos abgesehen, kahl. Aus seinem dichten Bart schauten winzige weiße Blumen hervor. »Wer ist das? Wer ist da?«

Hap warf einen Seitenblick auf Sophie. »Hat Lord Umber ihm nicht eben erst gesagt, dass wir es sind?« Sie bedeutete ihm, leise zu sein, und runzelte sorgenvoll die Stirn.

»Ich bin’s, Fendofel«, rief Umber ziemlich laut. »Umber! Erinnerst du dich?«

Fendofels Mund öffnete sich zu einem fast zahnlosen Lächeln, und er klopfte sich mit den Fingerknöcheln an den Schädel. »Ich alter Dummkopf! Ha, ha, natürlich, du hast mir ja erst vor einer Minute gesagt, dass du es bist!«

Das Haus war von einem schmalen Wassergraben umgeben, und Fendofel kam über eine der kleinen Brücken gehumpelt, die sich darüberspannten. Die Ranke schwebte auf der Höhe seines Ellenbogens neben ihm her und schoss nach rechts und nach links, je nachdem in welche Richtung der alte Mann schwankte.

Umber ging ihm entgegen und nahm den alten Zauberer beim Ellenbogen. »Wie wunderbar, dich wiederzusehen.«

Fendofel war einen Kopf kleiner als Umber, und seine Triefaugen glänzten, als er aufschaute. »Ganz meinerseits, ganz meinerseits! Aber schau dich an, Umber, mein Junge – dünn bist du geworden. Nur noch Haut und Knochen.«

»Mir geht es gut, Fendofel«, sagte Umber.

Der Zauberer begutachtete ihn blinzelnd von Kopf bis Fuß. »Du siehst aber nicht gut aus. Und sag mal, wie geht es denn meinem Baum mit den vielen Früchten? Ich hoffe, er ist gesünder als du?«

»Er ist gesund und kräftig, genau wie ich«, sagte Umber kichernd. »Du erinnerst dich sicher an diese lieben Leute, Fendofel.« Umber wies mit dem Arm auf Balfour, Sophie und Oates.

»Ich … oh, ja, natürlich erinnere ich mich«, sagte Fendofel. Er legte eine Hand an den Mund, um Umber etwas zuzuflüstern, doch alle konnten gut hören, was er sagte: »Sei so gut und sag mir schnell noch mal ihre Namen, mein Junge.«

Hap bemerkte die Sorge in Umbers Blick, auch wenn er lächelte. »Natürlich«, antwortete Umber und legte seine Hand auf Fendofels Schulter. »Wir haben hier meinen lieben Freund Balfour, den wunderbaren Oates und die beste Bogenschützin und Künstlerin des ganzen Königreichs, die junge Sophie. Aber diesen jungen Mann kennst du noch nicht«, sagte Umber und zeigte auf Hap. »Dies ist mein Mündel, Happenstance. Oder kurz Hap.«

Fendofel beugte sich in Haps Richtung, blinzelte ihn an und grinste. Um seinen Hals hing eine silberne Kette mit einem Medaillon, auf dem ein riesiger grüner Kristall saß. Der alte Zauberer streckte die Hand nach Hap aus und unter dem weiten Ärmel kam ein dünner, knochiger Arm zum Vorschein. Seine Hände hatten Altersflecken, in ihren Falten und unter den Nägeln saß verkrustete Erde, und Hap war sich sicher, dass an seinem Handgelenk eine Flechte wuchs. »Happenstance. Was für ein großartiger Name … und oh, was für Augen du hast!«

Normalerweise fand Hap es beklemmend, dass seine Augen so viel Aufmerksamkeit erregten, doch für diesen gebrechlichen, liebenswerten Mann empfand er nichts als Wärme. »Danke«, erwiderte er mit einem ungezwungenen Lächeln.

»Deine Augen sind grün«, sagte der alte Mann. Er zwinkerte Hap zu. »Die schönste aller Farben! Kommt herein, tretet alle ein!«

Sie überquerten die Brücke, die sich über den Graben spannte. Darin wimmelte es von Wasserpflanzen, deren Blüten auf der Oberfläche trieben. Ein Exemplar bewegte sich vorwärts, indem es seine Wurzeln wie einen Propeller durchs Wasser wirbelte. Man hörte ein Platschen, und eine weitere Pflanze erhob sich mit einem zuckenden Frosch in ihren stacheligen, blattartigen Fängen aus dem Wasser. »Ihh!«, entfuhr es Hap, während er mit offenem Mund zusah.

Als sie ins Innere des Hauses kamen, spitzte Hap die Lippen zu einem stummen Pfeifen. Dendras Arme waren immer dicker geworden, je näher sie den Wurzeln kamen, und hier, in den Maueröffnungen des Hauses, waren die mit roten Wimpern versehenen Ranken so dick wie Säulen.

Dendra war vor langer Zeit unterhalb der Mitte der Kuppel entsprossen und dann wie ein Vulkan durch das solide Fundament gebrochen. Alle ihre Arme entsprangen einem massiven runden Gewächs von mindestens dreieinhalb Meter Durchmesser, das von einer runzligen Haut überzogen war, wie man sie auch bei Flaschenkürbissen fand. Dendra hielt nie lange still; immer wieder ging entweder ein Zucken durch einen der Arme oder die Spitze einer Ranke kam zurück ins Haus gekrochen.

Überall standen Steinbänke mit Moosgeflechten als Sitzkissen. Fendofel setzte sich mit einem frohen Seufzer. »Ach, Umber, sag mal: Wie geht es denn dem Baum mit den vielen Früchten? Geht es ihm gut?«

Umber erstarrte einen Moment und seine Augen wurden weich. »Er gedeiht prächtig, mein Freund«, sagte er und betrachtete den alten Zauberer nachdenklich. Haps und Balfours Blicke trafen sich, und Balfour zog die Augenbrauen hoch.

»Das freut mich zu hören«, sagte Fendofel mit einem zufriedenen Lächeln. Einer von Dendras dicken Armen glitt über den Steinboden und rieb sich sanft an Fendofels Bein. Hap fand, dass er wie eine verschmuste Katze aussah, die ihrem Besitzer um die Beine streicht. »Was führt dich her, mein Lieber?«

»Mein letzter Besuch liegt viel zu lange zurück«, sagte Umber und drückte den Arm des alten Zauberers. »Aber eigentlich bin ich gekommen, weil ich deinen Rat brauche.«

»Meinen Rat?«, wiederholte Fendofel, richtete sich auf und hob das Kinn. »Den gebe ich dir gern. Aber zuerst will ich die Wahrheit hören. Wie ist es dir ergangen? Jetzt mal ehrlich.«

»Mir?« Umber schaute zu Boden. »Oh, mir ist es gut ergangen.«

»Was soll das heißen, gut?«, dröhnte Oates. »Du hast wochenlang Trübsal geblasen. Wir dachten schon, du würdest schlappmachen und sterben.«

Umber strafte Oates mit einem tödlichen Blick. »Ich glaube, ich mache mal einen Spaziergang«, murmelte Oates.

»Oates, direkt da draußen wächst eine Pflanze, die äußerst spitze Stacheln hat«, begann Umber.

Oates, der schon am Eingang war, blickte zurück. »Und?«

»Ich möchte, dass du dich darauf setzt«, fuhr Umber fort. Oates verdrehte die Augen und verließ das Haus.

Fendofel legte die Fingerspitzen zusammen und schaute Umber vorwurfsvoll an. »Er ist wenigstens ehrlich. Es gibt keinen Grund, etwas vor mir zu verbergen, Umber, du Schlingel.«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, sagte Umber leise.

»Wie lächerlich. Ich kann dir doch helfen, du dummer Junge«, erwiderte Fendofel lächelnd. »Ich habe an einer Medizin für dich gearbeitet, und jetzt ist sie endlich fertig.« Er griff unter sich und berührte die Ranke neben seinem Knie. »Dendra, hol die Elatia, bist du so lieb?«

Ein anderer Arm der großen Ranke reagierte und kroch in einen der Gebäudeflügel aus Eisen und Glas. Nur einen Augenblick später tauchte er wieder auf, die Spitze um einen dunklen Keramiktopf mit einer buschartigen Pflanze gewunden. Die Ranke übergab die Pflanze Fendofels wartenden Händen und er reichte sie an Umber weiter.

»Sieht aus wie Minze«, sagte Umber, als er den Topf entgegennahm.

»Das ist Elatia«, sagte Fendofel. Er sprach den Namen sehr behutsam aus. »Sie kann dir vielleicht helfen, wenn du mal wieder in einer deiner trübsinnigen Phasen versinkst, mein Freund.«

Hap blickte die anderen an. Sophie lächelte mit offenem Mund und Balfour hatte die Augenbrauen erfreut bis zur Mitte der Stirn hochgezogen. »Das wäre ja großartig, wenn das funktioniert«, flüsterte Balfour, und Sophie nickte.

Umbers Blick ruhte auf der Pflanze. Er strich mit den Fingerspitzen über ihre Blätter. »Wirklich?«

Fendofel nickte kichernd. »Ich habe all meine Kunst darauf verwandt, sie zu erschaffen. Und jetzt hör mir genau zu, Umber: Wenn du spürst, dass wieder so ein Anfall kommt, pflück siebzehn Blätter ab und mach dir daraus einen Tee. Koch ihn so lange, bis die Blätter schwarz werden.«

»Bis die Blätter schwarz werden. Siebzehn«, sagte Umber. Er schaute Balfour an und zog die Augenbrauen hoch. »Siebzehn«, wiederholte Balfour.

Umber stellte die Elatia neben sich auf die Bank. »Was für ein Geschenk, Fendofel! Und alles, was ich dir als Gegenleistung anbieten kann, ist ein Rätsel.«

Fendofel lachte, aber das Lachen verwandelte sich in ein Husten, das so lange andauerte, bis der alte Mann völlig außer Atem war. Umber legte ihm eine Hand auf den Rücken, und eine von Dendras Ranken wand sich zärtlich um die Wade des alten Zauberers. »Ist schon gut, schon gut«, sagte Fendofel und winkte keuchend ab. »Was ist das denn für ein Rätsel, Umber?«

Umber nahm das Bündel, das Oates auf dem Boden zurückgelassen hatte. Er holte den schädelgroßen Gegenstand heraus und setzte sich mit dem Bündel im Schoß wieder hin. »Ich möchte wissen, ob du je schon mal so etwas gesehen hast«, sagte Umber. Dann knotete er das Tuch auf und enthüllte die riesige Nuss. »Pass auf die Stacheln auf!«

Fendofel beugte sich ganz nah heran, kniff ein Auge zu und riss das andere weit auf. »Was hast du denn da gefunden?«, flüsterte er. Umber hob die Nuss in ihrem Nest aus Stoff an und Fendofel ließ seine Hände unter das Ding gleiten, übernahm es vorsichtig und legte es auf die Bank. Er steckte seine Finger zwischen die Stacheln und drückte auf der Nuss herum. Dann führte er die Nase so dicht heran, wie er sich traute, und atmete tief ein. Anschließend kratzte er sich am Kinn und zog sich am Ohr. »Ich … Ich habe das Gefühl, dass ich so was schon mal gesehen habe. Dass ich mal wusste, was das ist … vor langer Zeit.« Er schaute Umber traurig an. »Aber ich kann mich nicht erinnern.«

»Glaubst du, dass es magisch ist?«, fragte Umber.

Fendofel konzentrierte sich, und Hap sah ihm seine zunehmende Frustration an. Er kräuselte die Nase und sein Mund zuckte. Anschließend klopfte er sich gegen den Schädel – zuerst ganz sanft und dann sehr viel fester. »Verflucht, Umber, mein Gedächtnis ist nicht mehr, was es mal war!« Er schaute Hap an. »Du musst mich ja für einen alten Trottel halten, äh…« Grummelnd versuchte er sich an den Namen zu erinnern.

»Happenstance«, sagte Hap leise.

»Ach, ja«, sagte Fendofel und ließ die Schultern hängen. »Ja. Happenstance. Ich wäre noch drauf gekommen, wenn du es mir nicht gesagt hättest.«

»Mach dir nichts draus, Fendofel«, sagte Umber. »Aber sag mal: Was, glaubst du, sollte ich mit diesem Ding machen?«

Fendofel betrachtete die Nuss erneut und berührte die Spitze eines Stachels mit dem Daumen. »Wo kommt es denn her?«

»Diese Nuss lag bei einigen Sachen, die mein ehemaliger Archivar mir gestohlen hatte. Ich nehme an, er hielt sie für wertvoll. Leider ist er jetzt tot, so dass ich ihn nicht mehr fragen kann, wo er sie gefunden hat. Wer weiß? Vielleicht lag sie ja irgendwo auf Aerie?«

»Sieht schrecklich alt aus«, sagte Fendofel. »Kann sogar sein, dass sie gar nicht mehr austreibt, wenn du sie einpflanzt.«

»Ist es denn einen Versuch wert?«

Fendofel blinzelte das Ding an. »Ich bin mir nicht sicher. Irgendetwas daran … beunruhigt mich. Ich wünschte, es fiele mir wieder ein. Vielleicht morgen. Ihr bleibt doch über Nacht, oder?«

Umber biss sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid, Fendofel. Wir haben nicht so viel Zeit. Aber wir kommen bald zurück.«

»Verstehe«, erwiderte Fendofel und senkte den Blick.

»Fendofel«, sagte Umber und legte seine Fingerspitzen auf die Schulter des alten Zauberers, »du bist kein junger Mann mehr. Du brauchst Menschen, die sich um dich kümmern. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du diesen Ort verlässt.«

»Ich soll von hier weggehen?« Fendofel schaute auf, in seinen Augen standen Tränen. »Aber das hier ist mein Zuhause, Umber. Alles, was ich kenne, ist hier. Und ich habe Dendra, die kümmert sich um mich.« Eine der Ranken schwebte wie immer neben dem alten Mann in der Luft, und Fendofel legte seine Hand darauf. Hap bekam plötzlich Angst, denn als Umber vorgeschlagen hatte, dass Fendofel die Insel verlassen sollte, hatte die Ranke sich aufgebäumt wie eine Giftschlange.

»Ja, ich weiß«, sagte Umber. »Aber …« Er schaute Balfour an. »Balfour, würdest du schon mal mit Hap und Sophie hinausgehen? Ich komme später nach.«

Hap hielt einen Moment inne und wartete darauf, dass Umber ihn ansah. Und als sein und Umbers Blick sich trafen, wies Hap mit dem Kinn auf die Ranke. Doch Umber lächelte nur und machte ihm ein Zeichen, zu gehen.

Bevor Hap Balfour und Sophie aus dem Haus folgen konnte, hörte man von draußen ein Geräusch: den ängstlichen Schrei eines in Not geratenen Tieres. Der dickste Arm der Ranke war in Bewegung und spannte sich wie ein riesiger Muskel, der eine der Öffnungen in der Hauswand komplett ausfüllte. Das Schreien wurde lauter.

Balfour und Sophie kamen zurück ins Haus und traten ängstlich zur Seite. Da sah Hap einen ausgewachsenen Hirsch auf das Haus zukommen. Er schwebte über dem Boden und seine vier Läufe zappelten in der Luft. Eine der gestreiften Ranken war um seinen Leib gewunden und zog ihn zum Haus, wobei die Hufe des Hirschs gegen die steinerne Öffnung in der Wand schlugen. Seine braunen Augen traten hervor und Speichel flog ihm aus dem Mund. Dendra war zu stark; die Ranke zerrte das ängstliche Tier durch die Öffnung und Hap sprang zur Seite, um nicht von den um sich tretenden Beinen getroffen zu werden.

»Dendra!«, rief Fendofel und schlug mit der flachen Hand gegen die Ranke. »Das ist in höchstem Maße unhöflich!«

Umber sprang auf und ließ die stachelige Nuss und das Segeltuch auf den Boden fallen. Seine Augen flogen neugierig nach rechts und links, um ja nichts zu versäumen.

Hap wich vor der Ranke zurück und prallte dabei mit Sophie zusammen. Sie legte ihren gesunden Arm um ihn und zog ihn an sich. Er spürte ihren warmen Atem an seinem Ohr, als Dendras Stamm – das riesige flaschenkürbisartige Ding im Herzen der Ranke – aufbrach und sich in vier Teile teilte, die sich wie Blütenblätter nach außen bogen. Innen war der Stamm gelb und mit glänzenden weißen Noppen versehen, und als die Ranke ihr verschrecktes Opfer dort hineinschob, blieb das arme Tier an diesen Noppen hängen, als wären sie voller Klebstoff. Die Ranke ließ das Tier los und zog sich zurück, so dass der zuckende, schreiende Hirsch im Innern von Dendras Stamm zurückblieb. Die vier Abschnitte legten sich wieder aneinander und schlossen sich nahtlos.

Eine Weile drangen noch klopfende Geräusche aus Dendras Innerem. Sophie hatte ihre Hand auf Haps Brust gelegt, und er fragte sich, ob sie spürte, wie sein Herz raste.

Dann wurden die Kampfgeräusche leiser. Hap hörte noch ein Klopfen und hoffte, dass es das letzte war, doch es folgten noch zwei dumpfe Töne, die schon weitaus schwächer klangen. Anschließend erbebte Dendra, und dann vernahm Hap ein anderes Geräusch aus ihrem Innern, ein Mahlen und Schmatzen, bei dem ihm ganz übel wurde.

Fendofel tupfte sich die Augen mit dem Saum eines Ärmels trocken. »Es tut mir leid, meine Freunde«, sagte er schniefend. »Ich … Ich weiß auch nicht, was in sie gefahren ist … Sie soll eigentlich nicht fressen, wenn Gäste hier sind … und schon gar nicht so. Es gibt sanftere Methoden.«

Umber legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mach dir deswegen keine Sorgen, Fendofel.« Er schaute die anderen an und zeigte auf den Ausgang. »Geht schon«, sagte er.

»Mit Vergnügen«, sagte Balfour mit belegter Stimme. Er war um einiges blasser als sonst. Sophie wurde sich plötzlich bewusst, dass ihre Hand auf Haps lag, und zog sie zurück. Hap folgte ihr und Balfour nach draußen, doch die drei schleiften die Füße nach, als hätten sie vergessen, wie man richtig geht.

Als sie vor dem Haus standen, sah Hap Oates auf einer steinernen Bank liegen, unter einem Baum mit langen, herunterhängenden Ästen voller pinkfarbener Blüten. Auf seiner ganzen Brust hatten sich Blütenblätter verteilt. Er schnarchte wie ein Bär und aus dem offen stehenden Mund lief ein Speichelfaden quer über seine Wange. »Der Mann lässt sich aber auch von gar nichts stören, wenn er einmal schläft«, sagte Balfour kopfschüttelnd.

Die drei setzten sich auf eine der moosbedeckten Bänke und warteten schweigend. Sophie ließ den Kopf sinken und Balfour tätschelte ihre Schulter. Hap schoss ein Gedanke durch den Kopf und er warf schnell einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass keiner von Dendras Armen in der Nähe war. Er beugte sich vor, um Balfours Aufmerksamkeit zu erlangen, und sagte dann so leise wie möglich: »Hat dieses Ding … Ich meine sie, Dendra, … das noch nie gemacht, wenn ihr hier wart? Sich auf diese Weise etwas einverleibt?«

Sophie blickte auf. Eine Träne war ihre Wange hinuntergelaufen und in ihrem Mundwinkel hängengeblieben, und Hap musste gegen den starken Impuls ankämpfen, sie wegzuwischen. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich wusste nicht mal, dass sie eine fleischfressende Pflanze ist«, sagte Balfour und erschauerte.

»Meinst du, Dendra wollte uns Angst einjagen?«, fragte Hap. »Weil Umber davon gesprochen hat, Fendofel von hier fortzubringen?«

Balfour blickte zum Haus und schob die Unterlippe vor. Dann nickte er. »Ganz bestimmt. Das war eine Warnung.«

»Aber Lord Umber hat Recht. Fendofel braucht Hilfe«, flüsterte Sophie. »Er ist vergesslich geworden.«

»Warum ist denn niemand hier bei ihm?«, fragte Hap.

»Umber hat es schon versucht«, sagte Balfour. »Er hat Leute hierher geschickt, die Fendofel assistieren sollten, aber nach einer Weile fing diese Ranke immer an, den Assistenten auf die Nerven zu gehen. Dendra ist eifersüchtig und bedrohlich. Und darum bleibt Fendofel allein.«

Es breitete sich wieder Stille aus, bis Balfour plötzlich mit der Faust auf die Bank schlug. »Es jagt mir einen Riesenschrecken ein, zu sehen, wie einem der Verstand entgleiten kann, wenn man alt ist. Meine Gliederschmerzen sind ja schon schlimm genug. Dass mein Verstand auch noch anfängt zu streiken, das kann ich gar nicht gebrauchen.« Er ließ den Kopf hängen und stützte sein Kinn in die Hand.

Hap wollte eigentlich noch etwas sagen, doch dann sah er eine Bewegung in dem hohen Gras in ihrer Nähe und erhaschte einen Blick auf einen von Dendras Armen, der kaum sichtbar dort verharrte. Auch die anderen bemerkten ihn, und das Gespräch erstarb. Oates, der von alldem nichts mitbekam, schnarchte weiter unter dem Baum.

Als die Nacht hereinbrach, erspähte Hap überall im Garten kleine Lichter: Blumen, die im Dunkeln leuchteten. Dann bewegte sich etwas in seinem Augenwinkel und als Hap sich umdrehte, erspähte er einen kleinen Strauch, der sich aus der Erde erhob und wie eine Spinne auf seinen Wurzeln zum Wassergraben kroch. Dort angekommen reckte sich die vorderste Wurzel nach vorn und schlürfte Wasser aus dem Tümpel.

»Ganz schön erstaunlich dieser Ort, was?«, sinnierte Sophie.

Stimmen drangen in Haps Bewußtsein und brachen den Zauber. Umber und Fendofel traten, zu beiden Seiten von Dendras Armen flankiert, in den Garten hinaus.

Fendofel blinzelte in Oates’ Richtung. »Oje. Ich hätte ihn vor diesem Baum warnen sollen. Seine Blüten haben eine einschläfernde Wirkung.

»Oates kann auch ohne Hilfe überall eindösen. Das macht ihm so schnell keiner nach«, erwiderte Umber.

»Hier liegen die Dinge aber etwas anders«, sagte Fendofel und sein Bart wackelte. »Er wacht jetzt stundenlang nicht mehr auf, ganz egal, was ihr tut.«

Balfour stand auf und reckte sich. »Dann haben wir ein Problem. Dieser Mann ist schwer wie ein Ochse. Wie sollen wir ihn zum Boot zurückkriegen?«

Dendras lange Arme glitten über den Boden zur Bank, schoben sich unter Oates Hals und Rücken und wanden sich um seine Knie und Fußgelenke. Dann hoben sie den kräftigen Kerl mühelos hoch, der sich dadurch jedoch nicht beim Schnarchen stören ließ.

Hap fiel auf, dass die Ranke sich genauso um Oates geschlungen hatte, wie sie es bei dem Hirsch gemacht hatte, und ihm wurde angst und bange.

»Fendofel?«, sagte Umber und seine Stimme zitterte ein wenig.

»Ja? Ach, keine Angst. Dendra will ihn nur zu eurem Boot tragen«, beruhigte der Zauberer ihn.

»Ich glaube, Dendra möchte, dass wir aufbrechen«, flüsterte Sophie Hap zu.

»Ich hätte nichts dagegen einzuwenden«, antwortete Hap, ohne seine Lippen zu bewegen.

Umber legte seine Hand auf Fendofels Schulter. »Was machen wir denn jetzt mit dir, mein Freund? Du kannst nicht ewig hierbleiben.« Die große Ranke zu seinen Füßen zuckte, und ihre Blätter zitterten eine Weile nach.

»Aber das hier ist mein Zuhause, Umber«, entgegnete Fendofel. »Geht jetzt. Fahrt zurück nach …« Er verzog das Gesicht. »Nach …«

»Kurahaven«, half Umber nach.

»Ja, genau, Kurahaven. Es wäre mir gleich eingefallen, wenn du es nicht gesagt hättest.« Fendofel schaute die anderen an und verzog erneut das Gesicht vor Anstrengung, als sein Blick auf Hap fiel. »Und dir … auf Wiedersehen, junger Mann. Und ihr anderen auch, lebt wohl!«, sagte er zu Balfour und Sophie.

Umber und Balfour übernahmen die Ruder, da Oates auf dem Boden der Jolle lag; er schlief weiter tief und fest und sabberte dabei auf die Bretter. Die Laternen auf der Bounder hüpften in der Nacht auf und ab und kamen mit jedem Schlag ein Stückchen näher.

»Wird Fendofel denn allein zurechtkommen, Lord Umber?«, fragte Sophie. Sie hielt die Elatia auf dem Schoß.

Umbers Schultern hoben und senkten sich. Er machte ein trauriges Gesicht. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sein Gedächtnis lässt nach und sein Körper lässt ihn auch allmählich im Stich. Aber er will nicht von hier weg. Und wegen Dendra kann niemand bei ihm bleiben. Es ist sein Zuhause, doch es ist zu einer Falle geworden.« Er schüttelte den Kopf. »Wir werden einfach sooft wie möglich nach ihm sehen müssen.«

Hap betrachtete das pralle Bündel. »Über diese stachelige Nuss haben Sie nichts Neues in Erfahrung gebracht, oder, Lord Umber?«

»Nein. Da, wo ich herkomme, haben wir das einen ›glatten Reinfall‹ genannt. Aber ich glaube, Fendofel wusste mal etwas darüber, das sein Gedächtnis nicht preisgeben wollte. Vielleicht fällt es ihm irgendwann wieder ein.«