18
Als Umber und Hap im großen Saal eintrafen, erblickten sie Oates, wie er die Brüder an den Vorderseiten ihrer Hemden hochhielt – in jeder Hand einen. Ihre Beine zappelten wild in der Luft. Balfour saß am Tisch und schaute zu, während er seinen Kopf hin und her wiegte.
»Sie haben sich schon wieder gezankt«, erklärte Oates, als er Umber bemerkte.
Umber warf den Jungen mit in die Hüfte gestemmten Fäusten einen strengen Blick zu. »Also gut, ihr unruhigen kleinen Monster. Wie heißt ihr?« Doch bevor sie antworten konnten, winkte er schon ab. »Wenn ich es mir recht überlege, will ich es gar nicht wissen. Hört zu: Ich war es nicht, der euch eine Belohnung versprochen hat, aber ich gebe euch trotzdem eine.«
»Hurra!«, schrie der ältere Junge und schlug wie ein Vogel mit den Armen auf und ab.
»Und ich lasse euch sogar nach Hause bringen. Eure Eltern sind bestimmt ganz krank vor Sorge, außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass ihr es nach Hause schafft, ohne euch vorher gegenseitig umzubringen. Balfour, würdest du das organisieren?«
»Die Vorstellung erfüllt mich mit Freude«, antwortete Balfour.
»Ausgezeichnet. So, Hap, warum sehen wir nicht einmal nach, was das wuchernde Unkraut auf der Terrasse im Schilde führt?«
»Ich wünschte, Fendofel könnte das sehen«, meinte Umber.
Den Ästen des Dornenbaums waren Tausende schmale, spitz zulaufende Blätter entsprossen. Die stinkenden Blüten waren verwelkt und ihre abfallenden Blütenblätter enthüllten kleine fleischfarbene Früchte. Umber streckte die Hand aus und drückte vorsichtig an einer herum. »Ob die wohl essbar sind?«
»Ich würde sie nicht probieren«, sagte Hap. Alles an diesem Baum machte ihn nervös, sogar diese eiförmigen Früchte.
Umbers Blick wanderte die Wurzeln entlang, die sich wie eingefrorene Schlangen über den gesamten Terrassenboden ausbreiteten. »Wenigstens hat der Baum damit aufgehört, meine anderen Pflanzen umzubringen.« Er beugte sich wieder zu einer Frucht vor, bis er sie beinahe mit der Nase anstieß. »Vielleicht irre ich mich … aber ich glaube, ich kann sehen, wie diese Frucht wächst. Wir haben ein Auge drauf. Hap, kannst du heute Nacht Wache halten, wenn wir anderen schlafen?«
Hap schaute durch die beiden Fenster seines winzigen Zimmers in die Nacht hinaus. Unter ihm lag das, was von der uralten Burg Petraportus übrig geblieben war. Innerhalb der Ruine befand sich eine neue Grabstätte, die Umber für den Fischer und dessen Frau angelegt hatte – jenes zurückgezogen lebende Paar, das sich als Haps untröstliche Eltern herausgestellt hatte. Es war Willy Nillys Schuld, dass sie tot waren. Zwar hatte Willy niemals die Hand gegen sie erhoben, doch die Ereignisse, die er Jahre zuvor in Gang gesetzt hatte, hatten schließlich zu ihrem Tod geführt. Und arbeiteten Fädenzieher nicht immer so, indirekt?
Doch jetzt befand sich Willy nur ein paar Türen entfernt und war selbst dem Tod nahe. Hap spürte den Drang, dort hineinzuplatzen und ihn wach zu rütteln. Warum ich?, wollte er schreien. Wie kannst du es wagen, mich in einen von deiner Art zu verwandeln? Und jetzt wollt ihr, dass ich diese Welt hier verlasse und eine andere rette? Ich habe nie um diese Kräfte gebeten. Ich will diese Bürde nicht!
Es war schon spät, und er ging davon aus, dass alle anderen schliefen. Vorsichtig öffnete er seine Zimmertür und schlich sich auf den Flur. Die anderen Türen waren geschlossen, bis auf eine, über deren Schwelle ein Rechteck goldenen Lichtes drang. Hap ging hin und sah Willy Nillys reglose, bewusstlose Gestalt. Das Gesicht des Fädenziehers war blass, sein Unterkiefer hing herab und er atmete schwer und rasselnd.
In einem zweiten Bett schlief Laurel mit dem Gesicht zur Wand. Lily, die Stumme, döste in einem Stuhl neben Willys Bett vor sich hin. Irgendetwas machte sie auf Haps Anwesenheit aufmerksam, und sie öffnete klimpernd die Augen. Mit einem Lächeln hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen.
Hap winkte ihr zu, doch lächeln konnte er nicht. Mit einem Fingerzeig auf Willy fragte er: »Ist er schon mal aufgewacht?«
Lily schüttelte den Kopf.
Hap kaute einen Augenblick auf seinem Daumenknöchel herum. »Glauben Sie … dass er überleben wird?«
Lily sah den Fädenzieher mit gespitzten Lippen kritisch an. Dann tippte sie sich mit einer Hand an die Schläfe und zuckte mit den Schultern.
Hap fiel nichts ein, worüber er sonst hätte sprechen wollen. Schließlich winkte er ihr zu. »Gute Nacht!« Sie lächelte, und Hap nahm die Treppe zur Terrasse hinauf.
Mit seinen besonderen Augen konnte er den Dornenbaum auch im Dunkeln sehen. Die Wurzeln und Äste waren nicht weitergewachsen, aber die Früchte waren auf die Größe von Totenschädeln angeschwollen, so dass die Äste unter ihrem Gewicht herabhingen. Hap nahm beim Zählen seinen Zeigefinger zu Hilfe: Elf.
Er lief zwischen den anderen Pflanzen auf der Terrasse umher, vorbei an Umbers kleinem Turm, einem Zylinder auf einem hoch aufragenden Felsvorsprung von Aerie. Am Rand der Terrasse lehnte er sich, auf die Unterarme gestützt, über das steinerne Geländer und blickte auf die Bucht hinaus. Plötzlich weiteten sich seine Augen; er sprang auf und lachte begeistert auf.
Der gewaltige Walfisch Boroon schwamm ein paar Hundert Meter entfernt auf der Stelle. Er schlug ganz leicht mit seinen riesigen Flossen, um die Position zu halten. Die Barke war, wie üblich, auf seinen Rücken geschnallt. Hap lehnte sich vor und suchte nach Nima, der amphibischen Kapitänin der Walfischbarke. Er war überrascht, sie im Wasser zwischen Aerie und Petraportus schwimmen zu sehen. Sie erreichte die behelfsmäßige Steinbrücke zwischen den beiden Gebäuden und kletterte an Land.
Wie verrückt grinsend sprang Hap von einem Fuß auf den anderen. Er formte mit den Händen einen Trichter vor seinem Mund, um seine Stimme so präzise zu leiten, dass sie die anderen nicht aufweckte. »Nima!«
Die Nacht war so still, dass sie ihn tatsächlich hörte. Obwohl sie nicht wie Hap im Dunkeln sehen konnte, blickte sie auf und winkte in seine Richtung. »Lass mich rein!«, rief sie.
»Na klar!«, gab Hap zurück. In einem einzigen freudigen Satz sprang er zu Umbers Turm und hämmerte auf die verschlossene Tür ein. »Lord Umber! Wachen Sie auf!«
Oben quietschten Fensterläden und Umber streckte den Kopf heraus. Mit dem Handrücken rieb er sich seine halb geschlossenen Augen. »Hap? Was … Ist etwas passiert?«
»Nima ist hier! Sie kommt rauf!«
Umber zwinkerte mehrmals und schaffte es dann, ein Auge vollständig zu öffnen. »Rauf nach … Sie ist an Land?«
Hap legte den Kopf schief. »Ja … das ist sie. Beeilen Sie sich, wir müssen sie hereinlassen!«
Umber verschwand nach drinnen. Hap hörte seine Fußtritte auf der Treppe, dann flog die Tür auf und Umber stolperte heraus. Er zog sich unter dem Nachthemd eine Hose an. »Es muss etwas Wichtiges passiert sein. Nima hasst das Land – noch mehr, als du das Meer hasst!«
Nima folgte ihnen in den großen Saal und machte mit jedem Schritt einen unbehaglicheren Eindruck. Sie setzte sich auf einen angebotenen Stuhl am Tisch, blieb aber auf der Kante hocken.
Umber drückte ihre Hand. »Was gibt es, Nima?«
Sie legte ihre Hände mit weit gespreizten Fingern auf den Tisch, als würde sie sich in einer Welt, die sich nicht unter ihren Füßen bewegte oder schwankte, unsicher auf den Beinen fühlen. Hap konnte nicht anders, als die Schwimmhäute anzustarren, die ihre Finger miteinander verbanden. »Im Meer ist etwas Seltsames«, sagte sie. »Im Westen.«
Umber nickte und warf Hap einen Blick zu. »In der Nähe des Fernen Kontinents?«
»Nein«, antwortete sie. »Viel näher. Ich … Ich wünschte, ich könnte dir mehr sagen, aber ich habe es nicht gesehen. Boroon hat es gehört, als wir mit Frachtgut aus Ornast nach Kurahaven zurückkehrten. Das Ding war viele Meilen entfernt, aber Boroon hat ein Geräusch gehört, das er noch nicht kannte. Es war ein anhaltendes Donnergrollen im Wasser, im Rhythmus eines Herzschlags. Ich habe Boroon noch nie so ängstlich erlebt. Er hat sich geweigert, näher heranzuschwimmen. Und es war jenseits des Horizonts, deshalb konnte ich nicht sehen, was es war.« Sie verschränkte die Arme fest vor der Brust und sah Umber an. »Hast du eine Ahnung, was das ist? Dieses schreckliche Ding im Meer?«
Umber hatte das Kinn in eine Hand gestützt und strich sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. »Ich fürchte, nein.« Er wandte sich an Hap. »Meinst du, es ist dasselbe Wesen wie das Feuermonster, von dem der Seemann erzählt hat?«
Hap wand sich auf seinem Stuhl. Ihm war dieser Gedanke auch schon gekommen. »Weißt du, in welche Richtung es sich bewegt hat, Nima?«
Sie schüttelte den Kopf. »Was ist dieses Feuermonster?«
»Wir wissen nicht viel darüber«, sagte Umber, »außer dass es mit unbeschreiblicher Brutalität schon mehr als ein Schiff zerstört hat. Und es schien vom Fernen Kontinent zu kommen – was bedeutet, dass es jetzt das Meer durchquert. Es wäre gut zu wissen, wo es hinwill.«
»Kannst du nicht deinen Freund mit dem Luftschiff losschicken, um nachzusehen?«, fragte Nima.
»Pilot?« Umber grinste schief und verdrehte die Augen. »Der kommt nur dann zu mir, wenn er Geld braucht, und bei unserem letzten Abenteuer habe ich ihm ein Vermögen gezahlt. Wir werden ihn und seine Spinnen-Mannschaft so schnell nicht wieder zu sehen bekommen.«
Nima stand abrupt auf. Hap erkannte ihre Anspannung an den geweiteten Nasenlöchern und der Kiefermuskulatur. »Ich muss zurück zu Boroon«, sagte sie. Hap wusste, dass sie damit eigentlich meinte, dass sie in die geschmeidige Umarmung des Meeres zurückkehren wollte.
Umber stand ebenfalls auf. »Was hast du jetzt vor? Wo willst du hin?«
»Ich habe mit einem unserer Schiffe ein Treffen auf hoher See, um meine Fracht auszuladen«, antwortete sie. Ihre Schultern zitterten und sie rieb sich den Arm. »Und danach erwarte ich den nächsten Auftrag von Hoyle.«
»Sei vorsichtig«, mahnte Hap. »Ich meine, halt dich von diesem Wesen fern, was auch immer es ist.«
Trotz ihrer Anspannung musste sie lächeln. »Boroon wird mich viele Meilen von diesem Ungeheuer fernhalten, Happenstance. Das kann ich dir versprechen.«
Sie sahen zu, wie Nima von den Felsen aus in das tintenschwarze Wasser sprang. Minuten später tauchte sie dicht bei Boroon wieder auf. »Sie winkt«, informierte Hap Umber, der ihre Geste in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Nima kletterte auf den Rücken des Walfischs, und mit einem leichten Schlag seiner breiten Schwanzflosse bewegte sich Boroon aufs offene Meer hinaus. Hap wünschte, die Lichtfäden würden ihm wieder erscheinen; er wollte wissen, was das Schicksal für Nima bereithielt.
Als sie hineingingen, trafen Umber und Hap auf Laurel, die ihnen mit einer hoch erhobenen Kerze entgegeneilte. »Da sind Sie ja!«, rief sie. »Schnell – der Patient ist aufgewacht!«
»Was für ein interessanter Abend«, stellte Umber fest. Hap folgte Umber und Laurel in den dritten Stock. Mit jedem Schritt, den sie näher an Willy Nillys Zimmer herankamen, krampfte sich Haps Magen stärker zusammen. Nachdem Umber eingetreten war, blieb er einen Moment lang vor der Tür stehen. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, atmete tief aus und betrat das Zimmer.
Willy hatte ein Kissen im Rücken und Lily goss ihm etwas in den offenen Mund – ein Medikament, oder vielleicht auch nur Wasser. Er schluckte schwach, und ein Teil der Flüssigkeit lief an seinem Kinn hinab.
»Ich habe sie mitgebracht«, sagte Laurel zu ihm.
Willy leckte sich mit geschwollener Zunge die Lippen. Seine Haut war fleckig gerötet und mit Schweißperlen bedeckt. Lily wischte ihm mit einem Tuch die Stirn ab.
»Umber … bist du da?«, fragte der Fädenzieher. Seine Worte drangen als dünnes Keuchen hervor – ein schwacher Widerhall der spöttischen melodiösen Stimme, die Hap schon zweimal zuvor gehört hatte.
»Das bin ich. Und Happenstance ebenfalls«, antwortete Umber leise und mitfühlend.
»Ahh … Happenstance«, sagte Willy. Er versuchte, sich aufzusetzen, verzog aber schmerzvoll das Gesicht und fiel schlaff in die Kissen zurück.
Haps Hände verkrampften sich zu Fäusten und er presste die Lippen zusammen. Er verkniff sich seine Worte über all den Schmerz, den der Fädenzieher verursacht hatte.
»Ich habe ihn auf eine Irrfahrt gelockt, Happenstance«, fuhr Willy fort, »um ihn von dir fernzuhalten … und dir Zeit zu geben, deine Fähigkeiten reifen zu lassen.«
Umber bemerkte, dass Hap kaum verbergen konnte, wie aufgewühlt er war, und sprach als Erster: »Wen hast du auf eine Irrfahrt gelockt, Willy?«
Willy brachte ein klägliches Lächeln zu Stande. »Nicht übel. Du hast meinen Namen erraten! Aber ist Happenstance wirklich hier? Ich habe seine Stimme noch nicht gehört.«
»Ich bin hier«, sagte Hap. Es gelang ihm nicht, die Verachtung aus seinem Tonfall herauszuhalten.
»So voller Wut«, kommentierte Willy. Er lachte, aber es war ein leises, grausiges Gelächter. »Ich rede natürlich vom Vollstrecker. Ich habe dich vor ihm gewarnt. Versucht, ihn abzulenken. Ein- oder zweimal habe ich ihn im Wedernoch abgehängt. Es ist kalt im Wedernoch, und wenn du lange genug dortbleibst und dich schnell genug bewegst, dann bringt das die Signale durcheinander, und es wird schwieriger, die Lichtfäden zu verstehen …«
»Das Wedernoch?«, fragte Hap. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Das Wedernoch ist der Ort, den wir durchqueren, mein Junge – von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Ein kaltes, dunkles Nichts, nicht von dieser Welt. Weder hier noch dort … verstehst du?« Willy verließen die Kräfte und sein Körper erschlaffte. »Aber ich bin müde geworden, war nicht wachsam genug, und er hat mich eingeholt … wie man sieht.« Zitternd erhob er seine Hände und fuhr mit den Fingern über den Verband, der seine Wunden bedeckte. Lily wurde blass und wandte sich ab.
»Wer ist dieser Vollstrecker, Willy?«, fragte Umber leise. Willy versuchte zu antworten, doch in seiner Kehle gluckerte etwas. Sein Brustkorb verkrampfte sich, und er hustete es aus. »Du hast einen von seiner Art bereits gesehen«, brachte er schließlich keuchend hervor.
Die Worte trafen Hap wie ein Blitzschlag. »Von seiner Art – du meinst, er ist wie Occo?«
Willy nickte.
Eine Flut schrecklicher Erinnerungen stieg in Hap auf. Vor seinem geistigen Auge sah er das abstoßende Gesicht von Occo, dem Widerling, so deutlich wie an jenem Abend, als er ihm zum ersten Mal begegnet war. Occo war eine abscheuliche Kreatur, die anderen Menschen und Tieren die Augen stahl und sie in Augenhöhlen einsetzte, die über sein ganzes Gesicht verteilt waren. Occo hatte die grünen Augen eines Fädenziehers gewollt und hätte sich beinahe die von Hap genommen.
»Occo war ein Kind. Dieser hier, dieser Vollstrecker … ist älter, größer, schrecklicher«, hauchte Willy. »Hat schon Augen von einem Fädenzieher … sogar mehr als ein Paar. Und dadurch auch die Fähigkeiten eines Fädenziehers – und die hatte Occo nicht. Der Vollstrecker kann die Lichtfäden sehen. Kann dich überallhin verfolgen, sogar ins Wedernoch … kann aus dem Nichts auftauchen …«
Hap starrte Umber an – doch Umber blickte in die verwirrten Gesichter der Schwestern. »Laurel, Lily«, sagte er beruhigend, »kümmern Sie sich nicht um sein wirres Geschwätz. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden Hap und ich gerne allein mit ihm reden.«
Laurel nickte, aber ihre zweifelnde Miene veränderte sich nicht. »Er ist schwach, Lord Umber. Befragen Sie ihn nicht zu lange.« Auch Lily stand auf und folgte ihr aus dem Zimmer. Sie schlossen leise die Tür hinter sich.
»Willy«, begann Umber, »wenn dieser Vollstrecker Fädenzieher-Augen hat, warum ist er dann nicht einfach ein Fädenzieher – ein Unheilstifter – wie du?«
»Er ist kein Fädenzieher. Seine Veranlagung ist zu stark … Er ist mordlustig, immer gierig nach neuen Augen … Deshalb muss der Junge in deine Welt entfliehen, Umber. Bist du bereit, Happenstance?«
»Ich bin nicht bereit.« Hap sank auf dem Stuhl in sich zusammen.
»Das ist sehr schlecht«, sagte Willy. »Du hast nicht mehr … viel Zeit.«
»Wie viel Zeit haben wir denn?«, fragte Umber.
Willy wackelte mit dem Kopf. »Bin mir nicht sicher … Er braucht eine Weile … um sich an meine Augen zu gewöhnen … ihre Kräfte auf sich übergehen zu lassen … Tage? Eine Woche? Ich weiß nicht.«
Hap raufte sich die Haare. Er starrte auf den Boden und unterdrückte ein Stöhnen. Occo war schon schrecklich gewesen. Aber eine größere Version, noch dazu mit der Fähigkeit, Lichtfäden zu lesen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass er die Begegnung mit solch einer Kreatur überleben würde.
»Kannst du sie jetzt sehen, Happenstance?«, fragte Willy. »Sind die Fäden hier? Sag mir: Wie lange habe ich noch?«
»Ich sehe sie nicht.« Man hörte Haps Stimme seine Furcht deutlich an. »Ich weiß nicht, wie man sie zum Erscheinen bringt.«
»Du brauchst mehr … Erfahrung … mehr Abenteuer …«
Hap sprang mit solcher Wucht von seinem Stuhl auf, dass seine Fersen vom Boden abhoben und der Stuhl umstürzte. »Mehr Abenteuer? Weißt du überhaupt, was ich alles durchgemacht habe?«
»Was auch immer es war, es reicht nicht«, sagte Willy. »Ich weiß nicht, wie viele es sein müssen … Es hat noch nie ein Fädenzieher-Kind gegeben …«
Hap stürzte zum Bett. Am liebsten hätte er Willy am Kragen gepackt und geschüttelt, aber der Fädenzieher wirkte so gebrechlich, dass Hap lediglich mit den Händen durch die Luft wirbelte – erregte Gesten, die Willy nicht sehen konnte. »Nein? Noch nie ein Fädenzieher-Kind? Und warum hast du mir das hier angetan? Warum ich?«
Dies war die Frage, die ihm mehr als jede andere auf der Seele lag, und jetzt hatte er sie endlich herausgebracht, ausgespuckt wie ein Gift. Er atmete schwer und wartete auf die Antwort.
Willy wandte Hap sein Gesicht zu. Das schwache, abschätzige Grinsen kehrte zurück. »Warum du? Weil die Signale es mir befohlen haben … Du warst der Einzige, der in der Lage sein könnte … es zu tun.«
Hap spürte die Felswand an seinen Schulterblättern. Er war, beinahe ohne es selbst zu merken, vor Willy auf die andere Seite des kleinen Zimmers zurückgewichen. »Was zu tun?«
Er bekam eine Gänsehaut, als er Willys Grinsen sah. »Die Aufgabe erfüllen, natürlich. Diese Sache, um die Umber dich gebeten hat.«
Hap warf Umber einen Blick zu und bemerkte die Furcht in seinem Gesicht. Er hat Angst, dachte Hap. Umber hatte Angst, dass Hap nicht in der Lage sein könnte, das zu tun, von dem Umber unbedingt wollte, dass er es versuchte – oder es ablehnen würde.
»Ich glaube dir nicht«, sagte Hap zu Willy. »Warum sollte ich der Einzige sein?«
Der Kopf des Fädenziehers sank wieder ins Kissen zurück. »Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe überall nach dir gesucht. Ich habe unzählige Filamente gelesen. Der Fädenzieher, der in diese andere Welt hinübergehen kann, muss mächtig sein. Überdurchschnittlich begabt. Und … wie heißt das Wort, das ich suche?« Willy hielt inne und leckte seine trockenen Lippen. Umber setzte sich auf den Hocker neben dem Bett und goss ihm einen Schluck Wasser in den Mund.
»Gütig«, fuhr Willy schließlich fort. »Denn das bist du. Du kannst mir nicht die Schuld dafür geben, dass ich Julian Penny ausgesucht habe, Happenstance. Schuld ist Julians Lichtfaden. Dein Lichtfaden. Er hat mir gesagt, dass du der Einzige bist.«
Hap trommelte mit den Fäusten gegen die Wand. Umber sah ihn an und machte beschwichtigende Gesten, damit er sich wieder beruhigte.
»Willy«, setzte Umber an, »hatte deine Fädenzieherei irgendetwas mit dem zu tun, was in meiner Welt passiert ist? Wie alles schiefging?«
Willy lachte wieder, aber das Lachen verwandelte sich erneut in einen schweren Hustenanfall. »Du glaubst, ich bin schuld daran, oder? Deine Welt brauchte wahrlich keine Hilfe beim Zusammenbruch. Aber du kannst meinem Gegenspieler die Schuld geben anstatt mir …«
»Deinem Gegenspieler?« Umber kniff die Augen zusammen. »Ja, so arbeitet ihr Fädenzieher, stimmt’s? Es gibt immer zwei von euch, die sich gegenseitig bekriegen und auf entgegengesetzte Ziele hinarbeiten.«
Willy schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Wir dürfen unsere Geheimnisse gewöhnlichen Leuten nicht verraten.«
»Wie mir scheint, hast du ohnehin schon reichlich Regeln gebrochen. Abgesehen davon, was könnten sie dir jetzt noch anhaben? Muss ich dich daran erinnern, dass du jetzt nicht einmal mehr ein Fädenzieher bist?«
Willys Mund zuckte. Stöhnend zog er die Nase hoch. »Salz in meine Wunden. Das Weinen tut mir weh.« Er wedelte mit den Fingern vor seinem Verband herum. »Aber wie Recht du hast, Umber. Nichts mehr zu verlieren. Ja, wir waren Gegner. Das ist das Spiel, das wir am liebsten spielen. Der eine versucht einen Krieg auszulösen, der andere, ihn zu verhindern. Ein Volk soll gedeihen, ein anderes scheitern. Gib einem Mann Liebe und Reichtum … oder Kummer und Elend.«
Hap verschränkte die Arme. »Und wer war dein Gegenspieler, Willy?«
Beim Klang von Haps Stimme richtete Willy sich wieder ein wenig mehr auf. »Meinst du, wie er hieß? Na, er hieß natürlich Pell Mell – Chaos, Durcheinander.«
»Natürlich.« Umber lächelte Hap an, aber dessen finstere Miene blieb unverändert.
»Happenstance, Willy Nilly, Pell Mell – Zufall, Beliebigkeit und Chaos«, sagte Hap. »Für sie ist es nur ein Witz. Sie spielen mit Worten. Sie spielen mit dem Schicksal.« Er stieß sich mit den Ellenbogen von der Wand ab und trat näher ans Bett heran. »Aber Pell Mell ist tot, oder nicht?« Er richtete einen anklagenden Zeigefinger auf Willy, der ihn nicht sehen konnte. »Oder geblendet, wie du. Weil du seine Augen benutzt hast, um mich zu machen!«
Es schien, als würde Willy mit dem Bett verschmelzen. Seine Stimme wurde noch dünner, ein Lufthauch, kaum noch hörbar. »Es … war die einzige Möglichkeit …«
In Hap flammte eine riesige Wut auf. »Du bist ein Ungeheuer. Du hast ihn ermordet, um mich zu erschaffen!«, rief er. »Wie viele sind noch durch dich gestorben?«
»Hap«, mischte sich Umber beschwichtigend ein.
»Lord Umber, nicht nur Julian und seine Eltern sind gestorben. Was ist mit all den Menschen in Ihrer Welt? Was ist mit denen, Willy? Wie viele sind durch dich gestorben?«
»Hap, er kann dich nicht hören. Er ist wieder bewusstlos. Er muss sich ausruhen.«
Hap sog an seiner Unterlippe. Willy Nillys Kopf war zur Seite gerollt, sein Mund stand offen. »Ich wette, er täuscht das nur vor. Ich hasse ihn!«
»Lass ihn schlafen. Wir reden später weiter. Wir müssen noch mehr erfahren.«
Es klopfte an der Tür. Hap öffnete und sah in Laurels strenges Gesicht. »Ich habe Geschrei gehört«, sagte sie. »Der Patient darf sich nicht aufregen.«
»Sie können ihn haben«, sagte Hap. Unter den vorwurfsvollen Blicken der Ärztin schob er sich an ihr vorbei aus dem Zimmer.