Cabane von Familie Verlain/Filipetti Avenue des Dunes, Carcans Plage

»Oh, riecht das aber gut«, sagte Anouk, als sie lächelnd in die Holzhütte kam. Sie rieb sich die Hände und dann die Wangen, die ganz rot gefroren waren vor Kälte. Draußen war es dunkel geworden, drinnen hatte Luc die Cabane mit Kerzen in ein warmes Licht getaucht.

»Hey, Schöne«, sagte er, »wie war es?«

»Herrlich. Ich bin über die Düne gegangen und dann bis ganz nach Süden, bestimmt fünf Kilometer, immer ganz dicht am Wasser entlang, der Sand war wie festgefroren, es war ein Kinderspiel. Und dann den ganzen Weg wieder zurück. Stell dir vor, auf der ganzen Strecke hab ich ganze drei Menschen getroffen. Das Meer ist total ruhig, es kommen nur ganz feine Wellen an, und es ist fast windstill. Ein Traum. Vielleicht gehen wir nachher noch mal zusammen auf die Düne? Oder morgen ganz früh?«

Er strahlte sie an und nickte. »Aber jetzt«, murmelte sie, »hab ich einen Bärenhunger. Lass mal sehen.«

»Nein, ist eine Überraschung.«

Sie stieß ihn zur Seite und nahm den Deckel vom Topf. »Wow. Die sieht aber gut aus. Warum ist die denn so rot? Ist es das, was ich denke?«

Luc nickte. »Safran. Genau. Du hast mir ja dank deines Spaziergangs richtig viel Zeit gelassen, so konnten die Fische wirklich zwei Stunden vor sich hin köcheln. Gleich ist alles bereit. Das wird toll.«

»Und unsere kleine Miss Dauerhungrig?«

»Schläft und schläft und schläft.«

Sie sahen beide verliebt zu dem Babybettchen, das unter einer Dachschräge im hinteren Raum der Holzhütte stand. Nur leise Atemgeräusche waren von dort zu hören.

»Na, vielleicht schaffen wir es ja wirklich noch, in Ruhe zu essen.«

Luc zeigte auf die Fischköpfe, die er schon aus der Suppe genommen hatte. »Heute Morgen auf dem Markt in Carcans gab es Knurrhahn und sogar Petermännchen.«

»Aber ohne Giftstachel, hoffe ich.«

Jedes Kind in Frankreich wusste, dass die Flossenstacheln der vive , wie das Petermännchen auf Französisch hieß, hochgiftig waren. Gerne gruben sich die Fische in Strandnähe ein, trat ein Schwimmer darauf, war es sehr wichtig, schnell einen Arzt in der Nähe zu haben. In Australien gab es sogar ein Gegengift, in Europa therapierte man mit sehr heißem Wasser.

»Keine Sorge«, sagte Luc, »Gilles hat alles ordnungsgemäß entfernt. Ich hab sogar noch einige Langusten mit in der Suppe, setz dich schon mal.«

Anouk nahm an dem kleinen Holztisch Platz und goss ihnen von dem Verveine-Tee ein, den Luc gekocht hatte. Dann sah sie aus dem Fenster in die Dunkelheit. Der Commissaire konnte seine Augen gar nicht von ihr lösen. Sie hatten nun fünf Monate Tag für Tag zusammen verbracht, Luc hatte sich vom Dienst freistellen lassen, weil er Anouk helfen und miterleben wollte, wie ihre gemeinsame Tochter Aurélie die Welt kennenlernte. Es war ein Fest gewesen, ein kalter Winter, in dem es fast gar nicht geregnet hatte, dafür waren die Tage sonnenklar gewesen, und es hatten sich am Strand in den Pfützen bei Ebbe sogar kleine Eisschollen gebildet. Sie waren kilometerweit gewandert, mit Aurélie, dick eingepackt in ein Tragetuch, ganz nah an Lucs Körper gebunden. Sein Vater war aus der Kurklinik in Arcachon oft zu Besuch gekommen. Über die Weihnachtstage dann hatten sie Anouks Vater in Venedig besucht, der nach dem Tod seiner Frau endlich einen Lichtblick erfahren hatte: das Kennenlernen seiner Enkelin.

Nun, in gut einer Woche, würde sich Luc wieder trennen müssen – er musste ins Büro zurückkehren, während Anouk noch zwei Monate Schonfrist hatte.

»Chéri , weißt du eigentlich, ob im Hôtel de Police gerade viel zu tun ist?«, fragte sie ihn, weil sie wie so oft seine Gedanken erraten hatte.

»Ich habe vorhin mit Hugo telefoniert. Es gibt nur den klassischen Stress im Saint-Michel-Viertel, Drogenbanden unter sich. Aber sonst ist es ruhig.«

»Na, das klingt doch gut.« Sie räusperte sich. »News von Aubry?«

Luc rührte die Suppe eine Spur zu schnell.

»Es scheint, als hätten wir uns abgesprochen. Er kommt übernächste Woche zurück.«

Sie hatte sich unbemerkt an ihn rangeschlichen und umfasste von hinten seinen Oberkörper, dann schmiegte sie ihren Kopf an seinen Rücken. »Tut mir leid, Luc. Aber ich verspreche dir, ich lass dich nur kurz allein. Dann komm ich wieder.«

»Wird schon. Ich glaube, nach der Aktion am Cap steht er unter Beobachtung. Ich werde mich seiner sicher erwehren können.«

Laurent Aubry war der neue Leiter der Police nationale in Bordeaux, nachdem ihr alter Boss Preud’homme in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war. Aubry war ein junger Aufsteiger, der aus der französischen Verwaltungselite stammte und nie als Polizist gearbeitet hatte. Seine Unkenntnis hatte er in ihrem ersten gemeinsamen Fall am Cap Ferret gleich unter Beweis gestellt und damit nicht nur sich selbst in Lebensgefahr gebracht. Nachdem er angeschossen worden war, hatte er Monate im Krankenhaus und in der Reha verbracht, und doch wollte er es sich nicht nehmen lassen, es noch einmal auf dem angesehenen Posten in Bordeaux zu versuchen.

»Es ist schließlich meine Schuld, ich hätte den Job ja machen können.«

»Aber du wolltest eben nicht damit enden, nur noch Urlaubsanträge abzuzeichnen.«

»Auch wieder wahr. Aber nun wird gegessen.«

Luc nahm eine Kelle und füllte die Fischsuppe in die tiefen Schüsseln aus blauem Porzellan, dann gab er Croûtons und die Rouille darüber, die er bei einem befreundeten Fischer in Lacanau gekauft hatte. Die Knoblauchmayonnaise gehörte zu dieser pürierten Fischsuppe à l’arcachonnaise unbedingt dazu.

Sie setzten sich an den Tisch und lächelten sich an, zwischen ihnen die dampfenden Schüsseln. Anouk nahm den ersten Löffel, dann tat es Luc ihr nach, er hörte sie leise seufzen, und als er probierte, wusste er, warum. Da waren das Jod des Meeres, die tiefe Würze, die die Fische der Suppe verliehen, der Safran mit seiner Exotik, die Leichtigkeit des weißen Fleisches, dazu das krosse Brot, es war himmlisch. Gerade wollte er noch einen Bissen nehmen, da war aus dem Bettchen hinter ihnen eine Bewegung zu vernehmen, und eine leise Stimme begann zu glucksen.

»Bleib sitzen«, sagte Luc, stand auf und trat an das Babybett.

»Hey, Schatz«, flüsterte er, bückte sich und nahm Aurélie auf den Arm. »Na, ausgeschlafen? Und jetzt hast du Hunger?«

Das kleine Wesen war noch nicht ganz bei sich, die Augen waren erst halb geöffnet, doch schon schmatzte das Mädchen mit dem dunklen Haar, und Luc meinte, sie lächele ihn an. Er konnte dieses Wunder noch immer nicht ganz begreifen.