Kapitel 27

Sie fuhren das kurze Stück hinein nach Dax und parkten im Schatten der alten Arena. Den Eingang des weiß-gelben Runds im spanisch-maurischen Stil zierten zwei rote Türme – es war ein beeindruckendes Bauwerk. Achttausend Menschen fanden hier Platz, wenn alljährlich im August eines der größten Volksfeste Frankreichs stattfand, die Feria von Dax. Zu den berühmten Stierkämpfen kamen vor allem die Spanier in Scharen angereist. Auch der Course Landaise , der mindestens genauso eindrucksvoll war, erfreute sich vieler Besucher. Letzterer war auch längst nicht so umstritten wie die Stierkämpfe. Denn bei der hiesigen Tradition wurden die wilden Stiere nicht verletzt, nein, sie durften nicht einmal vom Torero berührt werden. Vielmehr bestand der Reiz des Spektakels darin, dass die Geschicklichkeit des Toreros auf die Probe gestellt wurde, der dem wütenden Stier entweder im letzten Moment ausweichen oder in einer waghalsigen Aktion über das Tier hinwegspringen musste – Millisekunden, bevor die todbringenden Hörner in seinen Körper eindrangen. Das war atemberaubend für die Zuschauer, die ihrerseits mit hohen Summen auf den Torero wetten konnten – eine Tradition, die in einem mehrtägigen Volksfest gipfelte, bei dem gefeiert, getrunken und vor allem gut gegessen wurde.

Ein kleines Stück entfernt war die von Arkaden umgebene Fontaine chaude zu sehen, ein weiteres Wahrzeichen – nein, das Wahrzeichen von Dax schlechthin. Im Inneren der Arkaden sahen sie das Bassin der Source de la Nèhe sprudeln, ein unnachahmlicher Brunnen, in dem schon die Römer gebadet hatten und der einst die Bedeutung der Stadt als Kurort begründet hatte. Aus Löwenmäulern lief das Wasser aus den Mauern heraus zu den Touristen, den Kurgästen und den Bewohnern von Dax – sie alle kamen, weil sie an die Kraft dieses Wassers glaubten: Es war eine einzigartige Quelle, vierundsechzig Grad heiß, schwer sulfit- und mineralhaltig und sehr ergiebig. Zweieinhalb Millionen Liter Wasser schossen aus den Pyrenäen hinunter nach Dax, pro Tag. Diese Quelle allein hatte den Grundstein dafür gelegt, dass die Stadt die Kurkapitale von ganz Frankreich geworden war.

Anouk wusch sich mit dem heißen Wasser Hände und Gesicht, Luc tat es ihr nach. Dann bestrich er mit ein paar Tropfen Wasser Aurélies Gesicht – erst erschrak seine Tochter ein bisschen, aber dann begann sie fröhlich zu grinsen.

Sie setzten sich auf eine kleine Wiese in der Nähe, wo Aurélie sofort loszukrabbeln begann. Während Luc ihr zusah, murmelte er: »Das haben die doch nicht getan, oder?«

»Warum auch? Was sollten die Kids denn gegen Auguste Fontaine haben – oder gegen einen Kritiker, den sie nun wirklich nicht kannten?«

»Stimmt. Wenn sie alle Restaurants ins Visier nehmen würden, die Foie gras servieren, dann hätten sie hier im Südwesten echt gut zu tun.«

»Sie wären doch auch niemals in Augustes Weinkeller gekommen, ohne aufzufallen.«

»Guter Punkt«, sagte Luc und dann noch mal leiser: »Guter Punkt.«

»Und nun? Wollen wir erst mal das eine zu Ende bringen?«

Luc sah Anouk nachdenklich an, nach einer Weile schüttelte er den Kopf.

»Nein, lass sie noch ein bisschen schmoren. Die Buttersäure in der Foie gras war schließlich eine fiese Sache – dafür dürfen sie gern noch ein paar Stunden auf dem Revier verbringen.«

Anouk sah ihren Partner prüfend an, dann grinste sie.

»Es geht dir gar nicht so sehr um die Kids, oder? Du machst das, weil du damit Laurent Aubry beschäftigt hältst.«

»Ich hoffe, du wirst nie meine Feindin. Du liest mich einfach zu gut.«

»Dann benimm dich immer gut«, antwortete Anouk und küsste Luc.

»Wir fahren jetzt wieder zum traurigen Koch«, entschied der. »Ich glaube, die Antwort ist in seinem Restaurant zu finden.«

»Auf geht’s«, sagte Anouk. Sie nahm Aurélie auf den Arm, dann gingen sie zurück zum Auto. Als sie die Kleine in ihrem Kindersitz anschnallte, sagte sie: »Du Arme, jetzt musst du hier eine halbe Tour de France unternehmen, nur weil wir dich zur jüngsten Polizistin des Landes machen. Das ist doch Kinderarbeit.«

Doch Aurélie lächelte ihre Mama strahlend an.

»Ich glaube, wenn sie mit uns beiden zusammen ist, dann ist ihr alles recht«, sagte Luc und überließ Anouk den Autoschlüssel.

Diesmal nahmen sie die südliche Route, passierten Magescq und machten unter dem Kirchturm von Azur eine Kaffeepause.

»Ich habe wirklich eine Schwäche für diese kleinen Dörfer hier«, sagte Luc, als sie zehn Minuten zwischen Rathaus und Église gesessen hatten, ohne dass ein Auto vorbeigekommen war. Die Trikolore hing träge im lauen Wind, ringsum hatten die Bewohner ihre Gärten zu kleinen Paradiesen bepflanzt, mit früh blühenden Bougainvilleen und Hortensien. In der Gironde würde es niemals so aussehen, dachte Luc, weil dort noch viel mehr Sand und längst nicht so viel Wasser war wie hier weiter südlich.

»Ja, alles wirkt wahnsinnig entspannt«, sagte Anouk, »so ursprünglich.«

Luc trank den starken Kaffee aus, dann fuhren sie die letzten Kilometer der Départementale, bis sie kurz vor Moliets-et-Maa nach rechts abbogen und sich wieder die herrliche Spazierfahrt entlang der Küste über die Alleenstraße gönnten, die durch den Seekiefernwald führte.

Als sie vor der Villa Auguste ankamen, war außer ihrem nur ein weiteres Fahrzeug da: der gelbe Lamborghini.

»O Mann, ich hoffe, der eitle Sohn gibt dem alten Herrn nicht noch den Rest«, murmelte Anouk.

»Joffe hatte recht: Der hat ein gutes Timing.«

Sie stiegen aus und wollten gerade ins Restaurant eintreten, als Florentine Silva mit düsterer Miene herauskam. Sie hatte es so eilig, dass sie fast den Kinderwagen umgerannt hätte.

»Bonjour , Madame. Wir sind auf der Suche nach dem Chef.«

Luc hatte die Restaurantleiterin noch nie grimmig gesehen, er war regelrecht überrascht, wie grimmig sie sein konnte. Sie hob den Arm und machte eine wegwerfende Geste über die Villa hinweg.

»Am Strand. Der Chef ist nie am Strand. Aber gut, vielleicht passieren hier heute ja einfach wirklich nur Dinge, die man nicht erwartet hätte.« Sprach es und ging in Richtung Wald, ohne eine weitere Frage abzuwarten.

Anouk und Luc sahen sich schulterzuckend an. Dann gingen sie um die Villa herum, öffneten die niedrige Tür, die in den Holzzaun eingelassen war, der mehr eine sichtbare Einfriedung war als ein wirklicher Schutz vor Einbrechern – schließlich konnte man einfach über den halbmeterhohen Zaun steigen.

Und dann war da nur noch der Strand: links und rechts die Weite, silbern glitzernder Sand bis zum Horizont und hundert, vielleicht sogar zweihundert Meter weiter unten die Wellen des Ozeans, die heute ganz sanft heranrollten. Es war zwar bewölkt, aber der Wind war schwach, kein guter Tag für Surfer, aber ein sicheres Anzeichen, dass es bald wieder wärmer werden würde.

Anouk nahm Aurélie aus dem Kinderwagen und gab sie Luc auf den Arm.

Sie sahen ihn sofort: Vorne an der Wasserkante saß mutterseelenallein Auguste Fontaine, ein gebeugter Mann. Seine Kluft ließ ihn hier am Strand so ungewöhnlich wirken – er hätte auch einen Raumanzug tragen können: in seiner weißen Kochjacke, die Trikolore schmückte den Kragen so stolz wie am ersten Tag. Langsam gingen sie näher, der Wind und die Wellen waren so schwach, dass sie das Knirschen des Sandes unter ihren Schuhen hören konnten.

Sie waren ihm schon ganz nah, als sich der Koch umdrehte und sie zu sich heranwinkte. Er begrüßte sie gar nicht erst, sondern sagte leise:

»Ich war viel zu selten hier.«

Luc zog seine Lederjacke aus und setzte Aurélie darauf ab, dann ließ er sich neben Auguste Fontaine in den Sand fallen, Anouk setzte sich auf die andere Seite.

»Wie meinen Sie?«

»Ich meine, dass ich nie hier war. Oder so gut wie nie. Ich glaube, in all den Jahren, in denen ich in der Villa gekocht habe, war ich sechs- oder siebenmal an diesem Strand. Immer wenn etwas nicht gut gelaufen ist. Sie können es sich ja ausmalen – es lief immer sehr gut, danach sah es zumindest aus. Ich bin jeden Tag in meinem Kräutergarten, in meinem Gemüsegarten, im Kühlraum, sogar in der Spülküche. Aber ich bin nie am Strand.« Er musste lachen. »Ich sag es ja: Die Küche besitzt mich.«

»Ihr Essen gestern war herausragend, Maître«, sagte Luc vorsichtig, »ich weiß, es hat schrecklich geendet, und ich bin niemand, der in Restaurants mit drei Sternen ein- und ausgeht. Aber die Vorspeisen waren unglaublich.«

»Die Vorspeisen, ja«, Auguste Fontaine sah grüblerisch zu den Wellen, »die kann ich im Schlaf. Ich kann sie mir im Schlaf ausdenken, komponieren, und wahrscheinlich werde ich sie auch noch in fünf Jahren kochen können, wenn Sie mich nachts um vier wecken. Auch wenn es dann ganz dunkel ist.«

Luc sah den alten Mann von der Seite an und fragte sich, ob er aus Kummer dem Cognac etwas zu sehr zugesprochen hatte.

»Das ist ja das Gute an meiner Art von Küche: Es geht gar nicht darum, wie gut jemand kochen kann. Es geht nur um die Vorsicht, mit der ich die Produkte behandle. Es geht um die Auswahl, darum, dass ich den Bauern kenne und den Fischer und dass wir alle gemeinsam lieben, was wir tun. Sie liefern mir das beste Fleisch und den besten Fisch – und ich muss mein Bestes tun, um es nicht zu versauen. Und gestern … habe ich es versaut.«

»Sie können doch aber nichts für die Fehler Ihrer Mitarbeiter«, sagte Anouk sanft. Auguste Fontaine wandte seinen Blick vom Meer ab und Lucs Partnerin zu. Luc spürte, dass der Maître mit den Tränen kämpfte.

»Ich schäme mich, Mademoiselle, ich schäme mich, weil ich es der armen jungen Frau in die Schuhe geschoben habe.«

»Was meinen Sie damit, Monsieur Fontaine?«

»Glauben Sie ernsthaft, ich würde die Seezunge für den Tester des Guide von einer Köchin zubereiten lassen, die erst seit einem Monat hier ist? Nein, Gott bewahre. Ich habe die größte Seezunge für den Kritiker persönlich ausgewählt, das schaffe ich noch. Ich habe sie filetiert, ich habe sie angebraten und gedämpft, ich habe die Soße eigenhändig passiert, und dann habe ich den Gemüsegarten aufgebaut – all das, was Sie gesehen haben und hoffentlich auch gegessen. Und dabei habe ich die Gräte nicht gesehen, die entscheidende Gräte – und Gilles Saint-Roch wäre mir fast erstickt. Dann hätte ich mich lebendig einsargen können. Egal wie gut meine Entschuldigung auch ist.«

»Ihre Entschuldigung?«

»Sie merken es nicht, oder?«

Luc schüttelte den Kopf.

»Ich werde blind, Commissaire.«

»Ich werde blind. Ich schaffe es, den größten Fisch auszuwählen, Umrisse sind kein Problem. Aber eine Gräte von zweieinhalb Zentimetern Länge – das schaffe ich nicht mehr. Ist das denn zu fassen?« Auguste Fontaine schüttelte wütend den Kopf. Jetzt verstand Luc: die Vorspeisen machen, selbst wenn es dunkel ist. Nicht dunkel in der Nacht. Dunkel in Fontaines Kopf. »Es hat vor zwei Jahren begonnen. Ich habe nie eine Brille tragen müssen, in meinem ganzen Leben. Aber plötzlich wurden die Farben schwächer und die Kontraste auch. Ich glaubte erst, es wäre nichts. Aber es wurde immer schlimmer. Zum Arzt hab ich mich nicht getraut. Ich dachte, es würde Gerede geben – und Gerede in einem so kleinen Dorf … Außerdem: Ich wollte es nicht wahrhaben. Bis ich irgendwann anfing, Fehler zu machen.« Er sah zum Himmel und kniff dabei die Augen zusammen, »Ich habe nie jemandem davon erzählt, und ich habe keine Ahnung, wer etwas davon weiß. Vielleicht ist mein Betrug aufgegangen.« Er sah den überraschten Luc forsch an. »Ja, Betrug, nichts anderes ist es, was ich getan habe. Ich habe mein Team betrogen. Wissen Sie, das Gute in so einer großen Küche ist: Da gibt es immer jemanden, dem Sie die Aufgaben übertragen können. Es gibt für jeden Posten einen oder zwei Köche. Ich habe Roland dazu gebracht, dass er praktisch alles übernommen hat, was mein Job war. Ich habe nur noch über neue Gerichte gegrübelt und sie aus meiner Erinnerung zusammengebaut. Bis es dann dahin kam, dass es ans Vorkochen ging. Da erwartet die Küche natürlich, dass der Chef an vorderster Front steht. Ich habe aber Roland vorgeschickt, der arme Kerl konnte gar nicht anders, als seine schmale Brust immer breiter zu machen – er dachte, jetzt könne er doch noch mein Nachfolger werden. Dabei habe ich es ihn bloß tun lassen, weil ich es selbst nicht mehr konnte. Weil ich die Salzmühle nicht mehr von der Pfeffermühle unterscheiden konnte. Ich habe angefangen, mir kleine Brücken zu bauen. Hab bei den Gewürzen die Etiketten halb oder ganz abgeknibbelt, damit ich schnell spürte, welche Zutat das nun wieder war. Aber bei Gräten«, er schüttelte fassungslos den Kopf, »bei Gräten sind Sie wirklich machtlos, wenn Sie nichts mehr sehen – und wenn es schnell gehen muss.« Plötzlich stand Auguste Fontaine auf und sah zu ihnen herunter. »Kommen Sie, gehen wir ein Stück.«

Der Wind hatte aufgefrischt, und die Wolken, die von Westen heranzogen, verhießen nichts Gutes.

Dennoch machten sie sich auf den Weg gen Süden, der Strand war bis auf sie drei plus dem Baby in Lucs Arm immer noch menschenleer. Auguste Fontaine musste nun lauter sprechen, um die Windböen zu übertönen.

»Denn das Problem war, dass ich schnell gemerkt habe, dass ich es so nicht machen will. Ich wollte immer Koch sein, ich konnte nichts anderes. Draußen im Gastraum zu sein, das war für mich als junger Mann die Hölle. Diese Freundlichkeit, der Small Talk – als Koch sind Sie ein Handwerker und kein Entertainer. Aber die Gesellschaft wollte das von uns, hat es erwartet, so wie sie es von Bocuse, Ducasse und Guérard auch bekommen hat und bekommt. Also musste ich es lernen und habe es gelernt, ein Schauspieler zu sein. Eigentlich aber wollte ich nur an den Herd. Und nun kann ich das nicht mehr – oder nicht mehr richtig. Ich merke, dass es mir so eben keinen Spaß mehr macht. Trotzdem, ein bisschen wollte ich noch ausharren, um nicht geschlagen aufgeben zu müssen, wenn Sie verstehen. Mit meinen drei Sternen. Damit wollte ich aufhören – und das Restaurant dann schließen. Nach der diesjährigen Sternevergabe sollte Schluss sein.«

Sie gingen langsam, die Wellen leckten an Anouks Schuhen. In dieser Sekunde setzte ein leichter Nieselregen ein, während der Wind, der mittlerweile ein Sturm geworden war, ihnen den Sand ins Gesicht wehte. Es war ein doppeltes Peeling. Luc versteckte Aurélie unter seiner Jacke.

»Ist es nicht gut, sich das jetzt alles von der Seele reden zu können? Das nicht mehr verheimlichen zu müssen?« Anouk sah aufmunternd zu dem Koch hinüber. »Ich frage, weil Sie trotz allem irgendwie erleichtert wirken, regelrecht gelöst.«

Auguste Fontaine sah Anouk interessiert an. »Sie kennen die Menschen, Mademoiselle. Ja, es stimmt. Es geht mir besser. Weil ich endlich die richtige Entscheidung getroffen habe. Eine Entscheidung, die mir eine Last von der Seele genommen hat, so groß, das können Sie sich gar nicht vorstellen.«

Luc sah zu Anouk hinüber. Sie hatte wieder ins Schwarze getroffen. Er spürte, wie seine Anspannung zunahm.

»Bitte, Maître, was haben Sie entschieden?«

»Nun, ich habe das Restaurant nach dem Abgang des Kritikers verlassen und bin hier zum Strand gegangen. Ich wollte nicht mehr in die Küche, ich habe mich geschämt. Ich bin herumgelaufen, die ganze Nacht, ich habe überhaupt nicht geschlafen. Und als dann der Morgen graute, war ich mir sicher, dass ich die Lösung gefunden hatte – eine Lösung, die ich selbst nie für möglich gehalten hätte.«

»Spannen Sie uns bitte nicht auf die Folter«, sagte Anouk. Der Regen hatte zugenommen, doch die Neugier war mittlerweile so groß, dass auch Luc die Kälte und Nässe nicht mehr recht wahrnahm.

»Lassen Sie uns langsam zurückgehen«, sagte der Koch, und sie kehrten um. »Sie haben doch den Auftritt des jungen Mannes gestern gesehen, der überraschend in meine Küche gekommen ist.«

»Den Auftritt Ihres Sohnes.«

Auguste Fontaine nickte ernst.

»Mein Sohn. Wissen Sie, ich habe ihn nie so genannt, seitdem meine Frau so früh gestorben ist. Die Jungs waren damals in der Pubertät, und ich war in der Küche. Rémy und ich – wir waren nur selten einer Meinung. Wir hatten keine … nun ja, keine gute Beziehung. Vielleicht hatten wir auch gar keine. Ich glaubte, er könne mich nicht leiden, und er glaubte das Gleiche von mir. Vielleicht hatten wir beide recht. Ich kam einfach nicht klar damit, wie er war. Ganz anders als Guillaume. Kein Handwerker.«

»Eher ein Schauspieler?«, fragte Luc.

»Vielleicht ist es das«, erwiderte der Koch. »Rémy ist das, was ich in dieser modernen Welt hätte sein müssen: ein Entertainer. Aber ich war mir lange Zeit sicher, dass er nicht mein Talent hätte. Bis jetzt.«

»Was ist passiert?« In der Ferne konnte Luc durch den Regen schon die Villa Auguste ausmachen.

»Er hat mir vor ein paar Wochen geschrieben. Ich habe den Brief mit einer Lupe entziffert – es ging gerade so. Die Worte kann ich auswendig. Er schrieb mir, dass er hoffe, es gehe mir gut und ich würde nicht nur mit Bitterkeit an ihn denken. Bitterkeit , ich weiß gar nicht, woher er das hatte. Aber es stimmte. Ich hatte mir einen Koch als Sohn gewünscht – einen Koch, der die Dinge so angeht wie ich. Ja, ich habe Bitterkeit empfunden. Nun ja, er schrieb, dass er nach all den Eskapaden nun verstanden habe, worum es im Leben gehe – und besonders im Leben eines Kochs.

Er sei nun bereit, mir zu folgen. In meine Fußstapfen zu treten. Er versprach, es sei vorbei mit der Jeunesse dorée, mit seinen Ausflügen in die Welt der Schönen und Reichen, die ja ohnehin nur Schein sei. Er wünsche sich, ich würde mir alles noch einmal überlegen.«

In diesem Moment begann Aurélie unter Lucs Jacke leise zu grummeln. Offenbar war es ihr langsam genug mit dem Regen und dem Sturm – oder mit dem Aufenthalt in Papas Versteck.

»Was würden Sie sich noch einmal überlegen?« Luc wurde langsam ungeduldig.

»Vor fünf Jahren hatten wir diese Diskussion schon einmal. Ich habe ihm damals gesagt, dass ich mal gehofft hatte, er würde mein Nachfolger. Aber ich sei so enttäuscht von ihm und seinem vergeudeten Talent, dass ich es mir nicht mehr vorstellen könnte. Da fuhr er mich an, er würde mein klassisches Gekoche ohnehin nicht aushalten – und dieses piefige Gourmetrestaurant könne ihm gestohlen bleiben. Von diesem Moment an waren wir geschiedene Leute.«

»Und nun will er die Villa doch übernehmen.«

»So ist es. Ich habe ihm auf seinen Brief nicht geantwortet. Da stand er vor zwei Tagen vor meiner Tür. Ich habe ihn rausgeschmissen – so einfach ist das. Ich kann nicht ertragen, was er da zusammengekocht hat, in Monaco.« Er spuckte das Wort förmlich aus. »Das ist nur Bling-Bling, es hat nichts mit guten Produkten zu tun, es ist nur immer größer-schneller-weiter.«

»Und dann kam er gestern noch einmal.«

»Das Ergebnis haben Sie gesehen.«

»Und nun haben Sie es sich anders überlegt.«

»Es ist vielleicht auch wegen ihm – ich möchte ihm so gerne glauben, dass er seinen Lebenswandel geändert hat. Dass er wirklich verstanden hat, worum es geht.«

»Aber eigentlich ist es wegen Ihnen …«

»Ich kann mein Restaurant nicht schließen, wenn es zwei Sterne hat. Ich muss drei Sterne haben, erst dann kann ich gehen. Aber wie soll ich als blinder Mann einen dritten Stern erkochen? Wir müssen es gemeinsam machen – Rémy gegenüber konnte ich es zugeben. Wir beide zusammen können es schaffen, und dann kann das Restaurant in seiner Hand bleiben.«

»Weiß er es schon?«, rief Luc gegen den Wind, als sie den Weg aus Holzbohlen hinaufgingen. Man sah die Hand vor Augen nicht mehr, so stark regnete es jetzt.

»Ich habe es ihm vorhin gesagt. Alles.«

»Und?«

»Er war … ja, was eigentlich? Er war überrascht, gerührt, aber auch traurig und erschrocken, dass es mir so schlecht geht. Er macht sich große Sorgen – und das hat mich wiederum gerührt. Vielleicht meint er das ja wirklich alles ernst, vielleicht ist er wirklich ein anderer Mensch geworden – mein Sohn.«

Luc erinnerte sich in diesem Augenblick an das Gespräch am Morgen unter seinem Fenster, an die Umarmung der beiden alten Männer – es war der Moment kurz nach Auguste Fontaines Entscheidung gewesen.

»Wir danken Ihnen für Ihre Offenheit, Monsieur Fontaine«, sagte Anouk, und der Commissaire fügte hinzu: »Wir würden gern mit Ihrem Sohn sprechen.« Er vermied hinzuzufügen: Denn noch immer suchen wir denjenigen, der Ugo Gennevilliers’ Wein vergiftet hat.

»Er ist in der Küche, er stellt sich gerade dem Team vor. Ich wollte ihn dabei nicht stören – das wäre ja, als wenn ein Elefant im Raum steht.«

»Gut, wenn Sie erlauben, würden wir gleich einmal hineingehen.«

»Natürlich, Commissaire.«

»Aber können Sie uns vorher den Weinkeller zeigen?«

»Den normalen oder den geheimen?«

»Wo stand der Château Lacour?«

»Kommen Sie«, sagte Auguste Fontaine. »Den Weg zum geheimen Keller finde ich auch dann noch, wenn ich gar nichts mehr sehe.«

Sie gingen um eine weitere Ecke, der Regen prasselte mit voller Wucht.

Der Chefkoch ging zu einer kleinen Tür neben dem Kräutergarten, die so unscheinbar aussah, als verbärge sie maximal eine kleine Kammer für Konservendosen. Er machte sich an der Wand zu schaffen, und plötzlich öffnete sich ein Tastenfeld. Schnell gab er sechs Nummern ein und sagte erklärend: »Der Diebstahlschutz muss funktionieren. Denn diese Weine versichert niemand.«

Die Tür surrte auf, und die Polizisten sahen, wie dick sie war. Purer Stahl in der Optik einer Gartenpforte. Die Tarnung funktionierte.

Ein dunkler Treppenabsatz, viele Stufen, die nach unten führten. Die Luft war kühl, aber trocken. Ein Segen nach diesem Regenguss. Auguste Fontaine bewegte sich, als wäre er in seinem Wohnzimmer, schnell und ohne Zögern, Luc und Anouk folgten ihm, der Commissaire hielt sich bei den steilen Stufen an der Wand fest, er hielt immer noch Aurélie in seinen Armen.

Als sie unten ankamen, war die Dunkelheit vor ihnen vollkommen, so tief waren sie unter der Erde. Dann knipste der Sternekoch das Licht an, und dem Commissaire stockte der Atem. Und auch Anouk murmelte: »Heiliger Bimbam. Ich trinke ja gerade nicht, aber hier würde ich wohl schwach werden.«

Es war kein technisches System, kein schicker Kühlschrank, es war einfach nur ein in den Stein gehauener Weinkeller mit hölzernen Halterungen, auf denen die Flaschen lagen, über und über, Flaschen, die teilweise so alt waren, dass die Schrift auf den Etiketten schon vergilbt war – vergilbt ja, aber immer noch lesbar. Es waren nicht Hunderte Flaschen, es waren sicher eintausend. Und wenn Luc die Etiketten überflog, dann war er sich sicher, dass hier Millionenwerte lagen. Kein Wunder, dass das Sicherheitssystem so ausgeklügelt war.

An den Wänden hingen moderne technische Instrumente, die sowohl die Temperatur als auch die Luftfeuchtigkeit maßen, eine Klimaanlage brauchte dieser Raum nicht.

»Ich sammele seit fünfzig Jahren Weine. Meine erste Flasche war ein Château Talbot von 1955 . Und seither – nun ja, in fünfzig Jahren kommt einiges zusammen. Ich denke, bei aller Bescheidenheit, es ist der größte Weinkeller in der Aquitaine, außerhalb der Châteaux selbst, versteht sich.«

Ehrfürchtig las Luc die Namen der Châteaux, aus denen die Weine stammten: eine Reihe von Flaschen des Château d’Yquem aus den Achtzigern. Der Inhalt schimmerte golden, der berühmteste Süßwein der Welt war sicher tausend Euro teuer – also der aktuelle Jahrgang. Diese alten Tropfen waren unbezahlbar. Dahinter lagerten die Roten des Château Margaux und dort jene des legendären Château Lafite. Das Château Mouton-Rothschild hatte ein eigenes Regal, die Jahrgänge reichten zurück bis 1928 . In einer Ecke aber sah Luc noch etwas anderes. »Romanée-Conti? Sie haben Weine aus der Bourgogne?« Er wusste natürlich, dass der Wein eine Legende war und zu den teuersten der Welt gehörte, er hatte auf einer Auktion mal eine halbe Million Euro erzielt – für eine einzige Flasche. Aber er stammte eben nicht aus Bordeaux.

»Ich liebe den Burgunder. Aber sagen Sie es nicht weiter.« Auguste Fontaine grinste.

In der Mitte des Kellers standen vier Fässer, alte Eichenfässer. Die Oberseite war rot eingefärbt – wie Luc von seinem Schulfreund Richard Lecœur wusste, stammte die Farbe von echtem Rotwein.

»Was ist das für einer?«

»Es ist unser Hauswein. Eine Cuvée, die ein Château im Tursan-Gebiet für uns keltert. Diesen Wein gibt es nur hier – und unsere Gäste lieben ihn. Wir füllen ihn nie in Flaschen, er kommt direkt aus dem Fass in einer Karaffe an den Tisch. Dreimal pro Woche fülle ich ihn direkt ab und bringe ihn nach oben.«

»Und warum haben Sie zwei Weinkeller?«

Der alte Mann stöhnte. »Ja, wir sind ein Restaurant der Crème de la Crème. Das gilt nicht nur für die Gäste, auch für die Angestellten. In der Gastronomie wird gestohlen, was das Zeug hält. Und das macht auch vor meiner Tür nicht halt. Also habe ich einen Keller für die Weine, die jeden Tag getrunken werden. Und einen für die Weine, die nur ich zu Gesicht bekomme. Weine, die nur ganz besondere Kunden bestellen.«

»Wer hat für diesen Keller den Code?«

Auguste Fontaine überlegte nicht lange. »Ich bin manchmal auswärts, deshalb haben Madame Silva und Monsieur le Correc den Code. Genau wie mein Sohn Guillaume. Und nun, seit ein paar Stunden, auch Rémy.«

»Sonst niemand?«

»Niemand.«

»Und der Lacour war die ganze Zeit hier drinnen?«

»Natürlich, Commissaire. Bis zu dem Moment, als ihn Madame Silva geholt und dekantiert hat. Aber oben stand er dann neben dem Tisch von Ugo. Da hätte niemand etwas hineintun können.«

Nun war es Luc, der stöhnte. »Aber wer war es dann?«, fragte er leise.

Anouk zeigte an die Decke aus roten Backsteinen.

»Haben Sie keine Angst vor einer Sturmflut?«, fragte sie.

»Wir haben Spundwände, und es gibt eine doppelte Ummauerung plus eine Stahldecke. Auch wenn das Restaurant überflutet werden sollte, dieser Keller bleibt trocken.«

Anouk und Luc sahen sich ein weiteres Mal um.

»Hat Ihnen das geholfen?«, erkundigte sich der Koch.

»Das kann ich noch nicht sagen«, antwortete Luc. »Aber es ist gut, diesen Ort gesehen zu haben. Allein schon, um zu wissen, was ich mir als Beamter niemals werde leisten können.«

»Wissen Sie, Commissaire, wenn all das hier vorbei ist und Sie unser Rätsel gelöst haben, dann werden wir eine Flasche davon gemeinsam trinken. Was meinen Sie?«

Luc nickte, aber irgendetwas hielt ihn davon ab, dem alten Mann die Hand zu geben. Sie stiegen langsam die Treppe hinauf und traten hinaus in den Sturm und den Regen.

»Dann sprechen wir jetzt mit Ihrem Sohn«, sagte Anouk und sah durch das kleine Küchenfenster hinein.

»Bitte, machen Sie das«, erwiderte der Maître und wies ihnen den Weg.

Als Luc sich noch einmal umdrehte, sah er, wie Auguste Fontaine lächelnd ins Innere des Restaurants sah. Er wirkte erleichtert, mehr als das, er wirkte sogar ein wenig glücklich.