Ksjuscha hatte schon immer von den Tänzern gewusst – sie war in Esso aufgewachsen und hatte sie an allen kleineren Feiertagen auftreten sehen –, sich aber nie für sie interessiert, bis auch ihre Cousine aus dem Dorf in die Stadt hinunterkam. Dann verlagerten sich Ksjuschas Interessen allmählich. Ihre Cousine Alisa schrieb sich in derselben Universität von Petropawlowsk ein, auf der sie nun ins vierte Jahr ging. Ihre Mütter entschieden aus Sicherheitsgründen, dass die Cousinen in der Stadt zusammenziehen sollten. Die beiden Mädchen mieteten am Fuß des Hügels ein Ein-Zimmer-Apartment und zogen dort mit Sack und Pack ein: die ordentliche Ksjuscha aus ihrem winzigen Zimmer im Studentenheim, Alisa völlig verstaubt nach der zwölfstündigen Busfahrt aus ihrem Dorf Richtung Süden.
Der Zustand ihrer Koffer war nicht das Einzige, was sie unterschied. Alisa war erst siebzehn, das schwarze Haar über ihrem hinreißenden Gesicht war von orangegelben Strähnen durchzogen. Sie hatte sich für Philologie eingeschrieben, während Ksjuscha Rechnungs- und Finanzwesen studierte. Schon in der ersten Unterrichtswoche machte Alisa mehr Bekanntschaften und hörte mehr Tratsch als Ksjuscha in den letzten drei Jahren. Und manchmal ging Alisa bis spät in die Nacht aus. Trotz der Plakate von den vermissten Mädchen, die in jenem August überall in der Stadt zu sehen waren, kam sie ein- oder zweimal sogar nachts gar nicht nach Hause.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Ruslan.
Er lebte noch immer in Esso. Seit Ksjuscha so weit weg von zu Hause studierte, hatten Ruslan und sie sich ein System ausgedacht. Jeden Morgen und jeden Abend telefonierten sie miteinander, und am Ende des Monats nahm er die lange Fahrt auf sich und besuchte sie. Daran hielten sie fest, einerseits, um ihr harmonisches Verhältnis zu bewahren, andererseits, damit er Ksjuscha im Auge behalten konnte. Seit sie nach Petropawlowsk gezogen war, erinnerte er sie ständig daran, wie leicht ein Mädchen dort auf die schiefe Bahn geraten konnte. Seine Warnungen wurden noch eindringlicher, als die Geschichte der Golosowskaja-Schwestern ihr Dorf dreihundert Kilometer weiter im Norden erreichte. Nun, da Ruslan vom lockeren Lebenswandel ihrer Cousine erfuhr, hatte er einen weiteren Grund zur Sorge.
»Man kann Alisa vertrauen. Du kennst sie doch«, sagte Ksjuscha in ihr Handy. Sie war zu Hause, in ihrem Schlafanzug, graue Jogginghose und blaues Trägerhemd, obwohl die Sonne draußen vor dem Fenster noch nicht untergegangen war. Es war Anfang September. Das Wintersemester fing gerade erst an, und schon hatte er etwas auszusetzen.
»Alisa war schon immer ein bisschen leichtfertig. Womöglich lässt sie sich jetzt in der Stadt völlig gehen«, entgegnete er.
»Tut sie nicht. Sie hat einfach viele Freunde.«
»Ist sie jetzt unterwegs?«
Ksjuscha schwieg.
»Wo bist du?«, fragte Ruslan.
»Zu Hause«, antwortete sie. »Hab ich dir doch gesagt.« Sie hörte ihn schwer atmen. Sie ging zur Mikrowelle, stellte den Wecker auf eine Sekunde ein und schaltete sie an. »Hörst du?«, sagte sie über das Piepen hinweg.
»Prima.« Er war beruhigt. Die Mikrowelle, der Fernseher oder Ksjuschas Gitarre – solche häuslichen Geräusche besänftigten ihn. Als Ksjuscha noch im Studentenheim wohnte, hatte er sich auf die Stimme ihrer Zimmernachbarin verlassen. Vor Semesterbeginn, als sie gerade in die neue Wohnung eingezogen waren, hatte Ksjuscha versucht, ihre Cousine als Unterstützung ans Telefon zu rufen, doch Ruslan glaubte Alisa kein Wort. »Ist irgendwer bei euch?«, fragte er. »Ist irgendwer bei euch? Ist irgendwer bei euch?« Also ließ sich Ksjuscha verschiedene Alibis einfallen.
*
Mitte September beschloss Alisa, der Tanzgruppe der Universität beizutreten. Sie war bereits zu einer Probestunde gegangen und fand, es könnte etwas für sie beide sein. Es war nur eine kleine Truppe, ganz anders als die professionellen Ensembles, die das Land bereisten und in den überfüllten Sälen von Kamtschatka Volkstänze aufführten. Eher eine Haustruppe – es ging nur um den Spaß. »Wir brauchen so was«, erklärte Alisa Ksjuscha. Es sei eine Möglichkeit, mehr Zeit zusammen zu verbringen und an ihre Herkunft zu erinnern. »Und vielleicht bekommt man dich auf diese Art auch mal nachmittags aus der Wohnung.«
»Ich kann nicht tanzen«, wandte Ksjuscha ein. Sie saßen in der Küche und warteten darauf, dass ihre Suppe warm wurde. Im Zimmer roch es nach Kohl, Sauerampfer, gesalzener Butter und Hühnerbrühe.
»Na klar kannst du tanzen«, widersprach Alisa. »Und selbst wenn nicht, es spielt keine Rolle. Dann stehst du eben in der Mitte und siehst schön aus.« Sie strich Ksjuscha über die Wange. »Sieh dich nur an, Ksenjuscha. Du wirst unser Star sein.«
Ksjuscha zog das Gesicht zurück. »Mach dich nicht lustig.« Ksjuscha sah aus wie ihrer beider Großmutter, eine echte Ewenin, mit kräftigen Knochen, schweren Augenlidern, kaum sichtbaren Brauen und Stupsnase. Sie hatte das Gesicht der Ureinwohner, das wusste sie, und viel zu breite Hüften, um ein Star zu sein.
»Nein.« Als Ksjuscha den Kopf schüttelte, machte Alisa es ihr nach und fing obendrein an, beide Hände rhythmisch durch die dampfende Luft zu bewegen.
»Ich weiß nicht«, sagte Ksjuscha. »Ich will nicht.« Trotzdem musste sie lächeln.
»Weißt du nicht, oder willst du nicht?«, insistierte Alisa, und ihre Finger waren schmal wie kleine Fische.
»Ich bin nicht gut in so was.«
»Ich doch auch nicht!« Das stimmte nicht – Alisa hatte als Kind in einer Dorftruppe getanzt und kannte die alten Tanzschritte. Doch nachdem sie es einmal gesagt hatte, würde sie es auf keinen Fall wieder zurücknehmen. Nachgeben kam für Alisa nicht infrage.
Ksjuscha konnte nur das Gesicht verziehen. »Hör auf, so rumzuzappeln«, sagte sie, obwohl es ihr gefiel, wie Alisa ihren störrischen Körper und ihre flinken dünnen Arme bewegte.
»In der Gruppe sind nur Studenten. Nichts Besonderes. Komm schon, versuch es doch wenigstens.«
Ksjuscha hob die Kelle und nickte zum Rhythmus ihrer Cousine. Drei Jahre Uni – jeden Tag Seminare in Management oder Statistik, jeden Nachmittag Lehrgänge, mündliche Prüfungen am Ende des Semesters mit dem Nachweis bester Noten, um ihr Stipendium zu behalten, und alle Aufregung beschränkt auf die Sommer in Esso, die Winterferien in Esso und das Wochenende mit Ruslan einmal im Monat – Ksjuscha hätte nichts dagegen gehabt, etwas Neues auszuprobieren. Trotzdem sagte sie: »Ich mache nicht mit.«
»Ich sehe deinen Kopf wippen. Du machst schon mit.«
So brachte Alisa sie dazu. Nicht indem sie sie aufforderte, mit ihr auszugehen, sondern indem sie diese Freude ausstrahlte. »Ruslan wird es nicht zulassen«, wandte Ksjuscha als Letztes ein. Doch als Alisa den Mund verzog, wusste sie, dass diese Worte ein Verrat waren.
*
Er war ihre erste und einzige Liebe. Nachts schlief Ksjuscha mit dem Gedanken an ihn ein. Seine kratzige Stimme, die straffen Muskeln, das Haar unter dem Bauchnabel, die tiefen Falten über den Lidern. Ruslan war sieben Jahre älter. Früher war er immer zu ihnen ins Haus gekommen, um mit ihrem Bruder Tschegga Videospiele zu spielen, und sie hatte hinter ihnen gesessen und auf Ruslans Rücken gestarrt. Den sonnengebräunten Nacken über dem ausgeleierten T-Shirt. Schon damals hatte sie davon geträumt, alt genug zu sein, um ihn zu küssen, und jetzt war sie alt genug und tat es.
Als Ruslan das nächste Mal übers Wochenende kam, schmiegte sie sich auf dem Futon dicht an ihn. Alisa kehrte abends in die Wohnung zurück, streifte die Turnschuhe ab und ging auf dem Weg ins Schlafzimmer an dem Liebespaar vorbei. Sie machte die Tür nicht ganz zu, als sie sich umzog. »Hat dir Ksjuscha von der Tanzgruppe erzählt?«, rief sie.
Ruslan schaute auf Ksjuscha hinunter. In Erwartung schlechter Neuigkeiten waren die Lippen schon aufeinandergepresst.
Alisa kam in Leggings aus dem Zimmer. »Wir haben ein Ensemble an der Uni«, sagte sie über den Lärm der Fernsehsendung hinweg, die sie sich anschauten. »Sie suchen noch ein paar Mädchen. Wäre sie nicht wie geschaffen dafür?«
»Sie kann nicht tanzen«, wandte Ruslan ein.
»Aber sie könnte«, entgegnete Alisa. »Außerdem muss man nur hingehen. Talent wird in der Gruppe nicht vorausgesetzt. Sie nehmen jeden, der mitmachen will.«
Er schnaubte verächtlich. »Ich kann mich an kein Ensemble an der Uni erinnern.« Er hatte selbst einige Jahre in Petropawlowsk studiert. Das war, bevor Ksjuscha und er ein Paar wurden, als er noch Tscheggas Videofreund war und sie noch zur Schule ging. Obwohl er keinen Abschluss gemacht hatte, fand er eine gute Anstellung in der Verwaltung von Esso. Er wartete Abflussrohre und reparierte die modrigen Holzbrücken über den Flüssen des Dorfes. Inzwischen gefiel er Ksjuschas Eltern sogar besser als früher, als er noch ein Teenager war.
»Die Gruppe gibt es schon länger, aber sie ist nicht für weiße Studenten«, sagte Alisa. »Wahrscheinlich ist das der Grund.«
»Alisa«, sagte Ksjuscha.
»Es macht ihm doch nichts aus.«
»So eine Gruppe ist das also«, sagte er. »Trommeln und Felle.« Er drückte Ksjuschas Schulter, ließ sie dann los und stand auf. »Du glaubst also nicht, dass sie mich nehmen würden?«
»Nur wenn du ordentlich braun gebrannt wärst«, gab Alisa zurück.
Er hockte sich hin und hob die Arme hoch. »Nicht einmal, wenn ich ihnen zeige, was ich alles kann? Hey!« Er stampfte vorwärts und machte die Tänzer nach, die sie gesehen hatten, als sie noch klein waren. Er tat so, als hielte er mit einer Hand eine Trommel am Riemen hoch und schlüge mit der anderen Hand auf das Fell.
Alisa machte einen Satz auf ihn zu. Sie hob die Hände. Drehte sich im Kreis, warf den Kopf erst über die eine, dann die andere Schulter, bewegte den ganzen Körper, wackelte mit den Hüften, schwang die geschlossenen Knie hin und her, hob die Fersen an und ließ anmutig die Füße kreisen. Sie jauchzte, und Ruslan stampfte und sang irgendwas Albernes auf Ewenisch, und Ksjuscha lachte, weil sie sie zum Lachen bringen wollten, obwohl die Art, wie sie sich bewegten, ihr zu denken gab. Wie sie aussahen – Ruslan kräftig und drahtig, das Kinn mit kupferroten Stoppeln bedeckt, und Alisa im Gleichklang mit ihm. Als wären sie füreinander bestimmte Partner.
Ksjuscha streckte den Arm aus, packte ihre Cousine am Ellbogen und stoppte sie so, ohne dass es allzu sehr auffiel. »So machen die das in der Tanzgruppe?«
»Mehr oder weniger«, sagte Alisa und plumpste neben ihr auf den Futon. »Du wirst schon sehen.« Alisa sah zu Ruslan. »Es sei denn, sie darf nicht.«
Er richtete sich auf. »Was soll das heißen?«
»Ich dachte, du würdest es ihr vielleicht verbieten.« Ksjuscha schaute ihre Cousine an, doch Alisas Blick ließ Ruslan nicht los.
»So funktioniert das nicht«, sagte er. Dann an Ksjuscha gewandt: »Willst du da mitmachen?«
Sie war überrascht, nervös, versuchte, die Rötung unter seinen Augen einzuschätzen. »Ich weiß nicht. Ich dachte, du könntest – ich dachte, es wäre eine gute Art, um die Verbindung nach Hause aufrechtzuerhalten.«
»Brauchst du eine Extrahilfe, um an zu Hause zu denken?«, sagte er. »Scheiße! Dann mach es doch. Wer bin ich denn, dein Vater etwa? Habe ich dir jemals vorgeschrieben, wie du deine Freizeit zu verbringen hast?«
*
Jeden Montag-, Mittwoch- und Freitagnachmittag traf sich die Truppe im Musiksaal der Universität. Nach der ersten Stunde erzählte Ksjuscha Ruslan: »Es war gut. Aber auch ein bisschen komisch.« Alisa hatte dafür gesorgt, dass alle Ksjuscha die Hand gaben. Einige Mitglieder der Truppe gingen wie die beiden Cousinen auf die Pädagogische Hochschule, andere studierten an der Technischen Universität oben auf dem Hügel, und ein Junge ging erst in die zehnte Schulklasse.
»Wie viele Kerle sind in der Gruppe?«, fragte Ruslan.
Ksjuscha wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. »Vielleicht die Hälfte«, erklärte sie. Alle seien Ureinwohner. Ewenen, Korjaken, Itelmenen oder Tschuktschen. Schwarzes Haar, braune Augen.
»Nimm dich in Acht«, warnte Ruslan. »Die würden meiner indigenen Prinzessin bestimmt gern Gesellschaft leisten.«
Er war der einzige Weiße, der sie so auf den Arm nehmen durfte. Schließlich war er mit ihrer Familie aufgewachsen. In ihrer ersten Woche in der Stadt, damals war sie so alt wie Alisa jetzt, hatten sich ein paar Kommilitonen über sie lustig gemacht. »Wo kommst du her?«, fragte einer vor dem Unterricht. »Aus Esso«, setzte sie an. »Von den Rentierherden«, fuhr ihr ein anderer dazwischen. Und dann lachten sie.
Einen Augenblick saß sie stumm und beschämt da, dann hob sie die Hände an die Wangen, presste die Fingerspitzen gegen das Fleisch, kalte Kreise auf der erröteten Haut.
Sie, die eine Goldmedaille für ihre hervorragenden schulischen Leistungen und ein Stipendium für ihr Rechnungs- und Finanzstudium erhalten hatte, wurde ausgelacht. Es lag an ihrer Stimme. An dem lebhaften Auf und Ab ihrer Sätze – sie klang einfach nordisch. Und an ihrer Haut, ihrem Haar, den mandelförmigen, eng beieinanderstehenden Augen. Diese Stadtjugendlichen erkannten sie sofort. Sie sprachen mit ihr, als sei sie halb Mensch, halb Rentier.
Zu Hause kannte man Ksjuscha und ihren Bruder nicht als zukünftige Bankerin und Fotografen, sondern als Hirtenkinder. Ihre Familie war eine von viel zu vielen Quellen für Fleisch und Felle in Esso. Die Großeltern und der Vater lebten das ganze Jahr über mit den Herden in der Tundra, während die Mutter mit Tschegga und Ksjuscha bis zu den Schulferien in Esso blieb. Dann ging es zurück in die Wildnis. Ksjuscha hatte als kleines Mädchen alle Schulferien verpasst. Sie musste mit dem Rest ihrer Familie auf dem weiten offenen Weideland schuften, während die weißen Dorfkinder in den Straßen Fußball spielten und sich bei Regen unterstellen konnten. Esso war wunderschön im Sommer – die Hütten wurden in den Grundfarben frisch gestrichen, die Gärten strotzten vor Gemüse, die Flüsse führten Hochwasser, und die bewaldeten Berge um das Dorf herum waren dunkel vom üppigen Laub. Doch Ksjuscha konnte diesen Anblick erst genießen, als sie siebzehn wurde. Bis dahin beherrschten die Anforderungen der Herdenhaltung ihre Sommer: kilometerlange Strecken auf Pferderücken, schmerzende Beine, steifer Rücken; Mücken, die ihr unter die Wäsche krochen und Flecken ihres eigenen Blutes auf der Haut hinterließen; hastige Bäder in eiskaltem Flusswasser; Tscheggas Hänseleien; die schlechte Laune ihrer Mutter; die Rügen ihrer Großmutter; Männer, die sich über Geld stritten, das sie im vergangenen Jahr für das Schlachten hätten bekommen müssen, und über Schulden, die sie dieses Jahr abzahlen wollten; Ksjuschas Sehnsucht nach einem Buch, einem Popsong oder einer Fernsehsendung, nach irgendetwas, das sie von der eintönigen Landschaft ablenken könnte, von Gras und Hügeln, Dickicht, Geweihen und Horizont; der schwere, metallische Geschmack von Rentierfleisch zum Frühstück, zum Mittag- und zum Abendessen, tagelang, wochenlang, monatelang, bis sie endlich wieder nach Hause konnten.
Schmutzig. Betäubend. Dieser Herdengestank im Lager – nach Rauch, Fleisch und Schimmel – war ihr irgendwie den ganzen Weg bis hierher gefolgt.
Wenigstens hatte sie Ruslan. Alles andere war egal. Ksjuscha wartete den ganzen Tag auf eine Nachricht von ihm, zog sich von den anderen Studenten zurück, wenn das Seminar zu Ende war, freute sich auf die zweistündigen Telefongespräche mit ihm und fiel mit Gedanken an ihn ins Bett. Wie sie aussah, wie sie sich anhörte, wie sie roch – er war daran gewöhnt. Niemand würde sie so lieben wie er.
*
Die Leiterin der Truppe, Margarita Anatoljewna, war eine untersetzte Korjakin, die ihr Haar mit einem Kopftuch bändigte. Sie lehrte traditionelle Tänze, und sie unterrichtete ihre Schüler, als lebten sie alle den alten Traditionen gemäß. Nachdem sie an die Jungen Ledergurte für den Hirtentanz verteilt hatte, bei dem sie in die Hocke gehen, abwechselnd die Beine ausstrecken und die Gurte schwingen mussten, rief sie über die Musik hinweg: »Höher! Wie wollt ihr so ein Rentier einfangen?« In der Tundra traten Ksjuschas Vater, ihre Onkel und ihr Großvater mitten in eine wirbelnde Herde von Tausenden Tieren, fingen laufende Bullen ein und rangen sie zu Boden. Doch einige der hier tanzenden Jungen hatten noch nie etwas mit dem Lasso getroffen. Sie hielten das Leder schlaff in der Hand. Typische Stadtmenschen, hätte Ksjuschas Vater gesagt, wenn er sie gesehen hätte.
Aber nicht alle waren so. Es gab Alisa und ein paar Mädchen aus Siedlungen in der Nähe von Esso. Ein Doktorand namens Tschander kam aus Palana, hoch im Norden am Ochotskischen Meer – dort oben in der Fischersiedlung hatte Ksjuschas Bruder seine derzeitige Freundin kennengelernt. Ein Junge, der an der Technischen Hochschule studierte, kam sogar aus Atschaiwajam. Er hatte ein flaches Gesicht und einen düsteren Blick. Da er kaum den Mund aufmachte, bekam Ksjuscha seinen Akzent so gut wie nie zu hören.
Mit der Truppe zusammen zu tanzen, war spannend und schrecklich zugleich. Es machte Ksjuscha Spaß, Ruslan zum ersten Mal, seit sie in die Stadt gezogen war, etwas zu erzählen, das nichts mit ihrem Unterricht zu tun hatte, wenn auch mit Studenten und einem Haufen falscher Lassos. Im Proberaum stellte sie sich hinter Alisa und konzentrierte sich darauf, die Bewegungen ihrer Cousine nachzumachen. Beine zusammen. Auf die Zehenspitzen. Fersen heben. Knie beugen. Die Musik, Aufnahmen von Trommeln und sirrenden Mundharmonikas, war ein bisschen zu laut, sodass Margarita Anatoljewna schreien musste, damit sie den Takt hielten. Wenn Ksjuscha in Jeans und Strickpullover tanzte, fiel sie aus ihren Gedanken heraus. In ihren Körper. Der Atem, die Muskeln, das Rauschen des Blutes. Vor ihr wippte Alisas flammendes Haar im Takt der Musik.
Doch die Gruppe machte ihr Leben auch komplizierter, weil sie die bislang unveränderliche Routine ihres Tages aufbrach. Margarita Anatoljewna hasste jede Art von Ablenkung, deshalb musste Ksjuscha während der Tanzstunden ihr Handy in der Handtasche lassen. In den ersten Wochen überschlugen sich die Nachrichten, wenn sie zu ihm zurückkehrte, auf dem Display. Was machst du gerade? Wichtig. Wenn du mir nicht antwortest …
Es war schwer, auf Ruslans Nachrichten zu verzichten, schwer, sich nicht bei ihm zu melden, schwer, ihn aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, wenn die Trommeln aus den Lautsprechern drangen, und ihn erst wieder hineinzulassen, wenn die Musik endete. Schwer, die Bewegungen zu meistern – Margarita Anatoljewna brachte den Mädchen bei, in die Knie zu gehen, den Rücken zu dehnen, sich so weit nach hinten zu biegen, bis ihre Pferdeschwänze die eigenen Waden streiften. Die Jungs arbeiteten daran, ihre Trommeln aufeinander abzustimmen, und Margarita Anatoljewna schrie sie an, sich noch mehr anzustrengen. Abends tanzten Ksjuscha und Alisa im Schlafzimmer weiter.
Und schwer war auch der Versuch, Freunde zu finden. Alisa schien wie üblich ganz gut klarzukommen, doch Ksjuscha konnte sich nicht erinnern, es jemals versucht zu haben. Alle Menschen auf der Welt, die ihr wichtig waren, hatten sie schon als kleines Kind gekannt.
Aber sie mochte sie, die anderen Tänzer. Trotz ihrer Wissenslücken – der Tatsache, dass einige nie auch nur in die Nähe eines wilden Tieres gekommen waren und andere sich in der Uni eingeschrieben hatten, bevor sie je einen öffentlichen Bus gesehen hatten – kamen ihr die Mitglieder der Gruppe vertrauter vor als alle anderen Menschen, die sie über die Jahre hinweg in Petropawlowsk kennengelernt hatte. Irgendwie verstand sie sie besser als die weißen Kommilitonen. Und sie mochte Margarita Anatoljewna, die ihre Schüler ermutigte, wie um Futter bettelnde kleine Vögel zu zwitschern. Aus dem Mund jedes anderen hätte sich diese Beschreibung grotesk angehört, doch bei Margarita Anatoljewna klangen solche Dinge nicht lächerlich. Die Tänze hatten alte, heidnische Namen und handelten von Göttern und der Natur, daher brachte Margarita Anatoljewna ihnen bei, sich heidnisch zu bewegen. Der folgende Tanz setzt voraus, dass ihr alle wie Fische ausseht, sagte sie, also presst die Arme an den Körper. Windet euch. Macht den Mund weit, weit auf und schluckt das Meerwasser runter.
*
Als Tanzpartner bekam Ksjuscha Tschander, den Jungen aus Palana. Von allen männlichen Tänzern schien er der beste zu sein. Er war klug, schrieb an seiner Dissertation über paläosibirische Sprachfamilien und achtete immer auf die Anweisungen der Leiterin. Er war hochgewachsen und bewegte sich gut. Als Alisa in der ersten Stunde dafür gesorgt hatte, dass alle Ksjuscha die Hand gaben, hatten einige Jungen versucht, mit ihr zu flirten: »Sehen alle Frauen in deiner Familie so gut aus?«, fragte einer. Tschander hingegen hatte nur gefragt, wo sie herkäme, und hinzugesetzt, die Truppe freue sich, sie dabeizuhaben.
Alisa hatte den Studenten aus Atschaiwajam als Partner bekommen. Sie waren ein ungleiches Paar, er steif und schweigsam und Alisa so gesprächig, dass sie Deutsch und Englisch lernte, um sich in mehreren Sprachen unterhalten zu können. Manchmal ließ sie Tanzschritte aus ihrer Kindheit in diejenigen einfließen, die sie gerade übten, er merkte es, und dann stritten sie sich, doch für jeden Einwand hatte Alisa drei Rechtfertigungen parat. Ihren eigenen Worten zufolge konnte sie ihn nicht ausstehen, aber Ksjuscha glaubte, dass es nicht stimmte. Wahrscheinlich schmeichelte es Alisa, dass ihr jemand eine so zurückhaltende und doch scharfe Aufmerksamkeit entgegenbrachte.
Trotzdem hätte Ksjuscha ungern mit Alisas Partner getanzt, mit seinem missbilligenden Blick und dem verkniffenen Mund. Tschander führte sie. Bei einem Tanz standen die Mädchen in einer Reihe, und die Jungen knieten vor ihnen nieder. Dann beugten sie sich zueinander, und die Mädchen strichen mit den Händen durch die Luft, um die Partner näher zu ihrer Taille zu locken. Während die Musik spielte, behielt Tschander denselben lässigen Blick bei, den er schon am ersten Tag gehabt hatte. Sein Gesicht, von der glatten Stirn über die geraden Augenbrauen zum erhobenen Kinn, blieb unbewegt. Nachdem sie die Abfolge mehrmals geübt hatten, stand er auf, die Knie seiner Jeans weiß vom Staub, und sagte: »Du wirst immer besser, Ksjuscha.« Sie war praktisch atemlos von der Bewegung. Aber sie stimmte ihm zu.
*
»Erzähl mir, wie es heute war«, sagte Ruslan.
Ksjuscha lag im Dunkeln unter den Laken. Das Handy balancierte an der Wange, die Hände ruhten auf der kleinen Wölbung ihres Bauches. Das Bett ihrer Cousine auf der anderen Seite des Zimmers war leer. »Es war verrückt«, sagte sie. »Margarita Anatoljewna hat Alisa angeschrien, und einen Augenblick lang glaubte ich, Alisa würde zurückschreien. Sie sah ganz so aus.« In der Stadt, die Ksjuscha umgab, wimmelte es von Dingen, die ihn mit Sicherheit aufregten: die beiden kleinen Mädchen, die einige Wochen zuvor am Strand verschwunden waren, Fotokopien ihrer Klassenfotos an den schwarzen Brettern der Universität, zivile Suchtrupps, die die Berge durchkämmten, und Polizisten, die Ksjuscha auf der Straße hinterhersahen, als sei sie die dunkelhäutige Übeltäterin. Ruslan sollte das Gefühl haben, dass Ksjuscha sicher war. Dasselbe galt für ihre Eltern und ihren Bruder, daher ließ sie alle Telefonate mit ihnen harmlos klingen. Besser nichts erwähnen, was ihnen Sorgen machte. Geschichten aus der Uni oder vom Tanzen war alles, was sie ihnen erzählte.
*
Die Pause am Nachmittag zwischen dem Unterricht in der Uni und dem Tanzkurs dauerte anderthalb Stunden. Alisa und einige andere aus der Truppe nutzten die Zeit, um ins Café zu gehen und sich ein Stück Kuchen oder eine Kanne schwarzen Tee zu teilen, doch das konnte sich Ksjuscha nicht leisten. Obendrein hatte sie mit Ruslan abgemacht, dass sie sich gegenseitig immer darüber informierten, wo sie gerade waren. Mit den anderen in ein Café zu gehen, hätte zu viele Fragen nach sich gezogen. Deshalb kam sie schon früher zum Musiksaal, setzte sich vor die Tür und machte ihre Hausaufgaben, bis Margarita Anatoljewna kam und aufschloss.
An einem Mittwoch im Oktober kam auch Tschander früher. Ksjuscha sah zwei Beine in Trainingshosen, und als sie von ihrem Lehrbuch aufblickte, stand er vor ihr. »Was liest du da?«, fragte er.
»Nichts«, erwiderte sie.
Er setzte sich neben sie, wobei sich sein langer Körper irgendwie zusammenfaltete. Seine Tasche war zwischen sie gefallen. Er streckte die Hand nach ihrem Buch aus. »Was meinst du mit nichts?«, sagte er und drehte es um. »Ökonometrie.« Er gab es ihr zurück, nahm seinen Laptop aus der Tasche und fing an zu arbeiten.
*
Tschander war der Sohn einer Fischerfamilie. In seinem Dorf jagten sie im Winter Robben, im Frühjahr Seelachs, im Sommer Flundern und im Herbst Krabben. »Das würde Anatoljewna als traditionell bezeichnen«, sagte er.
Ksjuscha hatte bisher kein Krabbenfleisch probiert. Tschander lehnte den Kopf an die gekachelte Wand. Sie saßen wie üblich allein auf dem Boden im Flur vor dem verschlossenen Musiksaal. »Wenn ich nächstes Mal nach Hause fahre, bringe ich dir welches mit«, sagte er.
Sie hatte noch nie einen Freund wie ihn gehabt, sich noch nie so leicht und schnell mit jemandem vertraut gefühlt – unter allen Menschen, mit denen Ksjuscha aufgewachsen war, und den vielen fremden Studenten bildete Tschander eine Ausnahme.
Beim Tanzen war er höflich zu den anderen in der Truppe. Margarita Anatoljewna mochte ihn besonders gern und korrigierte ihn immer diskret, während sie sich nicht scheute, alle anderen anzufauchen. Er aber schien niemandem in der Truppe nahezustehen außer Ksjuscha. Wenn Margarita Anatoljewna die Musik für den Hirtentanz auflegte, sah er Ksjuscha an und hob seinen Lederriemen im Wissen, dass er Ksjuscha damit verunsicherte und gleichzeitig zum Lachen brachte. In solchen Augenblicken dachte sie: Wir sind Freunde. Und jedes Mal überraschte und beruhigte dieser Gedanke sie.
Sie freute sich darauf, das Krabbenfleisch zu probieren. Sie fragte Tschander über Palana aus: Ob er gern noch dort leben würde, ob seine Familie ihn manchmal in Petropawlowsk besuche, ob er die Freundin ihres Bruders jemals getroffen hätte. Nein, nein und nein, sagte Tschander, lockerte jedoch die einsilbigen Antworten mit Geschichten aus seiner Jugend auf. Er beschrieb den Ort, der vierhundert Kilometer von Esso entfernt lag. Er hatte zwar bloß einen Bruchteil von Petropawlowsks Einwohnerzahl, aber Wohnhäuser, die genauso hoch waren wie hier. Im Winter war Palana vom Eis eingeschlossen, und es gab eine windige Straße, die direkt zum Meer führte. Pylylyn sei der korjakische Name des Ortes, erklärte er ihr, was so viel bedeute wie »mit einem Wasserfall«. Seine Aussprache klang kehliger als das Ewenische ihrer Großeltern, mit dem sie aufgewachsen war. Wenn sie versuchte, die Vokale nachzusprechen, lächelte er.
Auch über Esso unterhielt er sich mit ihr. Der einzige Landweg südlich von Palana war eine Schneestraße, die nur von Januar bis März befahrbar war, trotzdem war Tschander Dutzende Male in Ksjuschas Dorf gewesen, weil die Flugzeuge, die zwischen Petropawlowsk und Palana verkehrten, wegen schlechten Wetters oft auf dem winzigen Flugplatz von Esso zwischenlandeten. Mehrmals hatte Tschander dort tagelang warten müssen, bis sich der Sturm legte. Als sie ihm ein von ihrem Bruder gemachtes Foto des Hauses zeigte, in dem sie aufgewachsen war, nahm er ihr Handy in beide Hände, vergrößerte das Bild mit den Daumen und betrachtete es. Im Flur war es warm. Sie saßen auf ihren Jacken.
»Ich kenne das Haus«, sagte er. »Habt ihr eine Katze?«
Ksjuscha kniff die Augen zusammen. »Ja, wir hatten mal eine.«
»Eine schwarz-weiße, ich erinnere mich.«
Sie lehnte sich zurück. »Nein, tust du nicht«, sagte sie, um ihn auf die Probe zu stellen.
»Doch.« Todsicher. Benahmen sich alle Doktoranden so? Er tippte auf das Display, um das Bild wieder auf die normale Größe zu bringen. »Ein blaues Haus mit einer schwarz-weißen Katze draußen auf der Mauer.«
»Und drinnen ich.«
»Und drinnen eine Ksjuscha.«
Sie ließ ihn durch die restlichen Fotos der Kamera scrollen und erklärte sie ihm. »Meine Mutter in unserer Küche, während sie Abendessen macht … Dieses Foto mag sie nicht. Eigentlich wird sie generell ungern fotografiert. Sie behauptet, sie sei nicht fotogen.« Bei dieser ungerechtfertigten Bemerkung schüttelte Tschander nur wortlos den Kopf, und Ksjuscha war wieder einmal dankbar für seine zurückhaltende Reaktion. Auf dem Foto war ihre Mutter nur von der Seite zu sehen. Heftiger Widerspruch wäre zu viel gewesen. Sie wischte zum nächsten Foto. »Das hier ist wieder zu Hause, am selben Abend, und hier das Essen, das sie gekocht hat.« Tschander sah sich das Gericht und die Möbel genau an, bevor er zum nächsten Foto wechselte. »Ruslan«, sagte sie.
Auf dem Foto trug er ein weißes T-Shirt, war ganz dicht vor der Kamera, halb ernst, halb lächelnd. Sie hatte sich rittlings auf seinen Schoß gesetzt, um das Foto zu schießen. Sie hoffte, Tschander würde es nicht bemerken. Die Hitze stieg ihr in die Wangen, während sie so tat, als wäre die Aufnahme auch für sie neu.
»Er sieht gut aus«, sagte Tschander.
Wieder die richtige Antwort. Die Nervosität fiel von ihr ab. »Stimmt.« Sie stöberten durch ihr Handy, bis Margarita Anatoljewna sich mit dem Schlüssel zum Proberaum über ihre Köpfe beugte.
*
Auch Tschander war mit einer Russin liiert gewesen. Einem weißen Mädchen. Vier Jahre, hier in der Stadt, als er noch Student war. »Ich habe sie geliebt«, sagte er. Ksjuscha sah sein Gesicht von der Seite an, die geschwungene Linie des Kiefers, die hohen Wangen und die stumpfe Nase. »Aber sie war ein Sturkopf, und es gab oft Streit – sie hat schon ein Jahr vor mir ihren Abschluss in Internationale Beziehungen gemacht, und sie wollte weg von Kamtschatka, woanders einen Job finden, während ich –«
»Nymylan«, sagte sie. Ein korjakisches Wort, das Tschander ihr beigebracht hatte. Es bedeutete »sesshaft«. Aber auch das Wort für »nomadisch« hatte er ihr gesagt, als sie ihm zum ersten Mal davon erzählte, wie ihre Großeltern mit den Rentieren durch das Land zogen. (Er hatte sie umgekehrt nach ewenischen Ausdrücken gefragt, doch sie konnte, obwohl sie die Sprache ihrer Familie verstand, nur die Worte zuverlässig aussprechen, die man ihr in der Grundschule beigebracht hatte: asatkan, nyarikan: »Mädchen«, »Junge«, alagda: »danke«.)
Tschander drehte sich zu ihr um. Seine Augen schimmerten dunkel. »Genau«, sagte er. »Ich könnte das nicht.« Seine Stimme war so sanft wie ein Finger, der über ihre Wirbelsäule strich. Er wandte sich wieder ab und betrachtete die gekachelten Wände, in denen sich die Deckenleuchten spiegelten. »Ich hätte eigentlich nach meinem Examen in ihre Wohnung ziehen sollen, aber sie redete ständig davon, dass dies nur der erste von vielen Umzügen sein würde. Zuerst Petropawlowsk, dann Chabarowsk und danach Korea oder was auch immer, irgendwelche neuen Grenzen. Ich sagte, ich müsste es mir überlegen. Sie sagte, fein, lass dir Zeit, es ist aus und vorbei, und ich sagte, na gut, wenn du meinst. Ich machte meine letzten Prüfungen und ging zurück nach Hause, um meinem Vater zu helfen. Sie und ich haben anderthalb Monate nicht miteinander gesprochen. Am Ende des Sommers rief ich sie an, aber ihr Handy war immer ausgeschaltet. Ich dachte schon, sie hätte meine Nummer blockiert.« Seine Wimpern waren gerade, kurz und trocken. »Und weißt du, wo sie war?«
»Nein.«
»In Australien.«
»Australien!«
»Australien«, sagte er. »Als Au-pair-Mädchen. Ihre Freundinnen haben es mir irgendwann erzählt. Eine rief mich an … das Gespräch werde ich nie vergessen. Sie ist noch immer dort. Irgendwo am Ende der Welt, angeblich hat sie da geheiratet.«
Dieses Mädchen war unglaublich. Ksjuscha und Ruslan waren noch nicht zusammen, als Ksjuscha sich in der Universität einschrieb, sonst wäre sie in Esso geblieben und hätte stattdessen ein Fernstudium begonnen. Tatsächlich hatte sie während des gesamten ersten Jahres überlegt, ob sie das Studium abbrechen sollte. Aber ihre Eltern hatten darauf bestanden, dass sie das Stipendium annahm. Sie wollte ja auch ihr Diplom mit Auszeichnung machen, und Ruslan hatte sich bereit erklärt, auf sie aufzupassen – das waren die einzigen Gründe, weshalb sie so weit von zu Hause entfernt war. Wie auch immer, jetzt war sie ohnehin fast fertig. Nur noch anderthalb Jahre bis zum Examen.
»Australien«, sagte Ksjuscha. »Vermisst du sie?«
»Nein. Damit ist Schluss.«
»Womit? Mit Mädchen?«
»Mit solchen Mädchen.« Ein gelassener Blick. Eine völlig gerade Oberlippe, dunkle Bartstoppeln unter der Haut. »Mit Russinnen.«
Ksjuscha hatte ihre Leute oft so sprechen hören. Sie drückte den Kopf fest gegen die Kacheln. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch.«
»Das solltest du dir noch mal überlegen.«
»Hm. Hast du noch nicht gemerkt, dass man ihnen nicht trauen kann? Sie machen sich aus uns nicht so viel wie aus sich selbst.« Ksjuscha wartete darauf, dass Tschander eine Ausnahme machte: Ruslan. Er tat es nicht. In ihren Gedanken verwandelte sich Ruslan von einem Mann, den sie verteidigen sollte, in einen, der sie verließ – Ruslan könnte sie viel leichter verlassen als sie ihn. Doch inzwischen hatte Tschander das Thema gewechselt. »Wenn im Norden etwas passiert, nimmt niemand davon Kenntnis. Dann passiert das Gleiche hier, und es sorgt für Schlagzeilen. Kannst du dich an die Ölkrise achtundneunzig erinnern? Damals waren wir zu Hause ein ganzes Jahr lang ohne Strom. Die Leute in Palana froren sich zu Tode. Trotzdem tut man hier in der Stadt so, als wären es nur drei oder vier Monate Kälte gewesen. Der Rest der Zeit spielte keine Rolle, weil sie nur uns betraf.«
Ksjuscha hatte nie davon gehört. Während der Ölkrise war sie noch zu klein gewesen. Sie konnte sich nicht erinnern.
»Oder die beiden russischen Mädchen, die im Sommer verschwunden sind«, fuhr Tschander fort. »Ständig haben die Medien darüber berichtet. Sie haben uns die Polizeibeamten und die Mutter der Mädchen gezeigt, bis wir deren Gesichter besser kannten als die der Nachbarn, mit denen wir aufgewachsen sind. Und was war mit dem ewenischen Mädchen, das vor drei Jahren verschwunden ist? Wer hat darüber berichtet? Wer denkt heute noch an sie?«
»Das Mädchen aus Esso?«, fragte Ksjuscha. »Lilja.«
Er machte eine Pause. »Kanntest du sie?«
»Nein«, antwortete Ksjuscha. »Nicht wirklich. Ihr Bruder hat einen Sommer bei uns in der Herde gearbeitet, mehr nicht. Woher kennst du sie?«
»Ich kenne sie nicht.« Tschander sah Ksjuscha mit neuer Aufmerksamkeit an. »Ich habe davon gehört, als ich damals im Herbst durch Esso kam.«
Ksjuscha hatte gerade angefangen zu studieren, als das Mädchen verschwand. Lilja Solodikowa. Obwohl sie nur ein Jahr vor Ksjuscha ihren Schulabschluss gemacht hatte, hatten sich ihre Wege kaum gekreuzt. Sogar Tschegga, der anfangs ein paarmal mit Lilja ausgegangen war, hatte sie aus den Augen verloren, als sie beide noch Teenager waren. Lilja hatte schlechte Noten bekommen. Klein und süß wie ein Kind, gab sie sich in der Öffentlichkeit schüchtern, hatte sie bei ihren Mitschülerinnen den Ruf, leichtsinnig zu sein, was Männer anging. Es hieß, sie ließe sich für Geld befummeln. Die Jungen in Esso riefen ihr nach, wenn sie an ihnen vorbeiging. Manchmal, wenn Ksjuscha abends noch auf war, sah sie aus ihrem Zimmerfenster, wie Liljas winzige Gestalt auf dem dunklen Sportplatz des Dorfes verschwand.
Ksjuscha und Lilja hatten nichts gemein, trotzdem musste sie sich nach Liljas Verschwinden die Warnungen ihrer Eltern, ihres Bruders und Ruslans anhören. Geh nicht allein aus. Pass auf dich auf. Meide Versuchungen. Sprich nicht mit Fremden. Tschegga schwor, dass Lilja von einem eifersüchtigen Verehrer ermordet worden sein musste. Das war der Moment, in dem Ruslan beschloss, dass Ksjuscha und er ständig in Verbindung bleiben sollten.
»Was ist ihr wirklich zugestoßen, was meinst du?«, fragte Tschander.
»Sie ist abgehauen«, antwortete Ksjuscha.
»Echt? Ich habe gehört, sie hätte keine Nachricht hinterlassen. Sie sei einfach verschwunden.«
»Sie …«, Ksjuscha zögerte. »Ich wohnte schon hier im Studentenheim, als ganz Esso von ihr sprach. Ich weiß nicht, was wirklich passiert ist. Aber Lilja war nicht besonders glücklich zu Hause. Ihr Bruder, also der, der im Sommer für meine Großeltern in der Herde gearbeitet hatte, war verrückt. Ihre ältere Schwester war deswegen schon weggegangen. Ihr Vater war tot, und die Mutter … Es gab nicht viel, was Lilja zu Hause hielt.« Sie lächelte ihm zu. »Vielleicht ist sie ja auch Au-pair-Mädchen in Australien geworden.«
Er erwiderte das Lächeln nicht. »War sie denn der Typ Mädchen, das abhaut?«
»Welcher Typ Mädchen tut so was denn?«, entgegnete Ksjuscha. Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe sie wirklich nicht gekannt, Tschander. Ich glaube nicht, dass wir jemals miteinander gesprochen haben.«
»Verstehe«, sagte er. »Ich muss nur immer an sie denken, wenn ich die Nachrichten aus der Stadt sehe.«
»Ja, ich auch.« Lilja, die kaum mehr als eine Quelle von kleinen Gerüchten gewesen war, als sie und Ksjuscha nur wenige Häuserblocks voneinander entfernt wohnten, hatte Ksjuschas Leben in den drei Jahren, in denen sie verschwunden war, verändert. Die ständigen Kontrollen. Die pünktlichen Anrufe.
Vermutlich musste Ksjuscha dankbar sein. Wenn dieses Mädchen nicht beschlossen hätte, ihr Leben hinter sich zu lassen, hätte Ruslan sich dann so eindeutig für sie entschieden?
»Die örtliche Polizei hat sie sehr schnell aufgegeben, nicht wahr? Während die Stadt immer neue Suchtrupps für die vermissten Schwestern auf die Beine stellt. Hier reden alle Leute über diese Mädchen, auch wenn sie gar nichts zu sagen haben«, sagte Tschander. »Ein weißer Kerl, ein dunkler Wagen im Stadtzentrum … das könnte jeder sein.«
Tschander hatte recht. In der Stadt hätte man Lilja kaum wahrgenommen. Die Reporter taten so, als hätten die beiden Schwestern in diesem Sommer den Akt des Verschwindens erfunden.
Doch diese Nichtbeachtung war mit großer Wahrscheinlichkeit der Grund dafür, dass Lilja abgehauen war. Ksjuscha war anders, aber sie konnte Lilja verstehen. Die Überzeugung, dass einen nichts Gutes erwartete. Die Familienfalle. Der geheime Plan eines Menschen, der unbedingt flüchten musste. So ähnlich hatte sich Ksjuscha auch gefühlt, bevor Ruslan sie auserwählt hatte.
Tschander ließ die Hände über die aufgestellten Knie baumeln. Seine Stimme war leise. »Ein weißer Kerl und ein dunkler Wagen. Sie sind überall. Du weißt, was ich meine.« Sie wusste es. Tschander wollte nicht Ruslan beleidigen. Er hatte nicht einmal seine Ex-Freundin im Sinn. Er meinte etwas anderes, ein tiefes allgemeines Wissen, einen Schmerz, der angeboren war.
*
Hätten sich Tschander und Ruslan verstanden, wenn sie sich unabhängig von ihr kennengelernt hätten? Sie waren nur ein Jahr auseinander: Ruslan sieben-, Tschander sechsundzwanzig. Ruslan war reizbarer, hitziger, Tschander fleißiger, aber wenn sie auf dieselbe Schule gegangen wären oder in derselben Armee-Einheit gedient hätten, wären sie unweigerlich Freunde geworden. Der eine weiß, der andere Korjake, und keiner von ihnen zweifelte auch nur eine Sekunde, wo er hingehörte.
*
Am letzten Freitag im November ging Ksjuscha wie im Monat zuvor nicht zum Tanzen, sondern putzte die Wohnung für Ruslans bevorstehenden Besuch. Alisa würde das Wochenende bei einer Freundin verbringen (»Ich muss ja euer widerliches Gestöhne nicht unbedingt mitkriegen«, erklärte sie und lachte, als Ksjuscha zusammenfuhr). Auf den Knien schrubbte Ksjuscha unter der Badewanne, während die Musik aus ihrem Handy dröhnte. Es roch nach synthetischen Orangen. Sie spürte ihre Kniescheiben auf dem Linoleumboden, das Gewicht ihres verschwitzten warmen Körpers, und plötzlich wurde es ihr bewusst. Sie war glücklich. Richtig glücklich. Glücklicher als jemals zuvor.
Den ganzen Herbst über hatten sich die kleinen Freuden addiert. Jetzt hatte Ksjuscha alles: einen richtigen Freund, ein neues Zuhause, gute Noten, Talent und noch einen zweiten Freund.
Ksjuscha unterhielt sich mit Ruslan ganz anders als mit Tschander. Sie sprachen mehr über Nachbarn, die sie beide kannten, Erinnerungen, die sie teilten, das Verlangen, das sie noch immer zusammenschweißte. Und wenn Ruslan gestresst war, bei einem Projekt dem Zeitplan hinterherhing, oder wenn sein Vorgesetzter ihm die Leviten gelesen hatte, benutzte er die Telefongespräche, um nach Ksjuschas Fehltritten zu suchen. Wo bist du gewesen? Mit wem warst du zusammen? Bist du sicher? Sie drückte den Schwamm aus. Der Orangengeruch stach ihr in die Nase. Die Kontrolle machte ihr nichts aus, nicht wirklich, sie wurde zu einem besseren Menschen, wenn er sie beaufsichtigte, aber wie schön es doch war, jede Woche drei Nachmittage außer Haus zu verbringen, jemandem seine Gedanken anzuvertrauen, der sie einfach nur verstand.
Was für ein Glück, dass sie beide hatte. Ruslan mit seinen Launen und Tschander, der keine Ansprüche stellte. Nachdem sie sich jahrelang gesagt hatte, dass Ruslan in Esso genug sei – mehr als genug!, berichtigte sie sich –, hatte Ksjuscha jemand Neues in Petropawlowsk entdeckt. Manche Menschen hatten niemanden und nirgendwo; Ksjuscha hatte jetzt zwei.
Als Ruslan eintraf, war es schon fast elf. Bevor er in Esso aufgebrochen war, hatte er den ganzen Morgen Feldwege planiert, die asphaltiert werden sollten. Sie hatten Sex auf dem Futon, sein Körper war elektrisiert, seine Reisetasche lag auf dem Boden, und in der Luft hing noch immer der Duft der Reinigungsmittel. Ksjuscha berührte seine Haut mit neuer Dankbarkeit.
Hinterher klang seine Stimme umso schärfer in ihrem Ohr. »Hattest du einen schönen Tag, während du auf mich gewartet hast?«
»Ich hatte einen wunderschönen Tag.«
Er musterte sie. »Was hast du gemacht?«
Sie fasste ihn an der Hüfte und zog ihn an sich. Ihre Finger glitten über seine sanft geschwungenen Rippen. »Nichts«, sagte sie. »Gar nichts.«
Dann schwiegen sie. »Zeig mir noch mal einen deiner Tänze«, sagte er schließlich, wie schon bei seinem letzten Besuch, und sie presste ihr Gesicht an seine Brust und stöhnte, stand aber trotzdem auf. Das Mondlicht, das durch das Fenster fiel, erhellte ihre nackte Haut. Er drehte sich auf die Seite, um sie besser sehen zu können.
Ksjuscha entschied sich für einen ihrer Lieblingstänze, bei dem Tschander vor ihr niederkniete. Sie beugte sich vor und winkte. Wand sich. Ihre Finger griffen nach der Luft. Sie neigte sich Ruslan zu, dann wieder weg, machte einen Schritt, drehte sich im Kreis und lächelte. Er beobachtete sie. Seit Jahren war sie im Bett mit ihm schüchtern und gehemmt gewesen, doch jetzt wirbelte sie ungeniert durch das weiße Licht. Vorwärts. Rückwärts. Ihr Körper ging von einem Schritt zum anderen über, leicht wie ein Fluss, der seinem Lauf folgte. Sie tanzte gut. Sie wusste es. Sie bewegte sich, als verlangten die Schritte nicht nach einem Partner – als sei sie sich selbst genug.
*
Als sie am Montag Tschander den Flur entlangkommen sah, freute sie sich. Seine Turnschuhe, seine Jeans und das billige Hemd mit dem Waffelmuster: All das besänftigte sie. »Dachte ich mir doch, dass ich dich hier treffen würde«, rief er.
»Wo sollte ich sonst sein?« Sie hatte ihr Buch herausgeholt, aber als er näher kam, legte sie es weg.
»Die Stunde heute fällt aus«, sagte er, und sie hielt inne. »Margarita hat es uns am Freitag gesagt. Hat dir Alisa nicht Bescheid gegeben?«
Ksjuscha fummelte am Reißverschluss ihrer Tasche. »Nein. Ich habe sie gar nicht gesehen.« Der einzige Kontakt zu ihrer Cousine an diesem Wochenende war eine SMS, die Alisa geschickt hatte, um zu hören, wie der Besuch lief, unterschrieben mit Küsschen, zwinkernden Gesichtern und lachenden Smileys.
Fällt aus. Das würde sie Ruslan nicht erzählen, denn das bedeutete, dass der Tanzunterricht jederzeit ausfallen konnte. Dass kein Verlass darauf war. Und damit auch auf sie nicht. Sie zog den Reißverschluss zu und legte die Hände wieder in den Schoß.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Mit Anatoljewna? Klar. Sie hat nur einen Arzttermin.« Tschander setzte sich neben sie.
Ksjuscha neigte ihm den Kopf zu. »Und wieso bist du jetzt hier?«
»Weil ich dich sehen wollte. Wie war dein Wochenende?«, fragte er.
Sie erzählte ihm von dem Besuch. Den Filmen, die sie sich angesehen hatten, den Neuigkeiten von zu Hause. Nicht vom Sex. Nicht von ihrem Glück. Trotzdem, vielleicht sah man ihr beides an.
»Du bist bestimmt traurig, wenn er wieder fährt«, sagte Tschander.
»Ja.« Sie überlegte. »Aber nicht mehr so wie früher.«
Irgendwann, vor nicht allzu langer Zeit, wäre ihr diese Aussage wie ein Verrat erschienen. Doch Tschander und sie wussten, was sie meinte – früher hatte sie Angst gehabt, sich aus der Reichweite der Mikrowellenuhr hinauszubewegen. Doch allmählich gewöhnte sich Ruslan daran, und auch sie machte Fortschritte.
»Bring ihn doch nächstes Mal einfach mit zum Unterricht«, sagte Tschander.
Ksjuscha lachte. »Lieber nicht.«
Er lehnte sich zurück und ließ den leichten Bogen seines Halses sehen. Eine Weile saßen sie schweigend da. Am Ende des Flurs zischte die Heizung.
»Wir haben dich vermisst«, sagte er schließlich. »Ich habe dich vermisst.«
»Ich dich auch.«
Er sah sie direkt an. »Ich muss dich etwas fragen.«
»Na gut«, sagte sie. Und dann stieg die Angst in ihr auf. Angst und Neugier, beides vermischte sich wie Sand, der vom Meerwasser aufgewühlt wird.
»Wieso bist du dieser Truppe beigetreten?«
»Weil Alisa es wollte.«
»Ich weiß. Aber Alisa will, dass du vieles tust, was du dann nicht machst. Zum Beispiel, jeden Tag ins Café gehen. Machst du aber nie. Warum dann das?«
Er wollte eine bestimmte Antwort hören. Sein konzentrierter Blick schweifte von ihren Augen zu ihren Wangen, zu ihrem Mund. Die entsetzliche Mischung in ihrer Brust wühlte sie auf. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Ich glaube … ich weiß es nicht.«
»Du wolltest Abwechslung.«
»Vielleicht«, antwortete sie. »Ja, doch.«
»Etwas anderes.« Er streckte den Arm nach ihr aus. »Ich auch. Hab keine Angst«, sagte er und nahm ihre Hand von ihrem Schoß.
Er hielt ihre Hand. Mehr nicht. Trotzdem spürte sie im Rücken, wie ihr Herz gegen die Wand schlug. Tschander. Ihr Freund. Sie wollte nicht, dass er sie losließ.
Dieses Wochenende hatte sie an ihn gedacht. Nackt, direkt vom Futon gesprungen, als sie für Ruslan tanzte, hatte sie an Tschander gedacht. Sie hatte eben gesagt, dass sie ihn vermisst hatte. Es war nicht gelogen.
Er war ein guter Freund, aber auch mehr. Oder nicht? Sie kam drei Mal in der Woche in diesen Flur und wünschte, es wären fünf Mal. Um sich mit ihm zu unterhalten, neben ihm zu sitzen. Sie hatte sich gewünscht, ihn heute hier zu treffen.
Sie hatten schon eine rote Linie überschritten. Er verschränkte seine Finger mit ihren. »Hab keine Angst«, wiederholte er; wahrscheinlich hatte er bemerkt, wie ihr Herz unter der Haut pochte.
»Hab ich nicht«, entgegnete sie. Nicht vor ihm. Er küsste sie.
*
Als sie klein war, starrte sie Ruslan bei den Familienmahlzeiten über die abwaschbare Tischdecke hinweg an. Mal tat sie so, als sei sie seine Freundin, mal schimpfte sie deswegen mit sich. Er war ihr Nachbar – der Freund ihres Bruders –, dieser braun gebrannte Junge. Irgendetwas an dieser Fantasie war schäbig, lächerlich. Schon damals hatte sie dieses Gefühl gehabt.
Im Sommer danach, als sie die Schule beendet hatte, vielleicht einen Monat, bevor sie wegzog, hatte Ruslan angefangen, mit ihr zu reden, als wäre sie mehr als bloß Tscheggas kleine Schwester. Abend für Abend fragte er, wo sie hinginge, tauchte dann dort auf, erklärte ihren Schulfreundinnen, es sei schon spät, und brachte sie nach Hause. Im Jahr zuvor hatte Tschegga seinen Militärdienst angetreten, und Ksjuschas Eltern waren während der Saison in der Tundra, mit den Pferden, Mehlsäcken und Unmengen Wodka, der ihnen half, die Zeit auf dem Land totzuschlagen. Also war Ruslan zuständig. Er nahm diese Verantwortung ernst. Sie gingen zusammen über ächzende Brücken, an Holzhäusern vorbei und staubige Straßen entlang. Das Dorf war dunkel und verlassen. Schließlich küsste Ruslan sie unter einer Straßenlaterne. Er hielt ihr Gesicht mit beiden Händen, als fände er sie hinreißend.
In diesem ersten Monat, den sie zusammen waren, Wochen bevor Lilja verschwand, fragte Ksjuscha sich immerzu, ob sie sich etwas vormachte. Es war zu schön, um wahr zu sein. Jedes Mal, wenn Ruslan zu ihr nach Hause kam, öffnete sie ihm staunend die Tür. Egal, wo sie sich trafen, immer fühlte sie sich so wie an jenem wundervollen Abend – sie beide allein auf der Straße, in der sie aufgewachsen waren, und ihre Körper in Licht gebadet.
Und er begehrte sie sogar noch mehr, als sie aus Esso weggezogen war. Stündlich schickte er ihr SMS-Nachrichten, kam regelmäßig nach Petropawlowsk und sorgte dafür, dass sie keine Risiken einging. Seine Freundin zu sein, fühlte sich noch immer unwirklich an. Ksjuscha hatte jahrelang versucht, so zu tun, als verdiente sie seine Aufmerksamkeit, doch in Wirklichkeit stimmte das nicht. Sie nutzte kleine Tricks, um sich seiner Kontrolle zu entziehen. Sie erfand Ausflüchte. Sie war ungehorsam.
Nach all der Zeit zeigte Ksjuscha nun ihr wahres Gesicht. Irgendwie fühlte es sich gut an, es zu wissen: In Wahrheit war sie nicht diejenige, als die sie sich Ruslan gegenüber ausgegeben hatte, nachdem Lilja weg war – sondern diejenige, die er fürchtete. Sie war eine Verräterin.
*
»Ich habe dich vermisst«, flüsterte Tschander ihr ins Ohr. Sein Haar streifte sanft ihre Wange. Sein Körper, um den sie seit Wochen einen vorsichtigen Bogen gemacht hatte, war jetzt ganz nah. »Am Freitag habe ich mir ständig vorgestellt, wie ihr zusammen seid.« Er küsste sie auf die Wange, den Hals, und sie hob das Kinn, damit er weitermachen konnte. Er schmiegte sein Gesicht an ihren Hals. Sie legte eine Hand auf seinen Hinterkopf und hielt ihn fest.
*
Nichts sollte den Anschein einer Veränderung erwecken. Niemand konnte es wissen. Ksjuscha und Tschander behielten ihr Arrangement bei, trafen sich eine Stunde vor dem Tanzen auf dem Flur, nur rückten sie jetzt ganz eng zusammen, wenn sie miteinander sprachen. Sie hatten ihre Geheimnisse. »Ich wünschte, ich hätte dich damals gekannt«, sagte er einmal und meinte, als sie noch auf der Schule war. Vor Ruslan, meinte er eigentlich, doch eine solche Zeit hatte es nie gegeben.
Tschanders Mund schmeckte süß. Ruslans war forsch, roch nach Tabak. Sie kannte Ruslans Mund am Morgen oder nach dem Trinken oder wenn er nach einem Streit auf ihr glühte wie ein heißes Bügeleisen – all diese Male, gute und schlechte. Sie liebte ihn. Doch Tschanders Mund war süß. Immer. Sanft. Volle Lippen, gerade Zähne, seine Zunge suchte und fand sie, und dann sein Atem, erleichtert.
Manchmal zweifelte sie an ihren Gefühlen für Tschander, weil sie so viel leichter waren als ihr Verlangen nach Ruslan. Aber diesen Atemzug liebte sie. Ein Hauch, und sie war voller Kraft.
*
War sie glücklich? Ja und nein. Nicht so wie zuvor. Sie konnte sich kaum erinnern, was in der Version ihrer selbst vorgegangen war, die im November so eifrig den Boden geschrubbt hatte.
Stattdessen erinnerte sie sich an andere, frühere Dinge. Wie sie jedes Jahr am letzten Schultag nach Hause gekommen war und ihren Vater dort angetroffen hatte. Und wie froh es sie gemacht hatte, ihn zu sehen, nachdem er monatelang bei seinen Tieren gewesen war, aber dass sie gleichzeitig wusste, was seine Gegenwart bedeutete – nämlich, dass er sie und die übrige Familie am nächsten Tag fort von Esso und mit zu der Herde nehmen würde.
Zu Anfang des Sommers trieben die Hirten die Tiere näher ans Dorf, damit sie nur dreißig statt dreihundert Kilometer von zu Hause entfernt auf dem Marschland grasen konnten. Trotzdem musste Ksjuschas Familie stundenlang durch Ebenen und über Bergpässe reiten, um zu ihnen zu gelangen. Als sie klein war, banden ihre Eltern ihr ein Seil um die Hüften und befestigten es am Sattel, und immer, wenn sie auf dem breiten Rücken ihrer Stute einnickte, rief ihr Vater ihren Namen, um sie zu wecken. Während sich dieses Geschehen wiederholte, zog die Sonne über ihnen weiter. Mit zehn Jahren war sie so weit, dass sie die Zügel selbst halten durfte. Die Pferde wurden älter, ihr Schritt langsamer, nur die Tundra behielt ihre gewohnte durchdringende Leere.
Ksjuscha graute vor diesen Reisen. Gegen Ende, wenn sie durch die Ebenen wanderten und nach Spuren der Herde suchten, stritten sich ihre Eltern immer. Sie schrien sich an wegen der Trinkerei von Ksjuschas Vater, der Gesundheit der Großeltern, der eng gefassten Wünsche bezüglich der Karrieren von Ksjuscha und ihrem Bruder, wegen der schlechten Marktpreise für Rentierfleisch, der wenigen Kälber, der zottigen Felle, der Politiker, die die Herdenhaltung ruinierten, indem sie Subventionen verweigerten. Den Rest des Sommers gelang es Ksjuschas Eltern, ihre Ehe irgendwie zusammenzuhalten. Jeden Morgen lud ihr Vater das Gepäck der Familie auf die Tiere, um das Lager zu wechseln, und jeden Abend reservierte ihre Mutter die besten Fleischstücke für ihn, doch die langen Tage, die sie zu Anfang und am Ende der Saison durchstehen mussten, wurden von Jahr zu Jahr schlimmer.
Schließlich teilte Ksjuscha ihnen im Sommer, bevor sie an die Universität wechselte, mit, dass sie ihre Eltern nicht mehr in die Tundra begleiten konnte. Sie habe noch so viel zu lesen, bevor die Seminare begannen. Vielleicht weil sie sich nie zuvor geweigert hatte, wurde ihr erlaubt, zu Hause zu bleiben, und sie war dankbar dafür; und dann war sie erstaunt, denn es sollte der letzte Sommer sein, den sie ohne Aufsicht verbrachte. Es wurde die Zeit von Ruslan.
Doch jetzt, drei Jahre später in Petropawlowsk, dachte sie daran, was sie in jener letzten Saison in der Tundra verpasst hatte. Was sie in all den Jahren zuvor dort draußen gesehen hatte.
Die blau leuchtende Schwärze der Nacht. Das endlose trockene Gelb des Tages. Sosehr sie diese Sommer hasste – das Lager im Regen aufschlagen, so tun, als verstünde sie die auf Ewenisch ausgesprochenen Beleidigungen nicht, ihre Übelkeit vom Geruch der versengten Felle –, diese Wochen gehörten zu den lebendigsten Zeiten ihres Lebens. Der immer gleiche Ablauf: die Rückkehr ihres Vaters in das Dorf, die gemeinsame Reise hinaus in die Tundra, die Art, wie Tschegga nach der Ankunft in die Arbeit der Männer eingebunden wurde und nach den Tieren sehen musste, während Ksjuscha als Teil der Küchenmannschaft ihrer Großmutter Wasser holte, der Boden, den die Rentiere über Nacht kahl fraßen, das Packen der Zelte und Taschen am frühen Morgen, der tägliche Wechsel des Lagers, und wie sie auf den Pferden Tausende von Kilometern zurücklegten, über ein Gewirr von Pfaden, für die die Herde ein ganzes Jahr brauchte. Die Gleichförmigkeit dieser Tage und Jahre war wie das endlose Wiederaufreißen einer Wunde und brannte diese Sommer in ihr Gedächtnis.
Während der Rest der Familie in getrennten Zelten schlief, sicherte die Großmutter zwei Plätze für Tschegga und Ksjuscha in der Jurte, in der die Frauen kochten. Nach dem Abendessen warf sie Asche auf das Feuer, breitete die Pferdedecken um die Kohle herum aus und ließ die Geschwister in der plötzlichen Stille einschlafen. Die Sonne ging erst gegen Mitternacht unter, doch in der Jurte war es vom Rauch schon dämmrig. Ksjuscha und ihr Bruder lagen da, in der Nase den Geruch vom Schweiß des Tages und vom frischen platt gedrückten Gras.
Einmal wachte sie mitten in der Nacht auf, ohne zu wissen, warum. Durch das Rauchloch der Jurte schien der Mond auf sie herunter. Ein Meter von ihr entfernt atmete ihr Bruder, damals noch ein pummeliger Schuljunge.
Die Kohle in der Herdstelle knackte. Sie drehte sich auf die Seite, um hinzusehen. Die Kohle war schwarz, knisterte aber noch; Ksjuscha beobachtete sie, ohne zu verstehen. Das Geräusch wurde lauter. Erst nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass es nicht von der Feuerstelle stammte, sondern dass draußen vor der Jurte die Rentiere vorbeizogen. Aus irgendeinem Grund führten die Männer sie mitten durch das Lager. Das Geräusch, das Ksjuscha geweckt hatte, war das Stampfen von achttausend schmalen Hufen hinter der Wand aus Segeltuch.
Warum kehrten diese kindlichen Bilder zu ihr zurück? Heutzutage musste sie doch an andere Dinge denken. Die Kurse, die Prüfungen, das Praktikum in der Bank, das ihr die Freundin ihres Bruders für den kommenden Sommer versprochen hatte, die Anrufe, die sie denjenigen schuldete, die zu Hause warteten. Ruslan, wenn sie es ertragen konnte – oder wenn nicht, Tschander, der seinen Arm um sie gelegt hatte. Er zog sie an sich, sodass ihr Kopf auf seiner Schulter lag. Seine Lippen streiften ihr Haar.
Vielleicht lag es daran, dass sie sich beim Tanzen so sehr anstrengte. Danach spürte sie denselben Schmerz wie in der Zeit, als sie Holz gehackt, das Feuer gehütet, die Jurte auf- und abgebaut hatte. Oder es lag daran, dass sie wieder mit Ureinwohnern zusammen war; so viele auf einmal hatte sie seit damals in Esso nicht mehr um sich gehabt. Oder an dem Hirtentanz mit der Truppe. Tschander sah tatsächlich komisch aus, wenn er sein Lasso hielt. Ein solches Werkzeug gehörte in die Hand ihres Vaters oder Großvaters.
Sie dachte an ihre Familie, an die Tiere, den Unterricht und ihre Pflichten. Das leere, wellige Land. Vielleicht lag es daran, dass, aus der Ferne betrachtet, ihre Kindheit so einfach erschien. Und dass sich, sosehr sie den Mund dieser Männer auf ihrer Haut liebte, ein Teil von ihr wünschte, sie könnte dorthin zurückkehren.
*
Ksjuscha klimperte auf ihrer Gitarre, statt ihre Hausaufgaben zu machen, als Alisa nach Hause kam. Es war Donnerstag – kein Tanzunterricht. Das Gesicht ihrer Cousine war rot von der Kälte draußen. »Rutsch mal ein Stück«, sagte Alisa, und Ksjuscha machte Platz auf dem Futon. Ihre Knie berührten sich, als sie so nebeneinandersaßen.
Alisas Bein war eiskalt. Der Winter war da. Seit einer Woche schneite es ununterbrochen, und die Stadt vor den Fenstern ihrer Wohnung lag unter einer dicken weißen Schneedecke. Im stumm geschalteten Fernseher sah man die Porträts der Golosowskaja-Mädchen, bevor ihre Gesichter von einer Kurve fallender Ölpreise ersetzt wurden.
»Was glaubst du, wo sie sind?«, fragte Alisa.
Ksjuscha zupfte ein paar Saiten. »Wer?«
»Diese Schwestern. Glaubst du, dass sie noch am Leben sind? Irgendwo?«
Ihrer Cousine gegenüber musste Ksjuscha die Gefahr nicht herunterspielen. »Nein.«
»Manchmal stelle ich mir vor, sie wären in der Wohnung nebenan. Du glaubst nicht, dass man sie noch findet?«
»Nicht lebend. Hoffe ich jedenfalls.« Die vermissten Mädchen waren nicht wie Lilja, die alt genug war, um durchzubrennen. »Was immer mit ihnen passiert ist, ich hoffe, es ging schnell, und sie mussten nicht leiden.«
Nach den Nachrichten kam die Wettervorhersage: anhaltende Schneestürme. Die gefüllten Kohlrouladen brutzelten im Herd. In der ganzen Wohnung roch es nach Schweinefleisch und Zwiebeln. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Alisa.
»Ja«, sagte Ksjuscha automatisch. Und als die Antwort nicht zu reichen schien, sagte sie es noch einmal: »Ja.«
»Du kommst mir irgendwie anders vor.«
»Bin ich nicht.« Alisa lachte über die schroffe Antwort, und Ksjuscha bewegte ihre kribbligen Fingerspitzen. »Wieso anders?«
»Du bist nervös. Ich dachte, vielleicht hat Ruslan irgendwas falsch gemacht.«
Ksjuscha blickte vom Hals der Gitarre auf. »Nein.«
»Na gut.«
»Macht er nicht.«
Alisa verzog den Mund. »Prima.« Wie auf Bestellung vibrierte Ksjuschas Handy unter ihnen. Alisa kramte es hervor, warf einen Blick auf das Display und reichte es ihr.
»Hallo«, sagte Ksjuscha. Ihre Cousine stand auf und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. »Nichts. Du fehlst mir.« Ksjuscha spielte einen G-Dur-Akkord für Ruslan. »Hast du gehört? Bin zu Hause. Mir geht es gut.«
*
In vielerlei Hinsicht war Ksjuscha, seitdem sie in der Truppe tanzte, eine bessere Freundin für Ruslan. Sie war geduldiger, hilfsbereit, zugänglich. Je schlimmer sie sich privat benahm, indem sie Tschander erlaubte, mit seinen Lippen ihren Hals zu liebkosen, umso makelloser erschien ihr Ruslan. Er hatte sich all die Zeit um sie gekümmert. Also schrieb sie ihm öfters und stellte weniger Ansprüche, und wenn er am Telefon frustriert war, versuchte sie nicht mehr, sich zu rechtfertigen. Sie besänftigte ihn nur, bis er sich wieder beruhigt hatte.
*
»Ich habe wunderbare Neuigkeiten für euch.« Margarita Anatoljewnas seidener Schal schimmerte im Licht des Proberaums. »Die Universität ist bereit, uns Ende des Monats zum Ostwind-Folklorefestival nach Wladiwostok zu schicken. Das ist eine Ehre. Eine große Ehre. Wir werden vor mehr als tausend Zuschauern auftreten.« Ihre Stimme zitterte. Sie hielt inne, und alle klatschten Beifall, ein schnelles, wildes Geräusch. »Seit zwei Jahren sind wir nicht mehr dort gewesen.« Dieser letzte Teil ging teilweise im Lärm unter. »Tschander, kannst du den anderen mehr darüber erzählen?«
Ksjuscha merkte, wie er sie ansah, bevor er aufstand. »Das ist toll«, sagte er. »Stimmt, letztes Jahr haben wir keine finanzielle Unterstützung bekommen. Das Ganze dauert drei oder vier Tage …«
»Vom dreiundzwanzigsten bis sechsundzwanzigsten Dezember«, unterbrach ihn Margarita Anatoljewna.
»Und wir tanzen, lernen andere Ensembles kennen, bekommen eine richtige Stadt zu sehen. Schlafen im Hotel.« Er sprach zwar nicht in ihre Richtung, aber es war klar, dass seine Worte an sie gerichtet waren. »Ein Riesenspaß.«
Alisa kreischte los, woraufhin wieder alle anfingen zu jubeln. Selbst Margarita Anatoljewna grinste. Ksjuscha klatschte wie alle anderen in die Hände, wusste aber nicht, was sie jetzt tun sollte. Tschander hatte ihr gesagt, dass die Truppe in der Öffentlichkeit auftreten würde, aber sie hatte … an einen Auftritt in einem lokalen Bezirkskrankenhaus gedacht oder an die Bühne einer Grundschule. Nicht daran, dass sie ihre Vorlesungen verpassen würde, um in die Pazifikmetropole Russlands zu reisen. Und schon so bald … Was sollte sie Ruslan sagen? Er hatte nicht vor, diesen Monat zu kommen, denn sie würde stattdessen nach Esso fahren und Silvester zu Hause verbringen, aber … in einem Hotel übernachten, in einer anderen Region, mit Leuten, denen er nicht über den Weg trauen konnte und sollte?
Ksjuscha entschuldigte sich und rief von der Toilette aus Ruslan an. »Was gibt’s?«, sagte er, als er abnahm. Im Hintergrund hörte sie den Lärm von Menschen und Maschinen.
Sie erzählte ihm von dem Festival.
»Wladiwostok«, sagte er. »Mein Gott!«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Nur der Name ist lächerlich. ›Ostwind-Festival‹.«
»Ich weiß«, sagte sie wieder, »aber hier sind alle ganz aus dem Häuschen. Alisa hat geschrien, als die Lehrerin es verkündete.«
»Na klar«, sagte er. »Es ist ja auch unglaublich. Eine Reise umsonst nach Wladiwostok. Ich hab doch gleich gesagt, dass diese Sache mit dem Tanzen eine gute Idee ist. Und wie lange musst du weg sein?«
»Vier Tage«, sagte Ksjuscha. Selbst in ihren eigenen Ohren klang sie jämmerlich. Er schnalzte mit der Zunge, und sie begriff, je weniger Lust sie auf die Reise zeigte, desto stärker war er offenbar bereit, sie gehen zu lassen.
Das führte nur dazu, dass sie sich noch schlechter fühlte. Seit der ersten Begegnung mit Tschander hatte sie versucht, netter zu Ruslan zu sein. Doch ihre Bemühung – die zärtlichen Fragen, die fürsorglichen Geräusche, die häufigeren Beteuerungen, dass sie am liebsten bei ihm und zu Hause wäre – mündete in eine Strategie, die sich für sie auszahlte. Hatte sie die ganze Zeit darauf hingearbeitet?
»Trommeln, Felle und Ostwinde«, sagte Ruslan. »Ich wünschte, ich könnte dabei sein.«
Sie wandte sich von den Spiegeln in der Toilette ab. Am liebsten hätte sie in diesem Moment losgeheult. »Das wünschte ich auch.«
Er hatte nicht das Geld für ein Flugticket. Und auch sonst niemand in ihren Familien. Also konnte sie ruhig sagen, sie wünsche, sie könnten es zusammen erleben, obwohl es sie ruinieren würde.
*
In der Zeit vor der nächsten Tanzstunde hielt Tschander sie so fest, dass sie keine Luft bekam. »Abends gehen bestimmt alle aus«, sagte er. »Keiner wird erwarten, dass du mitkommst. Du bleibst in deinem Hotelzimmer, und ich sage, ich bin krank oder müde oder muss arbeiten. Dann komme ich zu dir.«
»Na gut«, antwortete sie. Sie konnten sich ja nicht ewig nur küssen. Unter ihrer Handfläche spürte sie seine Brust, in der sich seine Muskeln erwartungsvoll anspannten.
In ihrem Flur schmiegten sie sich aneinander, doch während der Unterrichtsstunden blieben sie auf den entgegengesetzten Seiten des Raums. Das Wissen um das, was auf sie zukam, machte Ksjuscha nervös. Margarita Anatoljewna verkündete, dass sie ab sofort fünf Mal pro Woche trainieren würden, und Ksjuscha schaffte es nicht, sich umzudrehen und ihn anzusehen. Sie bildete sich ein, dass er und auch alle anderen wussten, was sie sich vorstellte: seinen Körper auf ihrem Körper. Die Musik setzte ein. Tschander machte einen Schritt auf sie zu, und sie zuckte zusammen.
*
»Wann siehst du Ruslan wieder?«, fragte Alisa. Die beiden Cousinen lagen in ihren Betten. Ksjuscha, die an den Flur in der Universität gedacht hatte, schlug die Augen auf, als Alisa sprach. Über ihr nichts als Dunkelheit.
»Silvester«, sagte sie.
»Bist du traurig ohne ihn?«
»Manchmal«, sagte Ksjuscha mit zunehmend schlechtem Gewissen. Sie starrte an die Decke.
»Vielleicht kann er vorher noch mal kommen.«
»Dafür ist keine Zeit«, sagte Ksjuscha. Sie drehte sich zu Alisa um, die ihr Handy in der Hand hielt. Das Licht des Displays ließ sie noch jünger erscheinen, fast wie ein kleines Mädchen am Lagerfeuer. »Ich werde ihn noch früh genug sehen. Mach dir keine Sorgen.«
Alisas Lider flatterten. Sie spielte wieder mit ihrem Handy. Ein Talisman an der oberen Ecke warf eine schwarze Linie über ihre Knöchel. »Du bist doch diejenige, die sich ständig Sorgen macht.«
Ksjuscha hatte die Fragen ihrer Cousine satt. Sie starrte wieder an die Decke und versuchte, sich auf den Flur vor dem Proberaum zu konzentrieren, doch das Bild war nicht mehr so lebendig, wie sie es sich wünschte. Wie Tschander heute mit ihr gesprochen hatte. Seine Art, sie zu berühren.
Wie würde ihre erste gemeinsame Nacht im Hotel sein? Hinter Tschanders Geduld verbarg sich eine wachsende Kraft; es kostete ihn immer mehr Mühe, sie loszulassen, wenn ihre Zeit am Nachmittag zu Ende ging. Wenn sie es zuließe, würde er sie schon morgen ausziehen und gegen die Kacheln pressen. Bei der Vorstellung überschlug sich etwas in ihrem Bauch.
Sie hatte ihre Jungfräulichkeit in jenem ersten Sommer an Ruslan verloren, auf ihrem Kinderbett. Aus Angst, einen Fehler zu machen, hatte sie nicht gewagt, sich zu bewegen, und danach hatte er sie einen kalten Fisch genannt, ihren BH zugehakt und sie geküsst. Inzwischen wusste sie, was sie bei Ruslan machen musste, doch Tschander könnte mehr erwarten, irgendwas Großartiges. Vielleicht war er von ihrem Körper enttäuscht. Mit Kleidern sah sie besser aus als ohne. Das würde er bald herausfinden.
Nein. Tschander war so nett, niemals würde er sie unzulänglich finden. Ihr Mund öffnete sich in der Dunkelheit, und sie stellte sich sein Gesicht vor. Die braunschwarzen Augen, in denen sich die Flurbeleuchtung spiegelte. Die schnellen Atemzüge, mit denen er versprach, sie anzubeten.
*
Die Truppe probte jetzt fast immer in den Trachten. Über Ksjuschas Jeans hing ein schweres Lederkleid, mit aufgestickten roten Karos vom unteren Saum bis zu den Knien. Von den Medaillons um ihre Taille hingen Perlenschnüre herab. Wenn sie die Arme hob, bauschte sich das Fell um ihren Hals. In weniger als zwei Wochen würden sie zum Festival fliegen. Wenn sie zurück waren und sie die letzte Prüfung hinter sich hatte, würde sie mit dem Bus in den Norden fahren.
Diese Tage würden eine Entscheidung bringen. Sie würde mit Tschander schlafen und anschließend Ruslan wiedersehen. Auf diese Weise würde sie etwas herausfinden: entweder der eine oder der andere. Die grausame Zeit, in der sie beide hatte, wäre vorbei.
Sie wollte für immer mit Ruslan zusammenbleiben. Doch sie wusste nicht, wie es ausgehen würde. Vorerst versuchte sie, sich am Telefon so gut zu verstellen, dass er nichts merkte, doch würde er ihren Verrat nicht sofort spüren, wenn sie nach Hause kam? Und selbst wenn er sie nicht durchschaute – sie liebte Ruslan, wirklich, sie hatte ihn schon immer geliebt, aber war es richtig, dass sie bei ihm blieb, nach dem, was sie getan hatte und noch tun würde?
*
Am ehrlichsten war Ksjuscha mit Tschander, deshalb sagte sie: »Ich weiß nicht, was nach der Reise passiert. Ich meine nicht die Reise nach Wladiwostok, sondern die nach Esso.«
Sie saßen im Schneidersitz auf dem Boden im Flur. Er hob ihre Fingerknöchel an seinen Mund.
»Möglich, dass alles wieder so wird wie früher, wenn ich ihn sehe.« Tschander nickte. »Dann kann ich nicht in der Tanzgruppe bleiben«, fuhr Ksjuscha fort.
Tschanders Worte fühlten sich warm auf ihrer Haut an. »Aber auch möglich, dass es anders kommt.«
»Ich kann es nicht sagen. Ich weiß es nicht.«
Sie musterte sein Gesicht, seine stoppeligen Wangen und die ernsten Augenbrauen. Er lachte kurz auf. »Ich halte es nicht aus«, sagte er. Er zerrte an ihrem Arm, und sie beugte sich vor und legte den Kopf auf seinen Schoß. »Im Hotel sind die Betten mit frischen, weißen Laken bezogen. Die Matratze ist ein Traum. Kannst du dir das vorstellen? Wir werden träumen.«
*
Als Alisa das nächste Mal nach Hause kam und Ksjuscha gerade telefonierte, nahm sie ihren Winterhut ab, zeigte aufs Handy und flüsterte: »Ruslan?« Wer sonst? Ksjuscha nickte. »Grüß ihn von mir«, sagte ihre Cousine, drehte sich um und schloss die Wohnungstür ab.
Ksjuscha beobachtete ihren wattierten Rücken und sagte: »Ich soll dich von Alisa grüßen.« Sie hatten nie eine Grüße-Beziehung gehabt. Ruslan hielt Alisa für verrückt.
»Aha. Sag noch mal, wann du zu dem Festival fliegst«, sagte Ruslan. Zumindest er war immer derselbe.
»In acht Tagen.« Nicht kommenden Freitag, sondern den danach. »Und in der Woche darauf sehen wir uns.«
Ruslan stöhnte, ein schweres Geräusch direkt aus seiner Lunge. »Ich wünschte, es wäre früher.« Ksjuscha schloss die Augen. Er wusste nicht, was er herbeisehnte – wozu er sie beide drängte.
*
Margarita Anatoljewna klatschte in die Hände und bat um Ruhe. »Stellt euch paarweise auf.« Ksjuscha trat in die Mitte des Raumes; sie brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass Tschander bei ihr war. Er hatte sie am Nachmittag so leidenschaftlich auf Wangen und Mund geküsst, dass sie das Gefühl hatte, eine empfindliche Verlängerung seines Körpers zu sein. Sie presste die Lippen zusammen und wartete.
»Meine Partnerin ist nicht da«, sagte der Junge aus Atschaiwajam.
»Wo steckt Alisa?«, rief Margarita Anatoljewna. Tschander stand bereits vor Ksjuscha. Der Junge aus Atschaiwajam verschränkte die Arme.
»Wir haben sie vor dem Training nicht gesehen«, sagte ein Mädchen.
Die Lehrerin drückte ein paar Knöpfe auf der Stereoanlage, die Musik setzte ein und brach dann wieder ab. »Das ist eine Zumutung«, sagte sie. »Ist euch überhaupt klar, dass das Festival in einer Woche stattfindet? Ihr müsst Verantwortung füreinander übernehmen. Ksjuscha!« Ksjuscha fuhr zusammen. »Wo steckt sie?«
Ksjuschas Handy lag in ihrer Handtasche, aber wenn sie vorschlug, sie anzurufen, würde sie es nur noch schlimmer machen. Keine Ablenkung während des Unterrichts, würde Margarita Anatoljewna brüllen. »Sie ist bestimmt auf dem Weg hierher.«
Margarita drückte auf einen anderen Knopf der Stereoanlage. »Stellt euch auf. Tanz der Lachse.« Die Jungen versammelten sich in der Mitte des Raumes. Ksjuscha stellte sich mit den anderen Mädchen auf, alle in ihren Trachten, wobei sie Alisas Platz frei ließen, bis die Lehrerin ihnen bedeutete, die Lücke zu schließen.
Ksjuscha legte die Finger auf die Brust. Das Stück begann, und die Jungen tanzten, hoben die Füße, um durch einen imaginären Fluss zu waten. Sie spähten auf den staubigen Boden, als suchten sie nach Fischen. Ksjuscha krümmte die Zehen und wartete auf den Auftritt der Mädchen. In Gedanken war sie bei ihrer Cousine. War Alisa krank? Hatte sie ihre Seminare heute ausfallen lassen? Ihre Mütter hatten ihnen die ganze Woche Nachrichten geschickt, sie machten sich Sorgen nach dem Zusammenbruch der Märkte am Dienstag. Hatten sie das Schulgeld für Alisa nicht mehr aufbringen können? Hatten sie sie nach Esso zurückgerufen? Als Ksjuscha am Morgen die Wohnung verließ, war sie noch zu Hause gewesen.
Dann setzten die Trommeln ein. Ksjuscha und die anderen Mädchen hoben die Arme und traten vor. Die Jungen stellten sich eng nebeneinander, bildeten einen Kreis, und die Mädchen schwammen um sie herum. Sie drehten sich, bis sie ihre Partner gefunden hatten. Der Junge aus Atschaiwajam blickte mit gerunzelter Stirn ins Leere.
Tschander fasste über Ksjuschas Kopf hinweg in die Luft, und sie duckte sich. In der Taille gebeugt, drehte sie sich in die nächste Formation. Dann sah sie auf. Margarita Anatoljewna hatte sich von den Tänzern abgewandt. Erleichterung: Alisa stand an der Tür des Tanzraumes, nahm die Mütze von ihrem Haar mit den orangenen Strähnen und machte eine entschuldigende Geste.
Hinter Alisa war noch jemand an der Tür. Alisa hatte einen Mann mitgebracht.
Sie hatte Ruslan mitgebracht.
Ksjuschas Hände, die flach wie Flossen hätten sein sollen, verkrampften sich. Er hintergeht mich, dachte Ksjuscha wütend, denn was machten die beiden zusammen, doch ihr Freund und ihre Cousine lächelten beide arglos. Alisa zeigte auf Ruslan, rief Ksjuscha etwas zu und schwenkte die Hände in der Luft. Die vergangenen Tage mit ihren ständig widerhallenden Fragen – wie es Ksjuscha gehe, wann sie aufbreche, wann sie ihn wiedersehen würde – ergaben plötzlich einen Sinn.
Alisa hatte Ruslan zu Ksjuscha gelotst. Sie mussten sich abgesprochen haben. Weil Ksjuscha ihnen nervös erschienen war, hatte Ruslan, der sie nicht nach Wladiwostok begleiten konnte, beschlossen, herzukommen und sie vor ihrer Reise zu überraschen.
Aus den Lautsprechern dröhnte ein Synthesizer. Ksjuscha drehte sich zusammen mit den anderen Mädchen weg von der Tür. Sie hob den Kopf. Sie hielt den Takt.
In ihr, weiß und glatt, eine erstarrte Landschaft aus festen Knochen.
*
Das also war das letzte Mal, dass sie beide haben würde. Ruslan und Alisa konnten ihre Augen aus diesem Winkel nicht sehen, trotzdem traute sie sich nicht, in Tschanders Richtung zu blicken. Sie hatte auf den Moment gewartet, der über ihre Zukunft entscheiden würde. Doch erst jetzt, als er gekommen war, wusste sie es: Die Wochen, die sie mit beiden verbracht hatte, waren die besten gewesen. Die schönsten. Ruslan, der am Morgen anrief, um sie zu wecken, seine Nachrichten, die den ganzen Tag über in ihrem Handy landeten, und dann die anderthalb Stunden mit Tschander … diese Zeit war vorbei.
Jetzt erhoben sich die Frauenstimmen des Stücks über die Trommeln. Darunter erklang das tiefe Brummen der Männer. Die Schritte führten Ksjuscha zu ihrem Partner zurück. Sie sah ihn an. Danach, das wusste sie, musste sie vorsichtig sein, doch sie konnte nicht anders – sie blickte zu Tschander auf. All seine Gefühle lagen bloß. Sein Gesicht war vor Verlangen verzerrt.
Ksjuscha verließ die Formation, machte einen Schritt von ihm weg.
Dann wandte sie sich so hastig der Tür zu, dass sie sich das linke Knie verdrehte, und rannte die wenigen langen Meter entlang, die sie von ihrem Freund trennten, die Entfernung, die sie überwinden musste. Ruslan und Alisa hatten ihr nach ihrem plötzlichen Auftauchen einen Augenblick des Schocks gestattet, doch der war vorüber. Ruslan konnte sie jetzt schon verdächtigen. Sie musste zu ihm.
Sie flog auf ihn zu, fiel ihm um den Hals, und erst als sie spürte, wie sich sein Körper spannte, seine Hände ihre Hüften umfassten, sodass die Perlenschnüre dort sie piksten, und sein vertrauter Mund sich zu ihr heruntersenkte, wusste sie, dass sie in Sicherheit war.
Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, doch die Musik war so laut, dass sie es nicht verstand. Sie küsste ihn leidenschaftlich und drückte ihre Wange an seine. Er zog sie fest an sich. Sie hätte über ihr nächstes Alibi nachdenken sollen, doch ihr fielen nur Erinnerungen ein: Tschander am Nachmittag, Ruslan am Wochenende, das makellose Hotelbett, das sie nur aus einer Beschreibung kannte. Die Gespräche, die Tschander und sie nie wieder führen würden. Die Jungs aus ihrer Truppe, die mit dem Lasso übten. Der erste Unterrichtstag, an dem sie ein Dutzend fremder Hände geschüttelt hatte. Ruslan in seinem Wagen im Verkehr, unterwegs zu ihr, und wie er als kleiner Junge zu Hause mit ihrem Bruder Fußball auf der Straße gespielt hatte. Der Sommer, in dem sie sich ineinander verliebten. Ihre Eltern – ihr Bruder – ihre ständige Sorge um sie – das Leben im Dorf. Die Pferde, auf denen sie ritten. Die Pfade, denen sie folgten. Die Nächte, die Ksjuscha in der Tundra verbracht hatte, als sie jünger und mutiger war und allein schlief, als ihre Welt noch klar war, nach Rauch und Gras roch und Tausende von Rentieren an ihr vorbeizogen.