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Mittwoch, 10. März bis Donnerstag, 11. März 1920

 

 

Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso gut töten wie mit einer Axt.

Heinrich Zille

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Professor Hendrik Lilienthal verlor sich in der Betrachtung einer tief hängenden Wolke, während er mit seinem Fahrrad in den Kurfürstendamm einbog. Ein Mann mit eingefärbter Uniformjacke und Korkenzieherhosen, der gezwungen war, zur Seite zu springen, schimpfte hinter ihm her. Der Professor hörte es nicht einmal. Sein Körper mochte sich auf der Straße befinden, sein Geist weilte wie so oft in anderen Sphären. Sollte er in der morgigen Vorlesung auf Platons Höhlengleichnis eingehen? Wie viel Wahrheit enthielten die Korruptionsvorwürfe gegen Reichsfinanzminister Erzberger? Und warum hatte das Horn des Stoewer D6, der neben ihm eine Vollbremsung machte, einen so misstönenden Klang?

Hendrik Lilienthal sah einer Vogelscheuche ähnlicher als einem Professor mit seinen wirren schwarzen Haaren, in die sich bereits die ersten grauen Strähnen verirrten, seiner zerknitterten Kleidung und dem offenen Mantel. Wie immer weigerte er sich, sein Hemd bis oben zuzuknöpfen – wenn ich mich strangulieren will, besorge ich mir einen Strick, pflegte er zu sagen – dafür flatterte ein zwei Meter langer Schal im Fahrwind hinter ihm her. Die runde Metallbrille war das Einzige, was ihm einen intellektuellen Anstrich gab, und auch die sah aus, als gehörte sie nicht ihm. Er hätte überall fehl am Platz gewirkt, selbst auf einem Kostümball.

Der Ruf eines Zeitungsjungen holte seinen Geist in die Gegenwart zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen Kiosk. Im Vorbeifahren überflog Hendrik die Schlagzeilen. Ob es etwas Neues über den Skandal im Adlon oder den Fall Nicolai gab? Offenbar nicht!

An den Litfasssäulen warben Plakate für die Tanzpaläste. Seit das Tanzverbot mit Ende des Krieges gefallen war, stürzte sich die Bevölkerung wie im Rausch ins Vergnügen – jedenfalls der Teil, der es sich leisten konnte. Berlin galt als Kokainhochburg Europas und besaß die bekanntesten Nachtlokale.

Ein Gasriecher hielt seine Nase in ein Rohr, dessen Ende im Kopfsteinpflaster versenkt war, und kontrollierte Gasleitungen auf Lecks. Bettelnde Kriegsinvaliden ohne Arme oder Beine säumten den Straßenrand und machten mit müden Rufen auf ihr Los aufmerksam, zwei von ihnen trugen eine Gesichtsmaske, die den weggerissenen Teil des Kopfes verbergen sollte. Ein Scherenschleifer fuhr mit seinem quietschenden Fahrrad und einer Schleifmaschine auf dem Anhänger an einer Straßenkehrerkolonne vorbei. Auf freiem Feld führte jemand ein halbes Dutzend angeleinter Hühner zur Futtersuche aus.

Berlin mit seinen knapp vier Millionen Einwohnern bot ein buntes Kaleidoskop von Gerüchen, Geräuschen und Bildern, die so manchen Besucher vom Lande schier betäubten. Und war erst die vorgesehene Eingemeindung der Vororte wie Charlottenburg oder Neukölln abgeschlossen, würde Groß-Berlin – oder „die Reichshauptstadt“, wie die national gesinnte Presse zu schreiben vorzog – noch unüberschaubarer werden.

Hendrik trat kräftig in die Pedale, um eine Steigung zu nehmen. Trotz der Kälte schwitzte er vor Anstrengung, aber die Neugier war ein mächtiger Antrieb. Was mochte sein Bruder nur von ihm wollen? Noch nie zuvor hatte er ihn zu einem Tatort gerufen!

Schwungvoll bog er in die Königsallee ein. Die hochherrschaftliche Atmosphäre der Villenkolonie Grunewald bot einen vollkommen anderen Eindruck als das Universitätsviertel. Zwischen den Villen mit ihren großzügigen Gartenanlagen hätte bequem eine komplette Arbeitersiedlung aus Neukölln oder dem Wedding Platz gefunden.

Hendrik sah sich nach der Hausnummer um, die man ihm genannt hatte, und entdeckte sie schließlich auf einem efeuüberwachsenen Schild. Weit und breit war kein Kriminalbeamter zu sehen, nicht einmal ein Schutzmann. Sehr mysteriös! Vermutlich sollte Aufsehen vermieden werden.

Der Professor stieg von seinem Fahrrad und schob es durch das schmiedeeiserne Eingangstor, das sperrangelweit offen stand, erstes Indiz, dass hier etwas nicht stimmte. Er lehnte das Rad von innen an die Gartenmauer, nahm seine Ledertasche vom Gepäckträger und schritt am gepflegten Rasen vorbei auf das Haus zu. Eine Säulenreihe zierte das Portal, im ersten Stock wölbte sich ein halbrunder Erker vor. Der überdachte Eingang befand sich seitlich, um das Bild der Hausfront nicht zu zerstören, und war nur über eine geschwungene Treppe zu erreichen.

Als Hendrik das Namensschild las, wurde ihm klar, wie groß die Sache sein musste, an der sein Bruder arbeitete. Max Unger stand dort in goldenen Lettern. Max Unger, einer der führenden Industriellen Berlins!

Hendrik entdeckte Edgar Ahrens, einen Mitarbeiter seines Bruders, der am Boden kniete und nach Fußspuren suchte oder was immer ein Kriminalbeamter im Vorgarten eines Tatorts zu finden hoffte. Edgars Gesicht hellte sich auf, als er ihn erkannte. „Guten Morgen, Professor!“ Er erhob sich, um ihm die Hand zu schütteln, und offenbarte dadurch seine Körperlänge. Obwohl man Hendrik kaum als Zwerg bezeichnen konnte, schaffte es der Kriminalbeamte mühelos, auf ihn herabzusehen. „Haben Sie gestern die Reden von Erzberger gelesen?“

„Absurdes Theater! Hoffentlich ist der Prozess bald vorüber.“

Entweder war Edgar beschäftigt oder er hatte den Auftrag, Hendrik sofort ins Haus zu schicken, denn obwohl er normalerweise einem Schwätzchen nicht abgeneigt war, deutete er bloß auf den angrenzenden Seitentrakt und sagte: „Ihr Bruder ist da vorn im Arbeitszimmer, durch die Tür und dann links.“

Die Eingangstür des Nebengebäudes war nur angelehnt, daher trat Hendrik ein, ohne sich bemerkbar zu machen. Die Eingangshalle war wohl eigens zu dem Zweck entworfen, Besucher zu beeindrucken: holzgetäfelte Wände, kristallene Lüsterlampen, wertvolle Teppiche. Die ausgestopften Vögel und der obligatorische Sinnspruch (Edel sei der Mensch, hilfreich und gut) waren allerdings Geschmackssache. Ölgemälde präsentierten die Ahnenreihe der Ungers mit Max Unger an der Spitze. Auf einem Tisch lagen Bildermappen, die Fotografien aus der Werksgeschichte des Unger’schen Unternehmens enthielten, wie Hendrik sich durch Blättern überzeugte.

Von ferne war Schluchzen zu vernehmen, und eine nicht zu verstehende männliche Stimme versuchte ungeschickt so etwas wie eine Beruhigung. Die Geräusche kamen aus dem Hauptgebäude, zu dem es rechter Hand eine Verbindungstür gab. Hendrik wandte sich jedoch nach links und ging über die dicken Teppiche, die jeden Schritt bis zur Unhörbarkeit dämpften, auf eine Mahagonitür zu.

Dort stieß er mit Simon Weinstein zusammen, einem Beamten der Spurensicherung, der gerade ein Etui mit Büchsen und Pinseln zusammenpackte und gleichzeitig zwei Schutzmänner, die einen blutbesudelten Teppich trugen, durch den Türrahmen dirigierte. „Ah, guten Tag, Professor!“

Simon Weinstein war klein und untersetzt. Wie er es schaffte, trotz Nahrungsmittelknappheit seinen Bauch zu halten, blieb innerhalb der Kriminalpolizei ein viel diskutiertes Rätsel. Seine Gründlichkeit, ja Pedanterie war ebenfalls im ganzen Polizeipräsidium bekannt und der Grund dafür, dass Hendriks Bruder Wert darauf legte, mit ihm zusammenzuarbeiten. In München wurden sämtliche Beamte der Polizei turnusmäßig zum Erkennungsdienst abkommandiert, die Spurensicherung war dort dem zuerst am Tatort eintreffenden Beamten überlassen. In Berlin verließ man sich lieber auf die Dresdener Methode: Nichts anrühren, bis der Spezialist kam.

„Ich mache noch die Vergleichsfingerabdrücke der Familie und fahre dann ins Labor, du weißt ja, wo du mich findest!“, rief Simon nach drinnen, nickte Hendrik kurz zu und eilte zum Hauptgebäude.

Der Professor betrat das Arbeitszimmer und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. „Mein Gott!“, entfuhr es ihm.

Jemand hatte gewütet wie ein Metzger. Der ganze Raum war voller Blut, vor allem vor dem Schreibtisch, aber auch an den Wänden, auf dem Kaminsims, sogar im Papierkorb, einfach überall. Die Leiche selbst – denn dass es eine solche gegeben haben musste, stand nach Lage der Dinge außer Zweifel – war bereits abtransportiert worden, aber die Stelle, wo sie gelegen hatte, konnte anhand der Mengen vergossenen Blutes eindeutig identifiziert werden.

„Wann besorgst du dir endlich ein eigenes Telefon?“, sagte eine Stimme, ehe deren Besitzer hinter dem Schreibtisch auftauchte. Typisch für seinen Bruder, ihn mit einem Vorwurf zu begrüßen!

Gregor Lilienthal war 34, zwei Jahre älter als Hendrik. Wer ihn zum ersten Mal sah, dachte unwillkürlich an einen Asketen. Das lag an seiner hageren Gestalt und dem knochigen Körperbau, aber auch an dem strengen Gesichtsausdruck, den er nur selten ablegte. Außerdem bewegte er sich wie jemand, der drei Tage im Leichenschauhaus gelegen hatte, und sprach mit der Präzision eines Obduktionsbefundes. Nur seine traurigen Hundeaugen straften den hölzernen Eindruck Lügen.

Hendrik ergriff die dargebotene Hand. „Ich denke darüber nach, sobald du dir angewöhnst, ein Gespräch mit einem ‚Guten Tag‘ zu beginnen wie jeder zivilisierte Mensch.“ Gregor lächelte nicht – er lächelte nie – aber er blinzelte mit den Lidern, und für Hendrik, der seinen Bruder gut kannte, kam das einem Lächeln ziemlich nahe. „Was willst du eigentlich? Der Pedell hat mir die Nachricht doch ausgerichtet, und hier bin ich!“

„Danke, dass du so schnell gekommen bist.“

Jetzt, wo er vor Ort war, schien Gregor keine Eile zu haben, ihn über den Grund seines Anrufes zu informieren. Konzentriert kniete der Kommisar sich wieder hinter den Schreibtisch, um die genaue Lage eines herabgefallenen Stücks Papier zu ermitteln. Hendrik verfolgte es mit Interesse, zumal er wusste, dass bei einer Morduntersuchung vieles im Ermessen des bearbeitenden Beamten lag. Dass es überhaupt Mordkommissionen gab, war noch keinesfalls selbstverständlich. Erst seit knapp zwanzig Jahren existierte ein Mordbereitschaftsdienst innerhalb der Kriminalpolizei. Früher hatte man nach einer Tat erst einmal damit begonnen, passende Ermittler zu suchen. Auch heute noch gab es keine zentrale Koordination der verschiedenen Kommissionen, geschweige denn ein einheitliches Vorgehen im Reich.

Da sein Bruder sich dem Stück Papier widmete, nutzte Hendrik die Zeit und sah sich um. Eichenmöbel und eine Chaiselongue bestimmten das Arbeitszimmer. Eine Wand wurde von einem Regalschrank verdeckt, der neben Büchern vor allem Aktenordner und Briefe enthielt. Teile des Holzes waren herausgesägt worden, vermutlich, um darauf befindliche Blutflecke zu analysieren. Auch aus der ornamental gemusterten Tapete hatte man rechteckige Stücke entfernt, ohne Rücksicht auf die Folgen. Des Weiteren gab es einen Sekretär, den Schreibtisch, gepolsterte Stühle und einen Tisch mit Jubiläumsgeschenken samt einem Rauchservice aus Stahl, wohl aus dem eigenen Werk.

Hendrik konnte seine Neugier nicht länger bezähmen. „Wer ist der Tote – Max Unger?“

„Er wurde gestern Abend ermordet, nach ersten Schätzungen zwischen acht und zehn.“

„Ziemlich viel Blut – sieht nicht nach einer kühl geplanten Tat aus.“

„Wenn du die Leiche gesehen hättest, hättest du daran keinen Zweifel. Ungefähr zwei Dutzend Messerstiche, mit einer solchen Wucht beigebracht, dass sich da, wo der Griffansatz auf den Körper traf, das Textilmuster des Hemdes in die Haut gedrückt hat. Ein Mord im Affekt, dafür spricht auch die Tatwaffe, die laut Simon ein gewöhnliches Küchenmesser gewesen sein muss.“

„Schränkt das den Kreis der Verdächtigen nicht ein?“

„Du hast Max Unger nicht gekannt. Der Mann hatte ein Talent dafür, sich Feinde zu machen.“

„Und warum hast du mich nun geholt?“

Gregor ging an den Regalschrank, entnahm ihm ein Bündel Briefe und warf sie ihm zu.

„Was ist das?“

„Lies es! Es ist voll von dem kruden Zeug, mit dem du dich beschäftigst.“

Das Blinzeln verriet Hendrik, dass sein Bruder eine Art Scherz gemacht hatte. „Philosophische Texte?“

„Ich hoffe, du kannst mir Näheres sagen.“

Hendrik öffnete den ersten Brief und vertiefte sich in dessen Inhalt, während sein Bruder sich der Untersuchung einer Schramme am Schreibtisch zuwandte. Erst als er das ganze Bündel ausgelesen hatte, gab er einen Kommentar ab. „Das widerlichste Zeug, das ich seit langem in den Händen hatte.“

„Ich dachte mir schon, dass dir der Inhalt Freude bereiten würde.“

„Was genau ist das?“

„Soweit ich sehen kann, die Korrespondenz Max Ungers mit nationalen Kreisen, genauer gesagt, Mitgliedern der Nationalen Vereinigung.“

„Wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloß als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmäßigung und Wert-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unseren Hoffnungen greifen?“, las Hendrik vor.

„Kennst du das?“

„Nietzsche. Es gibt noch mehr von ihm, einseitig ausgewählt, wie ich hinzufügen möchte. Hier: Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. Nicht jedes Zitat ist allerdings von jemandem von seinem Format.“ Er griff nach einem anderen Brief. „Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front.“

„Hindenburg.“

„Genau.“ Wahllos blätterte der Professor in den losen Seiten. „Manche Texte sind mir unbekannt.“

„Kannst du die Quellen herausfinden?“

Hendrik verzog das Gesicht. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich zu engagieren, schon gar nicht für Polizeiarbeit. In seinen Augen hatte der Beruf seines Bruders etwas Anrüchiges. Was schätzte Gregor bloß so am Wühlen im Dreck? Angesichts der Schönheit einer philosophischen Erkenntnis, der Befriedigung, die im Streben nach Weisheit lag – wie konnte da jemand in die Abgründe der menschlichen Seele hinabsteigen wollen, in die Lüge, die Niedertracht, die Verrohung? Wie konnte jemand freiwillig die Dunkelheit aufsuchen, wo es doch das Licht gab? Aber, nun ja, das Licht entpuppte sich in letzter Zeit immer öfter als Irrlicht, nicht wahr? Wer wüsste das besser als er selbst!

„Ich stehe ziemlich unter Druck“, sagte Gregor. „Der Mord an einem der größten Industriellen des Landes wird hohe Wellen schlagen.“

„Warum sind die Briefe so wichtig? Denkst du, der Mord war politisch motiviert?“

„Ich hoffe nicht!“

Hendrik verstand all das Unausgesprochene hinter den inbrünstig hervorgestoßenen Worten. Für politische Fälle war die Abteilung IA, die Politische Polizei, zuständig, mit der Gregor nichts zu tun haben wollte. Er hasste Gesinnungsschnüffelei. Nur widerwillig hatte er im vergangenen Jahr die Aufgabe übernommen, gemeinsam mit Kommissar Gennat die Kanäle nach der Leiche Rosa Luxemburgs abzusuchen.

„Aber ich kann es leider nicht ausschließen.“ Gregor reichte seinem Bruder weitere Briefe und deutete auf verschiedene Stellen. „Du findest überall Andeutungen über Verbindungen zwischen Max Unger und nationalen Kreisen, die auf einen Putsch spekulieren. Hier, vom 25. Januar 1919: Vielen Dank für die Überweisung der verabredeten Summe. Wie Sie inzwischen wohl wissen, wurde Ihr Geld gut angelegt. Eine künftige national gesinnte Regierung wird Ihre Unterstützung nicht vergessen. Beachte die Unterschrift!“

„Thor“, las Hendrik. „Da ich nicht annehme, dass die nordischen Götter sich für umstürzlerische Umtriebe interessieren, handelt es sich wohl um einen Code, oder?“

„Lies den Rest, dann hast du halb Walhall beisammen. Verschwörer lieben es, sich bedeutungsschwangere Namen zu geben.“

„Verdächtigst du Thor, etwas mit dem Mord zu tun zu haben? Aber wer schlachtet die milchspendende Kuh?“

„Sieh dir die Eintragungen in Max Ungers Terminkalender für gestern Abend an!“

Hendrik begab sich zum Schreibtisch. Die Abendausgabe der Deutschen Tageszeitung lag dort und verlor sich in Spekulationen über Die Kandidatur Hindenburgs, und irgendein obskures Provinzblatt namens Völkischer Beobachter mit einer albernen Datumsangabe (13. Lenzing) jubelte gar vorauseilend: Hindenburg künftiger Reichspräsident. Neben den Zeitungen lag der Terminkalender. „Darf ich das anfassen?“

„Simon hat sämtliche Fingerabdrücke gesichert.“

Tatsächlich waren die Reste eines silbrigen Pulvers auf dem Papier zurückgeblieben und machten die charakteristischen Linien und Schlingen von Fingerspuren sichtbar. Hendrik nahm den Kalender vorsichtig in die Hände. Max Unger schien einen ausgefüllten Tag gehabt zu haben. Dann sah Hendrik, worauf sein Bruder hinauswollte. Der letzte Eintrag am 9. März lautete: 8:30 Thor. „Du glaubst, er hatte eine Verabredung mit seinem Mörder?“

„Vorerst glaube ich gar nichts. Es ist eine Möglichkeit, mehr nicht. Sicher nicht die unwahrscheinlichste. Ich muss unbedingt herausfinden, wer Thor ist.“

Hendrik hörte seinem Bruder nicht mehr zu. Methodisch verglich er den Kalender mit der Schreibfläche des Schreibtisches.

„Was machst du da?“

„Habt ihr – du oder Simon – den Tisch abgewischt?“

„Natürlich nicht! Wie kommst du darauf?“

„Dann verstehe ich nicht …“

„Was?“

Hendrik machte seinem Bruder Platz.

Gregor beugte sich stirnrunzelnd über die Tischplatte. „Wovon sprichst du?“

„Die Blutspritzer!“

„Was soll damit sein? Der ganze Raum ist voll davon, und natürlich auch – He! Jetzt sehe ich, was du meinst!“

An der Stelle, wo der Terminkalender gelegen hatte, endeten die Blutspritzer wie mit dem Rasiermesser abgeschnitten, und doch setzten sie sich nicht auf dem Kalenderblatt fort. Ob vielleicht …? Versuchsweise blätterte Hendrik weiter. Richtig, auf der nächsten Seite fanden sich die vermissten Spritzer!

„Was, zum Teufel …“

„Max Unger hatte den Terminkalender bereits für den nächsten Tag umgeblättert, ehe er starb.“

„Was darauf hindeutet, dass er sein Tagewerk beendet hatte, dass es also ein ungeplanter Besucher war, der ihn umbrachte, nach dem Treffen mit Thor.“

„Sicher, das wäre vorstellbar. Aber das ist doch nebensächlich!“

„Du findest einen Hinweis auf den Täter nebensächlich?“

„Viel interessanter ist doch die Frage, wer den Kalender zurückgeblättert hat und warum.“

„Ja … das ist allerdings wahr. Was würdest du daraus schließen? Dass der Mörder sich davon überzeugt hat, dass sein Name nicht drinsteht?“

„Könnte sein …“ Hendrik blätterte hin und her. „Interessant. Am 12. Februar war Thor schon einmal hier.“

„Du hast also Blut geleckt“, meinte Gregor befriedigt. „Darf ich dann annehmen, dass du dich um die Zitate kümmerst? Vielleicht kommen wir so der Identität dieses Thor auf die Spur.“

„Darf ich die Briefe mitnehmen?“

„Darfst du.“

„Na schön, dann vergrabe ich mich damit in der Universitätsbibliothek.“ Hendrik verstaute die umfangreiche Korrespondenz in seiner Ledertasche. Von seinen Pflichten entbunden, wusste er nicht recht, ob er gehen oder bleiben sollte. Er entschied sich für Letzteres. „Hast du schon Verdächtige?“

„Jede Menge. Familie. Konkurrenten. Thor und Konsorten.“ Gregor machte eine Kunstpause. „Und dann wirf mal einen Blick auf den Brief da.“ Er deutete auf den Schreibtisch.

Hendrik zweifelte keine Sekunde daran, dass Gregor von Anfang an vorgehabt hatte, ihm den Brief zu zeigen. Mit seinem Gerede über Philosophiezitate verfolgte er zweifellos noch eine andere Absicht als nur die, sich seiner Hilfe zu versichern. Sein Bruder ärgerte sich oft darüber, dass er über Polizeiarbeit die Nase rümpfte, und bezeichnete ihn deswegen als Snob. Wahrscheinlich wollte er ihn aus seinem – wie er es nannte – Elfenbeinturm locken. Ärgerlich, dass er mit dieser Taktik auch noch Erfolg hatte!

Hendrik nahm das oberste Blatt in die Hand und überflog die Zeilen. „Max Unger hat auch Wohnungen vermietet?“

„Sonderbar, nicht wahr? Ein reicher Industrieller wie er … Jedenfalls ist er auch in dieser Branche seinem Ruf treu geblieben, rücksichtslos Geld zu machen.“

Hendrik las vor: „Mein Mann hat immer gut und ehrlich für Sie gearbeitet und war nie krank. Nich einen Tag. Und aus dem Krieg ist er mit Asthma heimgekommen. Wir arbeiten alle Tag und Nacht. Ich bitte Sie um nichts Schlimmes, wir wolln die Miete ja nich geschenkt. Nur wenn Sie bitte noch ein paar Tage länger warten. Wenn Sie uns rausschmeißen, wissen wir nich wohin.“ Er besah sich den Absender. „Broscheck, Prinz-Handjery-Straße, Neukölln. Wirst du diese Leute aufsuchen?“

„Heute Abend. Verzweiflung scheint mir ein gutes Motiv für einen Mord, der mit solchem Hass verübt wurde.“

„Ich würde gern mitkommen, wenn du nichts dagegen hast.“ Das Blinzeln von Gregors Lidern wurde so stark, dass Hendrik sich gezwungen sah, sich zu rechtfertigen. „Aus rein akademischem Interesse. Ich möchte mir ein Bild von Max Unger machen.“

„Von mir aus. Unser Schriftgelehrter ist krank, es wäre eine Entlastung für mich, wenn du ihn ersetzen könntest.“

„Ich möchte zu gern wissen, warum der Brief auf dem Schreibtisch lag.“ Hendrik besah sich noch einmal das Blatt. „Die Frist läuft heute ab. Vermutlich hat Max Unger sich vor seinem Tod damit beschäftigt.“

„Was einerseits den Verdacht erhärtet, der Mord könnte etwas damit zu tun haben. Andererseits: Warum lässt der Mörder einen Brief liegen, der ihn belastet?“

Beide schwiegen einen Augenblick.

Dann schob Gregor das Thema beiseite und krempelte seine Ärmel auf. „Und jetzt werde ich mir die Familie des Toten vornehmen. Sag mal, wenn du schon hier bist – kannst du die Aussagen mitprotokollieren? Dann muss ich keinen Beamten abziehen.“

Vorerst wurde jedoch nichts daraus, denn Edgar stieß atemlos die Tür auf. „Hab’ was gefunden“, keuchte er.

Zu dritt eilten sie in den Garten. Der Polizeibeamte führte die Brüder zu einem Gebüsch. „Hier hat einer gestanden.“

Gregor kniete nieder und untersuchte den Boden. Mehrere Zweige des Gebüsches waren geknickt, herabgefallene Blätter lagen auf der Erde. Gras war niedergetrampelt und hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet. Gregor warf einen Blick zum zehn Meter entfernten Fenster des Arbeitszimmers. „Der Mörder muss sein Opfer von hier aus beobachtet haben. In der Dunkelheit war er nicht zu sehen und hatte selbst freie Sicht.“

Hendrik stellte sich neben seinen Bruder. Wirklich konnte man von hier das ganze Zimmer einsehen, während man selbst weder von der Straße noch von der Eingangstür aus zu bemerken war.

„Gibt es Fußspuren?“

Edgar schüttelte den Kopf. „Auch keine Kleidungsfasern. Ich hab’ jeden Millimeter abgesucht.“

Gregor zuckte die Achseln. „Da kann man nichts machen. Dann also auf zum Verhör! Schick mir bitte die Familienmitglieder in die Bibliothek, Edgar! Einzeln. Und dann will ich noch den Wachtmeister sprechen, der zuerst hier war. Und ruf Dr. Pauly an, er soll mit der Obduktion schon mal anfangen. Wenn ich hier fertig bin, fahre ich gleich zu ihm in die Charité.“

Die Brüder Lilienthal begaben sich in die Bibliothek des Hauses, die geradezu verschwenderisch ausgestattet war: Meyers Konversationslexikon, Goethe, Schiller, Lessing, griechische Philosophie, Bücher zur Kulturgeschichte – alles, was in den Haushalt des Bildungsbürgertums gehörte. Hendrik zog verschiedene Bände aus den Regalen, entdeckte überall Staub und konnte unschwer schließen, dass keines der Bücher je gelesen wurde. Er ärgerte sich über Menschen, die Bücher nur als Dekoration benutzten, während manch Bildungshungriger nicht das Geld hatte, sich auch nur einen Bruchteil der hier versammelten Schätze zu leisten.

Gregor nahm an dem großen Mahagonitisch in der Mitte des Raumes Platz, Hendrik verzog sich in einen Ohrensessel in der Ecke, wo er hoffte, unsichtbar bleiben und die Familie des Toten in Ruhe beobachten zu können.

2

Es gibt Menschen, bei denen das Wort „sauber“ – ein Begriff, der an und für sich einen Zustand beschreibt – eine Charaktereigenschaft ist. Käte Unger war solch ein Mensch. Ihre Haltung, die deutlich machte, dass ihrem Körper etwas so Ordinäres wie Schweißabsonderungen fremd waren, ihr Mienenspiel – alles drückte Sauberkeit aus, Sauberkeit, wie man sie in sterilen Labors vorfindet als Folge überreichlicher Verwendung von Säure.

Hendrik holte seinen Skizzenblock hervor, den er immer bei sich trug, und entwarf eine Karikatur von ihr. Er bewunderte die Zeichnungen von Heinrich Kley aus dem Simplicissimus und den Lustigen Blättern, vor allem seine Skizzenbücher. Kleys Chimären und Fabelwesen, seine halb menschlichen, halb tierischen Gestalten, auf boshafte Weise idyllisch und stets mit Witz und Sympathie entworfen, hatten es ihm angetan. Von diesem Stil inspiriert, gab Hendrik Käte Unger das Gesicht eines Wiedehopfs. Trotz seiner Nebenbeschäftigung entging ihm jedoch keine ihrer Äußerungen.

„Sie sind die Frau von Hermann Unger, dem jüngeren der Brüder?“, erkundigte sich Gregor.

„Dem mittleren. Friedrich ist der jüngste.“

Gregor nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. „Ich würde gern einen Eindruck von Ihrer Familie und dem Haushalt bekommen. Wenn Sie so freundlich wären, mir zu verraten, welche Personen hier leben …“

„Die drei Brüder und ich. Das Personal wohnt nicht im Haus, abgesehen von Joseph, unserem Diener, und dem Hausmädchen Elsa.“

„Max Unger war nicht verheiratet?“

„Seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben.“

„Eine Krankheit?“

„Etwas in der Art.“

Hendrik fand die Antwort befremdlich, aber sein Bruder ließ es dabei bewenden und wechselte taktvoll das Thema. „Haben Sie Kinder?“

„Zwei Söhne. Sie leiten die Exportgeschäfte der Firma im Ausland.“

„Was ist mit Friedrich und Max?“

„Friedrich ist geschieden. Keiner von beiden hat Kinder.“

„Wie war das Verhältnis der Brüder zueinander?“

Käte biss sich auf die Lippen.

„Eine ehrliche Antwort wäre mir lieb“, sagte Gregor. Es gehörte nicht viel Menschenkenntnis dazu zu bemerken, dass Käte Unger unangenehmen Dingen aus dem Weg ging.

„Er war kein umgänglicher Mensch“, gab sie zu. „Ich sollte so etwas nicht sagen, aber niemand wird ihn vermissen. Nicht einmal das Unternehmen. Er … er hatte einfach keinen Weitblick. Seit Jahren ist es immer Hermann gewesen, der den Wagen aus dem Schmutz gezogen hat. Er hätte das Werk von Anfang an leiten sollen!“

„Ich nehme an, das wird in Zukunft der Fall sein?“

„Ja. Wenigstens in seinem Testament hat Max Weitblick bewiesen.“

„Testament? Ist das denn bereits verlesen?“

„Nein, aber wir kennen den Inhalt.“

„Und Sie? Sind Sie gut mit Ihrem Schwager ausgekommen?“

Schlagartig erlosch der rosige Hauch auf ihrem Gesicht. „Er … schätzte mich nicht besonders.“

Wieder forschte Gregor nicht weiter nach. „Erzählen Sie mir vom gestrigen Tag.“

„Was meinen Sie?“

„Erzählen Sie einfach, woran Sie sich erinnern, von morgens an. Wie war die Stimmung, was haben alle gemacht …?“

„Beim Frühstück gab es Streit, aber nicht mehr als sonst. Morgens besprechen Hermann und Max immer alles Nötige für den Tag, und meist sind sie unterschiedlicher Ansicht.“

„Nur die beiden? Was ist mit Friedrich?“

„Ach, Friedrich … der versteht nichts vom Geschäft.“

„Und dann?“

„Dann brachen die Männer zur Arbeit auf. Bis zum Abendessen habe ich keinen mehr gesehen.“

„Gab es dabei weiteren Streit?“

„Es verlief … eher einsilbig.“

„Kein Streit?“, insistierte Gregor.

Käte wägte ihre Antwort sorgfältig ab. Hinter jeder Frage schien sie zu vermuten, dass deren Beantwortung sie auf die Streckbank bringen würde. „Max hatte später noch eine Unterredung mit Friedrich, soviel ich weiß. Ich nehme an, er hat mal wieder etwas verbockt. Friedrich, meine ich.“

„Kam das öfter vor?“

„Er fällt ständig auf windige Unternehmungen herein. Max hat manchmal damit gedroht, ihn rauszuwerfen.“ Sie bemerkte den Ausdruck von Spannung in Gregors Haltung. „Das hat nichts zu bedeuten. Max hat immerzu gedroht, um seinen Willen durchzusetzen. Trotzdem war die Familie ihm heilig, das muss man zu seiner Ehre sagen.“

„Wissen Sie, wie das Gespräch ausging?“

„Ich bin gleich zu Bett gegangen, weil ich Migräne hatte.“

„Und Ihr Mann?“

„Hermann hat nach dem Essen noch gearbeitet, glaube ich, und ist später wohl ausgegangen. Er kam erst zurück, als ich schon schlief.“

„Sie haben also Max Unger zum letzten Mal lebend gesehen, als er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog, habe ich das richtig verstanden?“

Die Erwähnung des Todes ließ sie zusammenzucken. Ihre säuerliche Miene drückte aus, dass sie es als Fauxpas empfand, derartige Dinge nicht in mindestens drei Lagen Samt zu wickeln, ehe sie ausgesprochen wurden. Sie antwortete mit einem knappen Nicken.

„Wann war das?“

„Irgendwann nach sieben. Elsa kann Ihnen darüber genauere Auskunft geben.“

„Und er benahm sich ganz normal? Keine Anzeichen, dass er, zum Beispiel, Angst vor irgendetwas hatte?“

„Max hatte keine Angst. Er hielt sich für allmächtig.“ Es gelang ihr nicht, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken, obwohl sie sich Mühe gab.

„Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Ich habe tief und fest geschlafen bis zum Morgen, als mein Mann mich weckte, um mir mitzuteilen, dass Max … dass er … getötet wurde.“

„Und dann?“

„Bin ich aufgestanden und habe dafür gesorgt, dass der Haushalt zur Ruhe kommt und die Dienstboten den Vorfall nicht als Ausrede benutzen, alles schleifen zu lassen.“

„Sie waren also nicht selbst im Arbeitszimmer?“

„Herr Kommissar, ich hege kein Verlangen, mich solch blutigen … Obszönitäten auszusetzen.“

„Noch eine Frage zum Schluss: Sagt Ihnen der Name Broscheck etwas?“

„Wer ist das – jemand aus dem Betrieb?“

„Oder das Pseudonym Thor?“

Sie schüttelte den Kopf. „Darf ich jetzt gehen? Ich habe furchtbare Migräne!“

„Vielen Dank, dass Sie so lange ausgehalten haben! Wenn Sie bitte Ihren Gatten hereinschicken würden …“

 

Hermann Unger war ein Mann von bulliger Statur, dem man ohne weiteres zutraute, dass er Hindernisse kraft seiner Masse aus dem Weg räumte. Dass es ein Fehler wäre, in ihm nur einen rohen Machtmenschen zu sehen, wurde Hendrik klar, als der Industrielle sich nicht dem Kommissar gegenüber in das hereinfallende Licht setzte, sondern stattdessen einen Sessel im Halbschatten benutzte. Offenbar besaß er einen sicheren Instinkt für die kleinen Vorteile, die im Leben entscheidend sein können. Hendrik skizzierte ihn als Stier.

„Wird auch Zeit“, knurrte der Industrielle. „Ich muss in der Fabrik nach dem Rechten sehen und unsere Geschäftspartner auf Veränderungen vorbereiten, und dann steht die Verlesung des Testaments an. Sie haben keine Ahnung, was alles zu tun ist!“

„Ich will einen viel beschäftigten Mann wie Sie nicht lange mit Lappalien wie einem Mord aufhalten“, erwiderte Gregor, aber bei Hermann Unger war Ironie verschwendet, denn er nickte nur, als habe er es nicht anders erwartet. „Zunächst einmal würde ich gern etwas über das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihren Brüdern wissen.“

„Max hat das Unternehmen geführt, ich stand ihm dabei zur Seite. Privat hat jeder sein eigenes Leben gelebt.“

„Sie übernehmen jetzt die Leitung?“

„Wenn das Testament nichts anderes sagt …“

„Sie und Ihr Bruder hatten unterschiedliche Ansichten über die Führung der Firma?“

„Er war ein Narr. Es ist ärgerlich, wenn man aus einem profitablen Unternehmen einen Konzern von Weltgeltung machen könnte, aber täglich mit ansehen muss, wie ein Dummkopf ohne Weitblick falsche Entscheidungen fällt. Max war immer übervorsichtig. Seine Expansionsbemühungen erschöpften sich in Fusionen mit gleichartigen Unternehmen.“

„Klingt doch ganz vernünftig.“

„Kleinkariertes Denken! Die Zeiten, in denen uns derartige Kapitalspekulationen weiterbrachten, sind passee. Vertikale Konzentration, das ist die Devise! Durch Beteiligungen einander ergänzende Unternehmen zusammenführen und so eine rationelle Verbundwirtschaft schaffen, da liegt die Zukunft! Der Zusammenschluss mit Stahlkonzernen beispielsweise, um sich eine zuverlässige Rohstoffbasis zu sichern und unabhängig zu werden. Jetzt, wo wir vor einer Inflation stehen, ist die ideale Zeit, um zu investieren. Aber Max konnte immer nur kurzsichtig denken.“

„Sie glauben an eine Inflation?“

Hermann Unger sah Gregor an, als sei der geistig minderbemittelt. „Das liegt doch wohl auf der Hand!“

„Ah. Nun … in Zukunft werden jedenfalls Sie den Kurs Ihrer Firma bestimmen.“

„Falls Sie damit andeuten wollen, ich hätte Max umgebracht, kann ich nur sagen: Ich entledige mich meiner Gegner auf weniger plumpe Weise. Es tut mir nicht Leid, dass er tot ist, ich werde Ihnen keine Trauer vorspielen. Trotzdem will ich, dass der Scheißkerl, der ihn auf dem Gewissen hat, an die Wand gestellt wird. In was für Zeiten leben wir, dass Bolschewisten von Tür zu Tür gehen und ungestraft Menschen abschlachten können?“

„Sie glauben, die Tat war politisch motiviert?“

„Was sonst? Diese Leute haben schon immer versucht, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen und unsere Arbeiter zum Streik aufzuhetzen. Der Bolschewismus –“

„Verstehe. Wie war das Verhältnis zwischen Ihren Brüdern?“

„Max konnte sich unaufhörlich über Friedrichs Dummheit ärgern. Monatelang trug er ihm nach, wenn der mal wieder auf Betrüger reingefallen war.“

„Und Sie? Haben Sie sich nicht geärgert?“

„Es war Friedrichs Geld. Außerdem wissen wir seit langem, dass er von Geschäften nichts versteht. Deswegen hält er’s ja auch mit den Sozialdemokraten. Max hätte ihm eine Abfindung zahlen und ihn rauswerfen sollen.“

Die Auskünfte schienen Gregor zu genügen, denn er wechselte das Thema. „Würden Sie uns bitte erzählen, was Sie gestern gemacht haben?“

„Tagsüber war ich im Werk, anschließend haben wir alle hier zu Abend gegessen. Danach habe ich mich zurückgezogen und über ein paar Zahlen gebrütet.“

„Und später?“

„Ging ich spazieren. Ich halte mich den ganzen Tag in Gebäuden auf, da brauche ich abends frische Luft.“

„Wann war das?“

„Ziemlich bald nach dem Abendessen.“

„Und wann kamen Sie zurück?“

„Gegen elf, schätze ich.“

„Ein langer Spaziergang.“

„Sie können darüber denken, wie Sie wollen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“

„Als Ihr Bruder den Esstisch verließ, war er da wie immer?“

„Sicher.“

„Ist Ihnen beim Weggehen oder Zurückkommen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Nein.“

„Wie haben Sie vom Tod Ihres Bruders erfahren?“

„Joseph überbrachte mir die Nachricht. Einer der wenigen zuverlässigen Diener. Er hat ihn gefunden und ganz richtig entschieden, zuerst zu mir zu kommen. Ich habe mich davon überzeugt, dass Max wirklich tot war, und dann veranlasst, dass die Polizei geholt wird.“

„Haben Sie irgendetwas im Arbeitszimmer verändert?“

„Nur den Puls gefühlt, sonst nichts. Ich dachte, es wäre wichtig, alles zu lassen, wie ich es vorgefunden habe.“

Das war ein erfreulicher Umstand und keineswegs selbstverständlich, wie Hendrik wusste. Hatte sich doch Gregor oft genug darüber aufgeregt, dass selbst die zuerst am Tatort eintreffenden Beamten erst einmal „Ordnung schafften“.

„Sagt Ihnen der Name Broscheck etwas?“

„Broscheck … Broscheck … kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiß nicht …“

„Oder Thor?“

„Nein, keine Ahnung. Hören Sie, ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen, dass der Vorfall mit der nötigen Diskretion behandelt wird. Die Firma hat einen Ruf zu verlieren, und ich möchte unsere Geschäftspartner nicht unnötig beunruhigen.“

„Das kann ich Ihnen leider nicht versprechen. Außerdem muss ich das Arbeitszimmer versiegeln lassen.“

„Aber ich brauche die Geschäftsunterlagen!“

„Tut mir Leid. In ein paar Tagen, wenn wir klarer sehen, lasse ich den Raum vielleicht wieder öffnen.“

 

Der Nächste, der hereinkam, war Friedrich Unger, der jüngste der drei Brüder. Er war ein Mann, den man eher auf einem Fest als in einer Fabrik anzutreffen erwartete. Oder in einer Künstlerkolonie, nach durchzechter Nacht. Seine Augen, unter langen Wimpern halb verborgen, erweckten den Eindruck, als sei er eben erst aufgestanden, und er bewegte sich mit der trägen Anmut einer Katze. Er war ein Charmeur – sein einnehmendes Lächeln hatte ihm sicher schon so manches Mal aus der Patsche geholfen – und, wie sich im Laufe des Gesprächs zeigte, überaus kultiviert. Ein nichtsnutziger Bohemien, gewiss, aber ein sympathischer, dem man deshalb jeden Unfug verzieh. Nach einiger Überlegung gab Hendrik seiner Karikatur das Aussehen eines Flamingos.

„Sie sind ziemlich jung“, meinte Gregor erstaunt.

Friedrich lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln. „Ich bin ein Nachzügler, wie mein Vater immer zu sagen pflegte. Nächsten Monat werde ich 46.“

„Darf ich fragen, was Ihre Position im Familienunternehmen ist?“

„Ich bin das Enfant terrible.“

„Würden Sie das bitte näher erklären?“

„Ich lebe in einer anderen Welt als meine Brüder. Sie haben Hermann ja kennen gelernt, er ist wie Max. Die Firma bedeutet ihm alles. An den Grenzen des Unternehmens endet sein Horizont. Mir ist das zu eng. Ich würde ersticken, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit ausbrechen würde. Ich verkehre in anderen Kreisen als meine liebe Familie, was mir hier nicht viel Beifall einträgt.“

„Was für Kreise?“

„Theater, Literatur, Musik. Wir leben praktisch Haus an Haus mit Leuten wie Lilli Lehmann und Alfred Kerr. Ein paar hundert Meter weiter, am Herthasee, wohnen die Mendelssohns, Bankiers, die Musikabende veranstalten und große Kunstliebhaber sind. Meine Brüder haben ständig mit ihnen zu tun, aber das Kulturbanausentum ist ihnen geblieben. Sie könnten keinen Monet von einem Grosz unterscheiden.“ Theatralisch warf er die Arme in die Luft. „Dabei ist es nicht so, dass ich meinerseits kein Interesse an der Welt der Industrie hätte. Aber meine Ideen waren meinen Brüdern immer zu … extravagant. Nun ja, Sie werden es ohnehin bald von irgendjemandem hören: Ich habe ein paar ungeschickte Investitionen getätigt und bin darüber mit Max aneinandergeraten. Er konnte ziemlich … nennen wir es mal: direkt sein, um nichts Schlechtes über die Toten zu sagen.“

„Wie ich hörte, hatten Sie am Abend eine Unterredung mit ihm?“

Friedrichs Miene verfinsterte sich. „Er meinte mal wieder, mich wie einen kleinen Jungen, der eine Fensterscheibe eingeworfen hat, zur Rede stellen zu müssen.“

„Wann genau war das?“

„Wann? Oh – acht Uhr, glaube ich!“

„Worum ging es?“

„Ich hatte einen Tipp für ein todsicheres Geschäft bekommen. Max hat mir das Geld dafür verweigert und mir wieder uralte Geschichten nachgetragen.“ Friedrich brachte ein jungenhaftes Grinsen zustande. „Er war zuerst ziemlich ungehalten, aber schließlich haben wir unseren Streit beigelegt. Einer meiner Vorschläge hat ihm imponiert, wissen Sie. Durch den Krieg herrscht überall Rohstoffmangel, und ich habe die Idee gehabt, einige unserer Produkte aus anderen Materialien als Stahl herzustellen.“

„Woraus?“

„Das müsste man im Einzelfall untersuchen, aber grundsätzlich ist die Idee doch genial, finden Sie nicht?“

Der junge Unger hatte etwas Gewinnendes, wenn er seinem Enthusiasmus nachgab, sein Charme konnte jedoch die mangelnde Substanz seiner Gedanken nur verdecken, solange er nicht ins Detail ging.

„Vermutlich haben Sie Ihren Bruder als Letzter aus der Familie lebend gesehen. In welcher Stimmung war er, als Sie ihn verließen?“

„Aufgeräumt. Er sprach davon, mich in Zukunft stärker in Entscheidungen einzubeziehen. Er hat wohl endlich meinen Wert erkannt.“ Beifallheischend sah er Gregor an, der sich eine Erwiderung verkniff.

„Wann war das, als Sie das Arbeitszimmer verließen?“

„Lassen Sie mich nachdenken … wir haben nicht lange geredet … vielleicht eine Viertelstunde. Also etwa Viertel nach acht.“

„Erzählen Sie uns, was Sie nach dem Gespräch gemacht haben.“

„Ich fürchte, wenn Sie auf ein Alibi aus sind, kann ich Ihnen keins bieten. Ich war müde und habe mich ins Bett gelegt.“

Gregor befragte auch Friedrich nach möglichen Feinden seines Bruders, den Broschecks und Thor, doch es kam nichts Neues dabei heraus.

 

Das Verhör der Angestellten verlief kurz. Elsa, das Hausmädchen, bestätigte den Ablauf des Abendessens und präzisierte die Zeitangaben. Danach hatte das Essen gegen sechs Uhr dreißig begonnen, und eine Dreiviertelstunde später war Max Unger in sein Arbeitszimmer gegangen. Nach dem Abwasch war Elsa todmüde ins Bett gefallen und hatte daher weder etwas gesehen noch gehört.

Auch Joseph, der Diener, hatte nichts bemerkt, was der Erwähnung wert gewesen wäre, und vervollständigte lediglich die Angaben, das Auffinden der Leiche betreffend. Danach hatte er Max Unger in der Frühe wecken wollen, als dieser nicht zur gewohnten Zeit erschien, und war, nachdem er ihn nicht im Schlafzimmer vorgefunden hatte, hinüber in den Seitentrakt gegangen, weil es öfters vorkam, dass der Industrielle dort über seinen Unterlagen einschlief. Der einzig interessante Aspekt in der Befragung betraf den großen Unbekannten.

„Herr Unger hatte, laut Terminkalender, am späten Abend eine Verabredung mit einem gewissen Thor“, kam Gregor auf diesen Punkt zu sprechen.

„Dazu kann ich nichts sagen. Der Nebentrakt hat einen eigenen Eingang, Besuchern öffnete der gnädige Herr dort immer selbst.“

„Gewiss. Die Person, mit der Herr Unger verabredet war, scheint allerdings schon einmal hier gewesen zu sein, und zwar am …“

„12. Februar um acht Uhr abends“, half Hendrik aus.

Joseph dachte nach. „Am 12. …“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Jetzt weiß ich wieder! Das war der Tag, an dem mein Schwager aus der Gefangenschaft kam. Ja, ich erinnere mich! Es war ein Offizier, seinem ganzen Gebaren nach, obgleich er Zivil trug. Ich habe ihn nie zuvor gesehen, er stellte sich auch nicht mit Namen vor. Irgendwie benahm er sich ein bisschen heimlichtuerisch, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.“

„Können Sie den Mann beschreiben?“

„Nun … er war nicht besonders groß und hatte so ein kleines Bärtchen auf der Oberlippe. Und er trug einen grauen Cutaway, wenn ich mich recht entsinne, der hinten unter dem Kragen geflickt war.“

Mit dieser mageren Ausbeute musste sich der Kommissar schließlich zufrieden geben und Joseph entlassen.

 

Gregor hatte gerade den Mund geöffnet, um einen Kommentar zum bisher Gehörten abzugeben, als die Tür aufgerissen wurde und ein Wirbelsturm von einem Meter sechzig den Raum erfüllte. Sie war eines jener zarten Persönchen, die den Eindruck erweckten, beim kleinsten Windhauch davongepustet zu werden, tatsächlich jedoch in puncto Zähigkeit jedem Matrosen zeigen konnten, was eine Harke ist. Schon von Natur aus schmächtig, hatten die vergangenen Hungerjahre ihre Spuren in Form von bleichen Wangen und einer dürren Taille hinterlassen. Umso grotesker wirkten ihr modebewusstes Äußeres und ihr offenkundiger Mangel an gesundem Farbempfinden. Hendrik stöhnte innerlich auf. Eine leuchtend grüne Bluse biss sich mit einem gemusterten Rock undefinierbarer Farbe und einem beigen Gürtel. Außerdem hatte die Frau ein Faible für Jugendstilschmuck, der zu nichts von alledem passte. Ihre Augen allerdings waren von einem hinreißenden Blau und ihr Schmollmund einfach entzückend!

„Warum dauert das alles so lange?“, schimpfte sie. „Können Sie sich nicht vorstellen, wie belastend diese Warterei für uns ist?“

„Beruhigen Sie sich, Fräulein Unger –“

„Escher, Diana Escher, nicht Unger!“

Hendrik, der gehofft hatte, von dieser Naturkatastrophe verschont zu bleiben, sah sich getäuscht, als die junge Dame sich abrupt zu ihm umwandte. „Und wer sind Sie?“, fauchte sie.

Unter ihrem wenig schmeichelhaften Blick, dem weder die zerknitterte Kleidung noch die wirren Haare zu entgehen schienen, verspürte Hendrik das irrationale Bedürfnis nachzuprüfen, ob er auch vollständig bekleidet war. Es kostete ihn seine ganze Willenskraft, gegen den Impuls anzukämpfen, eine Krawatte zurechtzurücken, die er gar nicht trug. „Wenn Sie eine Antwort wollen, sollten Sie vielleicht mal für drei Sekunden still sein“, erwiderte er.

„Wie können Sie –“

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meine Fragen beantworten würden“, unterbrach Gregor scharf. Er wartete, bis sie sich setzte, und fuhr dann fort. „Fangen wir damit an, dass Sie uns erklären, in welcher verwandtschaftlichen Beziehung Sie zu den Ungers stehen.“

„Meine Mutter war die Schwester von Max Ungers Frau. Die jüngere Schwester. Sie ist … voriges Jahr gestorben. Bis dahin hatten wir keinen Kontakt zur Familie meiner Tante. Die Ungers haben nie verwunden, dass meine Mutter einen einfachen Rechtsanwalt geheiratet hat. Mein Vater ist im Krieg gefallen, und nach dem Tod meiner Mutter hat Tante Käte mich zu sich geholt, was ich ihr hoch anrechne.“

„Da können Sie bei der gegenwärtigen Wirtschaftslage allerdings von Glück reden.“

„Es ist nur vorübergehend. Ich habe nicht vor, ewig hierzubleiben.“

Hendrik machte sich im Kopf eine Notiz, dass auch sie eine Menge Konfliktstoff vor ihnen verbarg.

„Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Achtundzwanzig.“

„Haben Sie keine anderen Verwandten, zu denen Sie ziehen könnten?“

„Nur meine Schwester Marianne, aber die lebt in London. Sie hat einen Engländer geheiratet, noch vor dem Krieg.“

Stichpunktartig schrieb Hendrik die Antworten mit. Zwischen der Niederschrift strichelte er immer wieder an einer Karikatur von der jungen Frau, konnte sich aber für kein Gesicht entscheiden.

„Als Außenstehende können Sie uns womöglich ein paar objektivere Auskünfte über die Familie Unger geben. Fangen wir mit Max Ungers Frau an; Ihre Tante sagte, sie sei an einer Krankheit gestorben?“

Hendrik erkannte allmählich ein System hinter den Fragen seines Bruders. Zweifelhafte Aussagen kommentierte er nicht, überprüfte ihren Wahrheitsgehalt jedoch durch Rückfragen bei anderen Verdächtigen. Interessant!

„Die Ärzte nannten es so. Ich würde sagen: an gebrochenem Herzen. Onkel Max war ein Tyrann. Seine Frau war unfruchtbar, das hat er sie zeit seines Lebens fühlen lassen. So hat es mir jedenfalls meine Mutter erzählt. Er wollte immer einen Sohn, einen Thronfolger. Die ständige Quälerei hat sie zerfressen.“

„Ich würde gern von Ihnen hören, wie der gestrige Tag verlaufen ist.“

Diana schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, was sie mit einem Mal in ein verletzbares junges Mädchen verwandelte. „Beim Frühstück gab es den üblichen Streit. Onkel Hermann versuchte, Onkel Max zu irgendeinem Geschäft zu bewegen, was der halsstarrig ablehnte. Das Übliche. Dann kam Friedrich mit einem eigenen Vorschlag, den beide ignorierten, was ihn ziemlich wütend machte. Ebenfalls das Übliche. Ich war froh, als ich aus dem Haus war. Ich bin zur Universität gegangen –“

„Sie studieren? Welches Fach?“

„Physik.“

„Physik?“, platzte es aus Gregor heraus.

Auch Hendrik war überrascht. Sie wirkte nicht wie jemand, der den Dingen auf den Grund gehen wollte.

„Haben Sie etwas dagegen?“

„Nun ja, ich –“

„Glauben Sie etwa auch, der Platz einer Frau sei in der Küche?“

„Ich –“

„Es hat mich viel gekostet, dahin zu gelangen, wo ich jetzt bin; ich muss mir Ihre Herablassung nicht gefallen lassen!“

„Ich habe doch überhaupt nicht –“

„Tut mir Leid“, sagte sie unvermittelt. „Ich habe meinen Onkel nicht gemocht, aber ich bin mit den Nerven runter.“

Sie war sprunghaft wie eine Heuschrecke und brachte Gregor damit aus dem Konzept. „Erzählen Sie weiter vom gestrigen Tag“, fing er sich schließlich. „Wann kamen Sie nach Hause?“

„Gegen fünf. Ich habe nicht mit den anderen zu Abend gegessen, was mir sicher wieder Minuspunkte eingetragen hat. Wie sehr man sich auch auf die Nerven geht, eine Familie hat gefälligst den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Ich habe mich umgezogen, weil ich ins Theater wollte.“

„Allein?“

„Mit Herrn Leibold, Alexander Leibold. Er ist Assistent von Professor Planck. Wir wollten uns über meine berufliche Zukunft unterhalten, und weil er meine Schwäche für Musik und Theater kennt, hat er mich zu Max Reinhardts Hamlet eingeladen. Das Stück begann um sieben, falls es Sie interessiert. Daher bin ich erst um Mitternacht nach Hause gekommen – ein weiterer Minuspunkt, den ich in den nächsten Wochen mit Sicherheit noch ein paarmal aufs Brot geschmiert bekomme. Sie verstehen schon: Eine unverheiratete Frau treibt sich nicht nachts auf den Straßen herum oder so ähnlich. Eigentlich wollte Herr Leibold sich Das Cabinet des Dr. Caligari im Kino ansehen, aber ich war schon in der Premiere.“ Sie bemerkte, wie Hendrik das Gesicht verzog, und stürzte sich darauf wie ein Geier auf seine Beute. „Mögen Sie den Film nicht?“

„Ich kann nicht viel damit anfangen“, sagte er vage, in der Hoffnung, einer weiteren Konfrontation zu entgehen. Offenbar kannte er sie da schlecht.

„Die wundervolle expressionistische Traumwelt, die suggestive Bildkraft …“

„Ist mir zu künstlich.“

„Sie sind mehr für Kohlhiesels Töchter, was?“

Hendrik grinste. Der Schlagabtausch mit ihr begann, ihm Spaß zu machen. Sie parierte mit klugen Spitzen. Plötzlich wusste er, was für ein Gesicht er ihrer Karikatur geben musste, und mit sicherem Strich entwarf er den Kopf eines Eichhörnchens.

„Dies ist eine Morduntersuchung, kein Zirkus“, sagte Gregor verärgert. „Halten wir einfach fest, dass Sie kulturbegeistert sind.“

„Ich komme aus Baden-Baden, da ist der Hund begraben. Ich genieße das kulturelle Angebot hier. Sooft ich kann, besuche ich ein Theater oder ein Konzert.“

„Als Sie nach Hause kamen – haben Sie da etwas Ungewöhnliches bemerkt? Stand beispielsweise die Tür zum Nebentrakt offen?“

Zwei Falten traten zwischen ihre Augenbrauen, als sie sich zu erinnern suchte. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. „Nein, mir ist nichts aufgefallen.“

„Fahren Sie fort!“

„Es haben schon alle geschlafen, als ich zurückkam, glaube ich. Ich habe mich ebenfalls hingelegt, bis ich heute Morgen von der Aufregung über Onkel Max’ Tod wach wurde.“

„Die ständigen Streitigkeiten zwischen den Brüdern … würden Sie sagen, dass die ernsthafter Natur waren?“

„Oh ja. Vor allen Dingen zwischen Onkel Hermann und Onkel Max. Die setzten ihre Meinungsverschiedenheiten auch im Werk fort. Und Friedrich ist auf jeden windigen Betrüger zwischen hier und Moskau reingefallen, das war ein ständiger Quell des Ärgers.“

„Mir fällt auf, dass Sie ihn nicht Onkel nennen.“

„Er ist mehr wie ein junger Bruder für mich. Obwohl er siebzehn Jahre älter ist.“

„Er behauptet, Max Unger hätte nach der gestrigen Unterredung seinen Wert eingesehen.“

Diana lachte. „Das klingt ganz nach ihm. Er wollte immer von seinen Brüdern anerkannt werden. Ich wage zu behaupten, er glaubt selber daran. Friedrich lebt in einer Traumwelt.“

„Was meinen Sie, werden Sie im Testament bedacht?“

„Kann ich mir nicht vorstellen. Abgesehen von unserer gegenseitigen Abneigung war Onkel Max nicht der Typ Mensch, der seine Verwandten beschenkt. Seine Sorgen drehten sich einzig und allein um das Unternehmen.“

„Ärgert Sie das?“

„Ist mir egal. Es wäre zwar gelogen zu behaupten, dass ich reich bin, aber eine kleine Rücklage besitze ich schon. Was Onkel Max und Onkel Hermann ziemlich gewurmt hat, weil sie dadurch außerstande waren, mir vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe.“

„Haben Sie den Namen Broscheck schon mal gehört? Ein Arbeiter Ihres Onkels.“

„Nein. Was ist mit ihm? Ist er verdächtig?“

„Wie steht es mit Thor?“

„Sagt mir auch nichts.“

„Dann haben Sie vielen Dank, das wäre vorerst alles.“

Sie machte keine Anstalten, sich zu erheben. „Wie ich sehe, sind Sie überlastet“, sagte sie. „Ich … möchte Sie unterstützen. Erlauben Sie mir, Ihnen bei Ihrer Untersuchung behilflich zu sein!“

„Sehr freundlich, aber diese Arbeit überlassen Sie besser der Polizei.“

„Soll ich mich etwa zurücklehnen und Däumchen drehen, während ein Mörder meine Familie bedroht? Auf keinen Fall!“

„Dann will ich mich deutlicher ausdrücken: Ich werde keiner Tatverdächtigen erlauben, die Ermittlungen zu stören.“

„Ha!“, rief sie und sprang auf. „Sie wollen mir Befehle erteilen?“

„Allerdings! Ich verbiete Ihnen, sich einzumischen!“

„Hindern Sie mich daran!“, erwiderte sie und marschierte erhobenen Kopfes hinaus.

„Bande!“, sagte Gregor verärgert. „Sie lügen alle.“

Amüsiert erhob Hendrik sich aus dem Sessel. „Und das wundert dich? Um der Polizei die Wahrheit zu sagen, müssten die Leute sie sich erst einmal selbst eingestehen. Deine Fragen stören die vielen kleinen Lebenslügen, mit denen Menschen sich nun einmal einrichten.“

„Woher weiß sie, dass ich überlastet bin?“

„Meiner unmaßgeblichen Meinung nach war das ein reichlich kühner Schluss aus der Beobachtung deiner Ringe unter den Augen und dem falsch zugeknöpften Hemd.“

Hastig korrigierte Gregor sein Erscheinungsbild. „Dass du diesem verzogenen Biest gegenüber so ruhig geblieben bist, erstaunt mich“, sagte er.

„Ich halte mich bei solchen Gelegenheiten an Epiktet, der uns rät, die Dinge hinzunehmen, die zu ändern nicht in unserer Macht steht.“

3

Noah Rosenthal war Bibliothekar der Universitätsbibliothek, solange Hendrik denken konnte; eine Institution. Sein Gesicht erinnerte ihn immer an ein Stück Borke, das er als Kind am Strand der Ostsee gefunden hatte, wettergegerbt, zerfurcht und voller Geschichten.

„Was macht dein Rad?“, erkundigte sich Hendrik, kaum dass sie sich begrüßt hatten.

Noahs Fahrrad war stadtbekannt. Nicht nur, dass der alte Mann mit seinen 72 Jahren immer noch jeden Morgen damit zur Arbeit fuhr, er bastelte auch leidenschaftlich gern daran herum. Jeder an der Universität kannte das Brennabor-Rad mit den extravaganten Accessoires.

„Ich hab’ es neu lackiert, mit schwarz-rot-goldenen Dekorlinien am Rahmen, sieht richtig gut aus!“

Eine Weile fachsimpelten sie über das Rad, dann hielt Hendrik die gestrige Abendausgabe der Freiheit hoch. Professor Nicolai des Lehrens unwürdig erklärt, hieß es da. „Schon gelesen?“

Noah winkte ab. „Wo es keine Streitkultur gibt, herrscht Willkür.“

Dem konnte Hendrik nur zustimmen. Vermutlich hätte es ihn nicht überraschen sollen, dennoch war es ein Schock, dass der Senat der Universität einstimmig gegen Professor Nicolai entschieden hatte. Und dabei hatten diese Leute noch die Stirn gehabt zu behaupten, das Urteil stünde in keinem Zusammenhang mit der pazifistischen Haltung des Professors! Wie konnte der Senat nur derart seine Befugnisse überschreiten! Wie konnte er dem Druck des studentischen Pöbels weichen, der die Vorlesungen Nicolais durch Randalieren unmöglich gemacht hatte! Ja, Noah hatte es auf den Punkt gebracht: Es gab in Deutschland keine Streitkultur.

Und die Sache mit Professor Nicolai war nicht der einzige Vorfall dieser Art. Am Samstagabend, als die Kapelle im „Hotel Adlon“ das Deutschlandlied anstimmte und die Angehörigen der französischen Militärmission naturgemäß sitzen blieben, während die Deutschen sich erhoben, hatte der dort anwesende Prinz Joachim-Albrecht von Preußen die Franzosen angepöbelt, um sie anschließend unter tatkräftiger Mithilfe weiterer Gäste mit Gläsern und Vasen zu bewerfen. Besonders unerträglich war die Tatsache, dass der Prinz seine Tat inzwischen bestritt. Die Feigheit derer, die sich anderen moralisch überlegen fühlten und dabei nicht einmal das Rückgrat besaßen, die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen, machte Hendrik krank.

Schließlich erinnerte er sich daran, weshalb er eigentlich hier war. „Ich brauche dringend diese Bücher“, meinte er und überreichte Noah eine Liste. „Kannst du sie mir bis nach meiner Vorlesung heraussuchen?“

„Lass’ mal sehen … Nibelungenlied, hm-hm … Okkultismus, mpf … du hast ein paar merkwürdige Bücher dabei.“ Das Fragezeichen, wenn auch nicht ausgesprochen, war nicht zu überhören.

„Ich habe mich hinreißen lassen, Nachforschungen für meinen Bruder zu betreiben.“

„Polizearbeit, so …“

Hendrik erinnerte sich, dass Noah eine weit heftigere Abneigung gegen kriminalistische Untersuchungen hatte als er selbst. Aufgrund verschiedener Äußerungen vermutete er den Grund dafür in der ungarischen Vergangenheit des alten Mannes, aber er hatte nie nachgehakt. Wenn der Bibliothekar nicht von sich aus darüber reden wollte, ging es ihn auch nichts an.

Noah war ein wandelndes Lexikon, er hatte praktisch den gesamten Bestand der Bibliothek im Kopf, teilweise sogar mit Signaturen. Während Hendrik ihm fasziniert zusah, wie er aus dem Gedächtnis Zahlencodes hinter die Buchtitel notierte und andere zielstrebig aus der Kartei fischte, kam ihm ein Gedanke. Viele Studenten waren letztes Jahr für die Freikorps geworben worden und hatten engen Kontakt zu rechts gerichteten Militärkreisen. Vielleicht konnte man durch sie mehr über jenen ominösen Thor herausbekommen! „Kennst du Studenten, die bei den Freikorps sind?“

„Frag lieber, wer nicht dabei ist.“

„Irgendjemand, der sich durch besonderen Fanatismus auszeichnet?“

„Ludwig Sebald.“

Hendrik war nicht überrascht. Noah kannte nicht nur jedes Buch, sondern vermutlich auch jeden Studenten im Haus. „Danke! Du hast mir sehr geholfen!“

Plötzlich hatte Hendrik es eilig. Er verließ das Bibliotheksgebäude in der Dorotheenstraße und eilte zur Universität, um zu sehen, ob er nicht Ludwig Sebald oder zumindest dessen Bruder ausfindig machen konnte. Er benutzte den Eingang durch den Gartenhof und lächelte einer Gruppe Studentinnen zu, die ihm entgegenkam. Die vielen Frauen, die seit Kriegsbeginn hier studierten, waren ein erfreulicher Anblick.

Weniger erfreulich hingegen war das Flugblatt, das ihm jemand in die Hand drückte. Es begrüßte die Entscheidung über Professor Nicolai, begnügte sich jedoch nicht mit Zustimmung, sondern erging sich in weitschweifigen Betrachtungen über den Niedergang des Universitätswesens, gewürzt mit einer Suada antisemitischer Pöbeleien. Hendrik zerknüllte das Papier und schleuderte es in den nächsten Papierkorb. Anscheinend war die Stimmung reif dafür; erst heute Morgen hatten die Zeitungen von antisemitischen Ausschreitungen in Bayern berichtet.

Durch die südliche Eingangshalle ging Hendrik in den Ehrenhof. Er hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie er es anstellen musste, Leute zum Reden zu bringen, aber es juckte ihn in den Fingern, die Fragetechnik seines Bruders anzuwenden.

Wie erwartet traf er die Sebalds am Helmholtz-Denkmal vor dem Hauptportal. Sie waren in das Flugblatt vertieft und lasen es mit offensichtlicher Genugtuung. Ludwig Sebald war ein Kerl wie ein Sturmpanzerwagen, der sich gebärdete, als sei jede Blähung von ihm ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Sein Bruder Leander war das genaue Gegenteil. Von zartem Körperbau, mit sanfter Stimme ausgestattet, entsprach er so gar nicht dem Bild eines Freikorpsmannes.

Hendrik gesellte sich zu den beiden. „Guten Morgen“, sagte er.

Die Brüder erwiderten seinen Gruß, Leander arglos, Ludwig mit spürbarem Ressentiment.

„Die Wellen schlagen ganz schön hoch“, meinte Hendrik und deutete auf das Flugblatt.

Sofort verschlossen sich die Mienen der Studenten. „Wundert Sie das?“

Aha, kunstvolle Umwege waren also die falsche Taktik! „Soviel ich weiß, gehören Sie zu den Freikorps“, sagte Hendrik. Da Leander zu Boden blickte, wandte er ihm seine Aufmerksamkeit zu. „Entspricht das den Tatsachen?“

Ludwig drängte sich dazwischen. „Was geht Sie das an?“

„Ich suche nach jemandem, einem Mitglied der Nationalen Vereinigung.“

„Versuchen Sie es beim Einwohnermeldeamt.“

Verpfuscht! Irgendwie hatte sein Bruder bei der Befragung eine bessere Figur gemacht. Hendrik schob seine Brille auf die Nasenwurzel. Vielleicht sollte er eine schärfere Gangart einschlagen. Ein bisschen provozieren. „Naja, ich kann mir ohnehin nicht vorstellen, dass Sie dieses Gesindel näher kennen.“

„Wie können Sie es wagen, so über Ehrenmänner zu urteilen, die ihr Leben dem Dienst am Vaterland verschrieben haben?“

„Ehrenmänner – wie jemand, der sich Thor nennt?“

„Habe den Namen nie gehört.“

„Tatsächlich? Also entweder Sie kennen diese Leute wirklich nicht, dann entbehrt Ihre moralische Entrüstung jeder Grundlage. Oder Sie kennen sie, dann gibt es keinen Grund, ihre Namen zu verheimlichen, jedenfalls nicht, wenn es sich wirklich um Ehrenmänner handelt. Logik, erstes Semester.“

Da Ludwig schwieg, wandte Hendrik sich erneut Leander zu. Er war das schwächere Glied in der Kette, bei ihm musste er ansetzen. „Ich hielt Sie immer für jemanden mit intaktem Unrechtsbewusstsein. Fangen Sie jetzt an, Verbrecher zu decken?“

„Diese Beleidigung nehmen Sie zurück!“, fauchte Ludwig.

„Eine Vereinigung, die zu dem Zweck gegründet wurde, die Republik zu stürzen, ist ihrer Natur nach verbrecherisch, mit welch schönen Worten sie ihr Ziel auch immer zu verschleiern sucht.“

„Republik!“ Ludwig spie das Wort aus wie ein verdorbenes Stück Fleisch. „Diese so genannte Republik besteht aus lauter verjüdelten Bürgern, die den ganzen Tag nur an ihren Profit denken. Für diese Leute haben wir nicht im Krieg gekämpft!“

„Lassen wir doch den Krieg aus dem Spiel.“

„Das Thema ist Ihnen unangenehm, ja? Wundert mich nicht! Leute wie Sie werden nie begreifen, dass ein Mann bereit ist, sein Leben für seine Ideale zu opfern.“

„Wenn es sich für ein Ziel nicht zu leben lohnt, lohnt es sich auch nicht, dafür zu sterben. – Und Sie? Sind Sie derselben Meinung wie Ihr Bruder?“

Leander studierte die ornamentale Mosaikbepflasterung, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt.

Wieder antwortete Ludwig an seiner Stelle. „Wir haben genug Fragen beantwortet.“

„Lassen Sie sich immer von Ihrem Bruder bevormunden?“

„Ich kann Ihnen auch nichts anderes sagen“, entgegnete Leander, aber seine Lippen zitterten.

Irgendwie benahm er sich seltsam. So, als stünde er unter einer großen Belastung. Wusste Leander Sebald etwas? Hatte er vielleicht gar mit dem Mord zu tun? „Wie Sie vermutlich in den Abendzeitungen lesen werden, ist Max Unger gestern Nacht ermordet worden“, sagte Hendrik. „Es besteht der dringende Verdacht, dass eben jener Thor, den Sie angeblich nicht kennen, seine Hände dabei im Spiel hat.“

„Lüge!“, schrie Ludwig.

Leander erbleichte.

„Dazu sollte sich Thor wohl am besten selbst äußern.“

Ludwigs Gesicht war weiß vor Wut. „Bewerfen Sie ruhig weiter ehrenwerte Männer mit Schmutz – solange Sie noch können!“

„Wie meinen Sie das?“

„Das werden Sie schon sehen. Warten Sie nur ab! Leute wie Sie sind bald weg vom Fenster“, sagte der Student und zerrte seinen Bruder ins Innere der Universität.

4

Diana starrte auf die Klebemarke, die die Tür zum Arbeitszimmer ihres toten Onkels versiegelte, und ließ das Verhör vor ihrem geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Der Kommissar hatte einen einigermaßen kompetenten Eindruck gemacht, aber sein protokollierender Kollege war irgendwie … undurchschaubar gewesen. Ein ungehobelter Klotz, der es nicht einmal für nötig befunden hatte, sich vorzustellen! Im Grunde war der Kommissar auch nicht besser. Er würde noch begreifen, dass man ihr nicht einfach etwas verbot! Sie dachte nicht daran, die Hände in den Schoß zu legen, während der Mörder ihres Onkels frei herumlief!

Entschlossen eilte sie in den Salon, wo über die Vernehmung gestritten wurde. Hermann war eben dabei, sich einen Mantel überzuziehen, um in der Fabrik die Zügel in die Hand zu nehmen, und schimpfte über die Impertinenz des Kommissars. Käte machte einen schwachen Versuch, ihren Mann zu besänftigen, und wurde durch einen Knurrlaut zum Schweigen gebracht. Hin und wieder warf Friedrich eine Bemerkung ein, die wie immer wenig zur Sache beitrug und eher störte als half. Niemand sprach von dem Toten oder der Tatsache, dass in diesem Haus ein Mord geschehen war.

„Mir ist ein Gedanke gekommen“, sagte Diana.

„Junge Dame, ich unterhalte mich mit deiner Tante!“, bellte Hermann. „Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist!“

Diana schnappte nach Luft, zwang ihren Zorn jedoch nieder, bis ihr Onkel geruhte, ihr auffordernd zuzunicken. „Ich bin der Meinung, wir sollten die Dinge selbst in die Hand nehmen“, erklärte sie dann. „Der Kommissar kennt die Verhältnisse hier nicht so gut wie wir, außerdem vertraut ihm keiner von euch. Wir sollten uns zusammensetzen und über gestern reden, damit die schreckliche Tat so schnell wie möglich aufgeklärt wird.“

„Dir fehlt wirklich jegliches Gefühl dafür, welches Verhalten einer jungen Dame angemessen ist. Daran sind deine Eltern schuld, die es versäumt haben, dir rechtzeitig die nötige Erziehung zukommen zu lassen. Wenigstens deine Mutter hätte es besser wissen sollen. Aber was kann man von einer Frau schon erwarten, die unter ihrem Stand heiratet?“

Diana hatte die ständigen Sticheleien gegen ihre Eltern satt. Bisher hatte sie sich Mühe gegeben, derartige Bemerkungen um des lieben Friedens willen zu ignorieren, aber genug war genug. „Mein Vater war ein wunderbarer Mann und ein hervorragender Rechtsanwalt und kein Schmarotzer an der Gesellschaft so wie ihr!“

Friedrich stahl sich unauffällig davon und zwinkerte ihr dabei zu, als wollte er sagen: eins zu null für dich. Käte fasste sich mit Leichenbittermiene an die Stirn und signalisierte das Herannahen eines Migräneanfalls.

Hermann betrachtete seine Nichte von oben bis unten. „Deine ausfallenden Bemerkungen sind der beste Beweis für den plebejischen Einfluss in deinem Leben. Ein wenig Dankbarkeit dafür, dass wir dich bei uns aufgenommen haben, wäre wohl angebrachter. Dein Verhalten beweist mir, dass es höchste Zeit ist, über deine künftige Rolle in diesem Haus nachzudenken. Zumal du ja entschlossen scheinst, dich nicht zu verheiraten, wie es für eine Frau mit einem Funken Selbstachtung selbstverständlich wäre.“

„Ich bin an keiner künftigen Rolle in diesem Haus interessiert!“

„Darüber werden wir uns heute Abend unterhalten. Bis dahin erwarte ich von dir, dass du das alberne Detektivspiel lässt und dich verhältst, wie es dir zukommt!“ Er nahm seine Ledertasche und begab sich zur Tür.

Diana verschränkte die Arme vor der Brust, um ihr Zittern unter Kontrolle zu bekommen. „Ich werde die Wahrheit herausfinden“, sagte sie.

„Ich habe keine Zeit, mich mit Albernheiten abzugeben, ich muss ins Werk.“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen und ging hinaus.

„Kind, reg ihn doch nicht immer so auf“, meinte Käte begütigend.

„Er regt mich auf, nicht ich ihn!“

„Es ist viel leichter, wenn du ihm nicht widersprichst.“

„Warum sollte ich zu einer ungerechten Bemerkung auch noch nicken? Nur damit Onkel Hermann weiter von seiner Unfehlbarkeit überzeugt ist? Meine Mutter und mein Vater waren in der Tat anders, sie haben mich weder zu Verlogenheit noch zu Arroganz erzogen.“ Sie blinzelte wütend eine Träne fort, die sich in ihr Auge stahl.

Käte bemerkte es und machte eine unwillkürliche Bewegung, als wolle sie ihre Nichte in die Arme nehmen, unterließ es dann aber. „Wenn du unbedingt Fragen stellen musst, dann frag eben mich.“

Natürlich war dieses Angebot nur als Trost gemeint, aber was spielte das für eine Rolle? Diana packte die Gelegenheit beim Schopf. „Was hast du dem Kommissar erzählt?“

„Er wollte alles über gestern wissen. Ich habe ihm gesagt, dass nichts Außergewöhnliches vorgefallen ist.“

„Und – ist das die Wahrheit?“

„Natürlich! Also weißt du!“

„Schon gut. Und weiter?“

„Was den Abend betrifft, konnte ich auch kaum helfen. Max hat sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und gearbeitet.“

„Hast du dem Kommissar erzählt, dass er Friedrich zu sich zitiert hat, um ihm die Leviten zu lesen?“

„Ich hätte es gern vermieden, vor Fremden schmutzige Wäsche zu waschen, aber das ganze Haus weiß ja davon. Es schien mir besser, die Dinge ins rechte Lot zu rücken, statt dass die Polizei alles verdreht von Elsa oder Joseph erfährt.“

„War Friedrich eigentlich wütend, als er von dem Gespräch zurückkam?“

„Das weiß ich wirklich nicht. Ich bin ihm an diesem Abend nicht mehr begegnet.“

„Was ist mit dir und Onkel Hermann? Wann habt ihr Onkel Max zum letzten Mal gesehen?“

Käte schloss gequält die Augen und rieb sich die Schläfen. „Musst du so darüber reden?“

„Wie denn?“

„Na, so … direkt. Versuch doch wenigstens, ein bisschen Takt aufzubringen.“

Diana verkniff sich eine Erwiderung. Hätte ihre Tante dem Toten nahegestanden, wäre ihre Haltung vielleicht nachvollziehbar gewesen. So jedoch war die Bemerkung lediglich Ausdruck einer antiquierten Vorstellung von Schicklichkeit. „Also?“

„Keiner von uns hat ihn nach dem Abendessen noch zu Gesicht bekommen.“ Käte erhob sich. „Jetzt muss ich aber los, es gibt so viele Vorbereitungen zu treffen: die Beerdigung, die Trauerfeier …“ Fluchtartig verließ sie das Zimmer.

Diana blickte ihr sinnend nach. Warum hatte ihre Tante bei der letzten Antwort den Blickkontakt vermieden? Verheimlichte sie etwas? Ganz bestimmt. Aber was?

Sie schlug mit den Fingern einen Takt auf der Tischkante. Where’s that Tiger?, summte sie in Gedanken. Hold that Tiger! Sie würde schon herausfinden, wer für das Verbrechen an ihrem Onkel verantwortlich war!

Die Geräusche des Unger’schen Anwesens wirkten seltsam gedämpft, fand sie. Seit der Tod eingezogen war, hatte sich die bedrückende Atmosphäre noch verstärkt. Eine Art Atemnot lag über allem, als hielte das Haus die Luft an, bis das Unwetter weiterzog. Als liefere das rigorose Beharren auf Etikette eine Garantie dafür, dass die Normalität zurückkehren würde. Diana war fest entschlossen, von hier fortzugehen. Nicht einen Tag länger als nötig würde sie Hermanns Bevormundung ertragen.

Aber würde sie das auch schaffen? Konnte sie die Unmenge an Aufgaben bewältigen, die auf sie zukam, wenn sie ihr Leben in die eigenen Hände nahm: eine Unterkunft besorgen, Überblick über ihre finanziellen Verhältnisse gewinnen, Geld verdienen – Dinge, über die sie bislang nie hatte nachdenken müssen?

Mit einem Mal kam sie sich wie ein kleines Kind vor, das in der Wildnis ausgesetzt wurde. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich versucht, sich bei ihrem Onkel zu entschuldigen, nur um weiter in der Sicherheit der Familie leben zu dürfen. Dann gewann der Zorn die Oberhand. Wovor fürchtete sie sich? Hatte sie nicht oft genug bewiesen, dass sie selbstständig für sich sorgen konnte? Sie war nicht reich, aber sie besaß genug, um einen guten Start zu haben. Andere Frauen mussten auch zur Untermiete wohnen und in den Semesterferien als Sekretärin oder Kindermädchen arbeiten. Irgendwie würde sie es schon schaffen! Du kannst alles erreichen, was du willst, hatte ihr Vater immer gesagt.

Der Gedanke an ihren Vater war ein Fehler; sie spürte, wie ein viel zu lange unterdrückter Schmerz sich Durchbruch verschaffen wollte. Sie vermisste ihren Vater schrecklich! Sie vermisste sein Lachen, seine Zuversicht, die Gewissheit, dass sie sämtliche Sorgen bei ihm abladen konnte, weil er schon alles richten würde. Verstohlen wischte sie sich eine Träne fort. Sie konnte sich keine Trauer leisten, gerade jetzt nicht!

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Friedrich kam hereingeschlichen. Er sah deprimiert aus. „Kann ich mit dir reden?“

Sie nickte. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr seine Sorgen anvertraute. Seit jeher waren sie Verbündete gegen den Despotismus von Max und Hermann gewesen, darüber hinaus verband sie ein gemeinsames Interesse an Kunst und Theater. Von ihren Onkeln war Friedrich der einzige, den sie leiden mochte. „Was ist los?“

„Ich fühle mich furchtbar. Wegen gestern. Max war … schrecklich. Aber ich kann doch einem Toten nicht auch noch einen Tritt geben!“

„Vor mir musst du nichts beschönigen. Ich weiß, wie er war.“

Einer weiteren Aufforderung bedurfte es nicht, schon sprudelte es aus ihm heraus: „Ich hatte einen todsicheren Tipp für eine Investition, aber Max hat mir gar nicht zugehört. Er hat mich beschimpft und verhöhnt. Ich weiß selbst, dass ich in der Vergangenheit Fehler gemacht habe, aber musste er mir das immer und immer wieder vorhalten?“ Sein Gesicht nahm einen weinerlichen Ausdruck an. „Er hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er mich verachtet.“

Diana seufzte innerlich. Sosehr sie Friedrich mochte und seine Nöte als Jüngster, der gegen seine titanischen Brüder nicht ankam, verstand, sosehr verabscheute sie seine Anfälle von Selbstmitleid. „Du hättest dich schon längst von ihm lösen und deinen eigenen Weg gehen sollen“, sagte sie.

„Wie denn? Max hätte mir niemals Geld gegeben.“

„So ganz mittellos bist du ja nun auch wieder nicht. Aber gräm’ dich nicht länger über die Vergangenheit, denk an die Zukunft! Vermutlich erbst du und hast endlich die Gelegenheit, dir ein neues Leben aufzubauen.“

„Du meinst … weggehen?“

„Natürlich! Was hält dich denn noch hier?“

„Für dich ist immer alles einfach, entweder schwarz oder weiß.“

„Du kannst nicht darauf warten, dass andere dein Leben für dich leben.“ Ein Ratschlag, den sie selbst beherzigen sollte, nicht wahr?

„Du bist sehr streng in deinem Urteil, Vivace!“

„Du sollst mich nicht so nennen“, sagte sie, aber sie lachte dabei.

„Ich finde den Namen hübsch. Lebhaft – das passt doch zu dir!“

„Trotzdem!“

„Wie soll ich dich dann nennen? Heuschreck?“

Sie piekste ihn in die Seite, dass er mit einem Schrei zurückzuckte. „Wer ist hier lebhaft? So, und jetzt raus, ich muss nachdenken, was ich mit meinem Leben anfange. Das solltest du auch!“

Sinnend sah sie ihm nach, als er ihr Zimmer verließ. Friedrich hätte ein Motiv für den Mord gehabt. Sie hielt es zwar für undenkbar, dass er dazu in der Lage gewesen sein sollte, aber sie durfte ihre Urteilskraft nicht von Sympathien trüben lassen.

5

Die letzte Bemerkung Ludwig Sebalds klang Hendrik immer noch in den Ohren, während er im Beiwagen eines knatternden NSU-Motorrads mit seinem Bruder Richtung Neukölln brauste. Leute wie Sie sind bald weg vom Fenster. Die Worte beunruhigten Hendrik mehr, als eine solch plumpe Drohung es eigentlich sollte. Aber es hatte nicht nach einer allgemeinen Verwünschung geklungen, eher, als wüsste Ludwig etwas.

„Hier ist es“, meinte Gregor und ließ das Motorrad ausrollen. „Mietskasernenviertel Rollberge.“

Steif kletterte Hendrik aus dem Beiwagen, streckte sich und ließ die Gelenke knacken. Dann folgte er seinem Bruder, der zielstrebig auf eine Toreinfahrt zuschritt.

Die vordere Fassade sah heruntergekommen, aber erträglich aus. Im ersten Hinterhof befand sich ein Pferdestall, in dem die Tiere eines Fuhrunternehmers untergebracht waren. Im nächsten Hof lagen die Geschäftsräume einer Tischlerei und einer Schlosserei. Lärm und Staub mussten tagsüber eine erhebliche Belastung für die Mieter darstellen. Mit jedem Hinterhof wurden die Gebäude verwahrloster und schmutziger. Gestank wehte ihnen entgegen, er kam von einer Gerberei, in der immer noch gearbeitet wurde. An mehreren Wänden waren Pappschilder mit der Aufschrift Schlafstelle zu vermieten angebracht. Die Klos der Häuser befanden sich auf den Höfen.

„Hier?“, fragte Hendrik betroffen.

„So etwas bekommst du in deiner feinen Universitätswelt nicht zu sehen, möchte ich wetten.“

Sie betraten den Seitenflügel des vierten Hinterhofes und stiegen eine ausgetretene Treppe hinauf. Jede Stufe ächzte, gleichgültig, wie vorsichtig man auftrat. Die Wand war mit Schimmelpilzen bedeckt. Es stank nach einer Mischung undefinierbarer Gerüche. Aus einer Wohnung drang hitziger Streit, von dem jedes Wort zu verstehen war. Viele Geheimnisse konnten die Menschen, die hier zusammengepfercht waren, nicht voreinander haben.

Vor einer schäbigen Tür, deren Farbe, wenn sie je eine besessen hatte, schon vor Jahren abgeblättert war, hielten sie an. Geklapper und Gemurmel waren dahinter zu hören. Ein einfaches Stück Papier ersetzte das Namensschild. Gregor klopfte vernehmlich.

Ein Stuhl wurde gerückt, dann öffnete ein kräftiger Mann die Tür und starrte sie feindselig an, sobald er bemerkte, dass es sich um Fremde handelte. „Ja?“

„Sind Sie Curt Broscheck?“

„Wer will’n das wissen?“

Gregor hielt ihm seine Dienstmarke aus Messing hin, die ihn als Mitglied der Kriminalpolizei auswies. „Dürfen wir reinkommen?“

Widerstrebend öffnete der Arbeiter die Tür. An dem mürrischen Mann vorbei zwängten sich die Brüder in das schummrige Halbdunkel einer Wohnung, die lediglich aus einem Zimmer und einer Küche bestand.

Auch hier gedieh überall Schwamm an den Wänden, und der Putz war vielfach abgefallen. Schadhafte Stellen waren einfach mit Papier verklebt worden. Essensdünste von Wochen hatten sich im Raum angesammelt, ein muffiger Geruch hing über den Möbeln, zumal die Fenster mit Lappen verstopft und mit Pappe vernagelt worden waren, vermutlich wegen der Zugluft.

Eine Leine, auf der Wäsche zum Trocknen hing, spannte sich quer durch die Stube. Der Waschkorb quoll über von allen möglichen Dingen, nur nicht von Wäsche. In den Ecken des Zimmers stapelten sich Lumpen und Abfälle aller Art, Kartoffeln und gesammelte Tannenzapfen. Ein mageres Huhn und zwei Kaninchen liefen dazwischen umher. Alles war auf irgendeine Weise zugehängt oder zugestellt, es gab keinen Fußbreit freien Boden.

Ein Titelblatt der Zeitschrift Jugend, das zwei elfengleich unter einem Baum tanzende Frauen in blütenweißen Kleidern zeigte, hing an einer Wand und war das einzige Zeugnis dafür, dass die Bewohner sich einen Sinn für das Schöne bewahrt und noch nicht alle Hoffnung auf ein besseres Leben begraben hatten.

In der Küche sah es ähnlich aus. Decke und Wände waren verräuchert, der klebrige Fußboden schwarz vor lauter Schmutz. Ein Sinnspruch (Eigener Herd ist Goldes wert), zwei farbige Kalenderblätter und eine Ansichtskarte stellten den ganzen Schmuck dieses Raumes dar. Ein aus Mauersteinen zusammengesetzter Ofen diente zum Kochen und war zugleich die einzige Heizmöglichkeit, darauf standen billige Kannen und Töpfe und eine Pfanne. Auf dem wackeligen Tisch, dem Zeitungspapier als Tischtuch diente, stapelten sich schmutziges Geschirr, teilweise gesprungen, und Essensreste. Ein winziges Waschbecken mit einem Hahn darüber stellte die einzige Waschgelegenheit dar. Unter dem Becken stand ein Eimer mit einer eklig aussehenden Flüssigkeit, vermutlich mit heißem Wasser übergossene Holzasche, bei der anhaltenden Seifenknappheit ein weit verbreiteter Reinigungsmittelersatz. Eine Petroleumlampe, die über dem Küchentisch hing, war die einzige Lichtquelle.

Schmutz, Enge und Dunkelheit, so ließen sich die Wohnverhältnisse zusammenfassen. Allein der Anblick der Räume bereitete Hendrik Atemnot.

Fünf Personen drängten sich in der nicht einmal zwanzig Quadratmeter großen Wohnung zusammen. Auf einem Strohsack im einzigen Bett, zugedeckt mit zwei durchlöcherten Decken, lag ein alter Mann, der immerfort hustete und nach Luft rang. Wie die Brüder später erfuhren, handelte es sich um Curt Broschecks Vater. Er litt an Tuberkulose – bei dem Bakterienstaub kein Wunder – und hatte offensichtlich Fieber. Hendrik war schockiert, dass der Mann keine ärztliche Betreuung erhielt. Da außer diesem Bett nur noch eine durchgesessene Couch vorhanden war, stand zudem zu vermuten, dass mindestens eine weitere Person die Schlafstätte mit dem Kranken teilte, ohne Rücksicht auf mögliche Ansteckung.

Eine einstmals kräftige Frau mit widerspenstigem schwarzem Haar, das sie mit einem Band zusammengebunden hatte, saß an einer Nähmaschine und nähte Blusen und Hemden. Sie war Curts Frau, Barbara Broscheck. Hendrik vermutete sie noch diesseits der vierzig, obwohl Not und Entbehrungen ihrem Körper zugesetzt hatten und ihr Alter deshalb unmöglich zu schätzen war. Ihre Haut war brüchig und zeigte durch seine Blässe die typischen Symptome von Blutarmut.

Ein etwa achtjähriger Junge – Anton –, dessen Kleidung aus zusammengeflickten Lumpen bestand, half ihr bei der Arbeit und nähte Knöpfe an. Trotz seines verwahrlosten Äußeren war er der Einzige, in dessen Augen Leben glomm, ein Feuer, das trotz der widrigen Lebensumstände einfach nicht ausgehen wollte.

Schließlich gab es noch Emil Voigt, einen 27-jährigen Handwerker, der als Kostgänger bei den Broschecks wohnte.

„Sie sind Curt Broscheck, Fabrikarbeiter bei Unger?“, fragte Gregor.

Widerstrebend, als käme dies dem Eingeständnis eines Verbrechens gleich, nickte der Mann.

Gregor ließ sich die anderen Personen im Raum vorstellen und erkundigte sich, als Antons Name fiel: „Ihr einziges Kind?“

„Helene arbeitet auf’m Bauernhof.“ Curt Broschecks rasselnder Atem verriet, dass er asthmakrank war. „Wir hatten noch einen Sohn. Is’ mit fünf gestorben. Schwindsucht.“

Hendrik stand unbeholfen in der Mitte des Zimmers und versuchte, dem Gespräch zu folgen, ohne dabei auf einen Gegenstand zu treten. Außerdem war die Wohnung eisig. Fröstelnd rieb er sich die Schultern.

„Wir ham keine Kohlen“, entschuldigte sich Frau Broscheck.

Die Bemerkung schien ihren Mann zu ärgern. „Kohlen sind überall rar“, sagte er angriffslustig.

„Sie leben schon lange hier, in dieser Wohnung?“, erkundigte sich Gregor.

„Acht Jahre.“

„Wie ich hörte, sollen sie vor die Tür gesetzt werden.“

„Was soll’n die Fragen? Was geht Sie das Ganze an?“

„Max Unger – der Eigentümer dieses Hauses – wurde gestern Nacht ermordet.“

Barbara Broscheck grub ihre Finger in die Nähmaschinenplatte, bis die Knöchel weiß hervortraten. „Wie …?“, hauchte sie.

„Mit einem Küchenmesser.“ Gregor blieb mit seiner Aufmerksamkeit bei ihrem Mann. „Entspricht es den Tatsachen, dass Sie auf die Straße gesetzt werden sollen?“

„Wir ham nix damit zu tun!“

„Beantworten Sie meine Frage!“

„Wir hätten uns die Miete schon zusamm’geborgt. Es ist nich’ das erste Mal, dass das Schwein uns rauswerfen wollte.“

„Curt!“, rief seine Frau entsetzt.

„Was soll ich lügen?“, erwiderte er unwirsch. „Max Unger war’n Dreckskerl übelster Sorte. Das weiß jeder, der mit ihm zu tun hatte. Deswegen sind wir noch lange keine Mörder nich’.“

„Ich möchte gern wissen, wo Sie sich gestern Nacht zwischen sieben und Mitternacht aufgehalten haben.“

„Hier, zu Hause.“

„Die ganze Zeit?“

„Vorher hab’ ich noch’n Spaziergang gemacht, um dem Gestank zu entkomm’.“

„Wo?“

„Die Hermannstraße ’runter.“

„Hat Sie jemand gesehen?“

Der Arbeiter zuckte die Achseln.

Gregor drehte sich zu Barbara Broscheck um, die ihn wie hypnotisiert anstarrte. „Und Sie?“

„Sie war die ganze Zeit mit mir zusamm’“, sagte ihr Mann.

Für eine Sekunde trat ein Ausdruck von Überraschung auf ihr Gesicht.

„Sie waren also nicht mit Herrn Unger verabredet?“

„Glauben Sie, der macht mit Leuten wie uns Verabredungen?“

„Ich glaube vor allem, dass ich allmählich ärgerlich werde, wenn Sie jede Frage mit einer Gegenfrage beantworten.“

„Nein, wir hatten keine Verabredung.“

Der alte Mann im Bett röchelte und bekam einen Hustenanfall, der zu blutigem Auswurf führte. Er spuckte in ein Taschentuch, das eher Ansteckungsherd als Hilfe darstellte, und konnte nur mühsam einen Würgereiz unterdrücken.

Gregor ging zu ihm hinüber. „Können Sie bestätigen, dass Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter den Abend über zu Hause waren?“

„Für mich is’ ein Tag wie der andere“, erklärte der Alte matt. „Was weiß ich, wie spät es is’. Ich schlaf’ doch sowieso die ganze Zeit.“

Gregor nickte und behelligte den Kranken nicht weiter mit Fragen. Stattdessen wandte er sich dem Kostgänger zu, der das Geschehen aufmerksam verfolgte. „Woher haben Sie das?“, erkundigte er sich und deutete auf die Hand des Mannes, die mit einem schmutzigen Verband umwickelt war.

„Ick han mer de Hand jequetsch, uff de Arbeet“, erwiderte Emil Voigt in einem kuriosen Dialektgemisch. Ein gebürtiger Rheinländer, der dabei war, sich in Berlin zu akklimatisieren.

„Sie sollten das untersuchen lassen.“

Der Mann zuckte die Achseln; es war klar, dass er nichts dergleichen tun würde. Ein Arzt kostete Geld.

„Können Sie die Angaben der Broschecks bestätigen?“

„Ick wor e paar Dache nit do, ick sin eesch hück Morje zoröckjekumme.“

„Und du?“, wollte Gregor von Anton wissen.

Das Gesicht des Jungen wurde verschlossen. „Es stimmt, was meine Eltern jesacht ham“, erklärte er. Hendrik war sicher, dass er log.

„Na schön, ich denke, das war vorerst alles.“ Gregor ging scheinbar unschlüssig im Raum hin und her, während er sich ein Paar Handschuhe überstreifte, und kam wie zufällig zwischen den Broschecks zu stehen. „Eine Frage habe ich noch. Kennen Sie diesen Mann?“ Er zog eine Fotografie aus seiner Tasche und hielt sie dem Arbeiter hin.

Der warf einen kurzen Blick darauf und schüttelte den Kopf. „Nie gesehen.“

Als Gregor das Foto zurücknahm, entfiel es seiner Hand. Er bückte sich, um es aufzuheben, und von seinem Platz aus konnte Hendrik sehen, wie er es heimlich gegen ein anderes austauschte. Dieses reichte er Frau Broscheck, die ebenfalls verneinend mit den Schultern zuckte.

„Vermutlich werden wir noch einmal wiederkommen“, verabschiedete sich Gregor und gab sich Mühe, es nicht wie eine Drohung klingen zu lassen.

Hendrik war froh, als sie endlich draußen und der deprimierenden Atmosphäre der Wohnung entronnen waren. „Wie ich sehe, hast du weiter an deiner Fingerfertigkeit geübt, seit du uns zu Kindergeburtstagen mit Zaubertricks beeindruckt hast.“

„Du hast es also bemerkt?“ Gregor blinzelte vergnügt. „Nun ja, ich muss gestehen, dass ich mir von Finger-Ede noch einen oder zwei Tricks habe beibringen lassen. Man weiß nie, wo einem solche Fähigkeiten nützen können.“

„Ich wusste gar nicht, dass du schon einen Verdächtigen hast.“

„Habe ich auch nicht.“

„Und wer ist die Person auf der Fotografie?“

„Bei uns im Revier nennen sie ihn ‚Gennats bester Mann‘. Eine Fotomontage, die Simon mal zum Spaß aus den Gesichtern verschiedener Kriminalbeamter hergestellt hat. Sieht echt aus, findest du nicht?“

„Verrätst du mir den Zweck des Ganzen?“

„Hier bietet sich eine einmalige Gelegenheit für dich, deine deduktiven Fähigkeiten unter Beweis zu stellen“, erwiderte Gregor, während er vorsichtig die Fotos aus zwei verschiedenen Taschen seiner Jacke zog, sorgfältig in zwei Papiertüten verstaute und diese beschriftete.

Hendrik schnipste. „Fingerabdrücke!“, begriff er.

6

Eigentlich passte Hendrik das abendliche Treffen mit seinem Bruder überhaupt nicht ins Konzept, weil er dringend seine nächste Vorlesung vorbereiten musste. Morgen früh stand wieder Ethik und Moralwissenschaft auf dem Programm, und er hatte vor, ein paar Dinge zur Sprache zu bringen, die schon lange in ihm gärten. Andererseits interessierte ihn natürlich, ob sich im Fall Unger etwas tat.

Gregors Wohnung war spartanisch eingerichtet. Seine Vorstellung von Raumgestaltung erschöpfte sich darin, den drei Jahre alten Wasserfleck an der Decke des Wohnzimmers nicht zu übertünchen. Hin und wieder unternahm er einen Anlauf, Pflanzen zu züchten, die ihm regelmäßig binnen Wochen eingingen. Selbst die beiden anspruchslosen Kakteen auf dem Fensterbrett machten einen erbarmungswürdigen Eindruck. Statt bequemer Sessel gab es nur zweckmäßige Stühle, der Schreibtisch war mit Akten bedeckt und die Regale mit kriminalistischen Monografien und naturwissenschaftlichen Abhandlungen: Forensische Medizin, Spektralanalyse, Ballistik, Daktyloskopie.

Hendrik kannte das Faible seines Bruders für die Naturwissenschaft, besonders für Fingerabdrücke. Gregor war siebzehn gewesen, als die Daktyloskopie in Deutschland eingeführt wurde und die Bertillonage verdrängte, das unzulängliche System der Identifizierung durch Vergleichen von Körpermaßen. Damals hatte er angefangen, sich jede verfügbare Information über neuartige Untersuchungsmethoden zu besorgen.

Ob bei der Arbeit oder in der Freizeit, Gregor war stets korrekt gekleidet. Unter seiner grauen Weste trug er ein weißes Baumwollhemd mit knopfbesetztem Kragen und einen blauen Binder, außerdem eine graue Flanellhose mit messerscharfen Bügelfalten und Schnürschuhe. Selbst das Einstecktuch in der Brusttasche fehlte nicht. Er begrüßte Hendrik förmlich mit Handschlag, wie immer. Schon als Kind hatte Gregor eiserne Selbstdisziplin geübt, um seine Wildheit in den Griff zu bekommen, und seit er von der Front zurück war, hatte sein steifes Verhalten womöglich noch zugenommen.

Hendrik lehnte dankend ab, als sein Bruder ihm ein Glas Wein anbot. „Ich muss mich nachher noch an den Schreibtisch setzen, und du weißt ja: Wenn ich nur einen Schluck Alkohol trinke, bin ich anschließend zu nichts mehr zu gebrauchen.“

Gregor schenkte sich selbst ein. „Minister Haenisch hat den Senatsbeschluss gegen Nicolai aufgehoben, habe ich gelesen.“

„Wird auch nicht viel nützen. Die ganze Universität ist reaktionär verseucht.“

„Du übertreibst.“

„Glaubst du? Du hättest die antisemitischen Flugblätter sehen sollen, die heute verteilt wurden.“ Hendrik ließ sich auf einem der unbequemen Stühle nieder. „Wenn man bedenkt, dass diese Universität unter philosophischer Schirmherrschaft gegründet wurde, könnte man heulen! Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Fichte, Hegel, Schelling – sie alle haben ihre geistigen Fingerabdrücke hinterlassen. Und heutzutage? Ist nichts mehr davon übrig, weil ihre kleingeistigen Nachfolger es schon für eine denkwürdige intellektuelle Leistung halten, die Jahre bis zu ihrer Pensionierung zu zählen.“

„Du solltest dir das nicht so zu Herzen nehmen. Solche Leute wird es immer geben.“

„Es macht mich wütend, wenn jemand das Ringen der besten Denker um Wahrheit, um Gerechtigkeit, um Erkenntnis mit Füßen tritt.“ Er bemerkte den skeptischen Gesichtsausdruck seines Bruders. „Du hältst Philosophie immer noch für weltfremde Spinnerei, habe ich Recht?“

„Wenn du mich so direkt fragst …“

„Schau dich doch um: Die Wissenschaft macht jeden Tag Fortschritte, die Waffentechnik wird ständig verbessert – aber die Ethik hält damit nicht Schritt. Wir können heutzutage aus Zeppelinen Bomben auf die Zivilbevölkerung werfen, aber wir sind hilflos, wenn es gilt, eine moralische Entscheidung jenseits von Gesinnungsplattitüden zu treffen. Es geht in der Philosophie nicht darum, mit heiligem Erschauern Klassiker nachzubeten, sondern darum, selbstständig zu denken. Das, was andere vor einem gedacht haben, kann einem dabei Hilfe, Anregung oder Reiz zum Widerspruch sein, aber der eigentliche Sinn der Philosophie besteht darin, zum selbstständigen Denken herauszufordern.“

Gregor beschäftigte sich ausgiebig mit seinem Weinglas.

„Jaja, verstehe schon! Ich habe mich mal wieder hinreißen lassen. Na schön, reden wir von den Dingen, derentwegen wir hier sind. Ich habe euren Fahndungsaufruf in der Abendausgabe der Tageszeitungen gelesen.“

„Über den die Familie des Toten sehr ungehalten ist. Ich hatte bereits einen Anruf von Hermann Unger, der mit deutlichen Worten nicht gespart hat. Jede Öffentlichkeit kommt ihm natürlich ungelegen. Aber ich stehe unter Erfolgsdruck und habe zudem nicht genug Mitarbeiter.“

„Bekommst du keine Unterstützung vom zuständigen Revier?“

„Wenn du wüsstest, wie sehr mir dieses Kompetenzgerangel auf die Nerven geht! Ich hoffe inständig, dass sich das bessert, wenn erst die Zusammenlegung zum vereinigten Groß-Berlin abgeschlossen ist.“

„Glaubst du, dass sich da viel ändert?“

„Reformen sind unumgänglich. Die Zuständigkeit des Polizeipräsidiums muss bis an die Grenzen Groß-Berlins ausgedehnt werden, sonst hat jeder Verbrecher, der den Kiez wechselt, leichtes Spiel. Und die Bezirke der Ortsdienststellen müssen sich mit den Gerichts- und Postbezirken decken, damit dieses Durcheinander endlich aufhört. Das werden auch die Verantwortlichen begreifen.“

„Sag mal, hast du eigentlich schon ein Ergebnis der Obduktion?“ Hendrik bemühte sich, seine Frage beiläufig klingen zu lassen.

„Ein vorläufiges. Dr. Pauly hat seine erste Schätzung bestätigt: Der Tod trat zwischen acht und zehn Uhr abends ein. Max Unger erhielt dreiundzwanzig Messerstiche in Brust und Bauch, von denen sieben tödlich verliefen. Die Stöße wurden mit gewaltiger Wucht geführt, der Mörder oder die Mörderin muss gerast haben vor Wut.“

„Bei einem solchen Kraftakt ist es doch sicher abwegig anzunehmen, dass eine Frau die Tat begangen hat?“

„Ich schließe vorerst nichts aus. Käte Unger, beispielsweise, ist groß und kräftig. In einem Anfall von Raserei käme sie durchaus dafür in Frage, wenn ich auch kein Motiv erkennen kann und sie, wenigstens im Augenblick, nicht zu meinen Verdächtigen gehört.“

„Und Diana Escher?“ Die Frage rutschte Hendrik heraus, ehe er es verhindern konnte.

„Ich gebe zu, es fällt mir schwer, sie mir als Täterin vorzustellen. Ausschließen kann ich es nicht.“

„Hast du schon nachgeforscht, ob sie tatsächlich im Theater war?“

„Morgen schicke ich Edgar los, sämtliche Alibis auf Herz und Nieren zu überprüfen.“

„Vielleicht schaue ich nach der Vorlesung mal bei Professor Plancks Assistenten vorbei. Wenn sie wirklich im Theater war, kann sie nichts mit dem Mord zu tun haben. Vom Schauspielhaus bis in den Grunewald ist es zu weit, selbst wenn es ihr gelungen sein sollte, sich heimlich in der Pause zu entfernen.“

„Die Tatwaffe, die uns natürlich brennend interessiert, ist vermutlich ein billiges Tranchiermesser, wie es in praktisch jedem Haushalt zu finden ist“, setzte Gregor seine Zusammenfassung fort. „Max Unger hat sich so gut wie nicht gewehrt, die Tat muss ihn vollkommen überrascht haben. Das ist der Stand der Fakten. Reichlich mager.“

„Was hast du sonst Neues erfahren?“

„Eine ganze Menge. Zunächst einmal habe ich mich mit dem Hintergrund des Toten beschäftigt, und ich kann dir versichern, eine Jauchegrube stinkt weniger zum Himmel.“

„Erzähl!“

Gregor hielt inne, maß seinen Bruder mit einem langen Blick und legte dann bedächtig eine Hand unter das Kinn. „Es interessiert dich, nicht wahr?“

„Ich bin nur höflich“, log Hendrik.

„Das musst du nicht. Nicht um meinetwillen.“

Sie sahen sich mit dem unschuldigen Gesichtsausdruck zweier Pokerspieler an. Hendrik gab als Erster auf, weil er das Lachen nicht länger zurückhalten konnte. „Also schön, du Nervensäge, du hast gewonnen! Fürs Protokoll: Ja, ich bin neugierig! Und ich werde deine Arbeit nie wieder anrüchig nennen. Zufrieden?“

Bis auf ein zweimaliges Blinzeln verriet nichts, wie sehr Gregor die Situation genoss. „Max Unger war ein Raffke schlimmster Sorte“, fuhr er dann fort und zog sein Notizbuch zu Rate. „Von seinem Vater erbte er nach einem Studium an der Handelshochschule Köln eine kleine Firma, die Guss- und Schmiedestücke herstellte. 1892 heiratete er eine reiche Kaufmannstochter. Diese Verbindung verschaffte ihm nicht nur Geld, sondern öffnete auch eine Reihe Türen. Mit Hilfe der Mitgift seiner Frau erwarb er Aktienpakete mehrerer Maschinenfabriken, bis er überall die Mehrheit besaß. Aufgrund seiner Schlüsselstellung gelangte er bald in die Vorstände und konnte schließlich eine Fusion größeren Stils durchführen. Er überredete einige Bankhäuser zur Gründung einer Aktiengesellschaft und expandierte weiter.

Max Unger war schneller und rücksichtsloser als die Konkurrenz, wenn auch nicht unbedingt innovativ. Es war Hermann, der eine Studienreise in die USA und nach England unternahm und aufgrund der Werksbesichtigungen seinen Bruder überzeugte, nicht bloß Flickwerk zu betreiben und bruchstückhaft Modernisierungen vorzunehmen, sondern die über ganz Berlin verteilten Fabrikgebäude zu einem neuen Komplex zusammenzufassen, bei dem sich die einzelnen Werkstätten und Lager entlang einer Hauptstraße gruppieren.

Im Humboldthain, wo die Ungers auf die Infrastruktur der abgewanderten Industriebetriebe zurückgreifen konnten, entstand ein modernes Areal, inklusive eines eigenen Hafens, in dem die ankommenden Rohstoffe gelöscht und auf Schienen bis aufs Werkgelände transportiert werden. Allmählich bildete sich der heutige Konzern heraus, der schon vor dem Krieg über ein Nominalkapital von fünf Millionen Reichsmark verfügte.

1914 stellte Max Unger seine Werke auf die Produktion kriegswichtiger Güter um und vermehrte dadurch seinen Reichtum weiter. Er gehörte zu denen, die auch 1918 noch für die Fortführung des Krieges bis zum Sieg waren, weil er daran nicht schlecht verdiente. Heute produziert das Unternehmen alles, was verlangt wird und sich aus Eisen herstellen lässt, von der kleinsten Schraube über Pumpen, Turbinen, Ankerketten bis zum riesigen Dynamo.

Um sich politisch abzusichern, hat er im Laufe der Jahre allen bürgerlichen Parteien quer durch das Spektrum Spenden zukommen lassen; wir sind noch dabei, den Geldfluss zu überprüfen. Weder im geschäftlichen noch im privaten Bereich besaß er irgendwelche Skrupel. Er hat Leute zugrunde gerichtet – es gibt da den Fall eines Konkurrenten, den er in den Ruin und schließlich sogar in den Selbstmord getrieben hat – und Geschäfte mit dem Elend anderer gemacht. Seine Methoden waren rabiat und keineswegs sauber – Bestechung zählt noch zu den harmloseren Vergehen – aber er hat mächtige Freunde im Adel, beim Militär, in der Regierung und konnte sich daher aus jedem Skandal herauswinden.“

„Das erleichtert deine Untersuchung nicht gerade.“

„In der Tat. Halb Berlin dürfte ein Motiv gehabt haben, Max Unger umzubringen, und ich wage zu behaupten, dass sein Tod mehr Sektkorken knallen als Tränen fließen lässt.“

„Ich beneide dich nicht. Ich wüsste kaum, wo ich anfangen soll.“

„Ich befasse mich natürlich auch mit seinen Konkurrenten, aber hauptsächlich deutet der Fall in drei mögliche Richtungen.“

„Lass sehen … Nummer eins: die Familie des Toten.“

„Das Testament wurde heute Nachmittag verlesen. Beide Brüder bekommen eine gewisse Geldsumme, wenngleich weniger als erwartet. Das meiste Kapital ist fest angelegt. Hermann Unger erbt das Familienunternehmen, das, wie ich mir von Fachleuten habe sagen lassen, inzwischen auf etliche Milliarden Mark geschätzt wird. So ganz genau weiß es niemand.“

Hendrik pfiff durch die Zähne. „In der Tat, ein gutes Motiv! Aber es geht hier doch um Hass und nicht um Profitgier, oder?“

„Das eine schließt das andere nicht aus.“

„Was ist mit Diana oder weiteren Verwandten?“

„Niemand bekommt auch nur einen Pfennig.“

„Die Diener?“

„Dankbarkeit gehörte nicht zu Max Ungers hervorstechenden Eigenschaften. Nein, Hermann und, in geringerem Maße, Friedrich sind die einzigen finanziellen Nutznießer seines Todes.“

„Und womöglich einige Konkurrenten, die jetzt die Nase vorn haben.“

„Wenn ich Hermann Unger richtig einschätze, wird für diese Leute das böse Erwachen eher früher als später kommen.“

„Sehen wir uns Stoßrichtung zwei an. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass du damit Familie Broscheck meinst?“

„Es scheint, als habe Max Unger ihnen besonders übel mitgespielt, und das ein paarmal zu oft in letzter Zeit. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir längst noch nicht alle Verbindungen durchschauen, die es zwischen ihnen und dem Toten gegeben hat.“

„Sie waren in jedem Fall sehr verschlossen.“

„Stoßrichtung drei schließlich kommt mir trotz verdächtiger Hinweise eher unwahrscheinlich vor …“

„… deshalb hast du mich darauf angesetzt.“

„Hast du etwas über die Urheber der Zitate herausfinden können?“

Hendrik legte die Fingerspitzen gegeneinander und schwieg eine ganze Weile. „Ich bin mir nicht sicher. Zwei unserer Studenten scheinen etwas über die Sache zu wissen, aber möglicherweise irre ich mich. Gib mir ein bisschen Zeit, vielleicht kann ich in den nächsten Tagen mehr in Erfahrung bringen.“

Er war sich bewusst, dass er sich damit zu weiterer detektivischer Arbeit verpflichtete, was ihm eigentlich gegen den Strich ging. Aber ich kann ja meine Nachforschungen jederzeit abbrechen, tröstete er sich.

7

„Können Sie Ihre Gefühle steuern?“, fragte Hendrik die Studenten im Hörsaal, die zumeist gelangweilt herumsaßen. Verständnislose Gesichter blickten ihn an. „Ich will es deutlicher sagen: Können Sie sich zwingen, Liebe für jemanden zu empfinden, den Sie hassen? Können Sie Schmerz durch einen reinen Willensakt in Lust verwandeln? Natürlich nicht. Aber wie steht es mit Gedanken?“

Er verließ sein Pult und ging auf einen Studenten mit gezwirbeltem Schnurrbart in der ersten Reihe zu. „Ich möchte Sie bitten, die nächsten fünf Sekunden nicht an einen großen, haarigen Affen zu denken, der gerade dabei ist, ein Eis zu verspeisen.“

Zwei steile Falten erschienen auf der Stirn des Studenten, dann gab er grinsend auf und zuckte die Schultern.

„Woran haben Sie gedacht?“

„An einen haarigen Affen mit Eis. Es war Vanillegeschmack.“

Die Studenten brachen in Gelächter aus.

Hendrik nickte. „Niemand ist verantwortlich für seine Gefühle. Und, wie wir gesehen haben, nur sehr begrenzt für seine Gedanken.“ Er machte eine kurze Pause, um den Zuhörern Gelegenheit zu geben, seine Worte zu verarbeiten. „Es mag sich im ersten Moment für Sie anhören, als würde ich den Bereich der persönlichen Verantwortung gewaltig einschränken, aber das Gegenteil ist der Fall. Warum wohl hat sich die Menschheit seit jeher bemüht, die Verantwortung für Taten durch das Konzept der Kollektivschuld oder durch den Versuch der Gedankenkontrolle zu umschiffen? Weil es der einzige Bereich ist, der Konsequenzen fordert.“

Er entdeckte Leander Sebald im Auditorium und ließ ihn nicht aus den Augen, während er, einer Eingebung folgend, vom ursprünglichen Konzept seines Vortrages abwich und improvisierte. „Angenommen Sie fühlen sich einem Menschen in seinen politischen Ideen verbunden und wollen ihm gegenüber loyal sein. Loyalität ist eine ehrenwerte Eigenschaft. Aber wenn dieser Mensch nun ein Mörder ist – wiegen seine Gedanken und Gefühle seine verbrecherischen Taten auf? Oder dient Ihnen eine solche Behauptung nicht eher als Ausrede, um sich nicht Ihrem Gewissen stellen zu müssen?“

Hendrik blieb vor den Brüdern Sebald stehen. „Es verlangt Mut, Mut und Rückgrat, um gegen den Geist der Zeit aufzustehen, um ‚Nein!‘ zu sagen, wenn all unsere Freunde und Verwandte, alle, die wir lieben, denen wir uns zugehörig fühlen, ‚Ja!‘ rufen.“ Leander hing mit furchtsamem Blick an seinen Lippen. Hendrik wandte sich ab und kehrte zu seinem ursprünglichen Konzept zurück, um die aufnahmebereite Stimmung des Studenten nicht überzustrapazieren.

„Ich entlaste Sie hiermit von der Verantwortung für Ihre Gefühle und Gedanken. Und bürde Ihnen dafür die volle, absolute und uneingeschränkte Verantwortung für Ihre Taten auf. Es sind unsere Taten, die Leid über die Menschheit bringen, nicht unsere Gedanken. In dem Moment, wo wir uns keine Sorgen mehr darüber machen, wie andere unsere Gedanken bewerten, können wir unsere Kräfte darauf verwenden, weniger gedankenlos mit unseren Taten umzugehen. In dem Moment, wo wir aufhören, darauf zu bestehen, dass der Nachbar dasselbe zu denken hat wie wir, können wir ihn nach seinen Taten beurteilen.“

Hendrik hatte die erste Bankreihe erreicht und überblickte wieder den gesamten Saal. Es war ihm gelungen, die Zuhörer durch seinen leidenschaftlichen Vortrag in den Bann zu ziehen. „Wenn ich sage, Sie sind für Ihre Gedanken nur begrenzt verantwortlich, meine ich nicht, dass es keine Rolle spielt, was Sie denken. Aber ob Sie sich willig jenen Gedanken überlassen, die für Sie am bequemsten sind, oder die Anstrengung auf sich nehmen, Ihren Motiven auf den Grund zu gehen – auch das ist eine aktive Tat.“

Der seelenvolle Blick einer dunkeläugigen Studentin verwirrte Hendrik eine Sekunde lang, ehe es ihm gelang, sich wieder auf den Vortrag zu konzentrieren. „Abaelard sagt, für die Beurteilung einer Handlung sei die Absicht des Handelnden entscheidend und nicht das Ergebnis. An diesem Satz ist sicher viel Wahres. Aber letzten Endes ist es leicht, Argumente zu finden, die eine verwerfliche Handlung moralisch legitimieren. Entschuldigungen auf der Basis von Gesinnung werden Ihnen heutzutage an jeder Straßenecke feilgeboten. Der Zweck heiligt jedoch keineswegs die Mittel, zumindest enthebt er niemanden der Verantwortung dafür.“

Einzelne Unmutsgesten wurden sichtbar, er konnte sehen, dass einige von denen, die zu ahnen begannen, worauf sein Vortrag hinauslief, sich weigerten, ihm zu folgen.

„Eine ungerechte Gesellschaft, die die Armen zugunsten der Reichen ausbeutet, behindert Sie in Ihrer Entwicklung und enthält Ihnen Chancen im Leben vor? Sie haben meine volle moralische Unterstützung, dagegen anzukämpfen. Aber es entschuldigt nicht eine einzige Ungerechtigkeit, die Sie selbst begehen. Ihre Eltern haben Sie misshandelt, als Sie ein wehrloses Kind waren? Mein aufrichtiges Mitgefühl ist Ihnen sicher. Aber es entschuldigt keineswegs, wenn Sie dasselbe Ihrem eigenen Kind antun. Das ist der Unterschied zwischen Erklärung und Entschuldigung: Viele unbegreifliche Handlungen werden nachvollziehbar, sobald Sie den persönlichen und sozialen Hintergrund des Handelnden kennen. Aber dieser Hintergrund ist kein Freibrief.“

Er legte eine Kunstpause ein, in der er sich bemühte, durch Blickkontakt die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen zu bekommen.

„Sind wir lediglich Marionetten des Schicksals? Bedeuten Darwins Evolutions- oder Freuds Triebtheorien, dass wir nicht verantwortlich sind für das, was wir tun? Ich halte Ihnen ein lautes und eindeutiges ,Nein!‘ entgegen. Determinismus ist nur ein anderes Wort für Feigheit vor der Verantwortung. Sie, einzig und allein Sie sind Ihres Glückes Schmied. Ich will nicht leugnen, dass die Ausgangsbedingungen für manche schwieriger sind als für andere. Aber nur Sie tragen die Verantwortung für die Weichenstellungen in Ihrem Leben. Jede Ausgangssituation, auch die schwerste, bietet Wahlmöglichkeiten. Und wenn Sie sich für die einfachste entscheiden, für den Weg des geringsten Widerstands oder dafür, die Schuld an einem verpfuschten Leben jemand anderem aufzubürden, dann ist das einzig und allein Ihre Entscheidung.“

Hinten begannen zwei Studenten miteinander zu tuscheln. Hendrik ignorierte es und fing an, entlang der ersten Bankreihe auf und ab zu gehen. Er hinkte, das Erbe einer Schussverletzung aus dem Krieg, das er normalerweise im Griff hatte. Nur wenn er aufgewühlt war, verlor er die Kontrolle über seine Behinderung. Es frustrierte ihn jedes Mal, dass dieses verräterische Zeichen seinen inneren Zustand bloßlegte.

„Es ist bei uns üblich, dem politischen Gegner Gesinnungslosigkeit vorzuwerfen. Wir ereifern uns darüber, dem anderen verabscheuungswürdige Gedanken zu unterstellen, weil wir glauben, moralischer Adel würde jedes eigene Verbrechen entschuldigen. Jede Grausamkeit, jede Menschenverachtung wird heutzutage legitimiert durch aufrechte Gesinnung.

Auch das Gehorsamsprinzip dient dazu, Verantwortlichkeiten zu verschleiern. Ist ein Soldat unschuldig an den Toten, die er zurücklässt, weil ihm seine Taten befohlen wurden? Wenn Sie das glauben, sind Sie hier falsch. Es gibt keine Instanz über Ihrem Gewissen. Persönliche Verantwortung lässt sich nicht delegieren, weder in den eigenen vier Wänden noch auf dem Schlachtfeld. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, sagt Kant, wie Sie sich aus unserer letzten Stunde erinnern werden.“

Unruhe machte sich breit. Die Studenten rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen, mittlerweile flüsterten mehr als nur zwei von ihnen miteinander.

„Heute jammern wir über die ungerechten Bedingungen des Versailler Vertrages, ohne auch nur die Spur eines Gedankens daran zu verschwenden, welche Gräuel, welche Verbrechen wir in Belgien und Frankreich begangen haben. Selbstverständlich sind die Friedensbedingungen hart und von Revanchismus geprägt! Aber wir ernten nur, was wir gesät haben. Wie kleine Kinder weigern wir uns, die Konsequenzen zu tragen – stattdessen tragen wir ja die rechte Gesinnung.“

Hendrik bemerkte, dass seine normalerweise wohlklingende Stimme zu einem misstönenden Krächzen geriet, aber er konnte nichts dagegen tun; zu viel unterdrückte Wut, zu lange Angestautes brach sich in seinen Worten Bahn. „Wir haben einen Krieg verloren, aber schuld daran sind natürlich die Kommunisten, die Juden, die Korruption – alles andere, nur nicht die Armeeführung! Generäle, die nicht das Rückgrat besitzen, eigenes Versagen auf dem Schlachtfeld einzugestehen, die bis zuletzt bereit waren, Hunderttausende in sinnlosen Schlachten zu opfern, nur um nicht ihrer eigenen Unfähigkeit ins Gesicht blicken zu müssen, entwerfen fantasievolle Legenden um Dolchstöße, die ihnen angeblich in den Rücken gerammt worden sind –“

Weiter kam er nicht, weil ein Tumult ohnegleichen losbrach. Überall sprangen Studenten auf und machten sich mit wütendem Geschrei Luft, Stühle wurden umgeworfen, Hefte, Bücher, Stifte flogen durch die Gegend. Jemand brüllte: „Bolschewist!“

Hendrik sah dem Treiben reglos zu und machte eine Geste, die besagte: Sehen Sie?

Ludwig Sebald verschaffte sich Gehör. „Ausgerechnet Sie wollen uns Lehren über den Krieg erteilen? Sie, der Sie sich bei der erstbesten Gelegenheit vom Schlachtfeld verdrückt haben? Sie sind nichts als ein vaterlandsloser Geselle, aus dem die Feigheit vor dem Feind spricht!“

„Ist das der größte Vorwurf, den Sie mir machen können? Ich kann Ihnen einen ungleich größeren machen: Aus Ihnen spricht die Feigheit vor der eigenen Verantwortung!“

Hände griffen nach ihm, stießen ihn, rissen an seinem Hemd. Hendrik fühlte sich hochgehoben und durch die Luft gewirbelt. Während um ihn herum das Chaos tobte, nahm er seine Umgebung wie aus dem Auge eines Sturms heraus wahr. Leander Sebald beteiligte sich nicht an dem gewalttätigen Protest. War das ein Zeichen dafür, dass er zu ihm durchgedrungen war?

Jäher Schmerz jagte durch seinen Körper, als er gegen eine Wand prallte. Gegenstände prasselten auf ihn nieder, dann verließen die Studenten krakeelend den Raum.

Mühsam rappelte Hendrik sich auf, betastete seine Rippen, fand alles in Ordnung und machte sich daran, das Durcheinander um sich herum aufzuräumen. Er lächelte und wusste selbst nicht so recht weshalb. Vielleicht, weil er endlich wieder kämpfte. Vielleicht, weil er, seit er aus dem unseligen Krieg zurückgekehrt war, zum ersten Mal wieder das Gefühl hatte, lebendig zu sein.

8

Hastig begann Diana, die Schreibtischschubladen zu durchwühlen, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte. Trotzdem hatte sie nicht die Absicht, sich zurückzulehnen und die ganze Angelegenheit der Kriminalpolizei zu überlassen, und ihre Entschlossenheit machte ihren Mangel an Erfahrung doch sicher mehr als wett! Der Todesfall in der Familie bot ihr jedenfalls eine willkommene Entschuldigung, der Universität fernzubleiben und sich stattdessen auf kriminalistische Nachforschungen zu konzentrieren.

Zu ihrer Enttäuschung fand sie nichts als endlose Kolonnen von Zahlen, die ihr nichts bedeuteten. Kein Hinweis auf mögliche Feinde, nicht einmal auf Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung. Ernüchtert ließ sie sich auf einen Stuhl sinken.

Auf dem Schreibtisch lag ein Apfel. Diana bemühte sich, ihn zu ignorieren, aber er drängte sich immer wieder in ihr Blickfeld, ohne Rücksicht auf Prioritäten. Demonstrativ wandte sie den Kopf ab. Eine echte Detektivin ließ sich nicht von der Arbeit ablenken! Eine echte Detektivin war über primitive Begierden erhaben!

Der Kampf währte nur wenige Sekunden, dann siegte der Hunger. Sie schnappte sich den Apfel und grub ihre Zähne hinein, während sie sich angespannt umsah. Where’s that Tiger?, trommelte sie auf der Schreibtischplatte und wippte dabei mit den Füßen. Hold that Tiger!

Der Aufsichtsraum, in dem sie sich aufhielt, war rundum verglast und gestattete einen ungehinderten Blick in die Werkhalle. Damit saß sie hier wie auf einem Präsentierteller. Sollte irgendjemand dort unten zufällig heraufgucken, würde er sie unweigerlich entdecken und sich zu Recht fragen, was sie hier verloren hatte. Es war schwer genug gewesen, unbeachtet durch die Halle zu kommen. Unwillkürlich machte sie sich kleiner, als sie ohnehin schon war, und gab sich Mühe, mit der Wand zu verschmelzen. Choke him, poke him, kick him and soak him!

Neben der Tafel, auf der die Anwesenheit der Arbeiter registriert wurde, befand sich ein Schränkchen. Diana legte den angebissenen Apfel beiseite, öffnete die Tür des Möbelstücks und durchsuchte die Fächer.

Wieder Fehlanzeige! Where, oh where can he be? Sie warf einen gehetzten Blick in die Werkhalle. Unten dirigierten Arbeiter in halbgebückter Stellung ihre Stoßmaschinen über unsichtbare Linien auf den gusseisernen Rohlingen. Nebenan standen Dreher an Drehbänken und formten Bolzen und Wellen. Ein Arbeiter schob eine Schubkarre mit Drehspänen durch die Gänge. Ein fertiges Werkstück wurde von einem Schienenkran abtransportiert. Es herrschte ein Höllenlärm von Fräsen, Bohrern und Drehbänken, der hier oben glücklicherweise auf ein erträgliches Maß gedämpft war. Diana konnte den kompletten Arbeitsgang verfolgen, von den rohen Gussteilen, die über einen Schienenstrang vom Gusslager hereingerollt wurden, bis zum fertigen Werkstück.

Sie entdeckte ihren Onkel im Gespräch mit einem Vorarbeiter. Die Gelegenheit war günstig, also verstaute sie die herausgenommenen Papiere wieder dort, wo sie hingehörten, und schlich die Treppe hinunter. Ein Hobler warf ihr einen neugierigen Blick zu, den sie ignorierte, dann eilte sie aus der Werkhalle in das Verwaltungsgebäude zum ehemaligen Büro Max Ungers. Natürlich war abgeschlossen; das hatte sie vorausgesehen und wohlweislich am Morgen ein Duplikat des Schlüssels an sich gebracht. Sie öffnete die Tür, huschte hinein und atmete auf. Geschafft!

Jetzt galt es, den Raum zu untersuchen, ehe ihr Onkel zurückkehrte. Systematik war nicht gerade Dianas Stärke, sie ließ sich eher von ihrem Instinkt leiten und öffnete aufs Geratewohl Schubladen und Schranktüren. Wieder fand sie nichts außer uninteressanten Zahlen und Listen von Ein- und Verkäufen, die vielleicht einen Konkurrenten der Ungers interessiert hätten, aber niemanden, der einen Mörder jagte. Frustriert durchwühlte sie Möbelstück um Möbelstück, ohne irgendetwas von Wert zu entdecken.

Das Fenster des Büros erlaubte einen guten Blick über den Werkhof. Man konnte fast das gesamte Areal übersehen, die Eisenbahngleise, die vom Güterbahnhof auf das Fabrikgelände führten und sich an der Güterabfertigungsstelle zu den verschiedenen Lagerplätzen verzweigten, den Freiladeplatz, den Versandschuppen, vor dem Reihen gleichförmiger Straßenbahnmotoren auf ihren Abtransport warteten, und endlose Fabrikgebäude. Diana schenkte der Aussicht keinerlei Beachtung; sie überlegte fieberhaft, wo sie noch nachsehen konnte, und als ihr nichts einfiel, machte sie sich frustriert ein zweites Mal an die Durchsuchung des Zimmers, diesmal gründlicher.

„Was suchst du hier?“

Beinahe hätte Diana die Papiere fallen lassen, die sie eben aus einer Schublade fischte. Sie hatte Hermann nicht hereinkommen gehört. Mit aller Würde, die sie in der Eile zusammenraffen konnte, richtete sie sich auf und strich ihren Rock glatt. „Einen Hinweis auf den Mörder von Onkel Max“, erklärte sie.

„Du hast hinter meinem Rücken das Büro durchwühlt!“

„Natürlich! Du hättest es mir ja nicht erlaubt.“

Ihr mangelndes Schuldbewusstsein war nicht dazu angetan, ihn zu besänftigen. „Ich hatte dir befohlen, das alberne Detektivspiel sein zu lassen“, bellte er und riss ihr die Papiere aus der Hand. „Hat dich denn niemand Gehorsam gelehrt?“

„Gehorsame Menschen haben die Welt noch nie vorangebracht.“

„Manchmal glaube ich wirklich, du bist erst dreizehn und keine erwachsene Frau, die wissen sollte, wo ihr Platz ist.“

„Und wo ist, deiner Meinung nach, mein Platz?“

„Jedenfalls nicht in der Fabrik. Ich sollte dich übers Knie legen!“

„Versuch’s nur!“

„Oder wegen Einbruchs verhaften lassen!“

„Hast du etwas zu verbergen?“

Hermann betrachtete sie von oben bis unten, als wäre sie ein ausgemustertes Stück Stahl, von dem er nicht recht wusste, ob es noch zum Einschmelzen taugte oder besser gleich verschrottet werden sollte. „Du bist ein nutzloses Anhängsel, das sich allmählich zu einer Plage entwickelt. Das geht auf keinen Fall so weiter. Ich werde darüber nachdenken, was mit dir geschehen soll.“

„Streng deinen Kopf nicht unnötig an, Onkel Hermann! Ich werde über mein Leben entscheiden und niemand sonst. Eins steht bereits fest: So bald wie möglich werde ich euer gastliches Haus verlassen, damit nur ja nichts deine heile Welt durcheinanderbringt.“

Wie immer war Ironie an ihn gänzlich verschwendet. „Ich muss kurz in den Telegrafenraum“, erwiderte er kalt. „Wenn ich zurückkomme, bist du verschwunden.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ging er hinaus und ließ die Tür demonstrativ offen.

Dianas Kampflust verpuffte und machte Niedergeschlagenheit Platz. Was hatte sie erreicht, außer ihren Onkel zu verärgern? Vor allem hatte sie sich unter Zugzwang gesetzt. Jetzt musste sie sich ernsthaft mit ihrem Auszug befassen, wollte sie in ihren eigenen Augen glaubwürdig bleiben!

Sie verscheuchte den unangenehmen Gedanken, setzte sich auf einen Stuhl und überdachte den Stand ihrer Ermittlungen. Aufgeben kam nicht in Frage. Vielleicht sollte sie ihr Augenmerk einstweilen auf eine andere Fährte richten, jedenfalls bis Hermanns Argwohn sich legte. Da war doch dieser Arbeiter gewesen, von dem der Kommissar gestern gesprochen hatte …

Jetzt, da sie wieder ein Ziel hatte, war ihre Lethargie wie weggeblasen. Leise schloss sie die Bürotür, suchte das Arbeiterverzeichnis hervor und notierte sich die Adresse der Broschecks. Dann griff sie nach einem Stadtplan von Neukölln und suchte die Prinz-Handjery-Straße. Mit einem Bein kniete sie dabei auf dem Stuhl, mit dem anderen wippte sie schon wieder vergnügt den Takt und summte dazu: Where’s that Tiger? Hold that Tiger!

Gerade überlegte sie, ob sie die Bahnen benutzen oder besser mit einem Taxi fahren sollte, als es klopfte. Hastig schlug sie den Stadtplan zu und nahm eine unverfängliche Position ein. „Herein!“, rief sie und war nicht wenig überrascht, Hendrik Lilienthal zu erblicken.

„Ich … äh … oh, Entschuldigung, ich dachte …“, stammelte er.

Seine Verwirrung half ihr, die eigene Befangenheit zu überwinden. Mit einer charmanten Geste lud sie ihn ein hereinzukommen, als sei sie die Hausherrin.

Das Fiasko seiner Vorlesung hatte in Hendrik den Wunsch geweckt, sich abzulenken, und es ließ sich nicht leugnen, dass der aktuelle Fall seines Bruders eine gewisse Anziehungskraft ausübte. Also hatte er beschlossen, der Fabrik einen Besuch abzustatten in der vagen Hoffnung, womöglich von einem Angestellten etwas Wissenswertes zu erfahren oder wenigstens eine genaue Vorstellung von Max Ungers Arbeitsplatz zu bekommen. Dass er dabei mit dessen streitbarer Nichte zusammentreffen würde, hatte er nicht vorhergesehen. Eigentlich war es ihm nicht mal unangenehm. Zumal sie gerade guter Laune schien.

Aber da verfinsterte sich auch schon ihr Gesichtsausdruck. „Was fällt Ihnen ein, Herrn Leibold zu behelligen?“, rief sie aus. „Wie kommen Sie dazu, mich ihm gegenüber mit einem Mord in Verbindung zu bringen?“

Im ersten Moment war Hendrik wie vor den Kopf gestoßen. Tatsächlich hatte er vorhin, gleich nach dem tumultuösen Ende seiner Vorlesung, den Assistenten von Professor Planck aufgesucht, um Dianas Alibi zu überprüfen. Nur – woher wusste sie davon?

„Was gibt Ihnen das Recht, hinter mir herzuschnüffeln und mich an der Universität unmöglich zu machen?“

„Fassen Sie sich an die eigene Nase! Mein Bruder hat Ihnen untersagt, Detektiv zu spielen! Wie können Sie es wagen, seine Anordnungen zu missachten?“

Unversöhnlich funkelten die beiden sich an, bis sich auf ihren Gesichtern gleichzeitig ein verräterisches Zucken zeigte, und schließlich brachen sie in ein Gelächter aus, das einfach nicht enden wollte.

Hendrik wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „O Mann“, keuchte er, „Sie haben es mir so richtig gegeben!“

„Sie waren aber auch nicht ohne! Es gibt nicht viele Menschen, die sich rühmen können, mich sprachlos gemacht zu haben.“

Hendrik ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. „Verraten Sie mir, woher Sie wissen, dass ich mit Professor Plancks Assistenten gesprochen habe?“

Ein spitzbübischer Ausdruck stahl sich in ihr Gesicht. „Herr Leibold geht nirgendwohin ohne seinen Hund. Und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Fido Unmengen davon verliert.“ Sie deutete auf seinen Mantel, von dessen brauner Farbe sich eine Unzahl weißer Hundehaare abhob.

„Nicht schlecht!“

„Jetzt Sie. Warum glauben Sie, dass ich wegen dem Mord hier bin und nicht einen harmlosen Besuch mache?“

„Wenn Sie das nächste Mal einen Stadtplan zusammenfalten, damit niemand merkt, dass Sie darin geblättert haben, achten Sie darauf, es nicht gegen die Falzrichtung zu tun. Und lassen Sie die Adresse der Broschecks nicht für jeden sichtbar herumliegen.“

Wieder grinsten sie sich an. Charmant, dachte Diana, besonders wenn er so schief lächelt! Ganz und gar kein ungehobelter Klotz!

Bezaubernd, dachte Hendrik, vor allem die Grübchen! Wo ist die zänkische Nervensäge von neulich? „Herr Leibold hat Ihr Alibi bestätigt. Er hält große Stücke auf Sie. Professor Planck auch, wie er mir verriet.“

„Ich hoffe, Professor Planck kann sich dazu durchringen, eine Frau als Assistentin zu akzeptieren; immerhin hat er auch Lise Meitner akzeptiert. Äh, Sie sagten eben, der Kommissar ist Ihr Bruder?“

Verlegen fuhr Hendrik sich durchs Haar und entschloss sich dann, ihr reinen Wein einzuschenken. „Im Grunde genommen habe ich ebenso wenig Recht, Nachforschungen anzustellen, wie Sie. In Wahrheit unterrichte ich an der Universität. Wenn ich ehrlich bin, verdanken Sie mein Hiersein einzig und allein einer missglückten Vorlesung.“

Sie sah ihn verständnislos an, und ehe er sich’s versah, hatte er ihr die ganze Geschichte erzählt.

„Wenn Sie nicht zur Polizei gehören – was hatten Sie dann gestern bei uns zu suchen?“

„Mein Bruder hat mich wegen einiger Spuren hinzugerufen, die mein Fachgebiet berühren. Meine Privatschnüffelei wird ihm genauso wenig gefallen wie Ihre.“

„Dann tun wir uns zusammen!“

„Sie geben nicht auf, was?“

„Niemals!“

„Wie ich schon sagte: Ich bin mehr zur Zerstreuung hier als aus Leidenschaft. Außerdem ist mein Bruder ein fähiger Kriminalist; der Fall liegt bei ihm in guten Händen.“

Sie sagte kein Wort, sah ihn nur an.

„Ich gebe zu, es hat einen gewissen Reiz, Detektiv zu spielen. Aber im Grunde meines Herzens verabscheue ich es.“

Sie reagierte immer noch nicht. Eine Weile verging, ohne dass ein Wort fiel.

„Mein Bruder wird sehr ärgerlich sein“, murmelte er schließlich.

Diana lächelte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke!“

„Ich habe nicht ‚Ja!‘ gesagt.“

„Doch, das haben Sie!“, meinte sie und grinste ihn so herausfordernd an, dass er sich geschlagen gab.

„Ich weiß zwar nicht genau, wann es passiert ist, aber vermutlich haben Sie Recht. Gregor wird mich lynchen!“ Er beruhigte sich wieder damit, dass er jederzeit aufhören konnte, wenn seine Eigenmächtigkeiten unangenehme Folgen nach sich ziehen sollten, aber allmählich hatte er den Verdacht, dass es der Ausrede eines Alkoholikers verflixt ähnlich sah.

„Sie tun es, um Schlimmeres zu verhüten“, soufflierte sie ihm. „Ich denke nicht daran, die Hände in den Schoß zu legen, während mein Onkel bestialisch ermordet wurde und meine Familie unter Mordverdacht steht. Und weil Sie das wissen, haben Sie beschlossen, mir zu helfen, damit ich keine Dummheiten mache.“

„Jetzt, wo Sie es sagen, klingt das Ganze doch sehr einleuchtend“, erwiderte er, und dann mussten sie erneut lachen. „Sie sind eine Kratzbürste, aber Ihre Aufsässigkeit ist anregend. Eine gute Basis für eine Zusammenarbeit, denke ich. Für meinen Bruder sind Sie allerdings nach wie vor eine Verdächtige, und ich werde seine Meinung respektieren. Ich gebe keine Information weiter, die er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit überlässt.“

„In Ordnung, das ist fair. Akzeptiert!“

Sie hielt ihm die Hand hin, er schlug ein. Dann machte er es sich auf dem Stuhl bequem und zückte Bleistiftstummel und Papier. „Wenn Sie wollen, dass wir zusammenarbeiten, dann sollten Sie jetzt die Karten auf den Tisch legen und mir erzählen, was am Mordtag in Ihrer Familie wirklich vor sich ging. Und ich meine damit nicht diese Halbwahrheiten, die wir uns gestern anhören mussten. Wie war das zum Beispiel mit den ständigen Streitigkeiten um die Führung der Firma?“

„Das Testament seines Vaters sprach das ursprüngliche Werk Onkel Max zu. Onkel Hermann bekleidete zwar einen hohen Posten, aber er besaß nichts und war in allem von seinem Bruder abhängig.“

„Eine schwierige Situation.“

„Besonders, weil sie sich über wichtige Entscheidungen nie einig waren. Onkel Max hatte ein ziemlich perfides System, um Onkel Hermann und Friedrich bei der Stange zu halten: Von Zeit zu Zeit versprach er ihnen die Überlassung bestimmter Teile der Firma oder eine Abfindungssumme, fand dann aber jedes Mal einen Grund, die Entscheidung hinauszuzögern. Irgendeine Krise, auf die man Rücksicht nehmen muss, lässt sich immer auftreiben.“

„Ein reizender Zeitgenosse.“

„Meine Mutter sagte, er war nicht immer so. Früher soll er liebenswürdig und großzügig gewesen sein.“

„Schwer vorstellbar.“

„Es war nicht leicht, mit ihm zusammenzuleben. Besonders für Tante Käte. Er hat sie ständig kritisiert, immer hatte er etwas an ihr auszusetzen. Aber sie ist selbst schuld daran. Nicht bloß, weil sie vor ihm gekuscht hat, sie hat ihn auch immer fühlen lassen, dass sie ihn für unfähig und ihren Mann für den Besseren hält.“

„Das bringt uns zurück zu Hermann Unger.“

„Er ist natürlich schnell dahintergekommen, was für ein Spiel Onkel Max spielt, und hat deswegen oft Krach angefangen. Trotzdem ist er geblieben. Das hat mich immer schon gewundert. Er ist nicht der Typ, der sich so was bieten lässt. Ich durchschaue ihn nicht. Niemand tut das.“

„Und Friedrich?“

„Lügt sich lieber selbst in die Tasche. Er hat es vorgezogen, Onkel Max’ fadenscheinigen Ausreden zu glauben.“

„Bei der Vernehmung fiel eine Bemerkung … etwas in der Art, dass Max ihm monatelang vorgeworfen hat, dass er auf einen Trick hereingefallen ist, oder so ähnlich.“

Diana hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. „Wollen Sie ein typisches Beispiel für Friedrichs Geschäftstüchtigkeit? Der Vorfall hat sich vor ungefähr einem Jahr ereignet. Passen Sie auf: Ein Mann, der sich als russischer Emigrant ausgibt, fragt ihn nach dem Konsulat. Ein anderer Russe kommt dazu und bietet dem ersten billig Rubel an. Nachdem das Geschäft abgewickelt und der Verkäufer weitergegangen ist, macht der erste Russe Friedrich klar, dass er das Geschäft seines Lebens verpasst hat. Friedrich hinter dem anderen her. Der Mann sagt, er hat keine Rubel mehr, dafür aber billige Brillanten. Er führt ihn zu einem Juwelier, der ‚zufällig‘ vor seinem Laden steht, die Ware mit seiner Lupe prüft und den Wert schätzt. Muss ich erzählen, wie es weitergeht?“

„Wie hoch war der Verlust?“

„Friedrich hat wertloses Glas für 2.300 Mark gekauft.“

„Sein Bruder war nicht begeistert, was?“

„Ganz und gar nicht!“

„Verdächtigen Sie einen Ihrer Onkel?“

„Prinzipiell traue ich jedem aus meiner Familie den Mord zu. Schockiert Sie das? Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber es ist so. Allerdings halte ich es für nicht sehr wahrscheinlich. Onkel Hermann würde so etwas einfach besser planen. Und Friedrich … ich mag ihn gern, aber ich mache mir über seinen Charakter keine Illusionen. Er ist viel zu feige dazu.“

„Trotzdem ist Ihre Familie damit nicht über jeden Verdacht erhaben.“

„Ich bin nicht naiv. Und ich habe vor, die Augen offen zu halten.“

„Aber unser Hauptaugenmerk wollen wir vorerst auf eine andere Spur richten.“

„Für dieses ‚wir‘ haben Sie etwas bei mir gut.“

Die Tür wurde aufgerissen. „Du bist ja immer noch da!“, knurrte Hermann seine Nichte an. „Und Sie, was machen Sie hier?“

Hendrik und Diana sahen sich an und mussten wieder lachen. Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund dazu, aber Hermanns polternde Art war einfach zu komisch.

„Wenn Sie fertig sind, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie die Fabrik verlassen würden.“

Hendrik packte seine Notizen zusammen, verbeugte sich und ging an dem Industriellen vorbei nach draußen.

„Und richten Sie dem Kommissar aus, er soll endlich die Akten zurückgeben und das versiegelte Zimmer wieder zugänglich machen! Es behindert meine Arbeit, wenn ich nicht an die Unterlagen meines Bruders herankomme!“, rief Hermann ihm nach.

Während Hendrik Diana die Treppe hinunter folgte, bedauerte er, dass er jetzt doch nicht dazu gekommen war, sich die Fabrik anzusehen. Aber vielleicht hatte er etwas Wichtigeres gefunden: eine Verbündete.

9

Gemeinsam begaben sich Hendrik und Diana nach Neukölln. Ihr Schlachtplan sah vor, sich dort zu trennen; Hendrik wollte zusehen, ob er nicht von spielenden Kindern etwas erfahren konnte, Diana würde die Nachbarn aushorchen. Während der Fahrt entdeckten sie überall an den Litfasssäulen rote Fahndungsplakate, die die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes an Max Unger aufforderten. Hermann würde Gift und Galle spucken, wenn er das sah!

Am Tag hinterließen die Mietskasernen im Rollbergviertel einen noch ungünstigeren Eindruck als bei Nacht. Allein der Lärmpegel in den Höfen war unerträglich. Ein endloser Strom von Autos fuhr zum Be- und Entladen bei den Betrieben vor. Die Schleiferei im dritten Hinterhof hatte wegen der Staubentwicklung Fenster und Türen geöffnet, und ihre Maschinen kreischten um die Wette, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Ein furchtbarer Gestank verpestete die Luft, weil die nebenan ansässige Schmalzsiederei dabei war, Grieben zu machen.

Im vierten Hinterhof trennten sie sich. Diana, ebenso schockiert über die unmenschlichen Wohnverhältnisse wie Hendrik am Tag zuvor, stieg das düstere Treppenhaus hinauf. Sie wollte oben beginnen und sich langsam nach unten vorarbeiten. Etwas beklommen war ihr schon zumute. Es war eine Sache, sich kriminalistische Nachforschungen auszumalen, etwas ganz anderes war es, ohne die geringste Legitimation wildfremden Menschen gegenüberzutreten und sie über private Dinge auszufragen.

Für die Dauer eines Atemzugs verharrte sie vor der ersten Tür, dann gab sie sich einen Ruck. Es ging auch um sie selbst! Solange der wirkliche Mörder nicht gefasst war, stand sie unter Mordverdacht! Entschlossen klopfte sie an der Tür, doch alles blieb still. Scheinbar war niemand zu Hause, was ihre Überwindung zu einer doppelten Enttäuschung werden ließ.

Schon etwas in ihrem Eifer gedämpft, begab sie sich zur nächsten Tür. Alfred Lehmann wohnte hier, wie ein Messingschild verkündete, das so gar nicht zu den ärmlichen Verhältnissen passen wollte. Diana klopfte. Zuerst dachte sie, auch hier wäre niemand zu Hause, dann wurde die Tür so plötzlich aufgerissen, dass sie zusammenfuhr.

Ein betrunkener Mann stierte sie aus glasigen Augen an. „Wat wolln se?“

Diana brauchte eine Weile, bis sie die gelallte Frage verstand. Alkoholdunst und der Gestank von Schweiß wehte ihr ins Gesicht. „Ich … möchte mit Ihnen über die Broschecks reden“, entgegnete sie und zweifelte im gleichen Augenblick daran, dass sie wirklich in die Wohnung dieses Mannes wollte.

„Kommunistenpack!“ Der Betrunkene entblößte seine skorbutbefallenen Zähne. „Machen bloß Dreck un’ Scherereien. Klaun alle als wie die Raben.“

Er machte keine Anstalten, sie in die Wohnung zu bitten. Zum Glück! Soweit Diana durch den Türspalt sehen konnte, würde ihre Standhaftigkeit drinnen auf eine weit härtere Probe gestellt werden. Licht fiel nur durch eine winzige Dachluke, die anscheinend nicht geöffnet werden konnte; im Sommer musste sich die Hitze dort unerträglich stauen. Die Dachschräge verkleinerte den ohnehin beschränkten Lebensraum, so dass es im größten Teil des Zimmers unmöglich war, aufrecht zu stehen. Alles starrte vor Schmutz, und die vergilbte Lithografie des Kaisers an der Wand bewegte sich von den dahinter krabbelnden Wanzen.

„Können Sie mir etwas darüber erzählen, was die Broschecks vorgestern Abend gemacht haben?“, fragte Diana tapfer und bemühte sich zu ignorieren, was ihre Sinne ihr zuschrien.

„Kommunistenpack!“, wiederholte der Mann. „Die Jören machen immazu bloß Lärm.“

Diana sah ein, dass sie nur ihre Zeit verschwendete. „Ja, dann … danke für die Auskunft!“, meinte sie und machte, dass sie davonkam.

Erst zwei Treppen tiefer löste sich ihre Anspannung. Sie schüttelte sich, um den Geruch loszuwerden, von dem sie das Gefühl hatte, dass er noch immer ihre Atemwege verstopfte. Verdrossen betrachtete sie die Tür, vor der sie stehen geblieben war, die Tür neben der Wohnung der Broschecks. Selchow stand auf dem verwitterten Schild. Sie verspürte nicht die geringste Lust, die soeben gemachte Erfahrung zu wiederholen. Was für eine erbärmliche Detektivin sie doch war! Nein, war sie nicht! Trotzig hob sie die Hand und klopfte.

Ächzen und Quietschen war zu hören, dann näherten sich schwere Schritte. Eine Frau von enormen Körpermaßen öffnete die Tür. „Ja?“

„Guten Tag! Diana Escher ist mein Name, ich möchte Sie zu den Broschecks befragen.“

„Sind se von een Amt?“

„Wir untersuchen den Mord an Max Unger“, antwortete Diana ausweichend.

„Ick habe schon jestern allet jesacht, wat ick weeß.“

„Natürlich. Aber es gibt da noch eine oder zwei Fragen … Dürfte ich hereinkommen? Es dauert auch nicht lange.“

Widerstrebend öffnete Frau Selchow ihre Tür.

Auch diese Wohnung war in einem erbarmungswürdigen Zustand. Breite Streifen von herabgelaufenem Regenwasser zierten die Wände. An einigen Stellen war wohl der Versuch zu tapezieren unternommen und mittendrin wieder aufgegeben worden, vereinzelt hingen Tapetenbahnen herunter. Wegen der Feuchtigkeit waren sämtliche Möbel von den Wänden abgerückt. Ein emaillierter Waschständer und mehrere Eimer waren auf strategisch günstige Stellen im Raum verteilt, um Tropfen von der Decke aufzufangen. Stockiger Geruch hing in der Luft. Die Türfüllung war hohl und angefault, der Fußboden morsch.

Auf der Nähmaschine am Fenster lag ein Haufen Filzpantoffel; vermutlich verdiente Frau Selchow sich mit der Anfertigung einen Teil ihres Lebensunterhaltes. Auf dem Herd standen die Reste des Mittagessens. Es hatte „Blauer Heinrich“ gegeben. Graupensuppe, mit anderen Worten. Angesichts der kümmerlichen Mahlzeit dieser Frau verspürte Diana heftige Schuldgefühle, als ihr Magen sich wieder meldete.

Ein seltsames Porzellanensemble nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch, sechs aufgereihte Tassen mit rosa und eine mit blauem Blütenmuster.

„Da teil ick mein Jeld for die Woche drin ein“, sagte Frau Selchow stolz. „For jeden Tach eene Tasse. Die blaue, det is’ die Sonntachstasse. Diese Woche muss ick man mit zehn Mark fuffzich auskommen, und morjen brauch ick wieda Brot, sehn se, deswejen is’ in die Freitachstasse mehr drin.“

Sie schlurfte zum Sofa, und bei jedem Schritt, den sie dabei tat, klapperte aufgrund der Vibrationen das Geschirr im Schrank. Die uralten Federn des Sofas krachten bedrohlich, als Frau Selchow sich darauf niederließ. Sie versank beinahe vollständig in den abgewetzten Polstern.

Diana setzte sich auf einen Stuhl. Den angebotenen Kaffee lehnte sie dankend ab. Zichorienkaffee! Allein der Geruch genügte, um ihr den Magen umzudrehen. „Sie sind Frau Selchow?“, erkundigte sie sich.

„Mathilde Selchow, ja!“

„Wohnen Sie allein?“

„Meen Fritze is’ jleich zu Bejinn det Kriejes jefallen.“

„Das tut mir Leid“, sagte Diana, ehrlich betroffen. „Mein Vater auch. Und mein Bruder wird seither vermisst.“ Sie schluckte, um den Kloß in ihrer Kehle loszuwerden, aber es gelang ihr nicht. Du bist eine klägliche Anfängerin, schalt sie sich. Schon bei der ersten Frage verlierst du jede Sachlichkeit und verirrst dich in deinem eigenen Kummer! Reiß dich zusammen!

„Ach, Kindchen!“, seufzte Mathilde Selchow und tätschelte ihre Hand.

Die mitfühlende Geste trieb Diana das Wasser in die Augen.

Frau Selchow sah, wie sie gegen Tränen ankämpfte, und zog sie in die Arme. „Der Kriech is’ unbarmherzich“, sagte sie.

Seltsamerweise empfand Diana diesen Gemeinplatz als tröstlich. Sie löste sich von der Frau und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Entschuldigen Sie! Ich … ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich wollte nicht …“

„Nu’ mach dir ma keene Jedanken, Kindchen! Wir sind man alle bloß Menschen. Frach einfach, wat de willst.“

Na so was! Mit ihrem Gefühlsausbruch hatte sie erreicht, was ihr mit keiner professionellen Haltung gelungen wäre: Mathilde Selchows Vertrauen zu gewinnen. „Ja, ich … Sie wissen bereits, worum es geht, nehme ich an?“

„Der olle Unger is’ tot, und die Polizei vadächticht die Broschecks. Grund genug ham se jehabt, dem Raffke die Pest annen Hals zu wünschen, aber ick sage ihn: Die waren et nich’. Die Broschecks sind jute Leute.“

„Nein, nein, von verdächtigen kann keine Rede sein! Es gibt Hinweise, denen wir nachgehen, aber deswegen sind sie noch lange nicht verdächtig. Kennen Sie die Broschecks gut?“

„Det will ick meenen. Der Lütte, der Anton, det is’ een uffjeweckta Kerl. Manchmal trägta mir die Einkaufstasche hoch, se sehn ja, ick bin nich’ jrade in sportlicha Vafassung. ‚Fannkuchen‘ nennen mir die Kinda.“ Sie lachte meckernd. „Und die Helene, wat der ihre Tochter is’, die is’ ja nu’ beim Bauern arbeeten, aba wenn die im Haus war, war jleich ’ne janz andere Stimmung. Die konnte so wundaschön singen als wie eene von die Oper. Ick hab ihr jerne zujehört.“

Ihr Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck des Abscheus. „Der olle Lehmann von oben hat denn wieda wat zu stänkern jehabt, von wejen Ruhestörung und so. Der sollte sich man lieba an die eijene Neese fassen, so wie der säuft! Wenn dem seine Ferde den Heimwech nich’ von alleene finden würden, würda nachts irjendwo im Straßenjraben liejen und sein Rausch ausschlafen. Der is’ nämlich Lohnkutscha, weeßte!“

„Haben die Broschecks nur zwei Kinder?“, beeilte sich Diana zu fragen, ehe Frau Selchow weiter abschweifte.

„Sie hatten noch ’n kleenet Kind, ’n Jungen. Is’ vor zwee Jahre an Schwindsucht jestorben, det arme Wurm.“

„Und die Eltern selber? Was wissen Sie über die?“

„Die kommen ausm Hannoverschen. Sind ’n paar Jahre vorm Kriech herjezogen, wejen die Arbeet. Er malocht ja nu’ bei Unger inna Fabrik. ’ne Knochenarbeet, kommt imma janz zaschlagen nach Hause. Naja, und sie muss sehn, wie zusätzlich Jeld rankommt. Jute Leute. Sie ham ma oft jeholfen, mittem Handkarren Möbel vons Altenheim holen, wenn da wer jestorben war und die Vawandten der ihre Sachen nich’ ham wollten. Der Küchenschrank is’ von da.“

„Wissen Sie zufällig, was die Broschecks vorgestern Abend gemacht haben?“

„Ick jehe imma früh ins Bett.“

„Warum haben Sie gesagt, die Broschecks hätten Grund gehabt, Max Unger zu hassen?“

„Ihm jehört det Haus, Kindchen! Jemacht hatta nie wat dran, aba die Miete erhöhen, det konnta. Und er kannte keene Gnade nich’. Wenn eena ma spät dran war mit die Miete, jab’s sofort Ärja, und wenn denn imma noch keen Jeld da war, wurda uff die Straße jesetzt. Ejal, ob ’ne Frau schwanga oder een kleena Säugling dabei war oder so wat. Der war rijoros. Wo andere een Herz haben, hatte der ’ne Jauchejrube.“

Obwohl Diana nie ein sonderliches Verhältnis zu ihrem Onkel gehabt hatte, war es doch beklemmend, ein derart vernichtendes Urteil über ihn zu hören. „Und die Broschecks?“

„Die hatta ooch schon ma uff de Straße jesetzt. Letzten Herbst. Die hatten ’n Haufen Ausjaben wejen die Medikamente und so, die sind doch alle krank. Und da hatten se det Jeld for die Miete nich’. Ick meene, manchmal hat ihn ooch schon ma eena von uns wat jeliehen, und am Lohntach ham ses denn zurückjezahlt, aba wir ham doch ooch alle nischt. Ja, und damals waret besondas arg. Eenes Tages kamen denn die Blechköppe und ham se uff die Straße jesetzt, mit allen Möbeln. Zwangsräumung hieß det. Wat noch von Wert war, hat ihn der Jerichtsvollzieha abjeknöppt, for die Rückstände. Der Curt hat ’n Blaukolla jekricht, so’n Hass uff die Schutzmänna, vastehste, da ham die ihn jleich mitjenommen und innen Knast jesperrt.“

„Entsetzlich!“

„Du sachst et, Kindchen, aba det kümmat doch keen Aas nich’, ob wa hier Dreck fressen. Der Preis for die Straßenbahn wird erhöht, jleich um zwanzich Fennje, is’ denn sowat zu jlooben? Naja, hier kann sich sowieso keena ’ne Straßenbahn leisten. Aba det Brot wird ab Montach ooch teura! Zweefünfundsechzich kostet een Jroßbrot denn! Wo soll det noch hinfüan?“

Diesmal ließ Diana sie ausreden. Es war kein müßiges Geschwätz, das Frau Selchow immer wieder vom Fall wegbrachte, sondern der tägliche Kampf ums Überleben.

„Bei den Broschecks reicht det Jeld manchmal nich’ fors Petroleum. Dann sitzen se im Dunkeln und warten darauf, det Schlafenszeit is’.“ Sie schien von selbst zu bemerken, dass sie den Faden verloren hatte, und kehrte wieder zum Thema zurück. „Wir Nachbarn ham die Möbel bei uns untajestellt, so lange bis die Broschecks ’ne neue Bleibe jefunden hätten, aber irjendwie hat die Barbara et jeschafft, dem ollen Jeizkragen een Vorschuss aus die Tasche zu leiern, und da sind se wieda einjezogen.“

Diana plauderte noch ein paar Minuten mit Frau Selchow, um nicht unhöflich zu erscheinen, und verabschiedete sich dann. Als sie die Treppe hinunterging, waren ihre Gedanken jedoch nicht mit der Aufklärung des Mordes beschäftigt. Wie hatte die anstehende Entscheidung, den Schutz ihrer Familie zu verlassen, sie nur so belasten können! Wie nichtig waren doch ihre Ängste angesichts der Lebensumstände von Frau Selchow! Wenn selbst die sich nicht unterkriegen ließ und ihren Lebensmut behielt, dann würde sie ja wohl einen Auszug aus der Unger’schen Villa überleben!

10

Ein halbes Dutzend Kinder spielte „Himmel und Hölle“, zwei Mädchen saßen an die Hauswand gelehnt und machten Schularbeiten, und ein etwa zehnjähriger Junge reparierte sein Fahrrad. Die Hälfte von ihnen war trotz des kalten Wetters barfuß.

Hendrik stand im Durchgang zum dritten Hinterhof, direkt unter dem Schild Das Spielen auf dem Hofe ist verboten, und beobachtete das Treiben eine Weile, ehe er auf die Kinder zuschlenderte. Erst beim Näherkommen bemerkte er die abgezehrten Gesichter, die hohlen Augen und Anzeichen von Unterernährung. Die meisten hatten rissige Haut, ein Junge mit Froschbauch und Hühnerbrust litt eindeutig an Rachitis.

Als die Kinder ihn entdeckten, hörten sie wie auf Kommando auf zu spielen und musterten ihn ebenso gründlich, wie er vorher sie gemustert hatte.

„Ick habe Ihnen jesehen“, sagte eins der Mädchen. „Sie warn jestern bei die Broschecks inne Wohnung. Sie sind vonna Polizei.“

Die Kinder tuschelten und beobachteten ihn plötzlich mit Interesse. Er war nicht länger nur Störenfried und potenzielle Bedrohung, jetzt umgab ihn eine Aura des Geheimnisvollen.

Ein vielleicht sechsjähriger Dreikäsehoch baute sich vor ihm auf, die Fäuste in die Hüften gestemmt. „Jagen se een Vabrecha oda wolln se Kommunisten erschießen?“

„Weder noch. Ich stelle nur langweilige Fragen. Aber vielleicht könnt ihr mir ein paar Auskünfte geben. Erinnert ihr euch an vorgestern Abend?“

Einige der Kinder nickten, andere hatten ihre Vorsicht ihm gegenüber nicht aufgegeben und verhielten sich abwartend.

„Ich wüsste gern, ob jemand von euch Herrn und Frau Broscheck gesehen hat. Spät, meine ich. Als es schon dunkel war.“

„Herr Broscheck kam vonna Arbeet.“

„Wann war das?“

„Halb achte.“

„Ach, richtig! Und dann sind er und seine Frau noch mal weggegangen, stimmt’s?“

Ein Mädchen mit langen Zöpfen schüttelte den Kopf. „Frau Broscheck war doch jar nich’ da!“

„Er hat se jesucht“, ergänzte ein Junge, dessen linkes Knie voller Schorf war. „Er hat bei uns jekloppt und jefracht, wo se is’.“

Hendrik ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. „Stimmt ja, das hatte ich vergessen. Wann war das ungefähr?“

„Um achte.“

„Er is’ mit Oskars Fahrrad weg“, meinte das Mädchen mit den Zöpfen und deutete auf den Jungen, der mit der Reparatur seines Rades beschäftigt war.

Hendrik wandte sich ihm zu. „Damit?“, fragte er und deutete auf das Rad.

„Anton is’ meen Kumpel“, entgegnete Oskar herausfordernd.

„Ist doch nichts Schlimmes bei, wenn du meine Fragen beantwortest.“

„Herr Broscheck hat et sich jeliehen“, sagte der Junge widerstrebend. „Er muss noch wat besorjen, hatta jesacht.“

„Wann hat er das Rad zurückgebracht?“

„Kurz vor zehne.“

„Mit dem Platten?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Is’ vorhin passiert.“

„War Frau Broscheck bei ihm, als er zurückkam?“

Oskar zuckte die Achseln.

„Hat irgendjemand von euch Frau Broscheck zurückkommen sehen?“

„Jesehen nich’, aba jehört“, piepste ein Mädchen. „Et war schon spät, und ick konnte nich’ schlafen.“

„Wie spät?“

„Ick gloobe, halb elwe.“

„War sie allein?“

Das Mädchen nickte.

Hendrik überlegte, was sonst noch von Wichtigkeit sein könnte. „Was hat Herr Broscheck angehabt?“

„Sein blauen Leinwandkittel natürlich.“

„Und seine Mütze.“

„Hat jemand von euch Frau Broscheck gesehen an dem Tag?“

„Ja, mittachs.“

„Und was hat sie angehabt?“

„Ihre jraue Bluse und den jrauen Rock, wie imma. Und die Schürze. Die is’ weiß.“

„Jelb“, korrigierte das Mädchen mit den Zöpfen.

„Ist euch irgendwas Ungewöhnliches an den beiden aufgefallen? Waren sie komisch oder so?“

„Frau Broscheck war stinksaua.“

„Weshalb?“

„Meine Mutter sacht, se solln wieda aus die Wohnung jeschmissen wern.“

„Und Herr Broscheck? Wie war er, als er seine Frau gesucht hat?“

„Uffjereecht.“

Hendrik fielen keine weiteren Fragen ein. Auch so war das Gespräch aufschlussreich gewesen. Warum hatten die Broschecks es für nötig gehalten, ihnen eine Lüge über ihr Tun an jenem Abend aufzutischen? Vielleicht gab es dafür eine natürliche Erklärung, trotzdem war es bemerkenswert. „Vielen Dank“, sagte er zu den Kindern.

„Wern die Broschecks jetz vahaftet?“, fragte das Mädchen mit der Piepsstimme.

„Wir wollen ihnen nur ein paar Fragen stellen, ich glaube nicht, dass ihr euch Gedanken machen müsst.“ Hendrik nickte ihnen zum Abschied zu und verschwand, um vor dem Haus auf Diana zu warten. Die Kinder sahen ihm einen Augenblick nach, dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu.

Ein Stück die Straße hinunter entdeckte Hendrik Anton Broscheck. Der Junge saß auf den Stufen zu einem Kolonialwarengeschäft und war so in die Lektüre eines Groschenromans vertieft, dass er die näherkommenden Schritte überhörte.

„Guten Abend, Anton! Was liest du da?“

Der Junge schreckte auf, aus seinen Träumen gerissen. Er brauchte eine Sekunde, um seinen Blick scharf zu stellen, und dass er Hendrik wiedererkannte, war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen. „Woll’n Sie meine Eltern verhaften?“, fragte er bang.

„Das dürfte ich gar nicht, ich bin nämlich überhaupt nicht von der Polizei.“

„Aber Sie sind gestern mit den anderen Polizisten jekomm’.“

„Der Kommissar ist mein Bruder. In Wirklichkeit unterrichte ich Philosophie an der Universität.“ Spontan streckte Hendrik dem Jungen die Hand hin. „Ich heiße Hendrik, Hendrik Lilienthal.“

Überrumpelt ergriff Anton die Hand. „A … Anton Broscheck“, stotterte er.

Hendrik schielte nach dem Titelblatt des Heftes. „Ach, Rolf Brand, der deutsche Sherlock Holmes! Ich habe zu meiner Zeit immer Nick Carter und Nat Pinkerton verschlungen. Kennst du die?“

Anton nickte, und seine Miene war nicht mehr gar so verschlossen.

Hendrik betrachtete noch immer das Titelblatt. „Eine alte Nummer“, stellte er fest.

„Oskar hat’s mir geliehen. Mein Freund. Ick ... äh, ich darf mir keine Hefte kaufen. Wir ham kein Geld dafür, sagt meine Mutter.“

„Liest du gern?“

Wieder nickte Anton.

„Hast du schon mal den Grafen von Monte Christo gelesen? Oder Ivanhoe?“

Der Junge verneinte.

„Na, das sollten wir aber ändern! Nächstes Mal bringe ich dir die Bücher mit. Würde dich das freuen?“

Anton starrte ihn nur an und konnte offenbar kaum fassen, dass ein wildfremder Mensch ihm unerreichbare Schätze anbot. Dann, als er merkte, dass Hendrik auf eine Antwort wartete, nickte er so heftig, dass sein Kopf davongesegelt wäre, wäre er nicht fest mit seinem Hals verbunden gewesen.

Hendrik machte Anstalten, sich neben ihn zu setzen. „Darf ich?“

Bereitwillig rückte Anton zur Seite.

„Ich lese auch für mein Leben gern. Als Kind habe ich genau wie du jedes Heft und jedes Buch verschlungen, das mir in die Hände fiel. Bücher sind meine Leidenschaft. Und Karikaturen.“

„Ich mag Kino!“

„Ah, Kino! Ich habe Ernst Lubitsch gesehen, Der Rodelkavalier.“

„Und Der Fall Rosentopf“, ergänzte Anton wie aus der Pistole geschossen. „Filme mit Detektiven und Verbrechern mag ich nämlich am liebsten. Fantomas und Harry Hill und Stuart Webbs und Joe Deebs …“

„Hast du die alle gesehen?“

„Ick helf’ im Stern-Kino aus. Manchmal darf ick ... darf ich dafür umsonst zukucken.“

„Klingt nach einer guten Arbeit.“

„Ich drehe auch Tüten für die Obstverkäufer, das is’ nich’ so toll. Aber immer noch besser als Kohlen schleppen wie Oskar.“ Anton hatte sein Misstrauen aufgegeben und fragte: „Jetzt kann er uns nich’ mehr ’rauswerfen, nich’ wahr?“

Natürlich war Hendrik klar, wer gemeint war. Er hätte gern eine tröstliche Antwort gegeben, aber er wollte dem Jungen keine falschen Hoffnungen machen. „Das Haus gehört nun seinem Bruder. Ich weiß nicht, ob sich für euch dadurch etwas bessert.“

„Jehört dem dann auch der Schuldschein?“

Es brauchte vielleicht eine Zehntelsekunde, bis der Adrenalinstoß Hendrik in einen Zustand der Alarmbereitschaft versetzte. Schuldschein? Gregor hatte keinen gefunden, da war er sicher! „Woher weißt du davon? Hast du ihn gesehen?“

„Ich hab’ jehört, wie meine Eltern darüber jeredet ham. Sie woll’n nich’, dass wer davon weiß.“

Antons scheinbare Gleichgültigkeit mochte manchen über seine Wachheit täuschen, aber Hendrik hatte keinen Zweifel, dass der Junge mehr mitbekam, als die Erwachsenen in seiner Umgebung glaubten. Wie lange würde es dauern, bis dieses Potenzial unter körperlicher Erschöpfung und mangelnder geistiger Herausforderung verkümmert war?

Jedenfalls durfte er nicht denselben Fehler begehen und den Jungen unterschätzen, also keine weiteren Fragen zum Schuldschein! „Er wird wie alles weitervererbt“, sagte Hendrik stattdessen.

Wie sollte er jetzt vorgehen? Durch die anderen Kinder wusste er nun, dass Anton gestern gelogen hatte, als er das Alibi seiner Eltern bestätigte. Sollte er ihn dieser Lüge überführen? Nein, es war das natürliche Bedürfnis eines Kindes, seine Eltern zu schützen. Hendrik beschloss, es dabei bewenden zu lassen.

Anton überraschte ihn mit einer Frage, über die er offensichtlich schon eine ganze Weile nachgrübelte. „Was is’ Philosophie?“

„Etwas, das noch spannender ist als ein Krimi und dabei ganz ähnlich. Es ist der Versuch, Antworten zu finden. Antworten auf Fragen wie: Woher kommen wir, warum sind wir hier, wohin gehen wir? Philosophie ist der Wunsch, die eigene Position zu bestimmen und das Durcheinander im Kopf und in der Welt zu ordnen.“

Antons Frage brachte etwas in Hendrik an die Oberfläche, das er bereits verloren geglaubt hatte. Die Erinnerung, wie es gewesen war, als er mit 14 zum ersten Mal ein Buch mit Texten griechischer Philosophen in den Händen gehalten hatte. Damals war er mit seinen fortwährenden Fragen überall angeeckt. Seine Mitschüler lachten ihn aus, wenn er wieder einmal ein Problem sah, wo andere es vorzogen, den vorgezeichneten Weg zu gehen. Wat machste dir’n Kopp?, hieß es. Und da gab es plötzlich Menschen, die nicht nur mit großer Ernsthaftigkeit dieselben Fragen stellten, sondern bereit waren, Anfeindungen und Nachteile dafür in Kauf zu nehmen, dass sie ihre Finger auf Wunden legten, die jedermann zu ignorieren bemüht war.

„Wie wird man Philosoph?“

„Arthur Schopenhauer – das ist einer – hat gesagt: Was macht den Philosophen? Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten. Jeder Mensch, der sich mit wachen Augen umsieht, ist ein Philosoph. Jeder, der nichts einfach hinnimmt, sondern staunen kann und die Welt, wie sie ist, in Frage stellt, hat schon den ersten Schritt zur Philosophie getan.“

Verlegen rieb sich Anton die Nase. „Is’ denn eine andere Welt möglich?“, fragte er.

11

Mitten im Satz hielt Hendrik inne und starrte geistesabwesend auf das Tintenfass. Ist denn eine andere Welt möglich?

Unwillig schüttelte er den Kopf. Er musste zusehen, dass er mit seiner Arbeit vorankam. Seit Monaten saß er an einem Buch über die Geschichte der Philosophie, mit besonderer Betonung des selbstständigen Denkens und der Aufgabe der Philosophie im Alltag, und ebenso lange schon steckte er fest. Und er wusste ziemlich genau, woran es lag: Das Feuer fehlte.

Ist denn eine andere Welt möglich? Antons Frage hatte sich in seinem Kopf eingenistet und ließ ihn nicht los.

Frustriert stand Hendrik auf und begab sich zu einer Holzkiste, in der einige vor geraumer Zeit angeschaffte und noch nicht durchgesehene Nachschlagewerke über die Antike lagerten, wie er sich erinnerte. Das erste, worauf sein Auge fiel, als er den Deckel hob, war jedoch ein Stapel Jugendbücher. Die Schatzinsel, Der Kurier des Zaren. Augenblicklich vergaß er, weshalb er die Kiste geöffnet hatte, und fing stattdessen an, nach dem Graf von Monte Christo zu suchen.

Eine halbe Stunde später glich das Zimmer einem Schlachtfeld. Stapel von Büchern übersäten jeden Tisch, jeden Stuhl, jeden freien Quadratzentimeter Fußboden. Hendrik fluchte vor sich hin; er wusste genau, dass er das Buch irgendwo hatte. Ivanhoe fiel ihm in die Hände, Tom Sawyer, Bände von Karl May, nicht jedoch Der Graf von Monte Christo.

Jemand betätigte energisch den Klingelzug. Hendrik fluchte lauter und öffnete.

Sein Bruder stand vor der Tür. „Du kannst deine Nachforschungen einstellen“, sagte er ohne jede Einleitung und blieb auffordernd im Treppenhaus stehen.

„Soll das heißen, du weißt, wer der Mörder ist?“ Hendrik schnappte sich einen Mantel und schloss die Wohnungstür ab.

Gregor lehnte am Treppengeländer und blinzelte ihn an. „Neugierig?“, fragte er süffisant.

Hendrik gab ihm einen Rippenstoß. „Idiot! Komm schon!“

Unten wartete Edgar in einem Gefangenentransportwagen. Die Männer begrüßten sich und quetschten sich vorn auf die Sitze. Rumpelnd setzte sich das Fahrzeug in Bewegung.

Die ganze Fahrt über sprach Gregor kaum ein Wort. Selbst Edgar machte keinen Versuch zu einem Schwätzchen und steuerte das Auto verbissen durch den abendlichen Straßenverkehr. Hendrik bemühte sich vergeblich, etwas aus seinem Bruder herauszuholen. „Wo fahren wir überhaupt hin?“

„Warte es ab!“

Missmutig sah er aus dem Fenster und beobachtete die Passanten. Nach kurzer Zeit erkannte er, dass sie nach Neukölln fuhren, und sofort fühlte er sich elend. „Die Broschecks?“

Minuten später hielten sie in der Prinz-Handjery-Straße. Edgar parkte vor dem Haus und blieb im Wagen. Schweigend legten die Brüder Lilienthal die letzten Meter zu ihrem Ziel zurück.

Ein irritierendes Gefühl zwang Hendrik stehen zu bleiben. Irgendetwas war seltsam! Aufmerksam sah er in alle Richtungen.

Die Straße war nur schwach belebt. Eine runzlige Blumenverkäuferin verschnaufte vor dem Fenster einer Pfandleihe. Ein Mann mit Stock führte seinen Hund Gassi. In einer Toreinfahrt standen drei Frauen und hielten einen Schwatz. Ein Arbeiter mit spitzem Bart schritt in soldatischer Haltung die Straße entlang und suchte eine Hausnummer. Ein kleines Mädchen hüpfte an der Hand seiner Mutter die Bordsteinkante auf und ab.

Alles schien in Ordnung, Hendrik konnte beim besten Willen nicht sagen, wodurch sein Unbehagen ausgelöst worden war. Schließlich tat er es mit einem Achselzucken ab. Vielleicht hatte er sich das Ganze nur eingebildet. Aber während sie sich auf den Hofeingang zubewegten, warf er immer wieder einen Blick zurück, bis ihm ein Torbogen die Sicht versperrte.

Die Brüder durchquerten die Hinterhöfe. Auch heute war der Gestank der dort ansässigen Industriebetriebe wieder unerträglich.

Vor der Haustür des Seitenflügels im vierten Hinterhof bequemte sich Gregor endlich zu einer Erklärung. „Heute Mittag bekamen wir per Eilzustellung ein Päckchen zugeschickt, ohne Absender. Darin fand sich, eingewickelt in unseren Fahndungsaufruf aus der Vossischen Zeitung, ein blutiges Tranchiermesser. Die Blutspurenanalyse ergab, dass es sich um die Blutgruppe von Max Unger handelt. Außerdem entdeckte Simon eine Gewebefaser, die mit dem Hemd des Toten identisch ist. Und – Fingerabdrücke.“ Er stieß die Haustür auf, dass sie gegen die Wand krachte.

„Warum bist du so verärgert?“

„Es gefällt mir nicht, dass sich der Fall auf wundersame Weise durch ein zugeschicktes Beweisstück löst. Es gefällt mir noch weniger, dass es einen Unbekannten gibt, der mehr über den Mord weiß und sein eigenes Süppchen kocht. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass jemand mich benutzt. Und ich liebe es nicht, wenn man Verstecken mit mir spielt.“

Sie waren vor der Tür der Broschecks angekommen. Gregor zögerte, dann klopfte er, sehr leise, fast, als wolle er im Voraus für das, was er zu tun beabsichtigte, um Entschuldigung bitten.

Anton öffnete. Die Art, wie sein Blick sich aufhellte, als er Hendrik wahrnahm, schnürte diesem das Herz ab. Jetzt wünschte er, er wäre nicht mitgekommen.

„Dürfen wir hereinkommen? Wir müssen deine Eltern sprechen“, meinte Gregor.

Der Tonfall verriet dem Jungen, dass dies kein freundschaftlicher Besuch war. Furcht wischte den Ausdruck von Offenheit von seinem Gesicht, als er den Weg freigab.

Die beiden Männer zwängten sich durch Lumpen, Abfälle und Geschirr in die Küche. Auf dem Herd stand ein riesiger Waschtopf voll Wasser und Soda, in dem Kleidungsstücke zum Kochen eingeweicht waren. Ein Waschbrett zum Schrubben lag daneben, alles war für das morgige Wäschewaschen vorbereitet.

Curt Broscheck hatte das Klopfen nicht gehört, er saß auf einem Stuhl und war offenbar vor Erschöpfung eingeschlafen. Es war ein Schock für ihn, beim Aufwachen einen Polizisten vor sich zu sehen. Hastig rappelte er sich hoch. „Was … was woll’n Sie?“, fragte er.

Und dann, zu Hendriks Überraschung, drehte Gregor sich zu der Frau des Arbeiters um und sagte in seiner kühlen Amtsstimme: „Barbara Broscheck, hiermit verhafte ich Sie wegen Mordes an Max Unger.“