11

Hap saß im großen Saal am Tisch und war ganz in seine Übersetzung vertieft, als er das Stampfen von Schritten auf der Treppe vernahm. Durch das Treppenhaus hallte Umbers Stimme. »Oates. Lass mich runter! Das ist ja peinlich.«

Erleichtert sprang Hap von seinem Stuhl auf. Es erklang weder Gesang noch wildes Gelächter; Umber hörte sich weder überdreht noch deprimiert an, nur genervt und schwach.

»Du hast gesagt, dir wäre schwindelig und du könntest stürzen«, sagte Oates.

»Aber das heißt nicht, dass du mich wie ein Kind auf den Arm nehmen und – ach, egal, wir sind ja fast da.« Zuerst erschien Umbers Kopf, dann der Rest seines Körpers, und zwar in Oates’ Armen. Kaum hatte Oates die letzte Stufe genommen, begann Umber mit den Fäusten auf den Armen des großen Kerls herumzutrommeln. Oates stellte ihn auf die Füße. Umber schwankte einen Augenblick lang, gähnte und reckte sich mit weit ausgebreiteten Armen. »Ah, Hap«, sagte er und hob grüßend eine Hand.

Balfour machte die Küchentür vorsichtig einen Spalt weit auf und spähte heraus, bevor er sich in den Saal traute. »Du siehst besser aus«, meinte er.

»Mir geht es besser.« Umber ließ sich auf einen Stuhl am Tisch fallen und nahm eine Birne aus der Obstschale. »Anscheinend wirkt die Elatia.«

Balfour verzog das Gesicht. »Es gab da ein kleines Problem mit der Dosierung.«

Umber lachte. »Ja, Oates hat mir davon erzählt.« Dann drückte er mit einem gequälten Gesichtsausdruck eine Hand an seine Stirn. »Ich habe ein wenig Kopfschmerzen zurückbehalten. Aber ist es zu glauben, Balfour? Nach all den Jahren ist das vielleicht das Ende meiner schlimmen Stimmungskrisen.« Er rieb die Birne an seinem Hemd ab. »Wisst ihr, ich kann mich nur ganz vage daran erinnern, was ich in meiner, ähm … Euphorie getan habe. Es sieht aber so aus, als hätte ich die stachelige Nuss eingepflanzt. Ich hoffe, ich habe mich dabei nicht auf irgendeine Art blamiert?!« In dem betretenen Schweigen, das nun eintrat, blickte Umber von Hap zu Balfour. »Was? Was habe ich getan?«

Balfour starrte den Boden an, und Hap biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Umber wurde immer nervöser. »Oates?«, fragte er mit einem Blick über die Schulter. Doch Oates hatte bereits hastig die Flucht ergriffen. Hap sah gerade noch eine Stiefelsohle nach oben entschwinden.

»Umber«, begann Balfour mit heiserer Stimme. Er hob die Hände; sie zitterten.

»Um Himmels willen, guter Mann, habe ich jemanden umgebracht?«, rief Umber.

Balfour schloss die Augen und stieß seine Antwort mit hoher, angespannter Stimme hervor. »Du hast gelacht und gesungen wie ein Verrückter, und du hast alle deine Kleider ausgezogen.«

Umber starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Dann lachte er und schüttelte den Kopf. »Wirklich? Da habe ich die arme Sophie und Tru bestimmt ganz schön in Verlegenheit gebracht. Na ja, es ist nur ein Körper. Jeder Mensch hat einen.« Er führte die Birne zum Mund.

»Fay war hier«, fügte Balfour hinzu.

Auf das krachende Geräusch von Umbers Biss in die Birne folgte ein Platschen, als Umber das abgebissene Stück wieder auf den Tisch spuckte. »Sie ist zurückgekommen?«

Balfour nickte.

Umber schnappte nach Luft und atmete dann langsam wieder aus. »Und du hast sie hereingelassen, während ich … in diesem Zustand war?«

»Nun ja … Tru hat sie hereingelassen. Aber wir dachten, du schläfst.«

Umber stand auf. Er hatte die Birne immer noch in der Hand und holte aus, als wollte er sie gegen die Wand schleudern. Doch dann ließ er die Hand sinken, rollte die Birne auf den Tisch und ließ den Kopf hängen. Hap brach fast das Herz, als er zu Balfour hinschaute und die verzweifelte, mutlose Miene des alten Freundes sah.

Schließlich hob Umber den Kopf wieder. Er hatte die Lippen zusammengekniffen und sein Blick irrte ziellos durch den Raum. »Um es zusammenzufassen: Als sie das erste Mal zu Besuch kam, war ich hoffnungslos deprimiert. Und als sie ein zweites Mal kam, hab ich den nackten, singenden Wahnsinnigen gegeben. Tja. Ich denke, dieser Chance haben wir einen Dolch ins Herz gerammt.« Er klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch. Seine Schultern zuckten, als ob er die unseligen Ereignisse abzuschütteln versuchte. »Es ist wahrscheinlich besser so. Wenn es drauf ankommt, bin ich nicht gerade ein guter Verehrer. Hap, kommst du mit mir nach oben? Wir müssen eine Menge aufholen.«

»Umber?«, rief Balfour ihm nach.

Umber wandte sich um. »Ja, Balfour?«

Balfours Unterlippe zitterte. »Darf ich … eine Kanne Kaffee für dich aufsetzen?«

Umber hob sein Kinn, und Hap war froh, den Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen zu sehen. »Das klingt ausgezeichnet«, sagte Umber. »Bring den Kaffee auf die Terrasse, wenn er fertig ist, mein alter Freund.«

»Als ich eben geschlafen habe, hatte ich die merkwürdigsten Träume«, meinte Umber, als sie an die frische Luft kamen und in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne blickten.

»Wovon denn?«

»Von meinem ehemaligen Leben. Würde es dir etwas ausmachen, sie dir anzuhören? Ich muss einfach darüber sprechen.«

»Es macht mir ganz und gar nichts aus«, antwortete Hap.

»Oh«, machte Umber. Er kratzte sich am Hinterkopf und betrachtete das Chaos auf der Terrasse. Überall lag Erde herum. Er hob den ausgerissenen Baum vom Boden auf und musterte ihn. Die einzigen Laute kamen aus der Ferne und waren leise: Wellenschlag, Möwenkreischen, das Säuseln des Windes. Doch dann hörte Hap dazwischen ein erheblich lauteres, fremdes Geräusch, das ganz aus der Nähe kam. Umber drehte lauschend den Kopf – er hatte es auch wahrgenommen. Sie sahen einander an und wandten sich dem Geräusch zu.

Es kam aus dem Inneren des gewaltigen Pflanzkübels, in dem der Baum einst gestanden hatte. Umber legte ihn wieder auf den Boden und ging in die Hocke, um sein Ohr an die Wand des Kübels zu legen. »Da drin bewegt sich etwas«, flüsterte er. Seine Augen nahmen wieder ihren gewohnten Glanz an.

Hap hörte etwas Neues: ein leises Schmatzen. Er zeigte auf die Öffnung des Gefäßes. Die schwarze Blumenerde, die etwa 30 Zentimeter unterhalb des Randes begann, blubberte und fiel wieder in sich zusammen wie schwach köchelnder Haferschleim. »Die … stachelige Nuss?«, fragte Hap.

Umber grinste. »Was sonst?« Er legte die Arme um den Kübel, beugte sich hinein und schnüffelte, die Nase nur wenige Zentimeter von der Erde entfernt.

»Da!«, quietschte Hap. Er zeigte auf eine Stelle neben Umbers rechter Hand, wo etwas aus der Erde hervorragte. Es war blass, beinahe weiß, glitzernd und voller Erde, und es bewegte sich mit der geduldigen, glibbrigen Langsamkeit einer Schnecke. »Was ist das?«, fragte Hap.

»Eine Wurzel, nehme ich an.« Umber nahm das Objekt aus unmittelbarer Nähe in Augenschein.

Sie sahen eine Minute lang zu, wie die Wurzel an der Seitenwand hochkroch und so mehr und mehr von ihrer Länge offenbarte. Sie erreichte den Rand des Pflanzgefäßes, überwand ihn und kroch an der Außenseite wieder herunter. »Beeindruckend«, sagte Umber. »Ich bin gespannt, was daraus wird.« Hap war sich nicht so sicher, ob er das wissen wollte.

»Weißt du was?« Umber setzte sich auf den Terrassenboden und stützte seine Ellenbogen auf die Knie. »Wir bleiben hier sitzen und beobachten dieses neue Wunder, während ich dir von meinen Träumen erzähle.«

Hap ließ sich in der gleichen Haltung neben Umber nieder, hielt aber etwas mehr Abstand zu der unheimlichen Wurzel.

»Es waren eigentlich nicht so sehr Träume, eher Erinnerungen«, begann Umber. »Vor meinem geistigen Auge liefen Szenen aus meinem Leben ab, so als wäre ich wieder dort. Seit ich in dieser Welt angekommen bin, habe ich mich noch nie so deutlich an jene Zeit erinnert. Wahrscheinlich ist das eine Nebenwirkung der Elatia. Andererseits frage ich mich, ob vielleicht der geheimnisvolle Pfeifer die Erinnerungen hervorgerufen hat.« Umber beugte sich vor, um die Wurzel besser sehen zu können, die sich am Kübel herabwand, und stieß sie prüfend mit dem Finger an. An seiner Fingerspitze blieb Schleim kleben, den er am Hosenbein abwischte. Die Wurzel hielt kurz inne, wie ein Wurm, den man angefasst hat, und setzte dann ihre tastende Reise fort.

Umbers Reise nach innen ging ebenfalls weiter. »Ich habe von Leuten geträumt, die ich kannte. Von den Freunden, die ich zurückgelassen habe. Ich sah ihre Gesichter und hörte ihre Stimmen.«

Hap sah Umber kritisch an und suchte nach Vorzeichen der schrecklichen Traurigkeit, die ihn so oft überkam. Als er keine bemerkte, atmete er befreit auf. »Hatten Sie eine Mutter und einen Vater?«

»Ja, natürlich. Aber sie sind gestorben, als ich noch ein sehr junger Mann war.«

»Welche Freunde haben Sie denn gesehen?«

»Vor allem einen. Seltsam, dass du nach meinen Eltern fragst, denn dieser Mann war wie ein Vater für mich. Sein Name war Jonathan Doane. Erinnerst du dich, dass ich dir schon einmal von ihm erzählt habe?«

Hap blickte zum Himmel auf und kramte in seiner Erinnerung. »Ja. Er war der Mann, der Sie um Hilfe bei seiner Idee gebeten hat.«

»Genau. Das Projekt Reboot … die Erhaltung allen Wissens und aller Errungenschaften der Menschheit und dessen Speicherung auf dem Reboot-Computer, damit man die Zivilisation eines Tages bei Bedarf wieder aufbauen könnte. Das war Jonathans Einfall. Und von allen Leuten, die diese Mission hätten leiten können, wählte er mich aus. Hap, manchmal treffen sich zwei Menschen und haben unmittelbar einen Draht zueinander. So war es mit Jonathan und mir. Was für ein Genie er war! Er widmete sein ganzes Leben dem Studium der Technikgeschichte, besonders der Militärtechnik. Am Ende stellte er fest, das sich alles zu schnell entwickelte. Er meinte, die Fähigkeit, zu zerstören, würde in Kombination mit den übelsten Instinkten der menschlichen Natur eines Tages zu weltweitem Chaos und globaler Vernichtung führen.« Umber hielt inne und betrachtete die ersten Sterne des Abends. »Offenbar wusste er, wovon er sprach.« In Erinnerungen versunken klopfte er mit den Fingerknöcheln gegen sein Kinn.

»Was ist aus Jonathan geworden?«, wollte Hap wissen.

Umber seufzte und zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir ja schon erzählt, dass ich selbst nur um Haaresbreite lebendig aus dem Ort herausgekommen bin, wo wir am Projekt Reboot gearbeitet haben. Doane war auch dort, als der Mob angriff und das Feuer ausbrach. Ich mag mir nicht vorstellen, was ihm zugestoßen ist.«

Auf dem Treppenabsatz erschien Balfour mit einer Kanne Kaffee, einem Milchkännchen und drei Tassen auf einem silbernen Tablett. »Kaffee für dich, Kakao für den Jungen und – was ist denn das, um Gottes willen?« Das Tablett schwankte in seinen Händen. Während die Kanne und die Tassen sich wieder stabilisierten, starrte Balfour mit offenem Mund den Pflanzkübel an. Inzwischen waren fünf weitere Wurzeln an den Seitenwänden heruntergewachsen; sie sahen aus wie riesige Finger, die den Kübel von oben festhielten.

»Dieses Ding verschwendet keine Zeit, was?«, überlegte Umber. Hap erhob sich und warf einen Blick in das Gefäß. In der Mitte erhob sich die Erde zu einem kleinen Hügel. Dann bildete sich ein Riss und etwas Blassgraues schob sich von unten hindurch. Es wuchs langsam bogenförmig weiter. Hap erkannte, dass es der Stängel einer Pflanze war, so dick wie sein Handgelenk. Die Spitze des Stängels befreite sich aus der Erde, und nun wurde eine dichte Ansammlung von Zweigansätzen sichtbar, die vor lauter winzigen Stacheln nur so strotzten.

Balfour schüttelte seufzend den Kopf. »Irgendwas ist hier ja immer los.«

Während Balfour in die Küche zurückkehrte, folgte Hap Umber in sein Arbeitszimmer – einen Raum, den zu betreten einst allen außer Umber verboten gewesen war. Aber jetzt gab es zwischen ihnen keine Geheimnisse mehr, jedenfalls soweit Hap wusste. »Setz dich«, sagte Umber, und Hap ließ sich auf dem gepolsterten Stuhl gegenüber von Umbers Schreibtisch nieder.

Umber ging zu der Wand hinter seinem Schreibtisch und schob einen Wandteppich beiseite. Die runde Tür des Safes kam zum Vorschein, in dem Umber die geheimnisvolle Maschine aufbewahrte, die aus einer anderen Welt stammte, genau wie er selbst. Mit seinem bemerkenswerten Schlüssel, der seine Form magisch so verändern konnte, dass er jedes Schloss öffnete, entriegelte er den Safe. Mit dem hohen Quietschen eines Kätzchens schwang die Tür auf.

»Da ist etwas, das du wissen solltest«, sagte Umber. Er nahm die glatte, flache silberne Maschine heraus, in deren Deckel das Wort REBOOT eingraviert war. »Mein Computer ist nicht der einzige wertvolle Gegenstand in diesem Safe. Da sind noch andere Dinge, die weitaus gefährlicher sein können, wenn sie in die falschen Händen geraten.«

Hap hustete und wand sich unbehaglich auf seinem Stuhl.

Umber stellte den Computer auf seinen Schreibtisch. Er klappte den Deckel auf, drückte einen Knopf, und das Gerät sprang an. »Erinnerst du dich an Turiana, den ›Gast‹, den wir unten eingesperrt haben? Aber was rede ich – natürlich erinnerst du dich, schließlich hat sie dir eine Heidenangst eingejagt!«

Hap nickte. In seinem noch recht kurzen bewussten Dasein war er schon in viele beängstigende Situationen geraten, aber die Begegnung mit der Hexe war die schlimmste gewesen.

Umber griff erneut in den Safe und holte ein Kästchen daraus hervor; es bestand aus einem Material, das erschreckend an ausgebleichte Knochen erinnerte. Er nahm den Deckel ab und zeigte Hap den Inhalt: Ringe, Anhänger, Armreifen und riesige Kristalle und Edelsteine. Hap blickte Umber neugierig an. »Schmuck?«

»Das sind Talismane«, gab Umber zurück. Er klappte das Kästchen wieder zu, schob es tief in die Höhlung in der Wand und schloss den Panzerschrank wieder. Dann ging er zu dem offenen Kamin auf der anderen Seite des Raums und begann, Zweige und Holzscheite aufzuschichten.

Hap horchte in sich hinein und erinnerte sich an etwas, das Balfour ihm einmal erzählt hatte. »Diese Talismane – sie haben Turiana gehört.«

»Das stimmt«, sagte Umber. »Ein Hexenmeister oder eine Hexe verfügen über ein gewisses Maß an natürlichen magischen Fähigkeiten. Turiana kann zum Beispiel Gedanken aus den Köpfen von Menschen ziehen, erinnerst du dich?«

Hap lief ein Schauer über den Rücken. »Ich erinnere mich.«

»Talismane werden verwendet, um diese Fähigkeiten zu verstärken. Das gilt auch für Fendofel – er hat einen Talisman für seine botanischen Zaubereien.«

»Der Kristall, den er um den Hals hängen hat«, warf Hap ein.

»Genau. Die Gegenstände in dem Kasten hat Turiana über viele Jahre gesammelt, die meisten, indem sie sie anderen Hexenmeistern und Zauberern abgenommen hat. Mit jedem Talisman, den sie erbeutete, wurde sie mächtiger. Sie konnte immer mehr Zaubersprüche anwenden und die üblen Kreaturen, die tief unter der Erde leben, dazu zwingen, ihr zu helfen.«

Umber nahm eine brennende Kerze vom Tisch und zündete damit die dünnsten Zweige am Fuß des Holzstapels an.

»Warum verwenden Sie die Talismane nicht selbst?«, fragte Hap.

Umber zeigte Hap seinen Ring mit einem schwarzen Stein. »Ich benutze diesen hier, um die schwarze Tür unten zu öffnen. Aber die anderen? Zu gefährlich. Denk daran, was Turiana passiert ist, als sie zu viel dunkle Macht zusammengerafft hatte: Sie wurde verrückt und missbrauchte ihre Geisteskraft zu bösen Zwecken. Aber im Ernst, Hap, ich erzähle dir das alles, weil die Talismane zerstört werden müssen, falls mir irgendetwas passiert.«

»Es wird Ihnen aber nichts passieren«, stieß Hap hervor. Er wollte, dass es so war, und glaubte es auch. Umber hatte schon so viele verrückte, leichtsinnige Abenteuer überlebt; da konnte man sich kaum vorstellen, dass ihm jemals etwas zustoßen würde.

»Man kann ja nie wissen.« Umber lächelte. »Ich habe Balfour bereits aufgetragen, was er im Fall einer Tragödie, die mich betrifft, zu tun hat. Aber ich will, dass du auch Bescheid weißt. Du wirst diesen Schlüssel hier bekommen, den ich zu jeder Zeit entweder um den Hals oder in der Tasche bei mir habe. Der Reboot-Computer soll ins Meer geworfen werden. Die Talismane müssen eingeschmolzen oder in Stücke geschlagen werden. Ist das klar?«

»Es wird aber nichts passieren«, wiederholte Hap leise.

»Trotzdem«, beharrte Umber. Und dann machte er noch etwas Seltsames; er schien über ein unerschöpfliches Repertoire an Überraschungen zu verfügen. Er holte eine kleine Statue hinter seinem Schreibtisch hervor. Sie reichte Hap bis zum Knie, bestand aus grob behauenem Stein und war schwarz verrußt. Die Form erinnerte vage an einen Menschen, aber mit ihrem weit geöffneten, froschartigen Maul und den glitzernden Edelsteinen als Augen ähnelte sie auch einem Lurch. Ein Arm war abgebrochen und ein Bein war durch einen Eisenstift ersetzt worden. Umber legte die Statue mit dem Gesicht nach oben auf den brennenden Holzstapel.

»Was machen Sie …?«, begann Hap.

»Schau zu«, antwortete Umber.

Die Steinfigur sank ein wenig in die brennenden Zweige ein und wurde von den Flammen umhüllt. Funken knisterten und stoben auf. Hap lehnte sich, die Hände auf die Knie gestützt, nach vorn und starrte die Statue an.

Plötzlich zuckten die Finger am einzigen Arm der Statue und ballten sich zur Faust. Der Ellenbogen knickte ein und streckte sich wieder, und dann bewegte die Statue Knie und Fußgelenk.

»Du wirkst nicht allzu überrascht, Hap«, meinte Umber. »Sag mir nicht, ich hätte die Fähigkeit verloren, dich in Erstaunen zu versetzen!«

»Ich habe schon so viele Überraschungen erlebt«, antwortete Hap. Die Statue benutzte ihren Arm, um sich herumzudrehen und mit Gesicht und Bauch den Flammen zuzuwenden. »Was ist das für ein Ding?«

»Das ist ein Geschenk von den Dwergh. Ich habe ihnen einige ihrer Schätze zurückgegeben, die Turiana gehortet hatte, und das war ihr Dank. Man nennt es einen Molton; es handelt sich um eine verzauberte Statue, die von Feuer zum Leben erweckt wird. Ein Molton führt jede Aufgabe aus, die du ihm gibst. Sie sind extrem selten. Dieser hier ist beschädigt worden, aber er ist für die Aufgaben, die ich ihm gebe, absolut geeignet.«

Der Molton setzte sich mit einem brennenden Zweig in der Hand auf. Er öffnete sein Froschmaul und schob sich den Zweig in seinen geschwärzten Schlund. »Und was für Aufgaben sind das?«, fragte Hap.

Umber lächelte. »Hast du dich nie gefragt, wie ich das alles schaffe – die Pläne für Schiffe und Gebäude, die Musik, die Lehrbücher und all die anderen Sachen? Ich habe diesen Molton, der sie auf Pergamentpapier überträgt.« Er holte einen Haufen Pergamente aus einer Schublade hervor und ordnete sie in zwei Stapeln neben dem Computer an. Hap konnte erkennen, dass ein Stapel dicht mit Noten beschrieben war. Der zweite Stapel bestand aus leeren Blättern. Umber drehte den Computer zu sich hin und gab einen Sprachbefehl. »Reboot: Zeige die Partitur von Beethovens Dritter Symphonie ab dem zweiten Satz.« Das Gewünschte erschien auf dem Computerbildschirm: Unzählige Symbole, Zahlen und Striche waren auf waagerechten Linien angeordnet.

Der Molton stand im offenen Kamin mit seinem einen Bein und dem Eisenstift unsicher auf. Steif humpelte er aus dem Feuer, bediente sich an ein paar Kohlestücken, die Umber in einem Eimer bereitgestellt hatte, und warf sie sich in das breite Maul.

»Hallo Shale«, begrüßte Umber den Molton. Die Kreatur hob ihr steinernes Gesicht, das abgesehen vom Glitzern der Edelsteinaugen ausdruckslos blieb. Umber stellte eine Schreibfeder und ein Tintenfass auf den Tisch und holte aus einer Ecke des Zimmers einen Hocker herbei. Diesen Hocker, der zwischen den Beinen mit Stufen versehen war, um dem Molton das Heraufklettern zu erleichtern, hatte Hap vorher noch nie bemerkt. »Du kannst an der Stelle weitermachen, wo du mit dem Abschreiben dieser Symphonie aufgehört hast. Und friss weiterhin Kohlen, damit du nicht auskühlst, in Ordnung? So ist’s brav.« Der Molton nickte; anscheinend verstand er jedes Wort.

»Er heißt Shale, wie der Schiefer?«, fragte Hap.

»Ich habe mit dem Gedanken gespielt, ihn in Rocky, also Stein, umzubenennen, habe dann aber doch den Namen der Dwergh beibehalten«, antwortete Umber. Erfreut beobachtete er, wie das Steinwesen die Schreibfeder nahm, sie in die Tinte tauchte und mit der Arbeit begann.

Hap befand sich in Sophies Atelier und sah ihr bei der Vorbereitung eines Stiches zu. Es handelte sich um ein Bild der Seeriesen, jener gewaltigen Kreaturen, denen sie vor der felsigen Küste von Celador begegnet waren. Sie hatte sie genau so wiedergegeben, wie Hap sie in Erinnerung hatte: schlummernd am Rand ihrer Höhle, während das vom Ozean gespiegelte Licht auf ihren bizarr aussehenden Körpern schimmerte. Bei der Erinnerung beschleunigte sich Haps Puls. Umber konnte leichtfertig sein, aber nie war er leichtfertiger gewesen als damals, als er diese titanischen Biester beinahe aufgeweckt hatte. Immerhin handelte es sich bei ihnen um dieselben Riesen, die Kurahaven mehr als ein Jahrhundert zuvor in einen Trümmerhaufen verwandelt hatten.

»Das ist wirklich beeindruckend«, kommentierte Hap. »Wie kannst du dir das, was du gesehen hast, nur so gut einprägen?« Lächelnd zuckte sie mit den Schultern. Sophie hatte die Angewohnheit, immer wegzuschauen, sobald ihre und Haps Blicke sich trafen. Doch diesmal sah sie ihm so lange in die Augen, dass er merkte, wie er rot wurde.

»Du bist in letzter Zeit anders«, bemerkte sie.

»Wirklich?«

Sie nickte und sah ihn noch intensiver an. »Als wir dich fanden, warst du wie ein kleiner Junge. So hilflos. Aber du hast dich verändert.«

Unwillkürlich legte Hap eine Hand an seine Schläfe und spürte seine Haare unter den Fingern.

»Das, was mit deinen Haaren passiert, meine ich nicht«, stellte Sophie klar. »Du selbst bist es. Du bist … irgendwie älter.«

Hap spürte winzige Schweißperlen auf seiner Stirn. »Tatsächlich?«

Die Ateliertür öffnete sich quietschend und Umber streckte den Kopf herein. Hap atmete auf. Irgendwie kam diese Störung zugleich gelegen und ungelegen.

Umber begann aufgeregt und lauter als nötig zu sprechen. »Happenstance! Da bist du ja. Geh in dein Zimmer und zieh dir deine besten Sachen an.«

»Gehen … Gehen wir irgendwohin?«, fragte Hap.

»Wir sind zum Palast beordert worden«, sagte Umber.

»Wir beide sind zum Palast beordert worden?«

Umber grinste. »Nun ja, nur ich, das ist ja klar, aber du weißt doch, wie es ist – ich brauche deine Begleitung. Also, mach dich fein und komm dann unverzüglich nach unten.« Umbers Kopf verschwand und seine Schritte verhallten.

Hap wandte sich wieder Sophie zu, doch die hatte ihm ihren Rücken zugewandt und reinigte einen Pinsel, den sie etwas zu energisch in einem Glas herumschwenkte. »Viel Vergnügen im Palast, Happenstance. Ich nehme an, du wirst da deine kleine Freundin antreffen.«

Die Kutsche rumpelte die Auffahrt hinunter. Hap fiel auf, wie sorgfältig Umber sich für diesen Besuch ausstaffiert hatte. Er trug seine besten Stiefel, die frisch geputzt und mit glänzenden Goldschnallen versehen waren. An Stelle der abgetragenen Weste mit den vielen Taschen, die er so liebte, hatte er ein schneeweißes Seidenhemd und einen goldbestickten Waffenrock angezogen. Sein zerzaustes Haar war gekämmt und mit einem schwarzen Band zusammengebunden. Schon unter normalen Umständen war Umber energiegeladen, doch jetzt schäumte er förmlich über. Er summte vor sich hin und schlug mit den Füßen den Takt dazu. Dabei streckte er den Arm aus dem Fenster, um mit seiner Hand den Fahrtwind einzufangen.

Hap dagegen war so tief auf seiner Sitzbank zusammengesunken, dass seine Augen sich beinahe auf Kniehöhe befanden. Irgendwann wurde Umber darauf aufmerksam. »Also, Happenstance, ich weiß ja, dass du nicht gerne zu solchen Dingen mitgeschleppt wirst. Aber du kennst doch den Grund.«

Hap nickte. »Willy Nilly hat Sie in seiner Nachricht aufgefordert, mich zu allen Abenteuern mitzunehmen. Aber das ist jetzt doch kein richtiges Abenteuer, oder?«

»Man kann nie wissen, wann ein Abenteuer zuschlägt«, gab Umber mit ausgebreiteten Armen zurück.

Hap stützte die Hände auf die Sitzbank und richtete sich auf. »Wer möchte Sie denn im Palast treffen, Lord Umber? Ist es Fay?«

Umber schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so. Aber nein, es ist der König selbst.«

»Der König?« Bereits seit Monaten kursierte das Gerücht, König Tyrian liege im Sterben. Er war sogar zu krank gewesen, um an den Begräbnissen seiner beiden Söhne teilzunehmen, die er innerhalb weniger Wochen verloren hatte.

»Ja. Anscheinend geht es ihm seit ein paar Tagen etwas besser. Dank einiger Freunde von mir, wie ich hinzufügen möchte.«

»Freunde von Ihnen?«

Umber nickte. »Die Qualität der medizinischen Versorgung in dieser Welt zu verbessern ist eins meiner Hauptanliegen. Ich habe eine medizinische Universität gegründet, die eine neue Ärztegeneration ausbilden soll. Aber einige Leute halten stur an den alten Gebräuchen fest. König Tyrian gehörte dazu. Er hat darauf bestanden, seinen Leibarzt zu konsultieren – der die überholteste Quacksalberei betreibt, die du dir vorstellen kannst. Aber dann hat Tyrian schließlich nachgegeben und zweien meiner besten Ärzte erlaubt, ihn zu behandeln.«

Das ist gut, dachte Hap. Der hinterhältige Prinz Loden schien kurz davor gewesen zu sein, den Thron zu übernehmen. Aber vielleicht würde dieser Tag doch nicht so schnell kommen.

Im Palast wurden sie von einem Diener des Königs erwartet, einem wohlgenährten Mann in einer grünen Robe. Beim Anblick Umbers schmolz seine strenge Miene wie Butter in der Sonne. »Lord Umber – wie schön, Sie wieder im Palast begrüßen zu können!«

»Hallo, Tattersall.« Umber ergriff die Hand des königlichen Bediensteten. »Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich mein Mündel Happenstance mitgebracht habe.«

Tattersall war wie so viele vor ihm von Haps Augen gefesselt und starrte ihn unverhohlen an. Aber diesmal starrte Hap zurück, denn da war etwas in Tattersalls Gesicht, das er nie zuvor gesehen hatte: Zwei runde Stücke Glas vor den Augen, die mit einem dünnen Draht über der Nase verbunden waren und von denen aus sich Metallbänder hinter den Ohren festklammerten.

»Ah, dir ist meine Brille aufgefallen«, sagte Tattersall. Er nahm das Ding aus seinem Gesicht und hielt es Hap hin, damit er es ansehen konnte. »Die habe ich Lord Umber zu verdanken!«

»Funktioniert sie gut?«, fragte Umber.

»Ausgezeichnet. Wie herrlich, wieder klar sehen zu können!«, antwortete Tattersall. Seit er die Brille abgenommen hatte, blinzelte er mit zusammengekniffenen Augen. Dann setzte er sie wieder auf und grinste.

»Ein weiteres Projekt von mir«, erklärte Umber an Hap gewandt. »Eigentlich fange ich gerade erst damit an. Ich hoffe, dass ich sie für viele verfügbar machen kann.«

»Und was diesen jungen Mann angeht«, sagte Tattersall und legte Hap eine Hand auf die Schulter, »hatte ich noch nicht das Vergnügen, ihn kennenzulernen. Aber ich habe dich gesehen, als du zur Geburtstagsfeier von Prinz Galbus hier warst.«

»Der arme Galbus«, sagte Umber. Er blickte über Tattersalls Schulter, dann über seine eigene. Als er weitersprach, senkte er die Stimme beinahe zu einem Flüstern. »Tattersall … es heißt, Galbus sei nach einem Sturz aus Trunkenheit gestorben. Ich war überrascht, das zu hören. Ich hatte eher den Eindruck, er habe dem Wein abgeschworen.«

Tattersalls Körper verkrampfte sich. Er hob das Kinn und musste schwer schlucken. Als er gerade wieder zu sprechen beginnen wollte, erklang vom Balkon im ersten Stock ein Geräusch – das Schleifen eines Fußes über den Boden, ein Rücken, der an einer Wand entlangrutschte. »Es … Es war eine schreckliche Tragödie«, stammelte Tattersall. Mit einem Mal nahm er eine steife, förmliche Haltung ein, doch seine schreckgeweiteten Augen blieben mit weit hochgezogenen Augenbrauen auf Umber gerichtet. Hap bemerkte, dass er Umber gegenüber ein winziges Kopfschütteln erkennen ließ.

»Tattersall«, begann Umber, doch der hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.

»Bitte, Lord Umber«, flüsterte Tattersall mit kaum wahrnehmbaren Lippenbewegungen. »Sie müssen verstehen … Ich darf über solche Dinge nicht diskutieren.« Er schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Dann nahm er sich zusammen und hob die Stimme. »Ich bringe Sie jetzt zum König.« Seine Absätze klackerten auf dem Marmorfußboden, während er vorausging.

Sie folgten Tattersall durch einen riesigen Raum, in dem ein leerer Thron vor einem von hohen Stühlen gesäumten Tisch stand, und dann eine breite, gewundene Treppe hinauf in den vornehmen ersten Stock des Palastes. Auf einem Treppenabsatz bogen sie in einen Korridor ab; die Treppe führte noch weiter in den Palast hinauf. Von dort oben erklang eine Stimme.

»Lord Umber!«

Umber blieb abrupt stehen. Hap blickte auf und sah Fay oben an der Treppe.

»Oh, Fay!« Umber legte eine Hand auf sein Herz. »Sie sind so liebreizend wie eine Metapher.«

Fay sah an ihrem feinen Kleid herab. Ihre Hand fuhr hoch und bedeckte das glitzernde Collier an ihrem Hals. »Danke. Und Sie, Lord Umber? Sie scheinen … wiederhergestellt?«

Umber tätschelte seine eigene Wange und gluckste. »Ah … Ja. Auf jeden Fall geht es mir besser als die letzten beiden Male, die Sie mich gesehen haben. Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass die Stimmungsschwankungen, unter denen ich gelitten habe, wahrscheinlich für immer verschwunden sind.«

Fay hatte einen Fuß auf die oberste Stufe gestellt. Sie spähte zur Seite, bevor sie mit einem Beben in der Stimme weitersprach. »Ich weiß kaum noch, auf was ich mich einstellen soll, wenn ich Sie treffe. Aber jetzt sind Sie der Mann, an den ich mich erinnere … der uns gerettet hat.«

Umber stieg zwei Stufen hinauf und streichelte dabei das Geländer. »Dürfte ich noch einmal mit Ihnen sprechen, Fay? Ich habe eine Audienz beim König, aber danach?«

Fay presste die Lippen zusammen. »Ich … Ich glaube nicht, dass das geht.«

Hap fragte sich, ob Sable in der Nähe war, und spähte rechts und links an Fay vorbei. Er bemerkte, dass Tattersall sich räusperte und ein Taschentuch aus seinem Ärmel zog, mit dem er sich die Stirn abtupfte.

Umber nickte Fay zu. »Nicht hier? Dann kommen Sie nach Aerie, sobald Sie können. Oder nennen Sie einen anderen Ort und ich werde Sie dort treffen.«

Fays Hände zitterten. »Der … Der Prinz sorgt sich um meine Sicherheit und wünscht, dass ich im Palast bleibe.«

»Ihre Sicherheit?« Umber kniff die Augen zusammen und nahm eine weitere Stufe.

Fay lehnte sich vor, als wollte sie die Treppe hinuntereilen, doch dann ertönte zu ihrer Rechten ein Geräusch. Sie warf einen Blick in diese Richtung und biss sich auf die Unterlippe. Mit einem beschwörenden Blick formte sie stumm ein Wort mit den Lippen, das möglicherweise Hilfe! war. Dann ging sie schnell davon. Umber blickte ihr mit erhobener Hand nach.

Hinter ihr, dort, woher das Geräusch gekommen war, sah Hap eine Silhouette. Ein Augenpaar starrte herunter, dann verschwand das Gesicht. Aber die Zeit reichte aus, um Larcombe zu erkennen, den gefährlichen Mann, der Prinz Loden diente.

Umber starrte weiter die Stelle an, von der Fay verschwunden war. Schließlich zupfte Tattersall an seinem Ärmel. »Bitte, Mylord. Wir dürfen den König nicht warten lassen.«