Vendredi – Freitag
Giftiger Gourmet

Kapitel 1

Um kurz vor acht Uhr abends kam es im Einfahrtsbereich des Restaurants stets zu einer kleinen Schlange. Zum Glück für Hadi, den Voiturier, saß die Bürgermeisterin von Bordeaux aber bereits im zweiten Wagen, sodass sie nicht im Stau warten musste. Und zum Glück behielt er selbst in diesem Stress den Überblick – sonst hätte er den dunklen Wagen am Ende der Schlange leicht übersehen. Aber er war schon lange im Geschäft, er wusste, worauf es in diesen Tagen ankam.

Als die Gäste des ersten Wagens ausgestiegen waren, ging er schnell mit dem Schirm zum zweiten, einem schwarzen Renault Talisman. Er öffnete die Beifahrertür und sagte lächelnd:

»Madame le Maire, herzlich willkommen in der Villa Auguste. Wie geht es Ihnen heute Abend?«

»Oh, bestens, Monsieur, Sie wissen doch, wenn Maître Auguste für mich kocht, dann kann es mir nur gut gehen.«

»Er wird sich freuen, das zu hören. Darf ich Sie und Ihren Mann hineinbegleiten?«

Er hielt den Schirm über sie, der leichte Landregen hatte natürlich pünktlich vor dem Service angefangen, unten am Strand konnte man das Meer gar nicht richtig sehen, der Regen hing wie ein Vorhang vor den Wellen.

Die Bürgermeisterin trug unter ihrer dicken Jacke ein schwarzes Kleid, sie war eine sehr freundliche Frau, auch wenn Hadi in ihren Augen las, dass sie ganz genau wusste, wer sie war, und dass es besser war, sich ihr nicht in den Weg zu stellen. Ihr Mann hingegen war ein sanfter Mann mit Glatze und randloser Brille, der ihm den Schlüssel gab und sagte: »Lassen Sie nur, wir gehen hinein, Sie haben hier genug zu tun.«

»Merci, Monsieur . Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Abend.« Ein Glück, dachte Hadi und blickte auf die vier, nein, fünf Autos, die nun noch warteten, der dunkelgrüne Porsche war gar der sechste in der Reihe. Das ging nicht, das dauerte zu lang.

Er warf den Schlüssel des Renault seinem jüngeren Gehilfen zu, dann griff er zum Funkgerät.

»Für Küche und Service, hier ist Hadi. Er kommt. In drei Minuten ist er drin. Habt ihr gehört?«

Kurz war nur ein Rauschen zu hören, als wäre seine Nachricht aufgenommen worden und dann irgendwo im Meer gelandet, die Spannung war förmlich zu greifen, aber nach Sekunden, als hätten sich alle gesammelt, riefen zwei Stimmen: »Küche, verstanden.« – »Service, verstanden.«

Gott sei Dank. Er atmete durch. Damit war sein Job getan. Auch wenn er wusste, dass drinnen nun die nackte Panik ausgebrochen war, verpackt in professionelle Hektik.

Er winkte den nächsten Wagen heran und öffnete die Tür.

»Madame, würden Sie noch kurz warten? Mein Kollege nimmt Ihnen gleich den Wagen ab, ja? Bleiben Sie noch sitzen, nicht dass Ihr wunderschönes Kleid Schaden nimmt.«

Die Frau lächelte ihm augenzwinkernd zu. »Vielen Dank.«

Sofort war Hadi in der Schlange nach hinten gegangen, den Schirm spannte er schon auf, dann öffnete er auf der Fahrerseite des Porsche die Tür. Von drinnen erklang laut klassische Musik. Smetana, immer Smetana.

»Monsieur, willkommen zurück in der Villa Auguste. Es tut mir leid, Sie sehen, es ist viel los, darf ich Sie hineinbegleiten? Dann müssen Sie hier nicht warten. Bitte, kommen Sie.«

Ugo Gennevilliers erhob sich mühsam aus dem Ledersitz, er wusste, dass der Wagen für ihn und sein Alter viel zu sportlich war, der tiefe Sitz hatte ihn schon zweimal zu einem Besuch bei seiner Osteopathin gezwungen.

»Was ist denn das für ein Wetter? Ich habe Paris extra verlassen, um für eine Weile keinen Regen mehr zu sehen.«

»Nun, wir werden Sie dafür entschädigen, Monsieur.«

Zusammen gingen sie zur Tür, Hadi hielt den Schirm aufgespannt und bemühte sich, nicht zu schnell zu gehen, um den Kollegen drinnen ein paar Sekunden mehr Zeit zu geben. Diese Sekunden konnten entscheidend sein: noch mal die Servietten zurechtlegen, den Wein schon entkorken, die Musik ein wenig runterdrehen.

Die Villa Auguste war eine der vier alten Villen im Kolonialstil, die genau auf der Düne lagen, mit Blick auf den Strand und den Ozean, umgeben von Strandgras und viel Sand. Die Terrasse war aus hellem Holz, dann kamen rote Säulen und die schlichte Fassade aus weißem Holz, die Dächer waren mit Schindeln aus einem hellen Rot bedeckt, rund ums Haus gaben bodentiefe Fenster den Blick frei.

Früher waren diese Häuser Jagdhütten gewesen, für sehr reiche Jagdherren, zugegeben. Doch schon seit hundert Jahren war die größte von ihnen im Besitz von Maître Augustes Familie.

Ugo Gennevilliers liebte diesen Anblick, das alte Holz, die wilde Vegetation, den Geruch des Meeres, all das sprach seine einfachsten Instinkte an. Als Kind hatte er oft nicht weit von hier entfernt mit seinen Eltern Urlaub gemacht. Er liebte auch die Einrichtung dieses Restaurants, die noch von Augustes verstorbener Frau ausgewählt worden war: das feudale Edelholz, die großen runden Tische, die bequemen Stühle, die mit violettem Samt bespannt waren, die großen Ölbilder von Jagden aus einer Zeit, als die Herren noch Hut und die Damen Reifröcke trugen. Hach, er war eindeutig zu spät geboren worden.

Er würde seine Freude und die Sympathie, die er für diesen Ort empfand, natürlich niemals offen zeigen oder zugeben. Und er grämte sich sehr, weil es danach aussah, als würde dieser Ort ihm bald sehr fehlen. Wenn Auguste seine Ansage wahrmachte, dass die kommenden drei Sterne seine letzten seien. Ugo Gennevilliers zweifelte keine Sekunde, dass er natürlich wieder drei Sterne vergeben würde – wie noch jedes Mal seit nunmehr zweiunddreißig Jahren. Auch wenn er schon mit dem Gedanken gespielt hatte, nur zwei zu vergeben – schlichtweg, um Auguste dazu zu zwingen weiterzumachen. Allein, es würde einen Skandal auslösen, und niemand würde Ugo glauben, deshalb hatte er diesen scherzhaften Gedanken auch gleich wieder verworfen.

»Oh, Mademoiselle Florentine.« Noch so ein Grund, sich auf die Villa Auguste zu freuen. »Schön, Sie zu sehen.«

»Monsieur Gennevilliers, hocherfreut«, sagte die junge Frau im dunklen Kostüm. Sie war die Einzige, die seinen Namen nannte, und er konnte nichts dagegen tun, dass er sich darüber freute. »Hatten Sie eine gute Reise?«

»Die linke Spur gehörte ganz mir.«

»Na, ich hoffe, da kommen nicht wieder viele Briefe von der Polizei«, erwiderte sie, und ihr blondes Haar schien ihm der perfekte Rahmen für ihr fröhliches Lachen. Sie ging voraus, und er folgte ihr. »Ihr Tisch, wie immer.«

Die Wand im Rücken und dennoch ein Fenster zum Meer zu seiner Rechten, nur ein Stuhl, perfekt.

»Ich danke Ihnen, Mademoiselle, wie geht es denn Ihrer Familie?« Ach, diese Frau war ihm wirklich ein Jungbrunnen, er plauderte so gerne mit ihr und hoffte, dass sie noch einen kleinen Moment bei ihm stehen bliebe. Und sie tat es, als hätte sie nur diesen einen Gast und als wäre das Restaurant nicht wie stets bis auf den letzten Platz ausgebucht. »Bestens, Monsieur, die Zwillinge wachsen wie verrückt.«

»Sie sind jetzt fünf, oder?«

»Sechs, sie sind schon sechs.«

»Verrückt. Wie die Zeit rast. Wissen Sie schon«, er senkte die Stimme, »was Sie machen, wenn das hier vorüber ist? Ich kann mich sehr gern umhören, Sie wissen, ich kenne alle Gastronomen des Landes.«

Er wusste aber auch, dass Florentine nie ein Problem haben würde, etwas Neues zu finden. Die Chef de Service des besten Restaurants von Frankreichs Südwesten würde von allen umworben werden.

»Wer weiß, wer weiß«, sagte sie und zwinkerte verschwörerisch. Sofort war Ugo hellwach.

»Was meinen Sie, Mademoiselle? Macht er etwa weiter?«

»Fragen Sie ihn doch einfach selbst, er wird Sie ja nachher beehren, nachdem er Sie kulinarisch verwöhnen durfte.« Sie zündete die schlichte Kerze auf seinem Tisch an. »Hat sich an Ihrer Vorliebe beim Wein etwas geändert?«

»Wo denken Sie hin? In meinem Alter ändert sich nichts mehr.«

»Sie sind zu freundlich, als dass ich Ihnen darauf jetzt eine kokette Antwort geben würde. Also, ich bin gleich wieder da.« Und damit entschwand sie, und ihm blieb nur, ihr hinterherzusehen. Eine Schönheit mit außerordentlicher Bildung und berauschender Schlagfertigkeit – sie war wie geboren für diesen Beruf.

Ugo Gennevilliers betrachtete das Treiben im Saal. Der Service hatte vor einer halben Stunde begonnen, ungefähr die Hälfte der Tische war schon besetzt. Die jungen Kellner in ihren blütenweißen Hemden wuselten zwischen den Tischen umher, brachten Brot oder sogar schon den Gruß aus der Küche, einer war eigens dafür zuständig, leere Gläser nachzufüllen, während der Sommelier am Tisch der Bürgermeisterin von Bordeaux, die Ugo nur aus der Zeitung kannte, den richtigen Wein fürs Menü empfahl. Alles hier war so eingespielt wie das sprichwörtliche Uhrwerk, jeder kannte seinen Platz, jeder war eifrig, ohne hektisch zu sein, und jeder hatte ein verbindliches Lächeln im Gesicht, ohne dass es auch nur die geringste Spur aufgesetzt wirkte. Ugo rätselte immer, wie Auguste für diese Hütte am Ende der Welt sein Personal fand, in Paris war nicht mal ein Bruchteil der Servicekräfte so gut ausgebildet.

Aber das eigentliche Uhrwerk schnurrte hinter der elektrischen Schiebetür, die sich alle paar Sekunden öffnete und schloss. Einmal hatte der alte Fontaine Ugo in die Küche gebeten. Sein Meisterwerk.

Der Kritiker hatte nie einen ordentlicheren und saubereren Küchenraum vorgefunden als Augustes.

»Alors , hier ist er.«

Florentine zeigte ihm die Flasche. Der 95 er Lacour. Er nickte, dann öffnete sie sie vorsichtig, roch am Korken und goss einen Schluck in ein Glas.

»Ich probiere für Sie, Monsieur, oder übernehmen Sie selbst?«

»Ich probiere gerne.«

Sie reichte es ihm, und er kostete. »Wunderbar. Genau richtig temperiert. Als hätte er auf mich gewartet.«

Sie goss noch ein wenig Rotwein nach, dann sagte sie lächelnd: »Wir haben für Sie das Sechs-Gänge-Menü von Maître Auguste vorgesehen. Natürlich mit der lauwarmen Entenstopfleber von Guillaume Fontaine. Sind Sie damit einverstanden?«

»Sehr einverstanden. Allerdings würde ich, wenn dies wirklich das letzte Mal ist, noch einmal den Hummer nehmen, als siebten Gang sozusagen.«

»Der Chef wird sehr froh sein, das zu hören. Wasser wie stets?«

Ugo nickte.

»Also, Abatilles aus Arcachon ohne Kohlensäure. Ich bin gleich zurück.«