23
Als Hap in den großen Saal zurückging, begegnete er Laurel und Lily, die sich auf dem Weg nach unten befanden. Ihm fiel auf, dass Laurel ihren Arztkoffer dabeihatte und Lily ihre übrigen Sachen in einer Umhängetasche trug. »Reisen Sie ab?«, fragte er.
Laurel nickte mit niedergeschlagenen Augen. »Er ist von uns gegangen.«
»Ja, das wissen wir schon«, sagte Hap. Hinter sich auf der Treppe hörte er Oates’ schwere Stiefel und die leisen Schritte von Sophie. Der klappernde Aufzug brachte Balfour und Hoyle ebenfalls zum großen Saal hinauf.
Laurel sah ihn überrascht an. »Du weißt es? Woher das denn?«
Hap wies in Richtung Pförtnerhaus. »Wir haben gerade gesehen, wie Umber weggebracht wurde. Moment mal … wovon sprechen Sie denn?«
»Von dem Patienten«, sagte Laurel.
»Willy Nilly? Er ist von uns gegangen? Sie meinen … er ist gestorben?«
Laurel nickte. Lily seufzte tief. »Am Ende hat er einfach aufgegeben«, erklärte Laurel. »Er hat gesagt, er sei müde. Und er hat uns die merkwürdigsten Dinge erzählt. Er bat mich, dir etwas mitzuteilen, Happenstance, und das werde ich tun, auch wenn ich es nicht verstehe.« Hap sah sie an, aber sein Blick war verschwommen und er erkannte ihr Gesicht nur undeutlich. »Er sagte, dass ein Fädenzieher stets die Versprechen halten muss, die er gegeben hat«, teilte Laurel mit. »Und deshalb musst du tun, was du ihm und Lord Umber geschworen hast. Sonst wird das Blut einer ganzen Welt an deinen Händen kleben.«
Hap wandte sich ab und verbarg sein Gesicht hinter einem Arm. Er fühlte sich, als hätte sein Geist seinen Körper verlassen und irre jetzt an den Wänden entlang. Er schwankte, bis er schließlich zwei Hände an seinen Schultern spürte. Als er aufschaute, begegnete er Balfours Blick.
»Balfour«, klagte er, »ich weiß nicht mehr weiter. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Balfour nickte. »Ich aber. Oates, wir müssen in den Höhlen Grabstätten für Lady Truden und Willy Nilly vorbereiten. Lass dir von Welkin und Barkin helfen. Happenstance, fahr du mit Sophie und Hoyle zu Kapitän Sandar und arrangiere unsere Abreise aus Kurahaven. Sobald Dodd euch im Hafen abgesetzt hat, soll er herausfinden, wo Umber festgehalten wird. Ich gehe in Umbers Turm, um wie versprochen das Tagebuch zu lesen. Wir treffen uns hier bei Sonnenuntergang wieder. Und falls bis dahin irgendjemand einen Vorschlag hat, wie wir Umber zur Flucht verhelfen können, bin ich sicher, dass wir ihn alle gerne hören würden.«
Als sie die Auffahrt hinunterfuhren, streckte Hoyle ihren massigen Kopf aus dem Kutschenfenster. »Ha! Damit haben sie wohl nicht gerechnet.«
»Womit?«, fragte Hap.
Hoyle lehnte sich zurück, damit Hap und Sophie an ihr vorbei auf den Hafen blicken konnten. »Seht ihr all die leeren Liegeplätze, an denen Umbers Schiffe eigentlich vertäut sein sollten?« Hap und Sophie nickten. »Sie sind alle ausgelaufen«, krähte Hoyle. »Kapitäne und Mannschaft, alle!«
»Heißt das, Kapitän Sandar ist schon fort?« Hap warf Sophie einen besorgten Blick zu.
»Die Bounder ist auch nicht da. Aber sie ist nicht weit weg, glaube ich«, erwiderte Hoyle. Ihre Wangen schwabbelten, als sie mit den Fingern darüberstrich. »Als ich entführt wurde, haben sie wahrscheinlich beschlossen, den Hafen zu verlassen, bevor der elende König neue Kapitäne ernennt. Eins kann ich über Umber auf jeden Fall sagen: Er ist kein besonders guter Geschäftsmann, aber er erweckt in den Leuten große Loyalität.« Sie tätschelte Sophies Knie. »Keine Sorge, meine Liebe. Wir bringen dich hier heil und gesund raus.«
In der Nähe der Reederei Umber stiegen sie aus der Kutsche. Zwischen den hohen Marmorsäulen des großartigen Gebäudes standen zwanzig königliche Soldaten. Hoyle sah sie abschätzig an. »Ungeziefer«, murmelte sie.
Hap warf Sophie einen Blick zu, und sah, wie ihr Unterkiefer herabsank und ihre Augen sich weiteten. Sie starrte auf etwas in Haps Rücken. Er wirbelte herum. Ein großer Mann mit dunkler Kleidung kam direkt auf ihn zu. Der Fremde trug einen breitkrempigen Hut und hielt den Kopf gesenkt, so dass sein Gesicht verdeckt war. Panik fuhr Hap prickelnd in die Glieder. Innerlich schrie er auf: Der Vollstrecker! Doch noch ehe er seine Beine zum Sprung beugen konnte, hob der Mann den Kopf gerade so weit, dass Hap sein Gesicht erkennen konnte.
»Kapitän Sandar«, flüsterte Hap, der sich gerade noch zurückhalten konnte, den Namen laut zu rufen. Er hatte den Kommandanten der Bounder noch nie ohne seine leuchtend blaue Kapitänsuniform und ein schneeweißes Hemd gesehen.
Hoyle packte Sandar am Ärmel. »Kapitän! Wo ist die Bounder? Was ist mit unseren Schiffen passiert?«
Sandar grinste auf seine untersetzte, aber dennoch Respekt einflößende Arbeitgeberin herab. »Sie liegen alle außer Sicht vor Anker, nicht weit von der Bucht. Als die Leibwache des Königs Sie mitgenommen hat, dachten wir, dass die gesamte Flotte ein gutes Pfand wäre, um Sie zurückzubekommen.«
Hoyle schnaubte. »Nicht ich bin es, die wir zurückbekommen müssen, sondern Umber.«
»Lord Umber?« Sandars charmantes Lächeln verschwand. »Was ist geschehen?«
»Er ist von Larcombe, dem Schergen des Königs, gefangen genommen worden. Loden wollte Umber aus dem Weg haben, und jetzt hat er es geschafft.«
»Wir werden uns etwas einfallen lassen, um ihn zu befreien«, sagte Hap. Sophie hakte sich bei ihm unter.
Sandar zog eine Augenbraue hoch. »Nach allem, was ich über dich gehört und von dir gesehen habe, glaube ich sogar, dass du das schaffst, Happenstance.« Er sah zum Marktplatz hinüber, der zwischen dem Hafen und dem großen Palast lag. Dort erhob sich ein Geräusch wie das Summen von Bienen und Hap stellte eine Bewegung in der Menge fest. Die Menschen strömten zum Palast.
»Was ist da los?«, fragte Sophie.
»Lasst es uns herausfinden«, sagte Sandar.
»Geht ihr«, sagte Hoyle. »Ich spreche mit ein paar von unseren Geschäftspartnern und sehe zu, dass ich unsere Kassen vor den gierigen Griffeln des Königs in Sicherheit bringe.« Sie stampfte mit flatterndem Kleid davon.
Sandar führte sie in Richtung der Menschenmenge. Er tippte einem Mann auf die Schulter. »Entschuldigen Sie, mein Freund – wissen Sie, wo all diese Menschen hinwollen?«
»Zum Palast«, antwortete der Mann. »Haben Sie es nicht gehört? Der König hat Lord Umber ins Gefängnis geworfen!«
Hap sah Sophie an und erkannte in ihrer Miene die gleiche Überraschung, die auch er selbst verspürte. »Aber was machen sie denn dann vor dem Palast?«, fragte er.
Der Mann wirkte von dieser Frage verblüfft. »Ich … Ich weiß auch nicht. Aber es ist sicher nicht richtig. Nach allem, was Lord Umber für uns getan hat, meine ich. Ich nehme an, wir werden den König bitten, ihn freizulassen.«
Hap merkte, wie er eine Gänsehaut bekam. Um sie herum waren Dutzende weiterer Leute in Bewegung, und Menschen fanden sich in kleinen Gruppen zusammen, um die Neuigkeiten auszutauschen. »Haben Sie schon das mit Lord Umber gehört?«, fragte eine Frau im Vorbeigehen.
Sandars Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an und seine Augen blitzten grimmig. Neben ihm befand sich ein Stapel von zusammengebundenen Fässern. Er kletterte darauf und rief den versammelten Bürgern zu: »Wie kann der König es wagen, Lord Umber verhaften zu lassen? Leute, denkt daran, was Umber für euch getan hat. Seine Medikamente haben euren Kindern das Leben gerettet. Seine Erfindungen haben euer Leben verbessert. Schaut nur die Wunder an, die er dieser Stadt geschenkt hat! Denkt an die Musik, die er uns gebracht hat und die eure Seelen berührt. Denkt an die Schiffe, die er entworfen hat und die wie Delfine durch die Wellen pflügen und uns allen Wohlstand bringen! Und jetzt will Loden, dass all das aufhört – und warum? Aus schnöder Eifersucht. Das darf nicht sein! Umber hat an den Wert und die Kraft eines jeden von euch geglaubt – nicht nur von Adligen, sondern auch von einfachen Bürgern wie euch und mir. Und jetzt müssen wir Umber zu Hilfe kommen. Auf zum Palast – wenn alle Bürger nach Umbers Freiheit verlangen, dann hat der König keine Wahl!«
Köpfe nickten. Der Geräuschpegel stieg. Einige, die gesessen hatten, standen auf. Andere, die standen, setzten sich in Bewegung. Und wieder andere, die schon gingen, fingen an zu laufen. Die Händler beeilten sich, ihre Waren zu verstauen und ihre Zelte zu schließen, damit sie sich der Menge anschließen konnten.
Sandar sprang von den Fässern herunter und rieb sich die Hände. »Los, hinterher!«
Kurz vor dem Ende des Marktplatzes blieben sie stehen. Die Marktstraße mündete an dieser Stelle in einen offenen Platz, auf dessen gegenüberliegender Seite der Palast aufragte. »Ich habe Angst um die Leute«, sagte Sophie. Hap nickte. Eine gewaltige Menge sammelte sich vor den Mauern und wurde von Minute zu Minute dichter. Die Menschen strömten vom Markt, aus den Schiffswerften und den Straßen in der Umgebung zusammen. Der Rand des Burggrabens war bereits von Menschen übersät und die Brücke vor den mächtigen Eichentüren, die wie eine Auster zugeklappt waren, hatte sich ebenfalls gefüllt. Auf der Festungsmauer, die den Burggraben überragte, erschienen Wachsoldaten, die die Menge beobachteten und miteinander tuschelten. Sie hatten Bögen über den Schultern, aber die Pfeile befanden sich noch in den Köchern. Aus der Menge erhoben sich Rufe: »Befreit Lord Umber!« und »Lasst ihn frei!«. Ein Offizier mit finsterer Miene lehnte sich über die Mauer und befahl der Menge, sich zu zerstreuen, wenn sie nicht den Ärger des Königs auf sich ziehen wolle. Aber niemand bewegte sich und der Geräuschpegel stieg nur noch weiter an.
Hap lief ein Schauer über den Rücken, aber nicht weil ihn die Szene vor ihm beunruhigte. Eine dumpfe Hitze stieg in seinen Augen auf. Er schloss die Lider und wusste, dass er, wenn er sie wieder öffnete, die Lichtfäden sehen würde, und zwar zum ersten Mal seit vielen Tagen. Diesmal darf ich sie nicht verlieren, befahl er sich selbst. Ich muss sie unter Kontrolle bekommen. Er machte die Augen auf.
Die Filamente waren da, leuchtender als je zuvor: Tausende schimmernder Lichtfäden. Jeder Mensch in der Menge hatte seinen eigenen, der ihn auf Schritt und Tritt begleitete und anzeigte, woher er kam und wohin er gehen würde. Vorsehung, dachte Hap, jeder Faden zeigt das Schicksal eines Menschen an.
Nahe seiner linken Hand, in dem belebten Teil der Marktstraße, hing ein ganzes Bündel von Lichtfäden. Hap hob seine Hände und bewegte sich darauf zu.
Er bekam undeutlich mit, dass Sandar ihm hinterherrief: »Hap – was ist los mit dir? Was machst du?«, und dass Sophie antwortete: »Kapitän, lassen Sie ihn – er muss sich konzentrieren!«
Ja, konzentrieren, befahl sich Hap. Sie verstehen. Er berührte die Lichtfäden wie die Saiten einer Harfe und lauschte ihrem eigenartigen Gesang, der am lautesten war, wenn das Licht durch seine Handflächen hindurchging. Einige der Fäden waren verfärbt. Hap wurde mulmig zu Mute. Er suchte nach dem dunkelsten Filament und bemühte sich, dessen Bedeutung zu verstehen. Er sprach die Worte unwillkürlich aus: »Vor uns liegen Leiden und Tod.«
Hap bemerkte, dass Sophie nur einen Schritt hinter ihm stand und ihm etwas zuflüsterte. Sie war ihm leise auf die Straße gefolgt. »Was ist, Hap? Was wird geschehen?«
Hap kniff die Augen fast ganz zu und starrte auf die Lichtfäden. »Ich bin mir nicht sicher. Diese Leute … sind in Gefahr. Nicht nur vom Palast her. Da ist noch etwas.« Er untersuchte das vorbeischwebende Fädenbündel genauer. Selbst die allerhellsten Fäden enthielten dunkle Flecken. Außerdem wurden die Filamente als Gesamtheit zwischendurch immer wieder kurz dunkel, wie eine Kerze, die in einem Lufthauch flackert. Es verspürte den Drang, die Worte der Hexe zu wiederholen. Eine Bedrohung. Etwas, das ich nicht kenne.
»Hap, sind wir in Gefahr – du und ich und Sandar?« Sophies Stimme zitterte.
Hap durchfuhr ein Schrecken. Er konnte kaum glauben, dass er versuchte, die Schicksale von Fremden zu entschlüsseln, während sich die Filamente seiner Freunde im gleichen Moment direkt hinter ihm befanden. Doch als er sich umdrehte, um einen Blick darauf zu werfen, wurde er von einem Geräusch aus der Menge so sehr abgelenkt, dass die Lichtfäden in seinem Sichtfeld in winzige glitzernde Sternchen zerstoben und dann ganz verglühten.
Ein Mann pfiff die Melodie, die er schon zweimal zuvor gehört hatte, einmal hier auf dem Markt und einmal von Umber gesungen, als er sich in seinem Elatia-Rausch befunden hatte. Hap fiel der Liedtext sofort wieder ein: »What shall we do with the drunken sailor …«
Er sah einen Mann mit gespitzten Lippen, der sich vom Palast entfernte und sich ihnen näherte. Hap starrte den Pfeifer an. Er war ein hagerer Mann von normaler Größe, dem seine grobschlächtigen Gesichtszüge und die eng beieinanderliegenden Augen einen verschlagenen Ausdruck verliehen. Über einem beigen Hemd und einer eng anliegenden braunen Hose trug er einen hellbraunen Umhang – schlichte und gewöhnliche Kleidung, die keine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.
Der Pfeifer schaute zu ihnen hin. Er nahm Sandar gelassen zur Kenntnis, doch seine Augen weiteten sich und die Melodie verstummte, als er Haps grünäugigen Blick auf sich spürte. Er kennt mich, dachte Hap. Der Pfeifer drehte sich um und rannte weg. Er lief auf den nächstgelegenen Gang zwischen zwei Marktständen zu, jenes Labyrinth, in dem er schon einmal verschwunden war.
»Haltet diesen Mann!«, schrie Hap und sprang ihm nach, ohne auf die anderen zu warten. Mit einem Sprung schaffte er es ein Dutzend Schritte weit. Der Gejagte lief gerade durch einen schmalen Gang zwischen zwei Marktzelten, da landete Hap direkt hinter ihm. Als der Mann im Laufen einen Fuß hob, schnappte Hap nach seinem Knöchel. Der Pfeifer stolperte und stürzte. Er fiel auf seine Schulter und rollte dann auf den Rücken; dabei riss er Hap, der immer noch an seinem Fuß hing, mit. Der Mann bleckte die Zähne und fauchte Hap an. Mit seinem anderen Fuß trat er gegen Haps Schläfe, und Hap sah orangefarbene Sterne, während sich der Schmerz in seinem Schädel ausbreitete. »Lass los!«, schrie der Pfeifer und holte erneut mit dem Fuß aus. Sein Absatz schwebte vor Haps Augen und drohte ihn ins Gesicht zu treffen. Doch da erschien ein weiterer Stiefel, der den Absatz zu Boden drückte. Der Pfeifer schrie vor Schmerz auf und schützte sein Gesicht mit den Armen, als die starken Hände Sandars nach seinem Hals griffen.
Sandar packte den Mann am Hemd und zwang ihn in eine sitzende Haltung. Dann holte mit einem Arm aus, die Hand zur Faust geballt. »Dafür, dass du diesen Jungen getreten hast, sollte ich dir die Zähne einschlagen!«
Der Pfeifer verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Aber er hat mich zuerst angegriffen!«
Sandars Miene zeigte, dass er seine Wut nur mit Mühe unter Kontrolle halten konnte. »Hap, was sagst du dazu?«
Hap starrte den Pfeifer an. Der Mann kam ihm in keiner Weise bekannt vor. »Wir wollten nur mit Ihnen reden, aber Sie sind weggelaufen. Und Sie sind früher schon einmal vor Lord Umber davongelaufen. Dieses Lied, das Sie gepfiffen haben – woher kennen Sie das?«
Der Mann schielte auf Sandars Hand, die den Stoff unter seinem Kinn gepackt hielt. Er warf Sophie einen Blick zu, die ihn nervös anschaute, und dann Hap.
»Sandar, Sie können ihn loslassen«, meinte Hap.
Sandar ließ das Hemd des Mannes los. Der Pfeifer rieb sich die Kehle und klopfte sich Schmutz von den Knien. Dann setzte er stirnrunzelnd und mit nach unten gezogenen Mundwinkeln eine wenig überzeugende Unschuldsmiene auf. »Das ist bloß irgendein Lied, das ich mal gehört habe. Das ist alles.«
»Wo gehört?«, bohrte Hap nach. Sandar und Sophie sahen ihn zunehmend verwirrt an. Er konnte es ihnen nicht verübeln.
»Zu Hause«, antwortete der Pfeifer.
»Zu Hause? Wo ist dieses Zuhause? Kommen Sie aus …« Hap biss sich auf die Lippe. »… demselben Ort wie Lord Umber?«
Der Pfeifer warf Hap einen neugierigen Blick zu und seine Lippen umspielte der Hauch eines Grinsens. »Jetzt wird die Sache langsam interessant.« Er gluckste in sich hinein und stand vorsichtig auf. »Na ja. Macht es überhaupt einen Unterschied, was ich dir jetzt sage? Soviel ich weiß, hat dein Freund Lord Umber ohnehin jede Menge Ärger, deshalb ist es wohl egal. Wenn ich zu Hause sage, Kleiner, dann meine ich den Ort, von dem ich komme. Auf der anderen Seite des Meeres.«
»Der Ferne Kontinent?«, fragte Hap. Die Erwähnung des feindseligen Landes ließ Sandar erstarren. Er schien kurz davor zu sein, den Pfeifer erneut am Schlafittchen zu packen. Sophie machte einen halben Schritt rückwärts.
»So nennt ihr ihn. Wir haben dafür einen anderen Namen. Einen neuen Namen, genauer gesagt.« Der Pfeifer sah zu den hoch aufragenden Turmspitzen des Palastes hinüber. »Ihr Leute habt hier eine ganz ordentliche Stadt gebaut. Das hier war ein mächtiges Königreich. Aber die Dinge werden sich ändern. Und zwar schneller, als ihr denkt.«
Sandar, der den Pfeifer um einen ganzen Kopf überragte, sah ihn drohend von oben herab an. »Ich glaube, die erste Frage des Jungen verdient eine bessere Antwort.«
Der Pfeifer rückte seinen staubigen Umhang zurecht und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Oh … die nach dem Lied? Na ja, ein Mann, den ich kenne, pfeift es gerne. Er ist sehr mächtig. Sogar der mächtigste Mann auf der Welt – jedenfalls wird er es bald sein. Er hat mich hierher geschickt.«
»Um Lord Umber nachzuspionieren?«, fragte Hap.
Der Pfeifer reckte das Kinn vor und kratzte sich am Hals. »Nun ja. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Wort gut finde, nachspionieren. Ich bin eigentlich eher ein Beobachter. Und findest du nicht auch, dass es sich lohnt, Lord Umber zuzusehen? Es ist merkwürdig. Wie kann ein Mann zu so vielen Leistungen in der Lage sein? All die Erfindungen, Medikamente, Schiffbaupläne und Musikstücke, hmmm?«
Sandar starrte den Pfeifer mit mahlenden Kiefern an. Er wandte sich an Hap, um ihm eine Frage zu stellen, doch da wurden sie von einem Tumult in der Nähe des Palastes abgelenkt. Der Lärm der Menge brandete wieder auf, aber diesmal klang es anders. Stimmen erhoben sich und Panikschreie waren über das Gemurmel zu hören. Dann vernahm Hap das Donnern vieler Schritte, die sich plötzlich in Bewegung setzten.
Sophie war der breiteren Straße, die durch den Markt führte, am nächsten. Sie machte einen Schritt dorthin, um den Palast besser sehen zu können, und ihre Kinnlade klappte herunter. »Die Männer des Königs schießen in die Menge!« Schnell trat sie in die Seitengasse zurück, um den ersten Menschen auszuweichen, die vor den fliegenden Pfeilen flohen. Eine Gruppe Männer kam in den Gang gelaufen und duckte sich hinter die Zelte. Der Pfeifer witterte seine Chance. Er überraschte den größeren Sandar und stieß ihn weg. Dann holte er mit dem Arm aus und schlug Hap im Vorbeilaufen gegen den Kopf. Haps Ohr brannte; er kniff die Augen zu und sank in die Knie. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass auch Sophie sich die gerötete Wange hielt und das Gesicht verzog. Der Pfeifer hatte sich unter die panische Menge gemischt und war verschwunden.
Sandar griff Hap unter die Arme und zog ihn hoch. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Als Hap nickte, wandte er sich an Sophie. »Hat er dich geschlagen?« Sophie nickte und tastete ihre Wange nach Blut ab.
»Wenn ich diesen Spion noch einmal sehe, dann kann er was erleben«, stieß Sandar schnaubend hervor. »Na los, ihr zwei, lasst uns nach Aerie zurückkehren, bevor die Armee des Königs durch die Straßen zieht.«
Durch die engen Durchgänge zwischen den Marktständen machten sie sich auf den Weg zum Hafen. Sie mieden die breitere Straße, durch die sich die flüchtende Menge schob. Kurze Zeit später hörten sie Pferdegetrappel ganz in der Nähe, gefolgt von weiteren Angstschreien. Von den Gassen aus erspähte Hap berittene Soldaten, die mit grimmigen Mienen ihre Schwerter schwangen und auf die Menschen einschlugen.
Die schmale Gasse endete am unteren Ende des Marktviertels, kurz vor der großen Hafenmauer. Auf der Flucht vor den tödlichen Pfeilen war die Menge die abschüssigen Straßen hinuntergelaufen und sammelte sich hier. Doch anstatt die Sicherheit ihrer Häuser und anderer Gebäude aufzusuchen, standen sie wie erstarrt da und blickten aufs Wasser hinaus.
»Was zur Hölle?«, flüsterte Sandar.
Dutzende vertrauter Schiffe fuhren mit großer Geschwindigkeit unter vollen Segeln in den Hafen ein und hielten auf ihre Anlegestellen zu. Am Bug der ankommenden Schiffe winkten Seemänner mit Hemden und Hüten und zeigten auf die offene See.
Sandar schirmte die Augen mit einer Hand vor der Sonne ab und knirschte mit den Zähnen. »Da ist die Bounder – und der Rest unserer Schiffe! Warum kommen sie zurück?«
»Auf See geht irgendetwas vor«, sagte Sophie leise. »Sie bringen sich in Sicherheit.«
Hap starrte auf die Hafenmündung. Beiderseits der Hafeneinfahrt stieg das Land steil an. Auf beiden dieser Hügel standen Signaltürme, aus denen Rauchwolken aufstiegen.
»Da nähert sich etwas«, sagte Hap und erinnerte sich an all die Warnungen vor der drohenden Vernichtung. Im Meer ist etwas Seltsames. Im Westen, hatte Nima ihnen berichtet. Boroon hat es gehört … ein anhaltendes Donnergrollen im Wasser, im Rhythmus eines Herzschlags. Ihm fiel Burrell, der verschreckte Seemann, wieder ein. Feuermonster hatte Burrell das Ding genannt, das sein Schiff zerstört hatte.
Während er dastand und über all diese Omen nachdachte, erschien das Ding. Zuerst war es nur ein dunkler Schatten, der sich hinter den hohen Hügeln langsam ins Sichtfeld schob.
»Es ist da«, sagte Hap, und sein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet.