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Sie setzten sich auf dieselbe Bank auf der Terrasse wie damals, unter den Vielfruchtbaum.
»Ich weiß nicht, ob wir dazu noch genügend Zeit haben«, sagte Umber. Seine Stimme bebte und sein Blick wanderte zum Hafen, wo er das Leuchtsignal erwartete, das Jonathans Schiff aussenden wollte. Die Zeit läuft ab, würde das Leuchtsignal sagen. Jetzt setz dich hin, Umber, und sieh zu, wie alle deine Träume zerstört werden.
»Dann sollten Sie anfangen«, sagte Hap mit einem harschen Unterton, den er noch nie angeschlagen hatte. Umbers Kopf schnellte zu ihm zurück und er nickte.
»Du hast Recht«, sagte Umber. »Aber warte. Nimm das hier.« Er griff in seine Tasche und zog die merkwürdige durchsichtige Hülle heraus, in der das Bild der Frau steckte, die Willy von Hap gerettet wissen wollte. »Ich habe ein paar Informationen dazugeschrieben. Wer sie war, wo du sie finden kannst.«
Hap steckte das Bild in seine Tasche. »Willy hat gesagt, dass Fädenzieher die Versprechen halten müssen, die sie gegeben haben.«
»Hat er das?«, sagte Umber. Er rutschte auf seinem Platz herum und wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab. »Also, dann … fangen wir mal an. Schließ die Augen, Happenstance, und atme tief ein. So tief wie noch nie zuvor. Halt die Luft einen Moment an und atme dann langsam wieder aus.«
Hap tat es. Umber fuhr fort und sprach dabei immer sanfter und leiser. Er ließ Hap noch einmal langsam Atem holen und noch einmal und noch einmal. Zehnmal hintereinander, bis Hap dieser Vorgang in Fleisch und Blut überging und es ihm ebenso leichtfiel, die Befehle zu befolgen, als folgte er Spuren auf einem staubigen Boden. Umber sorgte dafür, dass er einen Muskel nach dem anderen entspannte. Er ließ ihn sich eine Treppe vorstellen und sich bei jedem Schritt nach unten leichter fühlen. Er gab ihm den Auftrag, sich eine einzelne Kerze vor Augen zu rufen, die wie ein Stern in einem riesigen dunklen Raum leuchtete, und sich dann vorzustellen, dass nichts anderes mehr eine Bedeutung hatte. Als Umber ihm sagte, sein Arm hätte keinerlei Gewicht, schwebte er federleicht in der Luft. Hap fühlte sich losgelöst von allem, und die Welt um ihn verblasste.
Nicht einmal als sich in der Ferne etwas laut pfeifend in die Luft erhob und explodierte, riss es Hap aus seiner Trance. Auch nicht Umbers erschrockenes Aufstöhnen und seine Worte: »Das Leuchtsignal.«
Eine Stimme waberte von weit weg zu ihm hin. Irgendjemand rief etwas auf der Auffahrt. Hap erkannte die Stimme des Spions, des pfeifenden Spakeman. »Das ist deine letzte Chance, Umber. Gib dem Souverän, was er will!«
Doch weder dies drang zu Hap durch noch die Schritte, die sich näherten, noch Sophies Aufschrei: »Lord Umber, Balfour sagt, dass die Kanonen sich in unsere Richtung drehen. Sie müssen fliehen!«
Mit geschlossenen Augen griff Hap nach Umbers Handgelenk. »Weitermachen«, flüsterte Hap.
Sophie rief erneut, doch Umber bedeutete ihr zu schweigen. »Geh nach unten, Sophie.« Hap spürte, dass Umber sich über ihn beugte. Als er erneut das Wort an ihn richtete, war seine Stimme wie ein Echo in Haps Kopf.
Happenstance. Du bist eine treue, empfindsame Seele. Die, die du kennst, liegen dir sehr am Herzen. Damit hat Willy Nilly nicht gerechnet, als er dich von einem Jungen in einen Fädenzieher verwandelte. Deshalb musst du deine Gefühle jetzt ablegen. Stell sie dir als lange Schnüre vor, die jeden von uns an dein Herz binden. Schneide diese Schnüre durch, Happenstance. Einen nach dem anderen. Durchtrenn die Schnur, die dich an Sophie bindet. In seinen Gedanken sah Hap sich von den Leuten umgeben, die ihm etwas bedeuteten. Die Verbindung zu Sophie wurde durch seine Willenskraft gekappt und Sophie schwebte aus seinem Blickfeld. Wenn alle Verbindungen durchtrennt sind, verschwinden deine Gefühle ebenfalls. Jetzt ist Balfour an der Reihe. Dann Oates. Nima. Thimble. Fay und Sable. Haps Freundeskreis schwand.
Und jetzt ich, Happenstance, sagte Umbers Stimme schließlich. Vor allem mich schneide los. Werde zu dem Fädenzieher, der du sein sollst. Befreie dein Herz. Bemächtige dich deiner Fähigkeiten. Wenn du die Augen öffnest …
Ein Donnerschlag ertönte und ein Adler schrie und es klang, als würde die Luft entzweigerissen. Umber beeilte sich zu sagen: »… wirst du ein …« Aber sein Schrei wurde von einem ohrenbetäubenden Dröhnen erstickt. Hap schlug die Augen auf und blickte in eine rotschwarze Feuersbrunst. Umber wurde umgerissen und auf Hap geworfen und sie purzelten auf die Terrasse und blieben auf dem steinernen Boden liegen. Hap erhob sich auf alle viere und richtete sich dann mit einem ohrenbetäubenden Klingeln im Kopf auf. Eine zweite Explosion erschütterte Aerie und traf die Festung an einer Stelle irgendwo weiter unten. Staub und Asche drangen in seine Nase und er musste husten. Rauch hing in der Luft, bis die Meeresbrise die Wolke hinwegwehte. Er spürte eine Hand an seinem Knöchel. Umber streckte den Arm nach ihm aus. Sein Kopf wackelte und sein Kinn schwebte nur wenige Zentimeter über dem Boden. Blut rann ihm aus den Haaren und tropfte von seiner Stirn. Er ließ Haps Knöchel los und zeigte auf etwas.
Hap richtete seinen Blick darauf. Umbers Turm oben auf dem Dach von Aerie war aufgerissen und lag zur Hälfte in Trümmern. Brennende Papiere regneten herab; zerrissene Fragmente von Umbers Büchern. Sie waren überall, wie das Laub im Herbst.
»Jonathan hat mich angelogen«, sagte Umber. »Er hat versucht, mich zu töten.«
Hap empfand nur ein vages Interesse für Umbers Schrecken und Angst. Mehr fesselte ihn der leuchtende Lichtfaden, der aus Umbers Brust drang. Noch bevor er ihn berührte, hörte er sein Lied, dessen Bedeutung sich ihm auf wunderbare Weise sofort erschloss.
Von der Treppe her erschienen noch mehr Fäden, die auf die Terrasse führten. Oates, wusste Hap, nachdem er nur einen Blick darauf geworfen hatte. Sophie, dachte er und trat vor, um seine Hand durch den anderen Faden gleiten zu lassen.
Die Kanonen auf dem Schiff feuerten die nächste Ladung ab und Aerie erbebte unter dem Beschuss. Oates und Sophie eilten auf die Terrasse hinaus. Sophie schrie, als sie die Ruine des Turms erblickte; Oates lief weiter, um Umber vom Boden aufzuheben wie ein Kind. »Geh nach unten!«, brüllte er Hap zu.
»Ich komme sofort nach«, sagte Hap, doch als Oates und Sophie losliefen, folgte er ihnen nicht. Er starrte auf seinen eigenen Lichtfaden hinab und kniff die Augen zusammen. Er erschien ihm plötzlich hohl, und wenn er ihn auf eine bestimmte Art anschaute, drehte er sich vor seinen Augen und gab eine neue Perspektive frei, eine unerwartete Dimension. Wer wusste, was er vielleicht zu sehen bekam, wenn er in ihn eintrat?
Der Faden sagte ihm, dass nicht mehr viel Zeit blieb. Eine Sekunde oder zwei. »Beeil dich lieber«, sagte er; er sang diese Worte fast. Trotz der Gefahr fühlte Hap sich ganz ruhig und wie benommen. Wieder krachten die Kanonen, dann hörte man ein lauter werdendes Kreischen in der Luft; es war noch lauter als beim ersten Mal und kam direkt auf seine Ohren zu. Die Terrasse wurde in einen Feuerball gehüllt, der den Vielfruchtbaum hinwegfegte und seine Äste verbrannte. Hap war da und doch nicht da, denn er war ins Innere des Lichtfadens geschlüpft.
Er war im Wedernoch.