28
Genauso schnell riss er den Kopf wieder zurück und blickte die anderen mit offenem Mund an. Dann machte er die Tür ganz auf.
»Er ist weg«, sagte Umber. Hap sah die anderen Männer im ganzen Raum verteilt neben ihren Gewehren auf dem Boden liegen. Doch Doane war nicht dort, wo er hätte sein sollen, nämlich direkt vor der Tür.
Umber trat in den großen Saal und spähte nach rechts und nach links. Er hustete und legte eine Hand vor den Mund. Der Geruch des Betäubungsmittels lag noch in der Luft, ein süßer, blumiger Duft, bei dem Hap eine leichte Schläfrigkeit befiel.
»Aber wie kann er denn entkommen sein?«, fragte Hap.
»Ich glaube nicht, dass er das konnte«, sagte Umber. »Es sei denn, irgendjemand …« Er erstarrte und bedeutete ihm hektisch, sich wieder in die Sicherheit des Gangs zurückzuziehen. Sie hörten Schritte, die von unten kamen. Bevor Umber die Tür zuschlagen konnte, erblickten sie das vertraute Gesicht von Dodd, der über die Treppe nach oben gerannt kam.
»Dodd!«, rief Umber und winkte ihn heran. »Schnell – komm hierher!«
Dodd lächelte und hob eine Hand. »Sie brauchen sich nicht zu verstecken, Lord Umber. Aerie ist wieder eine sichere Festung.« Er betrachtete die zwölf bewusstlos auf dem Boden liegenden Männer. »Aber wir müssen irgendetwas gegen diese Raufbolde unternehmen, bevor sie wieder aufwachen.«
»Bringt sie um!«, ertönte ein dünnes Stimmchen aus der Höhe ihrer Knöchel. Thimble trat aus einem Spalt in der Wand. Das winzige Männlein hatte ein Messer gezückt und schwang es durch die Luft.
»Nein, zu dieser Art von Leuten zählen wir nicht«, sagte Umber und ging in die Hocke.
»Zu dieser Art von Leuten zählen wir nicht«, wiederholte Thimble und betonte die Worte so, als wäre Umber ein wehleidiges Kind. »Du rennst in dein Verderben, Umber. Ich habe das ganze Gespräch mitangehört, das du mit deinem Jonathan geführt hast. Er wird keine Gnade mit dir haben. Jeder dieser Männer wird dich töten, wenn er es befiehlt. Warum willst du ihnen die Chance dazu geben? Keine Sorge, ich erledige das für dich. Ihre Hälse sind genau da, wo ich sie haben will … Ein kleiner Schnitt, mehr ist es nicht.«
»Thimble!« rief Umber so ernst, dass der kleine Mann wie vom Donner gerührt stehen blieb. »Wenn du nur einen einzigen von diesen Hälsen aufschlitzt, hole ich innerhalb einer Stunde eine ganze Armee von Katzen nach Aerie. Und jetzt geh zurück in die Wand und überlass das uns!«
Thimble reckte Umber grummelnd seine Faust entgegen und schlüpfte in den dunklen Spalt zwischen zwei Steinen.
Umber beobachtete seinen Rückzug kopfschüttelnd. Dann drehte er sich zu Dodd um und riss erschrocken den Mund auf. »Dodd!«, rief er.
Dodd hatte eins der Gewehre vom Boden aufgehoben, um es zu inspizieren, hielt es gerade vor sich hin und starrte neugierig daran entlang, wie er es die Eindringlinge hatte tun sehen. Erschrocken von Umbers Ton blickte er auf.
»Dodd, leg das wieder hin!«, rief Umber und zeigte auf den Boden. »Sieh dir das nicht an und hör auf, auch nur daran zu denken!« Dodd bückte sich, legte das Gewehr auf den Boden und richtete sich, durchs Umbers Worte verschreckt, sofort wieder auf.
Umber fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und versuchte, sich wieder zu fangen. »Tut mir leid, Dodd. Ich wollte nicht so unfreundlich sein. Erzähl mir, was passiert ist. Wo ist der Anführer von diesen Grobianen?«
Dodd räusperte sich und rang sich ein Lächeln ab. »Welkin, Barkin und ich waren unten und wurden von einer Gruppe dieser Eindringlinge beobachtet. Dann hörten wir von oben diese knallenden Geräusche – was für ein Lärm! Einige der Männer rannten in den großen Saal hinauf und kamen kurz darauf wieder zurück. Sie taumelten wegen des Schlafmittels und schleiften diesen Souverän, oder wie sie ihn nennen, hinter sich her. Sie trugen ihn nach draußen, und ich muss sagen, dass sie nicht gerade die Hellsten sind, denn alle außer zweien von ihnen vergaßen völlig, dass wir auch noch da waren. Die haben wir überrumpelt, indem wir ihnen diese Todesstäbe wegnahmen, und daraufhin sind sie den anderen hinterhergerannt. Wir brauchten also nur noch die Tür hinten ihnen zuzuschlagen und zu verriegeln.«
Umber schlug Dodd auf die Schulter. »Großartig! Und wo sind sie alle hingelaufen?«
Dodd zeigte mit dem Daumen in die Richtung. »Ins Pförtnerhaus und auf die Auffahrt. Sie versuchen, ihren Anführer wiederzubeleben.«
»Er wird nicht mehr lange schlafen«, sagte Umber. »Also lasst uns handeln. Oates, du trägst diese Kerle runter zum Pförtnerhaus! Dodd, fessle sie, damit sie uns keinen Ärger mehr machen!« Umber wandte sich Hap und Sophie zu und holte tief Luft, bevor er weitersprach: »Ihr zwei nehmt diese Gewehre. Ich hole die von unten. Berührt auf keinen Fall das gekrümmte Metallstück in der Mitte. Und achtet darauf, dass das hohle Ende weder auf euch noch auf sonst jemanden zeigt. Stapelt sie in der Ecke und legt ein Tischtuch aus der Küche darüber. Alles klar?«
Sophie nickte. »Alles klar«, sagte Hap.
Der Aufzug setzte sich von oben in Bewegung und Balfour erschien auf einer der Plattformen. Umber grinste von einem Ohr zum anderen und begrüßte ihn mit lautem Klatschen, während der alte Mann rot anlief und den Applaus mit Gesten zum Verstummen zu bringen versuchte.
»Der da ist tot«, verkündete Oates dröhnend.
Er stand über dem Mann, den die von der Wand abgeprallte Kugel getroffen hatte. Hap sah eine glitzernde Blutlache unter seinem hingestreckten Körper.
Umbers Applaus endete abrupt. Er ging zu der Leiche des Mannes und warf einen wütenden Blick auf das Gewehr zu seinen Füßen. »Wie schnell sie töten.« Er schüttelte den Kopf. »Bring ihn zu den anderen nach unten, Oates, schnell! Ich weiß nicht, wie lange sie noch schlafen.«
»Ich könnte ihnen einfach den Hals umdrehen«, sagte Oates und drehte einen imaginären Kopf in seinen Händen.
»Was ist nur mit euch allen los, Leute?«, rief Umber und warf empört die Arme in die Luft. »Bringt sie einfach nach unten. Aber vorsichtig!«, fügte er hinzu, als Oates sich einen der Bewusstlosen wie einen Putzlumpen über die Schulter warf.
Hap zog gerade ein Tuch über den Gewehrstapel, als eine Stimme durchs Fenster drang. »Brian! Wir müssen reden!«
Balfour stand ihm am nächsten und spähte rasch hinaus, zog den Kopf aber schnell wieder zurück, für den Fall, dass Kugeln durch die Luft flogen. »Das ist dein Freund, der gemeingefährliche Irre«, sagte er zu Umber.
Umber stellte sich neben das Fenster, hielt den Rücken aber an die Wand gedrückt. Ohne sein Gesicht zu zeigen, rief er: »Das muss aufhören, Jonathan!«
»Ich will den Computer. Und ich kriege ihn auch!« Doanes Ton hatte sich verändert. Zuvor hatte Hap den Eindruck gehabt, dass sein brutaler Feldzug ihm großen Spaß machte. Nun war nur noch kalte, gehässige Wut übrig.
»Selbst wenn ich ihn hätte, würde ich ihn dir nicht geben«, erwiderte Umber. »Sieh doch nur, was du mit deinem Wissen angerichtet hast! Nein, Jonathan. Eher würde ich ihn auf den Felsen zertrümmern. Oder ins Meer werfen.«
Es folgte eine merkwürdig friedliche Stille, die nur vom Schreien der Möwen unterbrochen wurde. Dann richtete Doane erneut das Wort an ihn: »Hör zu, Brian. Ich fahre jetzt zurück zu meinem Schiff. Meine Männer werden diese Auffahrt bewachen und mir ein Zeichen geben, wenn du den Gegenstand herausrückst, den ich suche. Wenn du es nicht tust, werde ich alle Kanonen an Bord der Vanquisher auf diese Stadt richten. Und alles, was deine Handschrift trägt, werde ich zerstören. Deine Segelschiffe. Deine Bibliotheken und Schulen. Dein Krankenhaus. Jeden noch so kleinen Hinweis auf moderne Architektur. Du bittest mich, mein Schiff zu versenken und alles rückgängig zu machen, was ich erreicht habe? Das wird jetzt dein Schicksal sein, Brian. Ich schlage vor, du schaust von deinem Dach aus zu. Es wird ein Spektakel werden – und zwar eins, das diese Welt noch nicht gesehen hat. Hörst du mich? Du hast eine Stunde, um mir zu geben, was ich haben will. Und wenn du unser Leuchtsignal siehst, hast du noch eine Minute.«
Umber legte den Kopf in den Nacken und stieß ihn gegen die Wand. Dann schloss er die Augen und rief mit großer Emphase: »Erinnere dich, wer du warst, bevor du hierherkamst, Jonathan! Dein Geist hat sich in sein Gegenteil verkehrt, dein Ehrgeiz wurde in falsche Bahnen gelenkt. Aber ich kann dir helfen. Schick deine Männer weg und komm alleine hier rein!«
Er bekam keine Antwort. Hap hörte, wie die Tür der Kutsche zufiel. Zügel schnalzten, Hufe klapperten, Räder setzten sich quietschend in Bewegung. Die Geräusche wurden leiser. Umber riskierte einen raschen Blick durchs Fenster und blies die Luft durch den Mundwinkel aus. »Er ist weg. Ungefähr ein Dutzend Männer ist hiergeblieben, auf der Auffahrt.« Umber legte die Hände über dem Kopf zusammen und seufzte. »Ruft bitte die anderen her. Ich möchte mit euch allen reden.«
Sie stellten sich in einem Halbkreis auf: Oates, Balfour, Sophie, Hap, Welkin, Barkin und Dodd. Selbst Smudge war mit vielen Versprechungen aus dem Archiv gelockt worden, doch er stand abseits von der Gruppe und fingerte grummelnd an seinem ungepflegten Bart herum. Umber trat vor sie hin und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Meine Freunde. Vertraut ihr mir?«
»Natürlich«, sagte Balfour.
»Ich auch«, sagte Hap.
Umber schaute Oates an. »Ich vertraue dir«, sagte Oates.
Bei diesen Worten lächelte Umber. »Das bedeutet sehr viel, wenn es von dir kommt. Hört alle her. Ihr habt eben einige Dinge gehört, die euch sicher verwirrt haben, und ich muss sie euch erklären. Ähm … wo soll ich anfangen?« Umber schaute zu Boden, schüttelte den Kopf und kicherte leise, als könnte er nicht glauben, dass er im Begriff war, seine Geheimnisse mit allen zu teilen. »Doane und ich kommen … von dem gleichen Ort. Und ich habe etwas, was Doane für sich fordert, einen Gegenstand, der eigentlich nicht in dieses Land gehört. Es ist ein Gerät, das Computer genannt wird. Ein wunderbares Gerät, das Informationen über alles enthält, was ihr euch vorstellen könnt. Alles, was ich hier geschaffen habe – die Häuser, die Maschinen, die Medikamente, die Musik –, stammen aus diesem Apparat. Ich habe die Macht, die dieser Computer mir gab, dafür zu nutzen versucht, diese Welt zu verbessern. Aber Doane möchte mit ihrer Hilfe noch größere Gräuel als dieses Kriegsschiff im Hafen erschaffen. Deshalb darf ich ihm den Computer nicht geben, egal, was passiert. Könnt ihr mir bis hierher folgen?«
Hap schaute in die Runde; alle betrachteten Umber mit derselben Mischung aus Erstaunen und Bewunderung. Dodd brach das Schweigen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich alles verstanden habe. Aber wie gesagt: Wir vertrauen dir.«
Umbers Mund zuckte, und er bedeckte seine Augen einen Moment lang mit einer Hand. »Danke. Vor uns liegt ein Albtraum. Ich weiß nicht, wie wir ihn aufhalten können. Aber … ich glaube, wir sollten uns auf das vorbereiten, was nun kommt. Seine letzte Attacke wird Aerie gelten. Sie werden unseren Felsenturm entweder vollständig zerstören oder ihn aufsprengen und erstürmen, um den Computer zu suchen.«
»Und was sollen wir deiner Ansicht nach tun?«, fragte Barkin.
»Nehmt so viel, wie ihr tragen könnt, und bringt es in die Höhlen hinunter. Da unten sind wir vor den großen Kanonen in Sicherheit. Und falls nötig …« Umber zog eine Grimasse und rieb sich das Kinn, » …entkommen wir vielleicht durch die Unterwelt.«
»Durch die Höhlen?«, kreischte Smudge.
Balfour erbleichte. »Du meinst, wir müssen durch das Fallgitter unten?«
»Aber von dort kam doch der Troll«, sagte Sophie mit erstickter Stimme.
»Der Troll ist noch das geringste Problem«, heulte Smudge. »Diese Höhlen sind voller Monster – voll von fürchterlichen Wesen, die der Hexe gedient haben, als sie noch hier geherrscht hat!«
»Aber vielleicht gibt es dort auch einen Weg nach draußen«, sagte Umber. »Das ist unsere letzte Rettung.«
»Könnten wir nicht aus dem Seitentor schlüpfen und uns in Petraportus verstecken?«, fragte Balfour. »Vielleicht können wir uns ja schwimmend in Sicherheit bringen.«
Umber schüttelte den Kopf. »Sie würden uns entdecken. Die Schützen würden uns einen nach dem anderen erschießen oder ihre Kanonen würden uns in Stücke reißen. Nein, die Höhlen sind vielleicht unsere einzige Chance. Holt jetzt alles, was ihr braucht. Balfour, nimm aus der Küche Wasser und Essen für uns alle mit. Und kommt so schnell wie möglich hierher zurück!«
Hap trat auf die Terrasse hinaus. Er atmete tief ein und sog den Duft der Blüten des Vielfruchtbaums und anderer erstaunlicher Pflanzen in Umbers Garten in seine Lunge. Die Tür zu Umbers Turm stand offen und Hap sah, dass ein flackerndes Licht durchs Fenster drang. Er ging hinein und stieg die Treppe hoch. Umber stand in seinem Arbeitszimmer und starrte auf eine Auswahl von Büchern und Gegenständen auf seinem Schreibtisch.
Umber blickte auf und kaute auf seiner Unterlippe herum. »Du solltest nicht allein hier herumlaufen, Hap. Wenn der Vollstrecker auftaucht …«
Hap zuckte mit den Schultern. »Wir haben so viele andere Probleme, dass ich ihn schon fast vergessen hatte.«
Umber lachte schnaubend und blickte dann wieder auf das Durcheinander auf seinem Schreibtisch. »Seit zehn Jahren sammle ich alles Mögliche. Wie soll ich da entscheiden, was ich hierlasse?«
Hap war diese Entscheidung nicht so schwergefallen. Er existierte erst seit einigen Monaten und besaß daher auch nur sehr wenige Dinge. »Ich kann noch ein paar von Ihren Sachen tragen«, sagte er. Die Elatia stand in ihrem Topf auf dem Schreibtisch. »Die sollten wir auf jeden Fall mitnehmen«, fuhr er fort und zeigte darauf.
Umber schien ihn nicht zu hören. Er deutete auf die Folianten auf einem Regal, Die Bücher von Umber, in denen er seine Entdeckungen all der monströsen und magischen Dinge festgehalten hatte. »Dafür ist natürlich nicht genug Platz. Und die da kann ich auch nicht mitnehmen.« Er wedelte mit der Hand über der Kiste mit Glücksbringern und Talismanen, die früher einmal Turiana gehört hatten. »Wenn wir sie mit in die Höhlen nehmen und Turiana noch dort ist, fallen sie ihr noch leichter in die Hände. Ich lasse sie besser hier, damit sie in den Trümmern von Aerie begraben werden.«
Hap trat an Umbers Fenster und starrte auf das riesige Schiff im Hafen hinunter. »Wird er wirklich die Stadt zerstören? Nur weil Sie ihm nicht den Computer geben?«
Umber ließ den Kopf in die Hände sinken. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah um zehn Jahre gealtert aus. All sein jugendlicher Elan war verflogen und es hatte den Anschein, dass er wieder nahe daran war, in eine seiner tödlichen melancholischen Stimmungen zu versinken. »Happenstance. Ich … Ich habe immer gedacht, ich würde das Richtige tun. Aber jetzt … Allen würde es besser gehen, wenn ich nie hier aufgetaucht wäre. Wie ist es nur so weit gekommen?«
Haps Gedanken wirbelten durcheinander. Er lehnte sich seufzend gegen das Fensterbrett und schaute auf die prächtige Stadt hinaus, das Wunder ihres Zeitalters, das im Begriff stand, der Zerstörung anheimzufallen. »Es ist nicht Ihre Schuld. Das waren die Fädenzieher. Willy Nilly hat mich hierher gebracht. Und Willys Gegenspieler hat Ihren Freund auf dem Fernen Kontinent wiederauftauchen lassen. Anschließend haben sie Sie und ihn aufeinandergehetzt wie Figuren in einem Spiel.«
»Aber jetzt sind beide Fädenzieher tot. Und Jonathan wird gewinnen«, murmelte Umber. »Und zwar jede Minute.«
Hap sah, wie die königliche Kutsche unten am Hafen hielt. Der Souverän stieg aus und ging zu dem Boot, das ihn zurück zur Vanquisher bringen würde. Er wandte den Kopf und starrte nach Aerie hoch, und Hap hatte trotz der großen Distanz das Gefühl, dass sich ihre Blicke trafen.
Hap wurde unruhig. Er verspürte das Bedürfnis, aus dem Fenster zu schreien und Doane zu verfluchen. Mehr als je zuvor wünschte er sich die Fähigkeit, die Lichtfäden zu sehen, durch die Zeit zu springen und weite Entfernungen zurückzulegen. Ich könnte das Problem lösen, dachte er. Ein Fädenzieher sollte das können. Warum kann ich es also nicht?
Ihm fiel wieder ein, was Willy ihm über die Gründe dafür gesagt hatte, dass er seine besonderen Fähigkeiten nicht nutzen konnte. Der Junge ist empfindsam. Er hängt sein Herz an andere Menschen, hatte Willy gesagt. Fädenzieher durften keine Gefühle für andere entwickeln. Sie waren selbstsüchtige, unberechenbare Wesen, die nur das Spiel mit dem Schicksal interessierte. »Wie soll ich denn aufhören, andere gernzuhaben?«, fragte Hap laut.
»Was?«, fragte Umber, der aus seinen dunklen Gedanken gerissen wurde.
Hap stieß sich von der Wand ab und raufte sich die Haare. Ihm war ein Gedanke gekommen; eine Erinnerung aus seinem kurzen, aber ereignisreichen Leben. »Sie haben doch einmal etwas mit mir gemacht«, sagte er.
Umber runzelte die Stirn. »Habe ich das?«
Hap eilte durch das Zimmer, beugte sich über den Schreibtisch und starrte Umber in die Augen. »Ja. Als sie versucht haben mir zu helfen, mich an mein Leben vor diesem zu erinnern!«
Umber legte den Kopf schief. »Ja, richtig. Ich … habe dich hypnotisiert. Aber es hat kein gutes Ende genommen.«
Hap erinnerte sich nur zu gut daran, wie es sich angefühlt hatte, als Umber in seinem Kopf herumgestöbert und ihn in die Vergangenheit geführt hatte. Als Hap sich schließlich an seinen eigenen Tod erinnert hatte, war er in Panik ausgebrochen. »Sie müssen es noch mal machen. Aber diesmal nicht, damit ich mich an etwas erinnere.«
Umber wackelte mit dem Kopf. »Sondern?«
Hap schlug mit der Faust auf den Tisch. »Als Sie mich hypnotisiert haben, haben Sie mir gesagt, was ich fühlen soll, und ich habe es gefühlt. Sie haben mir gesagt, dass ich müde sei. Und ich war müde. Sie haben mir gesagt, dass ich Dinge in meiner Erinnerung sehen würde, und ich habe sie gesehen. Sie haben mir gesagt, dass mein Arm schwerelos sei, und er fühlte sich schwerelos an!«
»Aber … Aber was möchtest du denn, dass ich dich diesmal fühlen lasse?«
»Nichts!«, rief Hap. »Sie müssen mir sagen, dass ich nichts empfinden und an niemanden denken soll!«