33
Umber wanderte über die zerstörte Dachterrasse und wühlte in den verbrannten und zerfetzten Überresten seines Turms herum. Auf einem herabgestürzten Felsblock lag ein Stapel verkohlter Bücher. Der Molton wand sich aus einem Gesteinshaufen und humpelte mit lauter zerrissenen und halb versengten Pergamentpapierstücken in den steinernen Armen auf seinem einen Bein umher.
»Leg sie zu den anderen, Shale«, sagte Umber leise. Er schaute in den Himmel, der sich plötzlich verdunkelt hatte. Dann richtete er sich auf und wirbelte herum. Als er Hap erspähte, gab er einen seltsamen Laut des Erstaunens von sich, der halb Lachen, halb Weinen war. Er stürzte, über die Trümmer stolpernd, auf ihn zu und legte seine Arme um Haps Kopf.
»Du bist noch am Leben, mein kleiner Hap, du bist noch da, und sieh dich nur an!« Umber schob Hap auf Armeslänge von sich weg. Zwar lächelte er ohnehin häufig über das ganze Gesicht, aber nie hatte er so begeistert ausgesehen. »Hap – deine Haare! Sie sind ganz … sie sind komplett …«
»Ich weiß«, sagte Hap. »Das ist Teil meiner Verwandlung.«
Umber schwankte und setzte sich rasch auf einen Felsblock. Er schlug die Hände vors Gesicht und seine Schultern zuckten. »Es ist so ein Schock, dich zu sehen. Nein, ein Wunder! Wir dachten, du wärst tot. Aber ich hatte noch ein winziges Fünkchen Hoffnung, dass du plötzlich Herr über deine Fähigkeiten geworden und rechtzeitig verschwunden sein könntest. Ich meine … so war es doch auch, oder?«
»Ja, genauso war es.«
Umber strich sich mit zitternden Händen die Haare aus dem Gesicht. »Wir haben es geschafft, Hap. Aber nur knapp. Sophie, Balfour, Oates, Smudge, die Wachen … wir konnten uns alle rechtzeitig in Sicherheit bringen.«
»Ich weiß«, sagte Hap. »Sogar der kleine Thimble hat überlebt.«
Umber kicherte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Ja, du weißt jetzt sicher eine Menge Dinge.«
Wohl wahr, dachte Hap. Zum Beispiel wusste er, dass Fay und Sable unten waren und dass es ihnen gut ging und dass Fay Sable in ihren Armen wiegte, um sie über den Verlust des jungen Happenstance hinwegzutrösten. Und er wusste auch, dass Fay immer wieder zur Treppe schaute und darauf wartete, dass dieser merkwürdige und unberechenbare Lord Umber wieder herunterkam, damit sie mit ihm sprechen, seine Hand nehmen und ihn fragen konnte, ob alles wieder gut werden würde.
»Der Computer ist übrigens zerstört worden«, sagte Umber. »Und mit ihm alle Geheimnisse, die er enthielt. Shale hat ihn in den Ruinen gefunden.«
»Aber die Elatia hat überlebt«, sagte Hap und zeigte auf die Pflanze, die stellenweise verkohlt, aber zur Hälfte noch grün in einem gesprungenen Übertopf stand.
»Ein kleiner Sieg«, sagte Umber. Seine Brust schwoll an und er atmete lange und langsam aus. »Wir hatten Glück, Hap. Aerie wurde zur Hälfte zerstört. Wenn die Vanquisher nicht explodiert wäre, wären wir vielleicht getötet worden. Wir fragen uns noch immer …« Umber kniff die Augen zusammen. Die dem Hafen zugewandte Seite der Terrasse war weggebrochen und gab die Sicht auf die wenigen verbliebenen, geschwärzten Spanten der Vanquisher frei, die aus dem Wasser ragten. Er wies mit dem Daumen dorthin. »Äh, du hattest nicht zufällig irgendwas damit zu tun?«
Hap schaute zu dem Wrack, und seine Augen leuchteten. »Die Möglichkeit besteht.«
Umber senkte den Kopf. »Eine furchtbare Geschichte, aber es war das Beste so. Ich hoffe, das verfolgt dich jetzt nicht.«
»Überhaupt nicht«, sagte Hap. In seiner Stimme lag etwas, was ihn selbst überraschte: ein Hauch von Fröhlichkeit und Übermut.
Umber hörte es auch und erbleichte. »Du hast dich wirklich verändert, Happenstance.«
Hap setzte sich auf einen Felsblock und faltete die Hände über seinem Knie. »Aber das musste ich doch auch, oder? Es war unausweichlich.«
Umber stützte sein Kinn auf die Hände. »Eine Menge Dinge sind nun leider unausweichlich. Die Vanquisher ist zwar verschwunden, doch die Leute haben sie gesehen. Sie wissen, dass so etwas möglich ist.«
»Und das macht sie unvermeidlich?«, fragte Hap, die Worte wiedergebend, die Umber einmal ausgesprochen hatte.
»Ja. Ich habe zwar die Männer in der Auffahrt dazu überreden können, aufzugeben und ihre Gewehre abzugeben. Die Kanonen liegen auf dem Meeresgrund und die Männer werden auf eine Insel verbannt. Aber eine Idee kann man nicht mehr aus der Welt schaffen. Nicht mal, wenn es eine schlechte Idee ist.«
»Aber wir haben Zeit gewonnen«, sagte Hap. »Das Unvermeidliche hinausgezögert.«
»Das bezweifle ich. Du vergisst den Fernen Kontinent. Doane besaß dort Fabriken … Sie waren dabei, noch so ein Kriegsschiff zu bauen.«
Hap stand auf. »Ach ja. Das. Ich war neugierig und habe ein paar Erkundigungen eingezogen, bevor ich hierher zurückgekommen bin.« Er streckte eine Hand aus. »Es gibt etwas, was Sie sehen müssen. Ich bringe Sie hin.«
Umber zog die Augenbrauen hoch. »Du bringst mich hin? Auf Fädenzieher-Art, meinst du?«
Hap lächelte.
»Moment«, sagte Umber. »Das macht mich aber hoffentlich nicht noch verrückter, als ich es ohnehin schon bin, oder?«
»Nein«, sagte Hap. »Ich glaube, so etwas passiert nur bei einer Reise zwischen zwei Welten. Und nur mit normalen Leuten wie Ihnen.«
Umber holte tief Luft, dann nahm er Haps Hand und schloss die Augen. »Einverstanden. Dann zeig es mir!«
Als sie zurück in die Welt schlüpften, gab Umber zitternd einen begeisterten Schrei von sich. »Ha! So ist es also, mit einem Fädenzieher zu fliegen? Das war das best…« Seine freudige Erregung verschwand schlagartig, als er sah, was vor ihnen lag.
Sie standen auf einem Felsen, der in einen schmalen Meeresarm hinausragte. »Das ist der Ferne Kontinent«, sagte Umber. »Doanes Werft.«
Der blaue Himmel war in dichten schwarzen Rauch gehüllt. Die Werft und die umliegende Industrie war zerstört. Und zwischen den kaputten Gebäuden zogen die Seeriesen herum und demolierten das wenige, was noch stand.
»Sie sind aufgewacht«, sagte Umber.
»Ja«, erwiderte Hap. »Vor hundert Jahren, als der alte König von Kurahaven sich selbst zum Herrscher der Welt erklärte, haben sie sein Königreich zerstört. Jetzt haben sie sich erneut aus ihrem Schlummer erhoben, um zu beweisen, dass der Herrschaft des Menschen durchaus Grenzen gesetzt sind.«
Das Schwesterschiff der Vanquisher lag im flachen Wasser auf der Seite und der größte Seeriese, der mit dem Namen Bulrock, riss mit seinen Pranken die Schiffsplanken von seiner Seite und schleuderte sie aufs Meer hinaus.
Andere Riesen zertrampelten lange, flache Gebäude zu Staub, die vielleicht der Herstellung von Doanes Kanonen und Artillerie gedient hatten. Hap konnte ihre Schritte selbst aus dieser Entfernung spüren. Wieder andere Gebäude standen in Flammen und von einer Raffinerie war nur noch ein Haufen schwelender Kohlestücke geblieben. Dann sahen sie, dass einer der Riesen ein Stück aus einem Haus riss und drei Männer wie Mäuse herausgelaufen kamen. Der Riese zerquetschte sie brüllend mit einem Fuß.
Umber machte ein ersticktes Geräusch und schlug sich die Hand vor den Mund. »So viele Tote«, murmelte er.
»Sie zerstören alles«, sagte Hap. »Aber sehen Sie die Mauer, von der Doane gesprochen hat, die Mauer, die verhindert, dass seine Geheimnisse verbreitet werden? Sie steht noch.«
Umber rieb sich die Augen, als könnte er wegwischen, was er gesehen hatte. »Das ist alles … einfach nur schrecklich. Und wer weiß, wie viel Zeit wir uns wirklich erkauft haben?«
Als sich neben ihnen eine Stimme erhob, wäre Umber vor Schreck fast von dem Felsen ins Meer gefallen.
Es war die Stimme der Hexe. »Mehr Zeit, als du denkst, Umber.«