2.

Freitag, 12. März bis Montag, 15. März 1920

 

 

Noch niemals haben die Vorkämpfer des Geistes so inbrünstig die gepanzerte Faust geküßt.

Georg Friedrich Nicolai

12

Jemand rief seinen Namen, was Hendrik veranlasste, sich umzudrehen. Überrascht erkannte er, wer ihm da in den Ehrenhof der Universität folgte. „Anton! Musst du nicht in der Schule sein?“

Der Junge war vom Laufen außer Atem. „Da geh’ ick nich’ hin, solange meine Mutter im Gefängnis is’“, stieß er hervor. „Sie is’ unschuldig. Bitte, helfen Sie uns!“

„Du überschätzt meine Möglichkeiten. Ich bin kein Kriminalist.“

„Ihr Bruder is’ Polizist. Bitte, Sie glauben doch, dass meine Mutter unschuldig is’, nich’ wahr?“

Es fiel Hendrik schwer, dem Jungen in die Augen zu sehen. „Ich muss zugeben, es gibt eine Menge Dinge, die mir seltsam vorkommen. Aber man hat ihre Fingerabdrücke auf dem Messer gefunden, das ist ein schwer wiegendes Indiz.“

„Sie is’ unschuldig“, beharrte Anton. „Wenn sie wütend is’, sagt sie manchmal so Sachen, dass sie wen umbringt und so, aber sie würde das nie tun. Bitte!“

Der Appell verfehlte seine Wirkung nicht, zumal Hendrik überzeugt war, dass sein Bruder die falsche Person festgenommen hatte. Auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie die Fingerabdrücke auf die Tatwaffe gekommen waren; es gab zu viele Ungereimtheiten in dem Fall.

Da war einmal die offenkundige Frage: Wer war der mysteriöse Absender des Päckchens, und was für ein Ziel verfolgte er damit? Warum verbarg er seine Identität? Natürlich war es denkbar, dass der Unbekannte mit den Broschecks auf vertrautem Fuß stand und fürchtete, für seine Tat geächtet zu werden. Aber würde ein mittelloser Arbeiter die Belohnung ausschlagen?

Und dann: Wenn Frau Broscheck die Tat begangen hatte, warum hatte sie das Messer auf eine Weise fortgeworfen, dass jedermann es finden konnte? Panik? Reue? Sie hätte es nur im Kanal verschwinden lassen müssen, und es wäre nie entdeckt worden.

Schließlich war da noch die Frage des Blutes. Wer immer Max Unger getötet hatte, musste bis zur Halskrause voll Blut gewesen sein. Wie hatte Barbara Broscheck bis nach Neukölln gelangen können, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde? Andersherum gefragt: Woher hätte sie, die kaum mehr besaß als das, was sie auf dem Leibe trug, Kleidung zum Wechseln haben sollen?

Nein, die augenblickliche Lösung des Falles befriedigte ihn keineswegs. Und es wurmte ihn, dass Gregor anscheinend keine Anstalten machte, andere Spuren zu verfolgen.

Um Zeit zu gewinnen, ging er mit Anton zum Ginkgobaum am Westflügel der Universität, wo etwas weniger Betrieb herrschte, und erkundigte sich: „Wie hast du mich gefunden?“

„Sie ham gesagt, Sie arbeiten an der Universität.“

„Wusstest du denn, wo die ist?“

„Ick ... ich war noch nie so weit in Berlin, jedenfalls nich’ richtig. Nur mit der Schule, im Museum. Und einmal ham wir ’n Ausflug in den Grunewald jemacht. Ich hab’ Leute auf der Straße jefragt.“

Wenn Hendrik später daran zurückdachte, erkannte er, dass dies der Augenblick gewesen war, in dem er sich entschied. Letzten Endes waren es nicht die Ungereimtheiten des Mordfalls, die ihn dazu brachten, sich einzumischen. So interessant das Problem auch vom intellektuellen Standpunkt her sein mochte, die Aufklärung von Verbrechen war nicht sein Metier. Es war die Erkenntnis, dass dieser achtjährige Junge, der zeit seines Lebens kaum aus seinem Kiez herausgekommen war, einen langen Fußmarsch durch unbekanntes Terrain auf sich genommen hatte, weil er darauf vertraute, dass ein fremder Mann, der ein paar freundliche Worte über Bücher und Filme mit ihm gewechselt hatte, ihm helfen würde. Vor diesem kindlichen Glauben kapitulierte Hendriks Sarkasmus.

„Ich will dir keine Hoffnungen machen, die womöglich später enttäuscht werden“, sagte er, „du musst verstehen, dass ich in dieser Angelegenheit nicht viel zu sagen habe. Aber ich verspreche dir, nicht untätig zuzusehen, wie deine Mutter für etwas büßen muss, das sie nicht begangen hat.“

Anton strahlte, als wäre der Fall damit gelöst. Hendrik hoffte, dass er ihm nicht eines Tages ein böses Erwachen bescheren musste. „Na schön“, meinte er. „Wenn du schon mal hier bist, möchte ich dich jemandem vorstellen. Komm mit!“

Sie gingen durch die Säulenhalle des Südeingangs und den Gartenhof. Hendrik bemühte sich, dem Jungen die Befangenheit zu nehmen, indem er ihm erklärte, wie die neuen Flügelbauten dem alten Universitätsgebäude angeglichen worden waren. Anton stellte kluge Fragen. Es war ein Verbrechen, ein solches Potenzial brachliegen zu lassen, ein Verbrechen, das einem Mord in nichts nachstand.

„Wer is’ eigentlich der Mann mit dem spitzen Bart?“, fragte der Junge unvermittelt. „Auch ein Polizist?“

„Welcher Mann?“

„Na, der Ihnen immer folgt. Soll er Sie beschützen?“

Wie angewurzelt blieb Hendrik stehen. „Ein Mann, der mir folgt? Bist du sicher?“

Anton nickte.

„Wo hast du ihn gesehen?“

„Vorhin stand er hinterm Denkmal. Und gestern hat er in eim Hauseingang jewartet, bis wir aufgehört ham zu reden, und is’ Ihnen nachgegangen.“

„Wie sah er aus?“

„Wie ’n Arbeiter. Aber man konnte gleich sehen, dass er keiner war. Eher ’n Soldat.“

Hendrik fluchte innerlich. Er hatte sich gestern also nicht getäuscht! Er erinnerte sich wieder an den Mann, den der Junge beschrieb, und mit seinen schlichten Worten hatte Anton ihm zugleich klargemacht, was ihm selbst so verdächtig vorgekommen war: Die Diskrepanz zwischen der Person, als die der Mann erscheinen wollte, und der, die er offensichtlich war. Aus welchem Grund verfolgte ihn der Kerl? „Ist er noch in der Nähe?“

Suchend sah Anton sich um. „Nee.“

Hendrik bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. „Naja, spielt keine Rolle. Lass uns weitergehen.“ Er konnte jedoch ein unbehagliches Gefühl nicht unterdrücken, und ein Ziehen zwischen den Schulterblättern veranlasste ihn, sich ständig wachsam umzusehen.

Sie betraten die Universitätsbibliothek. Die vielen Bücher und die ehrwürdige Aura schüchterten den Jungen ein. Sein Gesicht nahm einen stumpfen Ausdruck an, ein automatischer Schutzmechanismus, der sich vermutlich schon in manch schwieriger Situation bewährt hatte.

Noah begrüßte die beiden und deutete auf einen Artikel in der Morgenausgabe des Berliner Tageblattes, in dem Minister Haenisch seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass der Fall Nicolai nur ein Glied in einer Kette ähnlicher Vorfälle sei und höhere Lehranstalten und Universitäten die gefährlichsten Herde der gegenrevolutionären Bewegung waren. „Hast du schon gesehen?“

Hendrik nickte. Er konnte der Aussage nur zustimmen. Und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er sich Sorgen um seinen eigenen Arbeitsplatz machte. Die gestrige Vorlesung würde nicht ohne Wirkung bleiben, so viel war sicher. Der Pedell hatte ihm bereits ausgerichtet, dass der Rektor ihn am Nachmittag zu sprechen wünschte.

Hendrik schüttelte die unangenehmen Gedanken ab und stellte seinen jungen Begleiter und den alten Mann einander vor. „Anton, das ist Noah Rosenthal, der belesenste Bibliothekar von ganz Berlin. Er hat mehr Bücher im Kopf als andere im Regal. Noah, das ist Anton Broscheck, ein junger Mann mit viel freiem Platz im Kopf für Bücher. Ich dachte, du zeigst ihm mal ein paar unserer Schätze.“

„So, dachtest du!“ Noah musterte den Jungen, auf dessen Wangen sich vor Aufregung rote Flecke abzeichneten, und zwinkerte ihm zu. „Na, dann komm mal mit, jingl! Weißt du, dass wir hier die Bibliothek der Brüder Grimm haben? Oder bis zu schon zu alt für Märchen? Aber die Grimms haben ja auch Sagen herausgebracht, nicht wahr?“

In ihr Gespräch vertieft, gingen die beiden durch die Regalreihen, und Hendrik stellte schmunzelnd fest, dass der Junge ihn vollkommen vergessen hatte.

Während er zurück zum Universitätsgebäude ging, arbeitete sein Hirn bereits wieder an dem Mordfall. Antons Bitte hatte im Grunde nur etwas aufgeschreckt, das die ganze Zeit unter der Oberfläche seines Verstandes geschlafen hatte.

Der Absender des Päckchens musste jemand sein, der Barbara Broscheck mit der Tatwaffe in Verbindung bringen konnte. Aber auf welche Weise? War es jemand, der sie kannte, das blutbefleckte Messer in ihrer Wohnung entdeckt und seine Schlüsse gezogen hatte? Oder wusste er gar nicht, wer sie war, sondern hatte sie in der Nähe des Tatorts beim Wegwerfen des Messers gesehen? Hatte er den Mord beobachtet? Wie man es auch drehte und wendete: Der geheimnisvolle Absender des Päckchens war eine äußerst mysteriöse Figur. Hendrik nahm sich vor, seinen Bruder bei ihrem Treffen heute Abend nachdrücklich darauf hinzuweisen.

Trotz allem ließ sich allerdings eine Tatsache nicht wegdiskutieren: Falls Barbara Broscheck unschuldig war, wie kam dann Max Ungers Blut auf ein Messer mit ihren Fingerabdrücken?

Ein Plakat am hinteren Eingang zum Universitätsgarten nahm Hendriks Aufmerksamkeit in Anspruch. Es rief zu einer Anti-Einstein-Versammlung auf, zum Boykott jüdischer Physik. Was für Dummheiten ließen sich Menschen, die einen akademischen Grad anstrebten, als Nächstes einfallen? Die Bewahrung deutschen Fußpilzes vor nichtarischen Einflüssen? Zornig riss Hendrik das Plakat herunter.

Mit Wut im Bauch erreichte er das Kastanienwäldchen im Innenhof der Universität und blieb abrupt im Schatten eines Baumes stehen, als er Leander Sebald erblickte, der nicht weit von ihm auf dem Boden saß, den Kopf in den Händen vergraben. Außer ihnen beiden hielt sich kein Mensch im Hof auf. Hendrik trat aus dem Schatten, strebte dem mittleren Eingang zum Westflügel zu und verfolgte dabei aus den Augenwinkeln jede Regung des Studenten.

Leander sprang auf, als er ihn bemerkte, und stürzte auf ihn zu. „Herr Professor!“ rief er. „Ist es wahr? Stimmt es, was in der Zeitung steht?“

„Was meinen Sie?“

„Dass man diese Frau verhaftet hat wegen Mordes an Max Unger?“

„Ja, das stimmt.“ Hendrik setzte eine ungeduldige Miene auf und machte Anstalten weiterzugehen.

Leander versperrte ihm den Weg. „Ist sie schuldig?“

„Warum fragen Sie mich das, wo Sie doch die Wahrheit kennen?“

„Ich kenne sie nicht!“

„Aber sie interessiert Sie auch nicht. Es ist Ihnen gleichgültig, ob ein schuldiger oder ein unschuldiger Mensch für eine Tat bestraft wird, solange dadurch Ihre Gesinnungsfreunde geschützt bleiben, das haben Sie ja bereits deutlich gemacht.“

Leander schlug die Hände vors Gesicht. „Mein Gott, was soll ich nur tun!“

Hendrik tat, als sei er in Eile.

„Bleiben Sie! Bitte!“, flüsterte der Student, und in seiner Stimme lag eine solche Qual, dass es Hendrik unmöglich war, sein Spiel fortzusetzen.

„Wenn Ihnen etwas auf der Seele liegt, sollten Sie es loswerden.“

„Es … hat nichts mit dem Mord an Herrn Unger zu tun.“

„Tatsächlich?“

Leander presste die Fäuste gegen seine Schläfe. „Es kann nicht sein“, flüsterte er. Hilfesuchend sah er Hendrik an. „Wie kann ich etwas tun, das anderen schadet, wenn ich doch die Wahrheit nicht kenne?“

Hendrik dachte lange nach, ehe er eine Antwort gab, weil er spürte, dass echte Not hinter dieser Frage steckte. „Lessing sagt, dass es nicht der vermeintliche Besitz der Wahrheit ist, sondern das Streben danach, das den Wert des Menschen ausmacht“, sagte er schließlich. „Wir sind alle fehlbar. Es ist nicht wichtig, ob Sie Recht haben oder nicht, sondern wie ernsthaft Sie darum ringen, die Wahrheit herauszufinden. Selbst um den Preis von Unannehmlichkeiten.“

Leander gab keine Antwort.

„Was quält Sie?“

„Es ist nicht dieser Mord.“

Hendrik fiel die seltsame Betonung des Satzes auf, und aus irgendeinem Grund fröstelte er plötzlich.

„Wir müssen für unser Tun Verantwortung übernehmen, haben Sie gestern gesagt … und dass es keine Instanz über dem eigenen Gewissen gibt …“ Leander verfiel wieder in dumpfes Brüten. „Ich kann nicht am Landwehrkanal vorübergehen, ohne ihr misshandeltes Gesicht zu sehen …“

Hendrik hielt den Atem an. „Rosa Luxemburg?“, fragte er ungläubig.

„Bestimmt hat es nichts mit dem Mord an Herrn Unger zu tun. Aber die Briefe … Thor …“

„Warum erzählen Sie mir nicht einfach alles? Von Anfang an?“

Nach einer langen Pause begann Leander zu sprechen. „Es … es war ein Mittwoch … ich war zu Hause … Ludwig …“ Er zögerte. „Er sorgt sich um Deutschland“, verteidigte er ihn, obwohl niemand einen Einwand gemacht hatte.

Hendrik fiel ein Wort Nietzsches ein: Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen, aber dies war nicht der Augenblick für kluge Bemerkungen, also behielt er den Gedanken für sich.

„Ende 1918 haben wir uns für die Freikorps anwerben lassen“, fuhr Leander fort. „Wir waren an den Januarkämpfen beteiligt. Hauptmann Pabst von der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ist auf uns aufmerksam geworden. Er hielt große Stücke auf uns, besonders auf Ludwig. Er sah, dass wir vertrauenswürdig waren und das Schicksal Deutschlands uns beschäftigte. Nach und nach hat er uns verantwortungsvollere Aufgaben übertragen. Wir haben geholfen, die Post von Liebknecht zu überwachen, sein Telefon abzuhören und dergleichen.“

Leander fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Ludwig traf mich an jenem Mittwoch in einem Lokal. Eigentlich wollten wir uns einfach einen netten Abend machen. Heute wird den roten Volksverhetzern das Maul gestopft, sagte er. Ich fragte nicht, woher er das wusste. Ludwig hatte immer schon gute Beziehungen zu den Militärs.

Wir gingen zum „Eden-Hotel“, wo Hauptmann Pabst sein Stabsquartier bezogen hatte. Wegen der guten Kontakte von Ludwig wurden wir zu ihm gelassen und boten unsere Mithilfe an. Wir mussten eine ganze Weile draußen warten, weil Pabst noch ein paar Telefonate führte. Zu der Zeit brachten sie gerade die Luxemburg und einen anderen Mann. Liebknecht hielten sie bereits fest. Wir wurden zur Unterstützung der Soldaten, die die Ausgänge bewachten, nach unten geschickt und postierten uns am Nebenausgang. Dort wurde Liebknecht hinausgeführt. Wir … alle beschimpften und bespuckten ihn. Dann sahen wir zu, wie Hauptmann Pflugk-Harttung – ein Freund von Ludwig – und seine Männer ihn in ein Auto setzten. Ein Soldat kam angerannt und schlug mit seinem Gewehrkolben nach Liebknecht. Das Auto fuhr los. Ein anderer Mann sprang kurz auf das Trittbrett und hieb ihm die Faust ins Gesicht. Dann sprang er wieder ab, und das Auto verschwand.“

Leander verstummte. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Geschichte zu erzählen. Hendrik war klug genug, das Geständnis nicht zu unterbrechen.

„Später – vielleicht eine halbe Stunde danach – kamen die Männer zurück. Pflugk-Harttung lachte und sagte zu meinem Bruder, Liebknecht sei auf der Flucht erschossen worden. Und jetzt wäre die Luxemburg dran. Sie brachten sie raus. Der Soldat von vorher verpasste auch ihr einen Schlag mit dem Kolben. Sie stürzte, bewusstlos … der Soldat schlug noch einmal zu … die Männer warfen sie ins Auto … sie hatte einen Schuh verloren.“ Leander starrte ins Leere und wiederholte, als sei dieses Detail von besonderer Wichtigkeit: „Sie hatte einen Schuh verloren. Ich … ich sagte zu meinem Bruder, ich wolle gehen. Ich wollte nichts damit zu tun haben. Ich meine, sie war eine bolschewistische Agitatorin, aber …“ Wieder leckte er sich über die Lippen, und Hendrik begriff, dass der schlimmste Teil noch bevorstand.

„Wir … mein Bruder und ich gingen ein paar Schritte die Straße entlang und stritten uns. An der Ecke Nürnberger Straße stand ein Mann im Dunkeln, ein großer Kerl, der sich verdächtig benahm. Wir riefen ihn an. Er trat ins Licht, und wir erkannten Leutnant Souchon. Seht zu, dass ihr verschwindet, sagte er, oder steht wenigstens nicht im Weg! Ehe wir ihn noch fragen konnten, was er meinte, hörten wir das Auto vom Hotel herankommen. Souchon drängte uns beiseite und zog eine Mauserpistole.“

Leanders Augen glänzten fiebrig. „Das Auto wurde langsamer, als wüssten die Fahrer, was passieren würde. Die Luxemburg lag bewusstlos auf dem Rücksitz. Souchon … hielt ihr seine Waffe an die Schläfe und drückte ab. Er fluchte, weil er vergessen hatte, die Pistole zu entsichern. Er entsicherte und drückte noch einmal ab …“

Leanders Gesicht war grün angelaufen, doch er riss sich zusammen und erzählte weiter, als dürfe er jetzt, da er so weit gekommen war, auf keinen Fall aufhören. „Souchon sprang ab und verschwand. Die Soldaten sahen und erkannten uns. ‚Packt mal mit an!‘, sagten sie.“ Er lachte verzweifelt. „Packt mal mit an!“ Jetzt presste der Student die Hände in die Augenhöhlen, als könne er dadurch verhindern zu sehen, was nur er sah. „Ludwig fasste ihre Schultern. Ich stand daneben und starrte auf Teile von Haut und Knochen, die auf den Rücksitz des Wagens gespritzt waren. Dann … dann fiel ihr Kopf zur Seite, und ihr blutverschmiertes Haar streifte meine Hand …“ Er atmete schwer. „Und dann bin ich weggerannt.“

Zum ersten Mal seit Beginn der Erzählung wagte Hendrik, sich zu rühren. Er fühlte sich elend. „Ich kann Ihnen keine Absolution erteilen“, sagte er heiser. „Aber es ist ein erster Schritt, nicht länger die Augen vor der eigenen Verantwortung zu verschließen. Denken Sie darüber nach, ob Sie sich als Zeuge melden wollen.“

„Der Prozess ist vorbei.“

„Und die Wahrheit wurde dabei beerdigt. Meinen Sie nicht, dass die Menschen ein Recht darauf haben, sie zu erfahren? Meinen Sie nicht, dass die Tote ein Recht darauf hat?“

„Ich … überlege es mir.“

„Vielleicht können Sie einen Teil Wiedergutmachung leisten.“

„Wie?“, fragte Leander mit der Stimme einer verlorenen Seele, die im letzten Moment noch eine dünne Chance sieht, dem Fegefeuer zu entkommen.

„Verraten Sie mir: Wer ist Thor?“

Leander rang mit sich. „Ich habe nur einmal gehört, wie jemand ihn so nannte“, sagte er unbestimmt und leckte sich wieder über die Lippen.

„Es ist Hauptmann Pabst, nicht wahr?“

Leander nickte.

13

„Was haben Sie herausgefunden?“, war das Erste, was Diana fragte, kaum dass sie Hendriks Wohnung betrat.

„Sie verlieren keine Zeit, was? Ich glaube, wir sollten auf meinen Bruder warten, dann muss ich nicht alles zweimal erzählen.“

„Wenn Sie meinen“, erwiderte sie enttäuscht.

Während er ihren Mantel aufhängte und Tee machte, sah sie sich um.

Das Arbeitszimmer war zweckmäßig eingerichtet, ohne dass es dadurch nüchtern wirkte. Bücherregale verdeckten alle Wände, vom Boden bis zur Decke. Eine Leiter, in einer ringsum verlaufenden Schiene eingehakt, ermöglichte es, auch die oberen Fächer zu erreichen. Das Wohnzimmer war vergleichsweise großzügig ausgestattet. An den Wänden hingen Landschaftsgemälde unbekannter Künstler und die Reproduktion eines Frauenbildes von Mucha. Eine Sitzecke lud dazu ein, es sich bequem zu machen und ein Buch zu lesen oder ein anregendes Gespräch zu führen.

Diana nahm die stumme Einladung an und ließ sich auf dem Sofa nieder. „Na schön“, sagte sie, als Hendrik ihr gegenüber Platz genommen hatte. „Wovon reden wir, wenn nicht über den Fall?“

„Ich weiß nicht … Erzählen Sie mir von sich. Was mögen Sie, was sind Ihre geheimen Leidenschaften?“

„Tanzen! Und Musik! Kennen Sie den Tiger Rag?“ Sie pfiff ein paar Takte. Where’s that Tiger? Hold that Tiger!

„Das ist diese neue Jazz-Musik, nicht wahr?“ Er zuckte die Achseln. „Nicht mein Fall.“

„Oh!“

Schweigen breitete sich aus. Beide horchten, ob nicht endlich der Teekessel pfiff, aber er tat ihnen nicht den Gefallen.

„Und Sie? Was mögen Sie gern?“, erkundigte sich Diana.

„Also gut“, lachte Hendrik, „ich gebe mich geschlagen. Reden wir über den Fall.“

„Wir können ja zunächst mal den Mordablauf rekonstruieren.“

„Lassen Sie uns eine Tatortskizze machen.“ Hendrik nahm seinen Skizzenblock und holte eine Hand voll Bleistiftstummel aus einer Schachtel. Dann zeichnete er den Grundriss des Unger’schen Seitentraktes und fügte ein paar Möbel ein. „Hier lag Ihr Onkel, als die Polizei kam. Soweit wir wissen, geschah Folgendes: Um acht Uhr hatte er eine Auseinandersetzung mit seinem Bruder Friedrich. Der verließ das Zimmer nach eigener Aussage gegen acht Uhr fünfzehn. Das ist der Zeitpunkt, zu dem Ihr Onkel zuletzt lebend gesehen wurde. Um acht Uhr dreißig hatte er laut Terminkalender einen weiteren Gast, Thor, von dem wir annehmen, dass es derselbe ist, dessen Aussehen und Kleidung Joseph beschrieben hat, und von dem ich aufgrund neuer Hinweise vermute, dass es sich um Hauptmann Pabst handelt. Spätestens um zehn ist Max Unger tot. Hm, das bringt uns nicht viel weiter.“

„Da war doch von einem Gebüsch die Rede.“

„Richtig!“ Hendrik zeichnete ein paar Zweige und Blätter. „Hier stand jemand und beobachtete vermutlich Ihren Onkel.“ Er karikierte eine Figur, die mit grimmigem Gesicht Richtung Haus blickte.

Diana schmunzelte. „Der sieht ja aus wie unser Reichspräsident.“

Hendrik legte den Kopf schief, um sein Werk zu begutachten, nickte zustimmend, verstärkte das Bärtchen, das er der Figur gegeben hatte, und schrieb etwas darunter.

„Was soll denn das heißen?“

„,Friedrich Ebert‘. Wollen Sie etwa behaupten, Sie können meine Schrift nicht lesen?“

„Das sind keine Worte, sondern Würmer!“

Ohne eine Miene zu verziehen, machte Hendrik aus den Buchstaben Raupen und Maden. Als er diese dann auch noch auf einem Motorrad akrobatische Kunststücke vollführen und mittels einer Bildunterschrift das Deutschlandlied absingen ließ, war es mit Dianas Beherrschung vorbei.

„Aufhören!“, keuchte sie und brauchte geschlagene fünf Minuten, bis sie sich wieder im Griff hatte: „O Gott, das war unglaublich!“

„Wir sind furchtbar albern!“, meinte Hendrik, dann sahen sie sich an und brachen erneut in Gelächter aus, bis ihnen die Seite wehtat.

Hendrik riss das Blatt ab, knüllte es zusammen und warf es in den Papierkorb. „Ablage für wichtiges Beweismaterial“, erklärte er.

Diana hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht wieder loszuprusten. „Wo haben Sie so gut zeichnen gelernt?“

„Ach, keine Ahnung, ich habe immer schon gezeichnet. Manchmal lockere ich meine Vorlesungen damit auf, dass ich meine Thesen mit Hilfe von Karikaturen illustriere, aber die Ordinarien sehen das nicht gern. Es untergräbt die ehrwürdige Aura, die jeden Professor zu umgeben hat.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Ehe Hendrik es verhindern konnte, blätterte sie in seinem Skizzenblock und stieß dabei auf die Karikaturen, die er während des Verhörs gemacht hatte. Erst warf sie ihm einen entrüsteten Blick zu, als sie jedoch auf die Zeichnung von Käte Unger stieß, brachte sie es nicht länger fertig, ihre ernste Miene beizubehalten. „Sie haben meine Familie gut getroffen, besonders meine Tante. Aber für das Eichhörnchen werde ich mich revanchieren, warten Sie nur!“

Das Pfeifen des Teekessels unterbrach sie zu Hendriks Erleichterung. Er ging in die Küche und kam mit zwei Tassen zurück.

„Wie gehen wir vor, sobald wir drei unsere Erkenntnisse zusammengeworfen haben?“, wollte Diana wissen.

„Wenn es nach meinem Bruder geht, gehen wir überhaupt nicht vor.“

„Aber es geht nicht nach Ihrem Bruder, nicht wahr?“

Hendrik erwiderte ihr Lächeln. „Nein, das tut es nicht.“

„Wir sollten unsere Taktik beibehalten, finden Sie nicht? Getrennt nachforschen, vereint schlagen – das war doch bis jetzt ziemlich erfolgreich. Und von Zeit zu Zeit treffen wir uns und tauschen Beobachtungen aus.“

„In Ordnung, machen wir Nägel mit Köpfen! Mein Bruder setzt auf die Broschecks, gut. Wir verfolgen die anderen Spuren, wenn Sie damit einverstanden sind. Sie kümmern sich um Ihre Familie und ich mich um die politischen Verflechtungen.“

„Meine Familie? Wie langweilig!“

„Es würde wenig Sinn machen, wenn ich versuchen würde, Ihre Onkel auszuquetschen.“

Das sah Diana ein, aber es gefiel ihr dadurch nicht besser. „Also schön, beiße ich eben in den sauren Apfel. Dann werde ich morgen – ach nein, morgen bin ich bei einer Sitzung. Der Reichsbund der Deutschen Technik hat Wissenschaftler und Ministerialbeamte eingeladen, um zu beraten, wie wir angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs die Wissenschaft retten können. Professor Planck ist auch dort. Er möchte, dass ich mitkomme.“

„Was fasziniert Sie eigentlich so an der Physik?“

„Vermutlich dasselbe, was Sie an der Philosophie fasziniert: Ich möchte die Welt verstehen. Herausfinden, was hinter der nächsten Ecke liegt. Grenzen sprengen.“

„Sagen Sie, findet morgen nicht auch die Beerdigung statt?“

„Was meinen Sie, was ich mir deswegen bereits habe anhören müssen! Aber natürlich lasse ich eine so wichtige Tagung nicht einfach sausen. Ehrlich gesagt, bin ich ganz froh, dass ich das verlogene Geschwätz auf der Trauerfeier nicht ertragen muss.“

„Kann ich gut nachvollziehen. Ich hatte heute Nachmittag ein unerquickliches Gespräch mit unserem Rektor, der mir wegen meiner gestrigen Vorlesung eine Rüge erteilt hat und sich Konsequenzen überlegen will.“

„Was wird er, Ihrer Meinung nach, tun?“

„Angesichts des Wirbels, den der Fall Nicolai verursacht, könnte es sein, dass ich glimpflich davonkomme.“

„Sie sagen das, als würden Sie sich nicht darüber freuen.“

„Ist es nicht furchtbar, dass man heutzutage schon froh sein muss, wenn einem das Aussprechen der Wahrheit keine unmittelbaren Nachteile einträgt? Dabei sollte mich das nicht überraschen. Mein vorlautes Mundwerk hat mich schon als Kind in Schwierigkeiten gebracht. Es war Gregor, der mich immer wieder rausgehauen hat. Er ist der Realist von uns beiden. Er schimpft oft mit mir, dass ich die Situation, in der ich für eine Überzeugung eintrete, nicht einfach ignorieren kann. Und natürlich hat er Recht damit.“ Er spielte mit seiner Teetasse. „Es ist … lange her, dass ich eine so engagierte Vorlesung gehalten habe wie gestern. Wissen Sie, im Grunde bin ich ja froh, dass ich nicht mehr so verbohrt bin wie früher. Dass ich gelernt habe, den Wert von Kompromissen zu erkennen. Wie Nietzsche sagt: Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen. Aber manchmal sehne ich mich doch nach dem Feuer von damals. Nach der unbekümmerten Selbstverständlichkeit, mit der ich – mit allen Fehlern und Vorurteilen – die Welt aus den Angeln heben wollte.“

„Wodurch haben Sie dieses Feuer verloren?“

„Durch den Krieg.“ Er rührte eine ganze Weile ziellos in seiner Tasse. „Ich war Pazifist, aber als alle verrückt spielten und den Krieg jubelnd begrüßten, habe ich angefangen, an allem zu zweifeln, auch an mir selbst. Wie konnten die Leute mehr als vierzig Jahre Frieden wegwerfen für einen Haufen hohler Phrasen? Wie konnten Gelehrte und Philosophen begeistert in das Tamtam einschlagen?“

Er merkte, dass er immer noch rührte, und legte den Löffel beiseite. „Eine Weile war ich vollkommen orientierungslos, bis es mir gelang, endlich wieder Stellung zu beziehen, auch in meinen Vorlesungen. Was dazu führte, dass ich eingezogen wurde, im Juni 1917. Ich war bereit, eher ins Zuchthaus zu gehen als an die Front, aber meine Aufsässigkeit hatte zur Folge, dass auch mein Bruder eingezogen wurde. Vermutlich fürchteten sie, er hätte sich an meinen Ideen angesteckt wie an einer Krankheit. Ich fühlte mich schuldig. So viele meiner Freunde waren gefallen, während ich sicher daheim saß! Ich wollte Gregor nicht allein lassen.“

Ohne es zu merken, hatte er wieder in der Tasse zu rühren begonnen, aber Diana machte ihn nicht darauf aufmerksam. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper.

„Ich war nur fünf Wochen an der Front, ehe mich eine Kugel erwischte. Genug, um schlaflose Nächte zu haben. Gregor musste bis zum Ende durchhalten. Er redet nie darüber.“

Erst jetzt nahm er Diana wieder wahr und erinnerte sich daran, was er eigentlich hatte sagen wollen. „Während der endlosen Tage im Schützengraben habe ich mich gefragt, ob so etwas wie Verständigung überhaupt möglich ist. Als ich zurückkam, glaubte ich an gar nichts mehr. Komischerweise habe ich durch die gestrige Vorlesung meinen Glauben irgendwie zurückgewonnen. Und was noch komischer ist: Seitdem fürchte ich mich nicht mehr vor den Konsequenzen. Das kommt Ihnen seltsam vor, nicht wahr, dass man so im Nebel herumirrt und an sich selbst zweifelt. Sie sind immer geradeheraus.“

Diana schüttelte den Kopf. „Ich bin gar nicht so streitsüchtig wie Sie glauben. Ich bin sehr behütet aufgewachsen, wissen Sie. Dann kam der Krieg, mein Vater und mein Bruder mussten an die Front, und ich habe es als Chance begriffen. Ich wollte etwas Sinnvolles tun. Waffenproduktion kam für mich nicht infrage, wenn ich auch immer ein schlechtes Gewissen hatte, weil mein Bruder und mein Vater da draußen waren und ich sie nicht unterstützte. Aber es wurden dringend Weichensteller gesucht, also bin ich Weichenstellerin geworden, später Schaffnerin. Dann fiel mein Vater an der Somme, mein Bruder galt als vermisst, meine Mutter wurde krank. Grippe. Plötzlich musste ich für sie stark sein. Ich hatte wenig Zeit für Tränen. So, wie der Krieg Sie sprachlos gemacht hat, hat er mich politisiert. Ich bewunderte Rosa Luxemburg. Was für eine Kraft in dieser Frau! Bei der Nachricht von ihrem Tod habe ich zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters geweint.“

„Haben Sie je wieder von Ihrem Bruder gehört?“

Sie schüttelte den Kopf. „Am Totenbett meiner Mutter habe ich behauptet, es sei eine Nachricht von ihm eingetroffen. Erst viel später habe ich begriffen, dass sie meine Lüge durchschaut hat. Sie wusste, dass ich es war, die den Trost brauchte, und tat so, als würde sie mir glauben. Sie lag im Sterben und fand noch die Kraft, mich zu trösten!“ Eine Träne tropfte aus ihren Wimpern.

Hendrik zögerte, dann stand er auf und nahm sie in den Arm. „Es tut mir sehr Leid“, sagte er.

Seine Berührung war ihr nicht unangenehm, trotzdem machte sie sich schließlich los. Nach einem Augenblick der Verlegenheit setzten sie sich wieder.

„Plötzlich war ich allein in unserer Wohnung. Ich habe gewartet, dass mein Bruder zurückkommt. Aber Tag um Tag verging, ohne dass sich etwas ereignete. Ich glaube, hätte ich erfahren, dass er tot ist, wäre es leichter gewesen. Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Tante Käte hat sich hin und wieder um mich gekümmert, und Onkel Max und Onkel Hermann hielten es wohl für ihre Pflicht, mir zu helfen.“

„Seitdem wohnen Sie bei den Ungers.“

„Aber nicht mehr lange!“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich suche mir eine Wohnung. Nicht gerade leicht bei der Wohnungsknappheit, ich weiß, aber wenn ich mir noch lange das Geschwätz von Onkel Hermann anhören muss, drehe ich durch!“

„Ziehen Sie zu mir!“, sagte Hendrik, ehe ihm das Ungeheuerliche seines Vorschlags bewusst wurde. Sie sahen sich an und grinsten wie auf Kommando los. „Im Ernst. Ich habe noch Platz, wie Sie sehen, und würde mich über etwas Gesellschaft freuen.“

Es gefiel ihr ausnehmend gut, wie er sich über jede Konvention hinwegsetzte. Sie konnte beinahe Hermanns entsetzten Aufschrei hören. Vermutlich hätte sie selbst auch schockiert sein müssen, aber sie war es nicht.

Ihre Reaktion ermutigte ihn. „Kommen Sie, lassen Sie uns mal sehen, wie es funktionieren könnte.“

Er führte Diana in einen Raum, der hauptsächlich als Rumpelkammer zu dienen schien, was eine Verschwendung war angesichts der stuckverzierten Wände und der großen Fenster, die das Zimmer bei Tag bestimmt hell und freundlich machten und eine wundervolle Aussicht auf den Winterfeldtplatz und die Matthiaskirche boten.

„Ich kann das alles ausräumen“, sagte er. „Bad und Küche sind klein, aber sie erfüllen ihren Zweck. Wir teilen uns die Miete und sparen nicht nur Geld, sondern können auch die intellektuellen Messer aneinander wetzen, wenn uns danach ist. Na, was sagen Sie?“

Der Vorschlag hatte eine Menge für sich. Je mehr Diana darüber nachdachte, desto mehr erwärmte sie sich für den Gedanken. Die Wohnung war anheimelnd, und Hendriks Gesellschaft wäre ein zusätzliches Plus. „Warum leben Sie allein?“, wollte sie wissen. „Warum sind Sie nicht verheiratet?“

„Ich war einmal verlobt.“

„Und?“

„Sie konnte eine bessere Partie bekommen. Und wissen Sie, was das Schlimmste daran ist?“

Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen. Wieder mal ins Fettnäpfchen getreten! Typisch! Wie ungeschickt von ihr, an einen solchen Schmerz zu rühren!

„Ihr Ehemann ist ein begeisterter Verehrer von Johann Strauß.“

Sie kicherte.

„Finden Sie nicht, dass das auf einen abartigen Charakter deutet?“

„Sie hinterlistiger Schuft! Und ich dachte schon, ich hätte alte Wunden aufgerissen!“

„Haben Sie! Ich meine: Johann Strauß! Was für Abgründe tun sich da auf!“ Er kehrte mit ihr ins Wohnzimmer zurück. „Sie haben sich noch nicht zu meiner Frage geäußert.“

Diana streckte ihm die Hand hin. „Abgemacht!“

„Wunderbar!“ Verspätet fiel ihm ein, dass sie sein Ansinnen falsch interpretieren mochte. „Äh, ich hoffe, Sie verstehen mich recht, und … also … das war kein unsittlicher Antrag.“

Ein solcher Gedanke war ihr überhaupt nicht gekommen, vermutlich das sicherste Zeichen, dass dafür kein Grund bestand. „Meine Antwort war auch keine unsittliche Annahme Ihres Antrags.“

„Dann ist ja alles geregelt.“

„Wann darf ich einziehen?“

„Wann immer Sie wollen. Das Zimmer auszuräumen und herzurichten dauert nicht lange.“

„Geben Sie mir ein paar Tage, um meine Siebensachen zu packen und meine Familie schonend auf den Untergang des Abendlandes vorzubereiten. Sagen wir, irgendwann nächste Woche.“ Sie setzte sich wieder auf das Sofa. „Danke für das Angebot! Ich weiß es zu schätzen.“

„Glauben Sie nur nicht, dass ich Ihnen einen Gefallen tue – Sie tun mir einen!“

„Ich finde, wenn wir in Zukunft schon das schlagfertigste Duo seit Tom Sawyer und Huckleberry Finn werden, sollten wir zum Du übergehen.“

Hendrik schnippte mit den Fingern, sprang in die Küche und kam mit zwei gefüllten Kristallgläsern zurück. „Auf gute Partnerschaft, Diana!“, sagte er.

Sie nahm ein Glas und stieß es mit hellem Klingen gegen seines. „Auf gute Partnerschaft, Hendrik!“ Dann nahm sie einen Schluck und bekam einen Hustenanfall vor Lachen. Leitungswasser!

In diesem Moment klingelte es. „Mein Bruder“, vermutete Hendrik. Er und Diana blinzelten sich verschwörerisch zu, ehe er öffnete.

Gregor blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen, als er Diana erkannte. „Was machen Sie denn hier?“

„Dasselbe wie Sie: einen Besuch.“

„Ah!“ Gregors Blick wanderte zwischen den beiden hin und her.

„Nichts ‚ah‘!“, meinte Hendrik. „Komm herein und behalte deine Fantasien für dich. Ich dachte, es macht Sinn, wenn wir drei unsere Beobachtungen zusammenwerfen und sehen, was dabei rauskommt.“

„Du musst verrückt sein, wenn du glaubst, ich gebe Untersuchungsergebnisse an eine Verdächtige weiter.“

„Und ich werde mir sehr überlegen, ob ich die Resultate meiner Nachforschungen mit einem überheblichen Kommissar teile“, gab Diana zurück.

„Vielleicht könntet ihr eure Schlammschlacht für eine Weile unterbrechen“, sagte Hendrik. „Du wirst ebenso wie ich ihr Alibi überprüft haben, Gregor, und wissen, dass es wasserdicht ist.“

„Das beweist gar nichts. Sie könnte immer noch Mitwisserin oder gar Anstifterin sein.“

„Ich könnte auch die Kaiserin von China sein. Hören Sie, die Sache betrifft mich nun mal persönlich. Ich verlange ja nicht, dass Sie mich in jedes Detail Ihrer Untersuchung einweihen. Aber lassen Sie mich helfen, bitte!“

Gregor war immer noch nicht überzeugt. „Verdammt viel verlangt“, brummte er.

„Setz dich erst mal und trink ein Glas Eau nature mit uns“, sagte Hendrik. „Erzähl uns einfach, was du glaubst, guten Gewissens erzählen zu können, und den Rest behältst du für dich.“

Widerstrebend setzte sich Gregor zu den beiden an den Tisch. „Ist ja feudal gedeckt bei dir.“

„Wo soll ich in diesen Zeiten Delikatessen herbekommen? Du hast immerhin die Auswahl zwischen Wasser und Tee. Und wenn ich mir Mühe gebe, finde ich womöglich noch etwas Brot und Käse, falls dir danach ist.“

„Danke, ich bediene mich schon.“

Um das Eis zu brechen, machte Hendrik den Anfang: „Es scheint mir mehr und mehr wahrscheinlich, dass die Wurzeln des Verbrechens – oder zumindest die Bekanntschaft zwischen einigen Verdächtigen und dem Opfer – zu den Liebknecht-Luxemburg-Morden zurückreichen. Ich bin davon überzeugt, dass du die falsche Person verhaftet hast, trotz Fingerabdrücke und allem.“ Er kramte seine Notizen hervor und berichtete anhand seiner Aufzeichnungen, was er von Leander Sebald erfahren hatte.

„Verdammt!“, entfuhr es Gregor. „Ich hatte gehofft, dass mir so etwas erspart bleibt.“

Diana sah verwirrt aus, deshalb verriet Hendrik ihr: „Mein Bruder musste nach der Leiche von Rosa Luxemburg suchen.“

„Keine angenehme Aufgabe, kann ich mir vorstellen.“

„Wir haben den Landwehrkanal im Tiergarten abgesucht“, erzählte Gregor. „Mit Rettungsbooten vom Berliner Magistrat und freiwilligen Helfern der Feuerwehr wurde jeder Zentimeter des Kanals an der Unteren Freiarchenbrücke durchkämmt. Wir haben Suchanker benutzt. Gennat – Kriminalkommissar Gennat, er hatte die Leitung – meint immer: Nichts eignet sich besser zur Leichenfischerei als Suchanker. Das Fischen mit Netzen ist lange nicht so erfolgreich.“

„Und, haben Sie etwas gefunden?“

„Ein Fahrrad, einen Kinderwagen, ein Infanteriegewehr, einen Patronengurt – aber nicht Rosa Luxemburg. Später hat ein Taucher den Kanal zwischen S-Bahn- und Lichtensteinbrücke abgesucht. Er fand siebzig Gewehre und drei Leichen – aber nicht Rosa Luxemburg. Erst im Mai hat sie dann ein Schleusenarbeiter entdeckt. Vermutlich war sie in den Ketten am Wehr der Freiarchenbrücke hängen geblieben und dort aufgrund der starken Strömung festgeklemmt, bis der gesunkene Wasserstand sie wieder freigab.“

„Sie muss in einem furchtbaren Zustand gewesen sein.“

„Halb verwest.“

„Die Obduktion hat nicht viel erbracht, soviel ich gehört habe?“

„Wie auch?“, warf Hendrik ein. „Unser verehrter Reichswehrminister Noske hat dafür gesorgt, dass die Leiche ins Militärlager Zossen überführt wurde, ehe jemand Gelegenheit hatte, allzu genaue Untersuchungen vorzunehmen.“

„Vielleicht hatte er seine Gründe“, gab Gregor zu bedenken.

„Jeder Idiot weiß, dass man eine Leiche, die so lange im Wasser gelegen hat, besonders vorsichtig behandeln muss. Das brauche ich doch wohl gerade dir nicht zu sagen.“

„Trotzdem bist du voreilig mit deinen Unterstellungen!“

„Schau dir doch nur das Schmierentheater um den Prozess gegen die Mörder an! Der blanke Hohn! Die SPD hätte von Anfang an die republikfeindlichen Elemente der Reichswehr entlassen müssen, statt den Schutz des Staates ausgerechnet den reaktionärsten Lumpen anzuvertrauen! Aber die Sozialdemokraten buhlen ja immer um die Stimmen der Kleinbürger, koste es, was es wolle.“

„Ich will Noske gar nicht in Schutz nehmen. Mord geht mir weiß Gott gegen den Strich, und das nicht nur von Berufs wegen. Aber du musst auch sehen, unter welchem Druck von links die Regierung steht!“

Unerwartet erhielt Hendrik Schützenhilfe von Diana. „Die Sozialdemokraten sind doch selber nichts als hochgekommene Kleinbürger ohne Ideale, die glauben, dass wir mit dem Acht-Stunden-Tag schon paradiesische Zustände erreicht hätten. Vielleicht sollte von denen mal jemand den Broschecks erklären, dass sie längst im Garten Eden leben!“

„Sind Sie etwa Spartakistin?“, fragte Gregor.

„Ich habe Rosa Luxemburg verehrt, wenn Sie es genau wissen wollen. Und was Liebknecht damals, während des Krieges, gewagt hat: seinem Gewissen zu folgen, die eigene Entscheidung zu überdenken und als Einziger gegen einen neuen Kriegskredit zu stimmen, trotz Anfeindungen und Fraktionszwang – das nenne ich Mut!“

„Ideale sind schön und gut, aber ein bisschen Realismus ist auch nötig, um –“ Gregor unterbrach sich. „Augenblick mal, Hendrik! Du hast gesagt, ein Leutnant Souchon ist der Mörder von Rosa Luxemburg?“ Er erhob sich und ging erregt im Zimmer hin und her. „Der Mann hat als Zeuge im Prozess ausgesagt, deshalb habe ich mich damals über ihn informiert. Er ist Mitglied der Sturmabteilung Schmidt. Und das hielt sich zu der Zeit, als die Leiche gefunden wurde, in Zossen auf!“

„Was für eine gigantische Schweinerei!“, entrüstete sich Diana.

„Wenn der Mord an Ihrem Onkel tatsächlich von diesen Leuten begangen wurde, haben wir kaum eine Chance.“

„Wir müssen diesen Hauptmann Pabst finden und über die Briefe an Max Unger vernehmen“, erinnerte Hendrik.

Gregor sah ihn entgeistert an. „Hast du heute noch keine Zeitung gelesen?“

„Ich bin den ganzen Tag nicht dazu gekommen. Warum?“

„Er ist untergetaucht, seitdem ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Die Rechten sind dabei zu putschen!“

Hendrik machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das höre ich seit Beginn dieser Republik praktisch jeden zweiten Tag.“

„Diesmal ist es ernster. Hier!“ Gregor warf ihm einen Stapel Abendzeitungen zu.

Alarmbereitschaft der Garnison. Schutzhaftbefehle gegen Kapp und Hauptmann Pabst titelte die Vossische Zeitung ihren ansonsten wenig informativen Leitartikel. Das Berliner Tageblatt schrieb: Vereitelung eines reaktionären Putschversuchs. Und im Vorwärts, der Zeitung der regierenden Mehrheits-SPD, hieß es: Reaktionäres Komplott aufgedeckt. Ansonsten war auch hier kaum Brauchbares zu finden. Die Schlagzeile der Zeitung der Unabhängigen Sozialdemokraten, der Freiheit, lautete: Gegenrevolutionärer Putschversuch und enthielt mehrere Unterabschnitte, die sich insbesondere mit der Schuld Noskes an der Misere beschäftigten.

Hendrik überflog die Artikel und schüttelte den Kopf. „Wie ist so etwas möglich? Die Putschisten können ihr eigenes Vorgehen in der Zeitung lesen, das ist doch absurd!“

Eine Weile spekulierten die drei über einen möglichen gewaltsamen Umsturz, bis Hendrik die Aufmerksamkeit wieder auf den Fall Unger zurücklenkte. „Was hat sich bei euch im Adelsclub getan?“, erkundigte er sich bei seinem Bruder, auf die vielen „von“ unter den Kripobeamten anspielend.

„Wir haben uns heute diesen Emil Voigt vorgenommen, den Kostgänger der Broschecks. Aber er scheint nicht viel zu wissen.“

„Und was hat dir Frau Broscheck erzählt?“

Gregor warf einen Blick auf Diana. „Nichts“, meinte er zurückhaltend. „Sie weigert sich, eine Aussage zu machen. Wir bearbeiten sie natürlich, aber sie ist fest entschlossen, nichts zu sagen.“

„Warum nur?“, rätselte Hendrik. „Was nützt es ihr? Wenn sie schuldig ist, stärkt es den Verdacht gegen sie, wenn sie unschuldig ist, muss ihr doch an einer Aufklärung gelegen sein. Es sei denn, sie schützt jemand anderen.“

„Möglich.“ Gregor schien nicht weiter darüber reden zu wollen.

„Was hast du sonst herausgefunden?“

„Vor allem, dass die vierte Fährte ins Nichts führt.“

„Vierte Fährte?“ Diana verstand kein Wort.

Hendrik klärte sie auf: „Konkurrenten deines Onkels, die er in den Ruin oder gar zum Selbstmord getrieben hat.“

„Deines?“ Gregor riss die Augen auf und brachte damit Hendrik und Diana zum Lachen.

„Wir haben uns angefreundet“, verriet Hendrik. „Diana wird für eine Weile zu mir ziehen.“

„Das ging ja verdammt schnell.“

„Ich habe dir vorhin schon gesagt, du sollst deine Fantasien für dich behalten. Und jetzt lenk nicht ab: Was war mit den Konkurrenten von Max Unger?“

Gregor sah von Hendrik zu Diana und schüttelte den Kopf, beantwortete aber die Frage. „Alle Nachforschungen in dieser Richtung waren ergebnislos.“

„Das Päckchen! Was habt ihr darüber herausgefunden?“

„Weder das Verpackungsmaterial noch die Holzwolle, die zum Füllen benutzt wurde, haben irgendeinen brauchbaren Hinweis geliefert. Auch die Schriftprobenanalyse hat uns nicht weitergebracht. Ich habe Edgar zum Postamt geschickt, in dem das Päckchen aufgegeben wurde. Keiner der Postbeamten kann sich an irgendwas erinnern. Kaum verwunderlich, es handelt sich um ein stark frequentiertes Amt. Außerdem wird der Absender seine Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben, um nicht erkannt zu werden.“

„Also eine Sackgasse.“

„Ich fürchte, ja.“ Gregor sah Diana forschend an. „Sie haben bisher noch gar nichts zur Untersuchung beigetragen. Wie steht es denn mit Ihren Erkenntnissen?“

„Was die Broschecks angeht, so habe ich herausgefunden, dass mein Onkel ihre Wohnung schon einmal zwangsräumen ließ.“ Sie berichtete von dem Gespräch mit Mathilde Selchow. „Außerdem habe ich die Arbeitsräume meines Onkels in der Fabrik durchforstet, konnte aber zugegebenermaßen nichts finden, was uns weiterhilft. Dafür bin ich sicher, dass meine Tante etwas verheimlicht.“

Hendrik nutzte das Stichwort. „Um hinter dieses Geheimnis zu kommen, ist Diana geradezu prädestiniert. Da kann sie viel mehr ausrichten als die Polizei.“

„Vielen Dank für eure Mithilfe, aber das reicht jetzt. Das gilt auch für dich, Hendrik. Ich entbinde dich von deinem Versprechen, mir Auskunft über die Zitate zu geben.“

„Zu spät. Die ich rief, die Geister …“

„Das war keine Bitte, sondern ein Befehl.“

„Du kannst mir nicht verbieten, zur Universität zu gehen, und du wirst Diana nicht daran hindern, sich im Haus ihrer Familie aufzuhalten.“

„Es war offensichtlich ein Fehler von mir, dich da hineinzuziehen“, sagte Gregor und stand auf. Er war ernstlich wütend. „Du solltest etwas mehr Vertrauen in die Kriminalpolizei haben. Unsere Fachleute arbeiten mit den modernsten naturwissenschaftlichen Methoden. Amateure richten bloß Schaden an.“

„Sei unbesorgt! Auch ich halte mich an Fachleute: Aristoteles, John Stuart Mill …“

„Ich habe verstanden“, sagte Gregor, ergriff seinen Mantel und verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort.

„Tut mir Leid, dass ihr euch zerstritten habt“, meinte Diana.

„Er musste ein bisschen Dampf ablassen, das kommt schon wieder in Ordnung. Gregor ist nicht nachtragend. Ich besuche ihn morgen oder nach dem Wochenende in seinem Büro und renke alles wieder ein.“ Hendrik grinste. „Außerdem ist er selbst Schuld. Er sollte es besser wissen, schließlich habe ich es schon als Kind gehasst, wenn er als Älterer versucht hat, mir Befehle zu erteilen.“

„Und was sind nun die Methoden deiner Fachleute?“

„John Stuart Mills System der induktiven und deduktiven Logik, das Organon von Aristoteles und dergleichen mehr.“ Er rieb sich vergnügt die Hände. „Wollen doch mal sehen, ob ein paar olle Philosophen es nicht mit den Kriminalisten aufnehmen können!“

14

Hendrik schlief schlecht diese Nacht und wachte zwischendurch immer wieder auf. Dann lag er in seinem Bett, starrte die Decke an und fragte sich, ob nach anderthalb Jahren der Traum eines demokratischen Staates auf deutschem Boden schon wieder ausgeträumt sein sollte.

Um fünf stand er auf und setzte sich an seinen Schreibtisch, doch alles, was er zustande brachte, waren gedankenverlorene Kritzeleien, die seine düstere Stimmung widerspiegelten.

Um halb sieben, als es hell zu werden begann, hielt er es nicht länger aus, zog sich an und begab sich zu Fuß Richtung Stadtmitte. Er war nicht der Einzige, der unterwegs war, um sich Gewissheit über den Putsch zu verschaffen. Überall begegneten ihm Leute, manche bedrückt und besorgt, viele hoffnungsfroh.

Als er wenige Minuten nach sieben frierend den Pariser Platz erreichte, waren die Döberitzer Truppen unter den Augen einer dicht gedrängten Menge soeben dabei, mit Musikbegleitung durch das Brandenburger Tor in die Stadt einzumarschieren, um anschließend das Regierungsviertel zu besetzen. Menschen jubelten ihnen zu und schwenkten schwarz-weiß-rote Fahnen. Einige übergaben den Soldaten Geschenke. Diejenigen, die dem verbrecherischen Unternehmen feindselig gegenüberstanden, schwiegen. Hendrik erkannte den kahlen Schädel des einstigen Polizeipräsidenten Traugott von Jagow an der Spitze der Soldaten. Er sah nicht so aus, als versuche er, dem Putsch Einhalt zu gebieten. Es sei denn, er verwechselte die Richtungen.

Einige der Soldaten trugen am Stahlhelm das Hakenkreuz, ursprünglich ein Sonnenzeichen asiatischer Herkunft. Was für eine Ironie, dass dieses Symbol nun ausgerechnet dafür herhalten sollte, die Überlegenheit der eigenen Rasse über eben jene Völker zu dokumentieren!

Die Regierung war geflohen, hieß es. Manche hielten es für einen klugen Schachzug, sich nicht in die Gewalt der Militärs zu begeben, viele sprachen von Feigheit.

„Jottseidank, jetz jeht die Schiebawirtschaft zu Ende“, hörte Hendrik einen Schaulustigen ausrufen.

Eine dicke Frau lachte über das ganze Gesicht. „Nu’ wird allet jut, sonst steicht die Butta noch uff hundert Mark det Fund.“

Hendrik schob sich weiter. Er machte sich Gedanken um Diana. Würde sie sicher zu ihrer Tagung kommen? Konnte die überhaupt stattfinden? Er musste sie unbedingt anrufen!

Unterdessen war er der Spitze des Trupps zum Regierungsviertel gefolgt. Die Sipo, die Sicherheitspolizei, stand verloren in der Gegend herum und wusste offensichtlich nicht, was zu tun war. Irgendwann wurde ein Befehl ausgegeben, der sie in ihre Kasernen zurückbeorderte. Friedlich zogen die Männer ab, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, ihrer Aufgabe nachzukommen. Die Sipo war bedenkenlos übergelaufen. Nicht weiter verwunderlich, immerhin bestand sie aus lauter disziplingewohnten Soldaten, die nur im äußersten Notfall von ihrem eigenen Verstand Gebrauch machten. Wenn die Menschen nicht in der Lage sind, demokratische Freiheiten auszuhalten, dachte Hendrik, dann sollen sie doch die eingebrockte Suppe auslöffeln, mit allen Konsequenzen!

Antons dahingesagte Bemerkung kam ihm wieder in den Sinn. Ist denn eine andere Welt möglich? Auf den ersten Blick eine naive Frage. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto stärker fühlte er die Widerhaken. Gab es eine Alternative zum Lauf der Welt? Hätte eine Chance bestanden, den Putsch zu verhindern? Oder war dies alles unausweichlich gewesen?

Den ganzen Tag über wanderte Hendrik ziellos durch die Stadt. Offiziere durchritten die Straßen und verlasen Bekanntmachungen. Die Staatsgewalt sei auf Generallandschaftsdirektor Kapp als Reichskanzler übergegangen, sagten sie. Eine neue Regierung der Ordnung, der Freiheit und der Tat werde gebildet. Als äußeres Zeichen dieser neuen Freiheit errichteten sie Stacheldrahtverhaue.

Von Lastwagen herab wurden Flugblätter verteilt. Die neue Regierung sei angetreten, Deutschland zu retten. Deutsche Ehre und Ehrlichkeit sollten wieder hergestellt werden. Jeder Auflehnung gegen die neue Ordnung werde mit schonungsloser Entschlossenheit begegnet. Ein Versammlungsverbot war erlassen worden, das niemand beachtete. Zu aufgeputscht war auch die Stimmung.

Die Innenstadt glich einem Heerlager. Überall Maschinengewehre und Minenwerfer, biwakierende Soldaten in ihren feldgrauen Uniformen, Offizierspferde und Feldküchen, in deren Nähe streunende Hunde herumschnüffelten. Militärkapellen spielten, um gute Laune zu verbreiten. Es war eine aberwitzige Situation, wie eine Szene aus Alice im Wunderland. Oder eher aus einem Bild von Hieronymus Bosch.

Gerüchte liefen um; angeblich war ein Generalstreik beschlossen worden, um die Putschisten in die Knie zu zwingen. An einer Mauer hingen ein paar alte, halb zerfledderte Plakate. Das Vaterland ist in Gefahr, stand darauf. Schützt Eure Heimat! Und dann wurde die männliche Bevölkerung aufgefordert, in das eine oder andere Freikorps einzutreten.

Hendrik ging nach Hause. Er hatte genug.

15

Diana hörte ihren Onkel schon von Weitem schwadronieren. Zunächst glaubte sie, es ginge um den Putsch, aber sie hätte es besser wissen sollen. Hermann ließ sich zum millionsten Mal über die Unsinnigkeit der Eingemeindung aus. „Heuchler!“, dachte sie, denn natürlich kannte sie den wahren Grund für seine Ablehnung: Die Höhe der Kommunalsteuer richtete sich nach der Zusammensetzung der Bevölkerung; in wohlhabenden Gegenden wie der Villenkolonie Grunewald waren die Lasten für Volksschulen, Armen- und Krankenpflege daher gering. Unter Berücksichtigung der Steuerersparnis lebten die Ungers derzeit so gut wie umsonst. Das würde sich in einem vereinigten Groß-Berlin drastisch ändern. Diana atmete einmal tief durch und betrat das Esszimmer.

Hermann empfing sie gleich mit einer Zurechtweisung. „Dein Verhalten ist absolut unverzeihlich“, sagte er.

„Wovon sprichst du?“

„Davon, dass du es nicht für nötig hieltst, zur Trauerfeier zu erscheinen. Wie immer dein Verhältnis zu Max war, es wäre deine Pflicht gewesen, wenigstens die Form zu wahren! Was für einen Eindruck es gemacht hat, dass du einfach weggeblieben bist, kannst du dir wohl vorstellen!“

Diana war für ihre Verhältnisse früh aufgestanden und entsprechend schlecht gelaunt. „Ich habe an einer Tagung teilgenommen! Sollte ich vielleicht sagen: Tut mir Leid, blast die Versammlung ab, schickt die angereisten Wissenschaftler wieder nach Hause, mein Onkel hat sich leider einen unpassenden Zeitpunkt zum Sterben ausgesucht?“

„Rede nicht so leichtfertig daher!“

„Diese Tagung gestern hat über die Zukunft der Wissenschaften entschieden und damit auch über meine!“

„Schlag dir endlich diese fixe Idee aus dem Kopf! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass dich irgendjemand anstellen wird? Frauen gehören nicht in die Wissenschaft, dazu braucht man Logik und analytischen Verstand, etwas, das Frauen – und dir ganz besonders! – abgeht.“

„Du redest von Dingen, von denen du nichts verstehst!“

„Mäßige deinen Ton, junge Dame! Noch lebst du in meinem Haus.“

„Nicht mehr lange!“

„Was soll das nun wieder heißen?“

„Genau das, was ich gesagt habe. Oder kann dein analytischer Verstand keinem einfachen Satz folgen? Ich ziehe aus.“

„Du ziehst aus?“, fragte Käte nicht sehr intelligent.

„Du scheinst nicht das geringste Gefühl für Anstand zu haben. Eine junge Frau, die allein wohnt! Was sollen die Leute denken?“

„Wer sagt, dass ich allein wohne?“

„Nicht allein? Aber mit wem …?“, stotterte Käte.

„Ich ziehe zu Hendrik Lilienthal. Das ist der Herr, der im Hintergrund saß, als der Kommissar uns verhört hat.“

„Du ziehst zu einem Mann?“ Zum ersten Mal verlor Hermann seine Selbstsicherheit. „Das ist … ungeheuerlich!“

„Ja, nicht?“ Es bereitete Diana Genugtuung, ihren Onkel sprachlos gemacht zu haben. „Du kannst also froh sein, dass du mich loswirst. Was werden nur deine Freunde sagen? Eine Frau, die selbstständig denkt! Da werden sie sich ganz schön was zu Grunzen haben, wenn sie sich gegenseitig die Läuse aus dem Pelz zupfen!“ Erhobenen Hauptes stürmte sie hinaus.

Friedrich folgte ihr kurz darauf in ihr Zimmer und lachte Tränen. „Mein Gott, Hermanns Gesicht war unbeschreiblich!“

„Ist er noch da?“

„Nicht mehr. Er hat einen Monolog über den Verfall der Sitten im Allgemeinen und den deinen im Besonderen gehalten, dann musste er los, um das Ausmaß des Streiks in der Fabrik in Augenschein zu nehmen. Die Arbeiter tun mir jetzt schon Leid. So wütend habe ich ihn lange nicht mehr erlebt.“

„Und du? Findest du auch unmöglich, was ich tue?“

„Unmöglich? Nein. Typisch für dich, das ja. Und ein wenig … leichtsinnig. Ich meine, du ziehst zu einem Mann, den du nicht kennst … den du kaum gesehen hast … Wann hast du dich in ihn verliebt, Vivace?“

„Ich habe mich nicht in ihn verliebt.“

„Nicht? Aber …?“

„Wir sind Freunde. Oder werden es zumindest, hoffe ich.“ Stimmte das? Ja, entschied sie. Sie fand Hendrik durchaus attraktiv, aber es war eine andere Art von Magnetismus, die sie zu ihm zog.

Friedrich sah seine Nichte mit einem mitleidigen Ausdruck an. „Freundschaft zwischen Mann und Frau? Eine originelle Art, jemandem den Hof zu machen. Glaub mir, Vivace, vielleicht hat dieser Lilienthal ja ehrenwerte Absichten, ich kenne ihn schließlich nicht, aber jeder Mann will von einer Frau in erster Linie … sagen wir: Wärme.“

„Sprich du ruhig für dich! Du wirst lachen, aber nicht jeder Mann hat deinen Charakter.“

Er war nicht gekränkt. „Ich werde keinen Versuch machen, dich von deinem Entschluss abzubringen, dazu kenne ich dich zu gut. Und ich finde, jeder muss seine eigenen Erfahrungen sammeln. Ich wünsche dir jedenfalls Glück und hoffe, dass du nicht auch mit mir brichst, wenn du dieses sinkende Schiff verlässt.“

Sie ergriff seine Hand. „Du bist der Einzige, der meinen Aufenthalt hier erträglich gemacht hat. Ich lade dich ein, wenn ich mich in meinem neuen Zuhause eingerichtet habe.“

Er zögerte eine Sekunde. „Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass die Zuneigung, die dieser Lilienthal dir zeigt, nur vorgetäuscht sein könnte, um intime Details über unsere Familie in Erfahrung zu bringen? Sei vorsichtig, was du ihm erzählst, Vivace! Immerhin ist er von der Polizei.“

„Ist er nicht. Sein Bruder ist Kommissar. Er selbst ist Professor für Philosophie.“

„Was hatte er dann hier zu suchen?“

„Sein Bruder hat ihn wegen irgendwelcher Briefe an Onkel Max geholt.“

„Seltsam … Naja, dann! Pass auf dich auf!“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und verließ das Zimmer.

Stirnrunzelnd sah Diana ihm nach. Warum war er über ihre Antwort so erleichtert? Warum hatte er sich so besorgt nach Hendrik erkundigt? Was hatte er zu verbergen?

Sie gab es auf, diesem Rätsel auf den Grund gehen zu wollen, ehe ihr Kreislauf richtig in Gang gekommen war, und fing stattdessen an, einen Koffer zu packen. Wahllos warf sie Kleider und Wäsche hinein und fluchte über ihre mangelnde Systematik. Zum Teufel noch mal, wann hat die Schuhnot endlich ein Ende?, dachte sie, während sie ihre abgelaufenen Paare untersuchte.

Elsa kam herein, um das Zimmer zu machen. „Verzeihen Sie, Fräulein Escher, ich dachte nicht, dass Sie hier sind“, sagte sie. Dann entdeckte sie den Koffer. „Sie wollen fort?“

„Ich ziehe aus.“

„Schade. Es ist viel lustiger, seit Sie hier sind.“

„Danke für das Kompliment, Elsa!“ Sie sah das Dienstmädchen nachdenklich an. „Sag mal … ist dir irgendetwas aufgefallen … über den Mord an meinem Onkel, meine ich … das du der Polizei nicht mitgeteilt hast?“

„Nein, Fräulein Escher! Ich weiß ja nichts. Die schreckliche Tat ist erst spät passiert, sagt der Kommissar, und da habe ich schon geschlafen.“

„Natürlich.“ Diana dachte nach. „Ich weiß auch nicht recht, wonach ich suche. Irgendetwas Außergewöhnliches … es kann etwas ganz Kleines sein … Friedrich, zum Beispiel. Gab es in Zusammenhang mit ihm nichts Außergewöhnliches?“

„Nein.“

„Naja, es war nur so ein Gedanke. Aber du hast natürlich recht, da wir alle früh schlafen gegangen sind, kann es auch nichts zu beobachten geben.“

„Oh, der junge Herr Unger hat nicht geschlafen, Fräulein Escher! Zumindest nicht die ganze Zeit.“

„Wie kommst du darauf?“

„Seine Schuhe. Sie waren am Morgen ganz schmutzig, obwohl ich sie am Vorabend geputzt hatte. Ist das von Bedeutung?“

„Ich glaube nicht, Elsa. Danke!“

Das Dienstmädchen knickste und verließ das Zimmer. Diana setzte sich aufs Bett. Ihre Gedanken jagten sich. Friedrich musste in der Nacht noch fort gewesen sein. Aber wohin? Und weshalb?

Es war ihr nicht vergönnt, ihre Überlegungen zu Ende zu bringen, denn nun kam ihre Tante mit bekümmerter Miene herein, warf einen Blick auf den Koffer und setzte einen leidenden Ausdruck auf. Seufzend bereitete Diana sich auf einen weiteren Schwall Vorwürfe vor.

„Es ist dir nicht wirklich ernst damit, nicht wahr?“ Käte bettelte regelrecht um eine Bestätigung, dass die Grundfesten ihrer Welt noch unverrückbar an jener Stelle standen, wo sie vermutlich schon während der Punischen Kriege zu finden gewesen waren. „Du sagst das nur, um uns zu schockieren, stimmt’s?“

„Tut mir Leid, aber mein Entschluss steht fest.“

„Das kannst du nicht tun! Hast du denn keine Achtung vor dir selbst?“

„Ich ziehe nur in eine andere Wohnung, Tantchen, nicht in die Unterwelt.“

„Aber zu einem Mann! Den du nicht einmal kennst!“

„Ich möchte nicht mehr darüber reden. Ich bin eine erwachsene Frau, du und Onkel Hermann, ihr solltet euch allmählich damit abfinden, dass ich meine Entscheidungen selbst treffe.“

„Du bist immer so eigensinnig!“ Käte klang, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Da ihre Nichte sich davon nicht beeindrucken ließ, wischte sie sich schließlich über die Nase und sank aufs Bett. „Dein Onkel ist manchmal ein bisschen grob, aber er meint es nicht so. Du darfst ihm seine Worte nicht übel nehmen. Er sorgt sich eben um dich. Wir alle machen uns Sorgen. Du glaubst immer, alle Leute sind so geradeheraus wie du, aber es gibt viele Menschen … Männer … die etwas ganz anderes im Sinn haben als sie behaupten. Nicht jeder trägt sein Herz auf der Zunge.“

Diana sah eine Chance, ihre Tante zu überrumpeln. „Und was ist mit dir?“

„Wie meinst du das?“

„Aus welchem Grund hast du mich belogen, als du sagtest, niemand hätte an jenem unglückseligen Abend Onkel Max noch zu Gesicht bekommen?“

„Ich … ich habe nicht …“

„Ist es so schlimm, was du für dich behältst?“

Käte packte Dianas Handgelenk, dass die beinahe aufgeschrien hätte. „Sag so etwas nicht!“, flüsterte sie. „Es gibt eine Erklärung für alles.“

„Für was?“

Ihre Tante sackte in sich zusammen und atmete schwer. Dann schien sie den Entschluss zu fassen, die Last auf ihrer Seele mit jemandem zu teilen. „Ich … bin aufgewacht, weil ich einen trockenen Hals hatte, und ging hinunter, um mir ein Glas Wasser zu holen. Dabei sah ich Hermann … er kam aus dem Seitengebäude.“

„Wann war das?“

„Ich weiß nicht … ich kann nicht lange geschlafen haben. Vielleicht gegen acht oder neun.“ Sie spielte nervös mit den Falten ihres Hauskleides. „Er … er pfiff und rieb sich vergnügt die Hände.“

„Vergnügt?“

„Ja. Als ob alle Probleme beseitigt wären.“ Sie schlug die Hände vor den Mund, als sie begriff, was sie gesagt hatte. „So habe ich das nicht gemeint! Du glaubst doch nicht, dass …“ Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

Aber du glaubst es, dachte Diana. Laut fragte sie: „Warum war er so fröhlich?“

„Er hat es mir nicht gesagt. Ich … habe nicht gewagt zu fragen. Du weißt doch, wie er ist. Über Geschäfte redet er nicht mit mir.“

Diana tätschelte ihre Hand wie einem kleinen Kind. „Du solltest dich ausruhen, Tantchen! Es wird sich schon alles aufklären.“

„Ja!“, erwiderte Käte, doch ihren Augen sah man an, dass sie genau das mehr als alles andere fürchtete.

Als sie hinausging, bemerkte Diana zum ersten Mal, wie klein und gebrechlich sie war. Wie musste es sein, neben einem Menschen einzuschlafen, den man für einen Mörder hielt? Wie musste es sein, mit jemandem verheiratet zu sein, dem man nicht einmal so weit vertraute, dass man eine einfache Frage zu stellen wagte?

Von draußen erklang eine unkonzentrierte Interpretation von Liszts Liebestraum. Ihre Tante hatte sich ans Klavier gesetzt, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie spielte immer den Liebestraum, wenn sie schwermütiger Stimmung war.

Urplötzlich überfiel Diana ein Zittern. Lag des Rätsels Lösung doch hier, vor ihren Augen, in ihrer eigenen Familie?

Da war zum einen Friedrich, der behauptete, die ganze Nacht im Bett gewesen zu sein, und der sich doch davongestohlen hatte, wie seine Schuhe bewiesen.

Und dann war da Hermann, der heimlich in das Arbeitszimmer seines Bruders gegangen und fröhlich und von Sorgen erlöst wieder herausgekommen war.

Behauptete ihre Tante.

16

Der Verstand ist der große Schlächter des Wirklichen. Der Jünger muss den Schlächter töten. Hendrik streckte angewidert die Zunge heraus, während er an den Rand der Textstelle Helena Petrowna Blavatsky schrieb.

Bis zum Nachmittag war es ihm gelungen, den größten Teil der Quellen für die Zitate ausfindig zu machen. Mittlerweile hatte er neben Nietzsche auch Machiavelli isoliert – natürlich Machiavelli. Es war zu erwarten gewesen, auf Texte aus Il Principe zu stoßen, Texte über die Vorteile von Grausamkeit beim Herrschen und darüber, dass ein kluger Regent nicht notwendigerweise sein Wort halten muss, sondern im Gegenteil ein Meister der Heuchelei sein soll. Argumente, die denjenigen wie Öl runtergehen mussten, die einen Eid auf die neue Verfassung geschworen hatten, um sie im selben Augenblick zu verraten. Der Zweck heiligt die Mittel.

Des Weiteren hatte er herausfinden können, dass eine antisemitische Zeitschrift namens Ostara der Ursprung der abstrusesten Textstellen war, in denen ständig von Arioheroikern und Edelrassigen gegenüber Tschandalen und Äfflingen die Rede war.

Die Zitate in den Briefen liefen querbeet durch den philosophischen Gemüsegarten und folgten keinerlei erkennbarer Systematik, wie zu erwarten bei Leuten, die lediglich die Literatur für ihre Zwecke plünderten und sich keine Gedanken darüber machten, vor welchem kulturellen Hintergrund und in welchem politischen Zusammenhang ein Werk entstanden war.

Brach Etzels Haus in Glut zusammen, / als er die Nibelungen zwang, / So soll Europa stehn in Flammen / bei der Germanen Untergang. Felix Dahn. Noch so ein Gelehrter, dem zu viel Pathos das Gehirn verkleisterte.

Klar, dass auch ein nationalistisch uminterpretiertes Nibelungenlied für Hetztiraden herhalten musste, unter völliger Missachtung der Tatsache, dass weder der Treue- noch der Ehr- oder Rachebegriff der Germanen etwas mit dem gemein hatte, was deutschtümelnde Kleingeister darunter verstanden! Vor allen Dingen unterschieden sich die Helden der Sage dadurch von jenen Politikern und Militärs, die sich so gern mit diesem Epos schmückten, dass sie bereit waren, mit ihrem Leben für die von ihnen getroffenen Entscheidungen geradezustehen, und ausdrücklich ihre eigene Schuld bejahten. Weder Gunter noch Hagen noch Siegfried wäre es je in den Sinn gekommen, darüber zu jammern, dass die Sieger eines von ihnen angezettelten Krieges sie nicht mit Samthandschuhen anfassten, noch hatten sie ihre Gegner anders als mit Hochachtung behandelt. Das Schlimme an Fanatikern war, dass sie dauernd Dinge zitierten, die sie gar nicht begriffen.

Hendrik merkte, wie der Groll in seinem Magen sich immer mehr zu einem kalten Klumpen verdichtete, und warf seinen Bleistift auf den Schreibtisch. Für heute hatte er die Nase voll.

Er ging ins Bad und spritzte sich Wasser ins Gesicht, aber die Niedergeschlagenheit blieb. Warum tat er sich diese Quälerei eigentlich an, wo er doch die Identität Thors bereits aufgedeckt hatte? Vermutlich sein Perfektionismus. Wenn er einmal etwas anfing, führte er es auch zu Ende.

Womit er bei dem Mord an Max Unger war. Die Untersuchung bewegte sich nicht vom Fleck, und das lag nicht nur daran, dass heute Sonntag war. Er musste etwas tun. Wenn er es ernst meinte, Antons Mutter zu helfen, durfte er sich nicht aufs Abstellgleis schieben lassen. Gleich morgen früh würde er seinen Bruder aufsuchen, um etwas über Frau Broschecks Aussagen zu erfahren. Und er musste Hauptmann Pabst sprechen. Unbedingt!

Erst jetzt stellte Hendrik fest, wie spät es war. Er hatte weder das Verstreichen der Zeit noch seinen Hunger bemerkt. Erschöpft begab er sich in die Küche und stellte aus kärglichen Überresten eine Art Essen zusammen. Anschließend warf er sich einen Mantel über und ging nach draußen. Er brauchte dringend frische Luft, um den Mief des Ewiggestrigen loszuwerden.

Es war kalt und ungemütlich auf der Straße. Hendrik zog den abgenutzten Mantel enger um seine Schultern und wollte die 52 zum Brandenburger Tor nehmen, musste aber feststellen, dass keine Straßenbahn mehr fuhr. Auch Hochbahn und Omnibusse hatten den Betrieb eingestellt. Anscheinend fing der proklamierte Generalstreik an zu greifen.

Er beschloss, zu Fuß zu gehen, und ließ sich einfach vom Strom der Menge treiben. Überall standen Gruppen von Menschen beisammen und diskutierten erregt oder tauschten Neuigkeiten aus. Die „Regierung Kapp“ hatte offenbar ein Presseverbot erlassen, und die Leute hungerten nach Nachrichten.

Die absurdesten Gerüchte machten die Runde. Die alte Regierung habe aufgegeben, sei erschossen, sei ins Ausland geflohen, hieß es. Kapp wolle zurücktreten, sei schon zurückgetreten, sei bald am Ende. Ludendorff werde die Macht übernehmen, General von Lüttwitz, General von Seeckt. Die Entente habe die „Regierung Kapp“ anerkannt. Die Kommunisten bereiteten die Räterepublik vor. An das Versammlungsverbot hielt sich selbstredend niemand.

Straßenhändler priesen unverdrossen ihre Waren an, obwohl die Menschen ihnen weniger Beachtung schenkten als sonst. Ein Schuhmacher reparierte Schuhe. Ein graumelierter Herr führte Scheibenwischer aus Gummi vor, seit vergangenem Jahr die neueste Attraktion. Auch eine Krageneinlage, die angeblich eine längere Lebensdauer der Krawatten zur Folge hatte, wurde feilgeboten. Und selbstverständlich traf man überall auf Kriegsversehrte, die um ein Almosen bettelten. Das Leben hörte nicht auf, nur weil ein paar Größenwahnsinnige putschten.

Ab und zu beteiligte sich Hendrik an Diskussionen und erfuhr dadurch, dass das Zeitungsverbot wieder aufgehoben worden war, inzwischen aber die Buchdrucker streikten. Außerdem fehlte der Strom. Nur dem Vorwärts war es wohl gelungen, noch eine kleine Auflage zu drucken.

Vor den Filialen der Zeitungen drängten sich die Leute, um wenigsten die in den Schaufenstern angebrachten Aushänge zu lesen. Hendrik machte einen kurzen Abstecher in die Jerusalemer Straße. Auch vor dem Geschäftshaus Mosse, das immer noch mit Kugelspuren aus den Revolutionskämpfen vom vergangenen Jahr übersät war, befand sich eine Traube von Menschen, um die Aushänge des Berliner Tageblattes zu lesen. Diesen konnte Hendrik entnehmen, dass die alte Regierung sich bester Gesundheit erfreute, inzwischen von Dresden nach Stuttgart umgezogen war und keine Rede davon sein konnte, dass die Entente Beziehungen zur „Regierung Kapp“ aufgenommen hätte. Nebenbei erfuhr man aus den Aushängen auch das Ergebnis der Volksabstimmung in Südschleswig: Achtzig Prozent der Bevölkerung hatten zugunsten eines Verbleibs im Deutschen Reich gestimmt.

Motorengebrumm ließ Hendrik nach oben blicken. Ein Flugzeug brauste über die Dächer der Stadt, aus seinem Leib quollen unzählige Blätter, die wie Herbstlaub herabsegelten und die Straßen bedeckten. Hendrik hob eines auf.

Der erste Tag der neuen Regierung, hieß es da großspurig. Es folgte das übliche Politikergewäsch, dem es irgendwie immer gelingt, hilfloses Wassertreten als erfolgreichen neuen Schwimmstil zu verkaufen.

Zufällig schnappte Hendrik die Bemerkung eines Passanten über die Kosten des putschistischen Abenteuers auf. Richtig, die Kosten! Mit welchen Geldern gedachte Kapp eigentlich seine Soldaten und die versprochenen Lohnerhöhungen und Sonderzulagen zu bezahlen? Wie viele Industrielle hatten wohl in die militärischen Eskapaden investiert?

Wie angewurzelt blieb Hendrik stehen. Natürlich! Max Unger hatte den Putsch unterstützt! Vielleicht wäre er in der „neuen Regierung“ Wirtschaftsminister geworden. Lag hier etwa das Motiv für den Mord? In unterschiedlichen Ansichten über das Vorgehen des Putsches? Hatte Max Unger womöglich gedroht, alles auffliegen zu lassen, wenn seine Wünsche nicht Berücksichtigung fanden?

Nein, das passte nicht. Der Putsch war ohnehin nicht gerade ein Muster an Geheimhaltung gewesen und mehr als dilettantisch vorbereitet. Außerdem hätte sich Max Unger im Falle eines Verrats selbst geschadet, immerhin steckte er bis zum Hals mit drin.

Von einer Gruppe Arbeiter erfuhr Hendrik, dass das für die südlichen Teile Berlins zuständige Wasserwerk lahmgelegt war, vermutlich infolge des Streiks im Elektrizitätswerk. Hoffentlich ging es Anton und seiner Familie gut! Es musste hart für den Jungen sein, dass seine Mutter gerade in diesen Stunden der Not im Gefängnis saß.

Planlos streifte Hendrik durch die Straßen. Erst als es dunkel wurde, dachte er daran, nach Hause zu gehen. Zu spät bemerkte er, dass die Straßenbeleuchtung fehlte. Auch die Laternen waren selbstverständlich vom Streik betroffen, ohne Gas und Strom kein Licht. Schnellen Schrittes eilte der Professor Richtung Schöneberg, solange er noch einigermaßen sehen konnte, aber vom Potsdamer Platz an kam er nur noch im Schneckentempo voran. Unbeholfen tastete er sich an Hauswänden entlang und schlug mehr als einmal hin, weil er über eine vorstehende Treppenstufe oder einen emporragenden Pflasterstein stolperte.

Er war nicht der Einzige, den die Situation überrascht hatte; immer wieder hörte er das Tappen von Schritten oder halblaut hervorgestoßene Flüche. Ab und zu kam ihm jemand mit einer Taschenlampe oder Blendlaterne entgegen, doch leider ging dieser Jemand nie in seine Richtung.

Als er wieder einmal ins Leere tastete, blieb er stehen. Wo genau befand er sich? Ganz in der Nähe seiner Wohnung, oder? Doch, sicher! Wenn ihn nicht alles täuschte, war dies bereits die Winterfeldtstraße. Am besten wechselte er die Straßenseite, dann drüben an den Häusern entlang bis zum Winterfeldtplatz, und dann … Allerdings, wenn er sich irrte, bestand die Gefahr, dass er sich verlief, und das war in dieser Finsternis nicht zu empfehlen. Verunsichert drehte er sich hin und her.

Aus einem Fenster weiter hinten fiel Kerzenlicht und beleuchtete ein spitzbärtiges Gesicht. Wer is’ eigentlich der Mann mit dem spitzen Bart? Die Dunkelheit hatte das Gesicht wieder verschluckt, aber das Klack-klack von Schuhen auf Straßenpflaster kam immer näher.

Einen Augenblick lang floss Eiswasser in Hendriks Adern. Dann rannte er mit ausgestreckten Armen, um nirgendwo anzustoßen, auf die gegenüberliegende Straßenseite. Er stolperte über den Bordstein, prallte gegen eine Hauswand und schürfte sich die Wange auf, aber er bemerkte es kaum. Seine Hände glitten über rauen Putz und bloßliegende Ziegel. Weiter, nur fort von seinem Verfolger! Unwillkürlich begann Hendrik zu hinken.

An der Straßenecke blieb er stehen und lauschte. Der Mann war jetzt so nahe, dass man sein Keuchen hören konnte. Er hatte offenbar bemerkt, dass sein Opfer im Begriff war zu entkommen, und fing ebenfalls an zu laufen. Mit Genugtuung vernahm Hendrik einen unterdrückten Aufschrei, als der Spitzel über denselben Bordstein stolperte. Los, den Vorteil nutzen! Bewegung!

Endlich, die Gleditschstraße! Der rettende Hauseingang konnte nicht mehr weit sein. Aber welcher war es? Bloß nicht den Kopf verlieren! Hendrik schloss die Augen, um mit seinen Händen zu sehen. Nummer 1 … Nummer 3–5 … Verflixt, war das hier das Schaufenster des Fotogeschäfts, oder gehörte es noch zur Drogerie Richter? Ah, da! Das musste die schadhafte Stelle in der Mauer von 7–9 sein! Gleich, gleich war es geschafft! Schnell, der Schlüsselbund! Bloß nicht fallen lassen! Welcher Schlüssel war es? Der nicht … der nicht … der! Das Schlüsselloch, Beeilung! Warum steckte der Schlüssel fest? War dies etwa der falsche Hauseingang? Beweg dich, verdammt noch mal!

Fast meinte Hendrik, den Atem seines unbekannten Feindes im Nacken zu spüren, als ihm endlich gelang, die Tür aufzustoßen. Hals über Kopf stürzte er ins Haus, schlug die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel im Schloss und lehnte sich zitternd von innen gegen das Holz.

Klack klack!

Schritte kamen näher, blieben stehen. Das kaum wahrnehmbare Geräusch einer Hand, die über die Türfüllung strich und Rahmen, Schloss, Klinke erkundete. Dann Stille. Hendrik presste sein Ohr an das Holz, aber alles, was er hörte, waren das Rauschen seines Blutes und der wilde Schlag seines Herzens.

Stille.

Stille.

Und dann, zu Hendriks Grauen, flüsterte eine Stimme dicht an seinem Ohr, nur durch eine dünne Holzschicht getrennt: „Gute Nacht, Professor Lilienthal!“

17

Als Hendrik erwachte, fühlte er sich wie gerädert. Er hatte wieder schlecht geschlafen. Mitten in der Nacht war er ein paarmal aufgewacht, weil irgendwo in der Stadt Schüsse fielen, einmal sogar ganz in der Nähe seiner Wohnung.

Mühsam setzte er sich auf, massierte seine Schläfen und anschließend die kalten Füße. Das gestrige Erlebnis steckte ihm noch in den Knochen. Er hatte eine ganze Weile gebraucht, ehe es ihm gelungen war, die Anspannung abzuschütteln. Um acht war er schließlich zu Bett gegangen, weil es wenig Sinn machte, sich im Dämmergrau einer Petroleumlampe die Augen zu verderben. Nur ungern hatte er die Flamme gelöscht. Erschreckend, wie schnell Urängste von einem Menschen Besitz ergreifen konnten, sobald das Licht fehlte!

Hendrik gähnte und reckte sich, begab sich ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Wie erwartet tat sich nichts, demzufolge fiel das Waschen heute aus. Er musste unbedingt daran denken, sich ein paar Eimer Wasser von der nächstgelegenen Pumpe zu holen. Später. Vorerst hatte er einen ausgefüllten Tag vor sich. Er beabsichtigte, bei seinem Bruder vorbeizuschauen, um sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Außerdem wollte er wissen, ob Gregor immer noch auf ihn wütend war.

Er zog sich an und dachte kurz darüber nach, sich etwas zu essen zu machen, ehe ihm einfiel, dass er nichts mehr im Haus hatte. Also ging er zunächst zum Bäcker, wo er sich an das Ende einer langen Schlange anstellen musste. Jeder sah zu, noch rasch das Lebensnotwendige zu hamstern, weil allen klar war, dass sich die Lebensmittelknappheit durch Putsch und Generalstreik weiter verschärfen würde. Die Preise waren in schwindelerregende Höhen geschnellt.

Während Hendrik darauf wartete, dass er an die Reihe kam, malte er gedankenverloren eine Karikatur des Bäckers in den Schmutz der Fensterscheibe, was ihm befremdete Blicke der hinter ihm Stehenden eintrug. Verlegen löschte er die Zeichnung wieder, mit dem Ergebnis, dass seine Hand schwarz wurde.

Im Inneren des Ladens verriet ihm ein Blick in die Regale, dass die Kuchenverordnung, die den Brotbäckern das Kuchenbacken verbot, immer noch in Kraft war. Mehl wurde nun mal dringender für Brot gebraucht.

Irgendwann kam er schließlich an die Reihe, legte seine Brotkarte vor und kaufte ein 1.900-Gramm-Brot. Der Bäcker trennte Abschnitte im entsprechenden Gegenwert ab und händigte ihm die Karte wieder aus.

Nachdem er das Brot in seine Wohnung gebracht und sich ein spartanisches Frühstück bereitet hatte, schwang Hendrik sich auf sein Fahrrad und begab sich in die Dircksenstraße, zum Publikumseingang des Polizeipräsidiums.

Eine junge Dame mit modischem Straßenhut aus Zelluloidborten zwinkerte ihm zu, als er sein Rad vor dem vierstöckigen Backsteinbau, der „Roten Villa“, abstellte. Hübsch! Er sah ihr nach, wie sie die Straße überquerte und auf die Stadtbahnbögen zuging, seufzte und betrat das Gebäude, um sich unangenehmeren Dingen zuzuwenden.

Der Portier grüßte ihn mit Namen. „Sie kennen ja den Weg“, meinte er.

An den Schaukästen mit Leichenfotos vorbei marschierte Hendrik zielstrebig in das Büro seines Bruders.

Gregor war anscheinend gerade im Aufbruch. Er sah schlecht aus, unrasiert und unausgeschlafen. Hendrik kannte die Symptome. Es belastete seinen Bruder, wenn er mit einem Fall nicht weiterkam. Vermutlich hatte er sich wieder die Nächte um die Ohren geschlagen und auch am Wochenende gearbeitet.

„Störe ich?“

„Kommt drauf an, was du willst.“

„Herausfinden, ob du trotz unserer Meinungsverschiedenheit noch mit mir redest und nicht etwa vorhast, deinen Familiennamen zu ändern.“

„Wirf mal einen Blick aus dem Fenster, dann wirst du feststellen, dass sich die Welt keineswegs um dich dreht.“

Ein gutes Zeichen! Wenn Gregor stichelte, war er nicht länger verärgert.

Während sie ein paar Sätze über den Putsch wechselten und ihre Einschätzung der Lage in Berlin austauschten, sah Hendrik nach den Blumentöpfen auf der Fensterbank. Seit geraumer Zeit versuchte sein Bruder, Gewürzkräuter zu ziehen. Angesichts dessen, was ihn da traurig über den Topfrand hinweg anguckte, würde ein Erfolg noch lange auf sich warten lassen. „Ich verrate dir ein streng gehütetes Geheimnis“, sagte er. „Pflanzen muss man ab und zu gießen!“

„Wenn ich zurück bin“, brummte Gregor und setzte seinen abgegriffenen Filzhut auf.

Hendrik beschloss, ihm nichts von seinem Verfolger zu erzählen. Es hätte ihn nur in dem Vorsatz bestärkt, ihn aus allem herauszuhalten. „Gibt’s was Neues?“, erkundigte er sich stattdessen.

Gregor schüttelte den Kopf.

„Wie geht es Frau Broscheck?“

„Bin gerade auf dem Weg zu ihr. Bis jetzt hat sie keinen Ton gesagt, aber ich erhielt eben die Nachricht, dass sie mich zu sprechen wünscht. Das Wochenende in Untersuchungshaft hat sie wohl mürbe gemacht.“

„Funktionieren denn eure Telefone noch?“

„Zum Glück. Nur der private Telefonverkehr wurde gesperrt. Aber der Straßen- und Schienenbetrieb steht still, und ein Motorrad ist auch nicht aufzutreiben, ich muss also per Fahrrad nach Moabit.“

„Nimmst du mich mit?“

Gregor stemmte die Hände in die Hüften und sah seinen Bruder entrüstet an. „Du traust dich was! Zum Dank für deine Dreistigkeit soll ich dich auch noch am Verhör teilhaben lassen?“

„Ich mache auch wieder deinen Schriftgelehrten.“

Gregor zögerte, dann nickte er. „Keine Informationen an Fräulein Escher!“

Sie vermieden es, den Weg über das Regierungsviertel zu nehmen, um nicht unnötig von Putschisten belästigt zu werden, und fuhren stattdessen auf der anderen Seite der Spree. Es war geradezu unheimlich, weder Bahnen noch Omnibussen zu begegnen. Hin und wieder tauchte eine Pferdedroschke oder ein überfüllter Lastwagen auf, auf dessen Seitenbrettern mit Kreide das Reiseziel geschrieben stand. Auf der Ladefläche drängten sich Dutzende von gut gekleideten Geschäftsleuten, die hofften, zu einer akzeptablen Zeit an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Die Fuhrunternehmer nutzten die Notlage aus und verlangten Fantasiepreise.

„Es hat mehrere Zusammenstöße in der Nacht gegeben“, berichtete Gregor, während sie am Hackeschen Markt in die Oranienburger Straße einbogen. Er schnaufte, weil er aus der Übung war. „Außerdem fahren bis auf Milch- und Kohletransporte keine Fernzüge mehr.“

„Die Post kam heute Morgen auch nicht. Und zumindest in meiner Wohnung gibt es weder Strom noch Wasser noch Gas. Wie sieht es bei dir aus?“

„Ich glaube, in den meisten Bezirken funktioniert nichts mehr.“

Auf der Karlstraße brauste ein Wagen der Technischen Nothilfe unter dem Schutz einiger Soldaten an ihnen vorbei. Zwischen den Männern auf der Ladefläche erkannte Hendrik auch einen seiner Studenten. Arbeiter, die am Straßenrand standen, ergriffen Pflastersteine und warfen damit nach den Streikbrechern, trafen jedoch nicht.

Hendrik erzählte, welche Überlegungen er hinsichtlich einer finanziellen Beteiligung Max Ungers am Putsch angestellt hatte, und musste feststellen, dass er seinem Bruder damit nichts Neues verriet.

„Er unterstützt Pabsts Truppe bereits seit Jahren“, berichtete Gregor. „Ich habe in Erfahrung gebracht, wohin verschiedene Summen von seinem Bankkonto aus geflossen sind. Wahrscheinlich stammt auch die Belohnung an die Bürgerwehr für die Gefangennahme von Liebknecht und Luxemburg von ihm.“

„Belohnung? Wie viel war das?“

„1.700 Mark. Für jeden!“

„Donnerwetter! Mit ehrlicher Arbeit verdient man so viel allerdings nicht.“

Der Lehrter Bahnhof, in dem die Züge von Hamburg, Bremen und Hannover endeten, war, wie alle Bahnhöfe, von Stacheldrahtzäunen umgeben. Überall an den Straßenecken waren Maschinengewehre und Geschütze in Stellung gebracht. Mit Totenköpfen bepinselte Panzerautos fuhren umher. Drüben, auf der anderen Seite der Spree, konnte man patrouillierende Posten vor dem Reichsministerium des Inneren erkennen.

Gregor berichtete, dass Hermann Unger eine Belohnung für Hinweise auf den Mörder seines Bruders ausgesetzt hatte. Ob aus Furcht vor dem Schaden, den der Ruf der Firma nehmen musste, wenn die Untersuchung sich noch lange hinzog, oder um selbst in einem guten Licht zu erscheinen, war schwer zu beurteilen.

Die Brüder Lilienthal fuhren an der Urania-Sternwarte vorbei und erreichten endlich das Kriminalgericht, das größte Gefängnis Europas. Es war eine Kleinstadt für sich und mit seinen Elektrizitäts-, Wasser- und Fernheizwerken versorgungsunabhängig.

Gregor rang nach Atem, während er sein Rad vor dem Gebäude abstellte. Den größten Teil des Weges über war er schweigsam gewesen, hatte Hendrik nur ab und zu verstohlene Blicke zugeworfen. Der wusste genau, was seinem Bruder im Kopf herumspukte, machte aber keinen Versuch, ihm die Situation zu erleichtern.

„Sag mal …“, druckste Gregor, als käme ihm der Gedanke eben erst, „hältst du es eigentlich für eine gute Idee, eine Frau in deine Wohnung zu nehmen?“

„Sorgst du dich um meinen Ruf oder den von Fräulein Escher?“

„Das ist kein Thema zum Scherzen. Kannst du ihr nicht auf anständige Weise den Hof machen?“

„Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich die Absicht habe, ihr den Hof zu machen?“

„Du willst mir doch nicht erzählen, dass es dir bloß darum geht, ihr eine Unterkunft zu verschaffen.“

„Natürlich nicht. Ich mag sie. Meine Wohnung ist manchmal ziemlich einsam. Was liegt näher, als sie mit einer guten … äh … Freundin zu teilen?“

Ärgerlich, dass die Sprachen der Welt zwar feinste Nuancen zwischen Leibeigenen, Hörigen und Sklaven herausarbeiten und zwischen Oberst, Major und Hauptmann unterscheiden konnten, aber bei der Differenzierung von zwischenmenschlichen Beziehungen kläglich versagten! Die deutsche Sprache – und vermutlich auch jede andere – kannte lediglich das intime Freund und das beliebige Bekannter und allenfalls noch das nichtssagende Kamerad. Warum gab es kein Wort für mehr-als-Bekannter-aber-weniger-als-Freund? Oder für Entwicklungen: Werdende-Freunde, Sich-auseinanderlebende-Freunde?

„Freundschaft zwischen Mann und Frau gibt es nicht.“

„Tut mir Leid für dich, dass du so etwas noch nicht erlebt hast. Was aber keineswegs bedeutet, dass es nicht existiert. Von allem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des Lebens bereitstellt, ist bei weitem das Größte der Erwerb der Freundschaft. Epikur.“

„Schon gut! Wenn du anfängst, Philosophen herzubeten, kann man mit dir nicht mehr vernünftig reden.“

Sie begaben sich in das Innere des Gebäudes, wo Gregor einen Beamten beauftragte, Barbara Broscheck zu ihnen zu führen.

„Warum hat sie bis jetzt geschwiegen?“, fragte Hendrik, während sie im Verhörzimmer warteten.

„Zu Anfang denken immer alle, es wäre am besten, nichts zu sagen. Ich habe dafür gesorgt, dass sie keine Besuche erhält, um sie schmoren zu lassen und zu verhindern, dass sie sich mit ihrem Mann abspricht.“

Als Frau Broscheck hereingeführt wurde, musste Hendrik zweimal hinsehen, um sie zu erkennen. Einerseits hatte es ihr gut getan, drei Tage hintereinander nicht arbeiten zu müssen; ihr Haar war frisch gewaschen, und auch die dunklen Ringe unter den Augen waren zurückgegangen. Andererseits sah sie womöglich noch kränker aus. Sicher hatte sie mitbekommen, was in Berlin los war, und sorgte sich um ihre Familie.

„Wie geht es Anton und mei’m Mann?“, wollte sie denn auch als Erstes wissen.

„Setzen Sie sich“, erwiderte Gregor, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Sie sind also zu dem Schluss gekommen, endlich die Wahrheit zu sagen?“

„Ich war’s nich’!“

„Dann erzählen Sie uns, was passiert ist.“

Sie schwieg, vermutlich unschlüssig, wie viel sie zugeben sollte.

Um sie zum Reden zu bringen, fing Gregor mit einem harmlosen Detail an. „Sie haben das Messer im Kaufhaus geklaut, damit man die Spur nicht zu Ihnen zurückverfolgen kann, nicht wahr?“

„Ja“, gab sie zu. „Es … es stimmt, dass ich ihn umbringen wollte. Er hat uns das Leben zur Hölle gemacht. Wir ham alle für ihn geschuftet, und am Ende hat’s doch nie gelangt. Die Raten für die Nähmaschine sind noch nich’ abbezahlt, aber ohne Nähmaschine kann ich nich’ genug dazuverdien’! Curt hat sich für ihn kaputtgemacht. Wenn er nach Hause kommt, sitzt er immer bloß da und kuckt die Wände an, wenn er nich’ gleich einschläft. Ich konnt’ es nich’ mehr mitansehen! Und immer die Angst, wieder auf die Straße geschmissen zu wer’n! Curts Vater hätte das nich’ überlebt. Und dann auch noch der Schuldschein!“

Gregor warf Hendrik einen warnenden Blick zu, den dieser überflüssig fand. Trotz intensiver Suche blieb der Schuldschein verschwunden. Mittlerweile waren sie schon geneigt gewesen anzunehmen, dass Anton sich geirrt hatte. Und hier war nun der Beweis, dass der Schein tatsächlich existierte!

„Max Unger hat Ihnen Kredit gegeben“, soufflierte Gregor, um zu verhindern, dass Frau Broschecks Redefluss versiegte.

„Zu Wucherzinsen. Die ham uns noch tiefer ins Elend gestürzt. Und immer wieder hat er von Curt Extraarbeit verlangt, unbezahlte. Als Dank, dass er so großzügig gewesen is’. Dabei hat Curt schon bis zum Umfall’n geschuftet.“

„Sie sind also mit der Absicht, Max Unger umzubringen, zu seiner Villa gegangen.“

„Ich wusste, er sitzt abends immer allein in sei’m Arbeitszimmer. Ich bin zum Nebengebäude und hab’ geklingelt …“

„Wann?“

„Weiß nich’ … noch nich’ halb neun, glaube ich.“

„Sie haben Herrn Unger erst eine Zeit lang beobachtet, richtig? Vom Garten aus, hinter einem Busch.“

„Ich weiß doch gar nich’, wo sein Arbeitszimmer is’. Bloß, dass es nebenan is’. Das stand mal inner Zeitung. Und dass er da immer bis nachts sitzt. Außerdem bin ich gleich an die Tür, ohne mich zu besinn’, weil ich Angst hatte, ich tu’s nich’, wenn ich zu viel nachdenke.“

Sie wartete auf eine neuerliche Unterbrechung, und als keine erfolgte, fuhr sie fort: „Ich hab’ also geklingelt, er macht auf und schnauzt mich gleich an, obwohl ich ihn doch bloß bitte, uns noch mal Aufschub zu geben. Ich hab’ ihn wirklich gehasst, wie ich noch keinen gehasst habe. Aber ich konnt’s nich’. Ich hatte das Messer inner Hand, hinter mei’m Rücken, aber es ihm ’reinstoßen, das konnt’ ich einfach nich’. Da hab’ ich’s weggeworfen und bin wieder nach Hause.“

„Wohin haben Sie das Messer geworfen?“

„Irgendwo. Ins Gebüsch.“

„Warum haben Sie es nicht behalten?“

„Weiß nich’ … ich wollt’ nix mehr damit zu tun ham.“

„In welcher Verfassung war Herr Unger? Wie hat er sich benommen?“

„Großkotzig, wie immer.“

„Wirkte er, als hätte er jemanden erwartet? War er nervös? Furchtsam?“

„Wenn Sie mich fragen, war der schon sauer, bevor er mich geseh’n hat. Als hätt’ er Streit gehabt oder so.“

„Sauer? Nicht ängstlich? Vorsichtig?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Haben Sie irgendwas Verdächtiges bemerkt?“

Wieder Kopfschütteln.

„Gut, Sie haben also das Messer weggeworfen und sind nach Hause gegangen. Zu Ihrem Mann.“

„Er weiß von nix“, beeilte sie sich zu sagen. „Ich hab’ ihn unterwegs getroffen, und wir sind zusamm’ zurückgegangen. Er hat keine Ahnung, was ich vorhatte.“

Da Hendrik wusste, dass sie log, konnte er ihr Verhalten studieren. Sie knetete ihre Hände und sah Gregor nicht an. Sie war keine sonderlich geschickte Lügnerin. Mehr denn je war Hendrik von ihrer Unschuld überzeugt.

„Lassen Sie mich jetzt geh’n?“, fragte sie ohne Hoffnung.

„Das kann ich nicht. Sie stehen noch immer unter Mordverdacht.“

Sie sank in sich zusammen, als sei ihr letztes bisschen Kraft aufgebraucht.

Hendrik konnte es nicht mit ansehen. „Anton geht es gut“, sagte er. „Ich habe ihm die Universitätsbibliothek gezeigt.“

Dankbar sah sie zu ihm herüber. „Er liebt Bücher. Er is’ ein kluger Junge.“

Gregor rief einen Beamten herein und ließ Barbara Broscheck wieder abführen. Dann bemerkte er Hendriks finstere Miene. „Du bist nicht mit mir zufrieden?“, fragte er und blinzelte dabei mit den Augenlidern.

„Warum hast du ihr die entscheidende Frage nicht gestellt?“

„Ah, es ist dir also aufgefallen!“ Zufrieden rieb sich Gregor die Hände. „Ich mag ja nicht die Prinzipien der Logik studiert haben, aber ich erkenne Widersprüche in einer Aussage, wenn ich sie höre. Wir wissen durch die Kinder, mit denen du gesprochen hast, dass Frau Broscheck lügt, wenn sie behauptet, sie sei gemeinsam mit ihrem Mann nach Hause gekommen. Warum schützt sie ihn also, wenn er doch angeblich von nichts weiß?“

Hendrik war gebührend zerknirscht „Ich dachte, du hättest es nicht bemerkt. Warum hast du sie nicht gefragt?“

„Soll sie glauben, sie hätte uns an der Nase herumgeführt. Das gibt mir Zeit für ein paar Ermittlungen. Ich denke, ich werde mir ein Foto von Curt Broscheck besorgen und Edgar damit losschicken. Vielleicht hat ihn irgendein Nachbar in der Nähe des Tatorts gesehen.“

„Mir schien ihr Mann gleich verdächtig. Er hat bei der ersten Vernehmung behauptet, er wäre mit seiner Frau zusammen gewesen. Warum? Wollte er ihr ein Alibi verschaffen? Oder eher sich selbst?“

„Sie war von seiner Aussage überrascht, aber sie hat zugestimmt. Wahrscheinlich, um ihn zu schützen.“

„Andererseits gibt es manches, was es unglaubhaft erscheinen lässt, dass Frau Broscheck die Täterin war, und diese Ungereimtheiten gelten ebenso gut für ihn.“ Hendrik dachte nach. „Max Unger war nicht der Typ, der eine Arbeiterin ins Haus ließ. Er wird sie, wie sie es geschildert hat, an der Tür abgefertigt haben.“

„Bleiben die Fingerabdrücke.“

„Das bringt uns wieder zum Absender des Päckchens. Wenn Frau Broscheck Max Unger getötet hat – wo hat sie das Messer weggeworfen? Doch wohl kaum in der Nähe des Tatorts, so dumm wird sie nicht gewesen sein. Aber es mit nach Hause zu nehmen, wäre auch nicht viel intelligenter. Woher also sollte ein Fremder, der zufällig irgendwo in der Stadt das Wegwerfen eines Messers beobachtet, wissen, dass es sich um eine Mordwaffe handelt? Nein, ich glaube immer weniger an den hilfsbereiten Unbekannten.“

„Du glaubst, jemand will ihr den Mord in die Schuhe schieben. Der Gedanke ist mir natürlich auch gekommen. Es würde einiges erklären. Wenn sie Max Unger nämlich nicht ermordet hat, dann war es durchaus natürlich, das Messer in der Nähe der Villa fortzuwerfen. Soweit es sie betraf, war ja kein Mord geschehen, weshalb sich also Gedanken über ein Messer machen.“

„Und dabei hat sie der wirkliche Mörder beobachtet –“

„– der im Gebüsch verborgen auf seine Chance lauerte, ja! Er erkannte die einmalige Gelegenheit, ungestraft davonzukommen, hob das Messer auf, ohne die Fingerabdrücke zu verwischen, und brachte Max Unger damit um.“

„So könnte es gewesen sein!“

„Nur eins stört mich an dieser Theorie.“

„Was?“

„Du hast die Wunden nicht gesehen. Wie kann jemand so wild zustechen, ohne dabei die Fingerabdrücke auf dem Messer zu verwischen?“

18

Vom Untersuchungsgefängnis begab Hendrik sich auf direktem Weg ins Regierungsviertel, ohne seinem Bruder zu sagen, was er vorhatte. Es war nicht ganz ungefährlich, und Gregor hätte ihn sicher davon abzubringen versucht.

Überall gab es Schlangen vor den Bäckerläden, an vielen Stellen waren die Brotvorräte bereits ausverkauft. Die Warenhäuser hatten bald nach der Öffnung wieder geschlossen. Überhaupt waren nur wenige Geschäfte offen. Lange Schlangen bildeten sich auch an den Straßenpumpen; mit Eimern, Töpfen und Krügen bewaffnet, warteten Lehrjungen und Geschäftsmänner, Dienstmädchen und Witwen aus besseren Kreisen darauf, dass sie an der Reihe waren.

Die politischen Diskussionen auf der Straße wurden erbitterter geführt. Der anfänglich vorherrschende Ton der Ratlosigkeit war Wut und Fanatismus gewichen. Überall wurde geschimpft und gestritten, weil die Soldaten Kraftwagen für Truppenzwecke beschlagnahmten.

Hilflosigkeit sprach auch aus den Anschlägen, die verrieten, dass Wunschdenken anstelle von politischem Kalkül in den Reichstag eingezogen war: Die Lage ist gut, hieß es da. Die alte Regierung will die Aufforderung zum Generalstreik widerrufen, da sie dies Unrecht am deutschen Volk eingesehen hat.

Viele der Reichswehrsoldaten, deren Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, die Republik vor den Putschisten zu schützen, trugen mittlerweile selbst mit Kreide gemalte Hakenkreuze auf ihren Stahlhelmen.

Im Regierungsviertel war Nervosität zu verspüren; die überhebliche Siegesgewissheit des Samstags war der Unsicherheit gewichen. Auch der einfache Soldat schien die Planlosigkeit seiner „neuen Regierung“ zu spüren, die ihre Schwäche durch vermehrten Ausstoß von Flugblättern wettzumachen und durch Androhung von Gewalt ihre Stellung zu halten suchte. Hendrik bekam eine Verordnung gegen das Schieber- und Wuchertum samt Verordnung betreffend Rädelsführer in die Hand gedrückt, in der es hieß, dass Rädelsführer ebenso wie Streikposten ab morgen Nachmittag, vier Uhr, mit dem Tode bestraft würden.

Er stellte sein Rad ab und vertiefte sich in die Flugblätter, während er auf das Reichstagsgebäude zuging, bis er von einem Soldaten angehalten wurde.

„Können Sie nicht lesen?“, schnauzte der und deutete auf ein großes Schild: Wer weitergeht wird erschossen.

„Ich möchte Hauptmann Pabst sprechen.“

„Das wollen viele. Scheren Sie sich fort, ehe ich Ihnen Beine mache.“

„Es ist dringend!“

„Klar, und was ich sage, ist auch dringend. Deswegen bedanken Sie sich brav, drehen sich um und machen, dass Sie wegkommen, ehe ich Ihnen ein Loch in den Schädel stanze!“

„Sie werden Ihren Arsch in Bewegung setzen und mich melden, sonst könnte es nämlich passieren, dass Hauptmann Pabst Ihnen denselben aufreißt!“

Hendriks Unerschrockenheit zeigte Wirkung. „Wer sind Sie?“, fragte der Soldat, zwar immer noch grob, aber bereits mit erkennbarer Bereitschaft, in unterwürfigen Ton zu verfallen, sollte sich sein Gegenüber als jemand mit größerer Autorität herausstellen.

„Professor Hendrik Lilienthal. Sagen Sie Hauptmann Pabst einfach, ich komme in der Angelegenheit Unger.“

Der Soldat musterte ihn noch einmal misstrauisch. „Sie warten hier!“, sagte er, gab einem anderen Soldaten ein Zeichen, Hendrik im Auge zu behalten, und marschierte in das Reichstagsgebäude.

Nach einer Weile kam er wieder heraus. Hendrik klopfte das Herz. Er war sich gar nicht sicher, ob seine Taktik Erfolg haben würde. Erst als der Soldat „Mitkommen!“, sagte, gestattete er sich ein kurzes Aufatmen.

Innerhalb des Reichstages herrschte hektisches Kommen und Gehen, was den Eindruck von Ziellosigkeit noch verstärkte. Alle Menschen schienen sich mit ungeheurer Energie im Kreis zu bewegen, wie eine gewaltige Maschinerie im Leerlauf.

Der Soldat führte ihn in einen Büroraum, salutierte vor einem Offizier, meldete Hendrik an und entfernte sich.

Der Offizier, ein kleiner Mann, der ständig nicht vorhandene Fussel von seiner Uniform zupfte, machte keine Anstalten, ihn zur Kenntnis zu nehmen.

„Hauptmann Pabst?“, erkundigte sich Hendrik unsicher.

Endlich würdigte der Offizier ihn eines Blickes. „Major! General von Lüttwitz hat mich zum Major befördert!“

Ah, dachte Hendrik, inzwischen machen sie hier alles selbst: Gesetze, Posten, Beförderungen … Nur als regierte Masse wird das Volk vorerst noch gebraucht.

„Sie wollten mich in einer Sache Unger sprechen?“

Hendrik beschloss, dass er nichts zu verlieren hatte, wenn er versuchte, den Mann zu überrumpeln. „Ich wüsste gern mehr über Ihren Besuch bei Max Unger am Abend seiner Ermordung.“

Pabst sah ihn verblüfft an, dann lachte er los. „Sie sind ein Komiker, Professor! Leider muss ich Sie enttäuschen: Ich kannte den Herrn nicht, jedenfalls nicht persönlich. Und mit Sicherheit habe ich ihn nicht am Tage seines Todes aufgesucht.“

Zu Hendriks Ärger war dem unbeteiligten Gesicht des Majors kein Anzeichen zu entnehmen, aus dem sich Schlüsse hätten ziehen lassen. „Sie werden entschuldigen, wenn ich Ihnen nicht glaube. Zufällig kenne ich die Briefe, die Sie Herrn Unger geschrieben haben.“

„Tatsächlich? Und was sollen das für Briefe sein?“

Hendrik zitierte einige Stellen aus dem Gedächtnis.

„Weshalb nehmen Sie an, dass diese Briefe von mir stammen?“

„Weil sie von Ihnen unterschrieben waren.“

Zu seinem Leidwesen tat der Major ihm nicht den Gefallen, zu protestieren und dadurch zu verraten, dass er die wirkliche Unterschrift kannte. Stattdessen grinste er, weil er den Trick durchschaute. „Wie kann das sein, wo ich doch keinerlei Briefe an Herrn Unger geschickt habe?“

„Mir ist aber bekannt, dass Thor Ihr Deckname ist, derselbe Name, der unter eben jenen Briefen steht.“

Pabsts Gesicht verzerrte sich vor Wut, und der Wechsel erfolgte so jäh, dass es Hendrik kalt den Rücken hinunterlief. Zum ersten Mal begriff er, wie gefährlich dieser Mann war. „Was immer Ihnen Leander Sebald erzählt hat, Sie sollten dem keinen großen Wert beimessen.“

Hendrik schaltete sofort. „Sie haben mir den Spitzel angehängt!“

Major Pabst schwieg, aber das Grinsen, das übergangslos auf sein Gesicht zurückgekehrt war, sagte genug. Er beugte sich nach vorn. „Sehen Sie sich vor! Meinetwegen können Sie bei den Broschecks rumschnüffeln, soviel Sie wollen. Aber bleiben Sie mir vom Leib! Es wäre besser für Ihre Gesundheit.“

Hendrik schluckte. Pabst und seine Leute waren derzeit die unumschränkten Herrscher der Stadt und konnten faktisch tun und lassen, was sie wollten. „Soll das eine Drohung sein?“

„Nur ein guter Rat.“

„Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich so wichtig nehmen.“ Nachdenken, schnell! Seit wann verfolgte ihn der Spitzel? Wo hatte er ihn zum ersten Mal bemerkt? Am Freitagabend, vor der Verhaftung von Frau Broscheck. Und am Donnerstag hatte er den Sebalds auf den Zahn gefühlt. „Ludwig Sebald hat Ihnen erzählt, dass ich Nachforschungen anstelle, da haben Sie beschlossen, mir einen Schatten anzuhängen!“

Pabst bestätigte seine Worte nicht, aber Hendrik hatte trotzdem das Gefühl, ins Schwarze getroffen zu haben. „Lassen Sie die Finger von der Sache“, sagte der Major. „Ich versichere Ihnen, ich habe mit dem Mord an Herrn Unger nicht das Geringste zu tun.“

„Wovor fürchten Sie sich dann?“

„Ich fürchte mich vor gar nichts. Aber es ist nicht gut, zu viel in Dingen herumzuwühlen, deren Ausmaß Sie nicht begreifen.“

„Weil ich sonst auf die Hintergründe anderer Morde stoßen könnte? Zum Beispiel die an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg?“

„Ich hatte gehofft, Sie wären so klug, diese Dinge nicht zu erwähnen. Sie stellen mich vor ein Problem, nicht wahr? Kann ich Sie herumlaufen und dummes Zeug verbreiten lassen?“

Hendrik spiegelte das Lächeln seines Gegenübers. Keine Schwäche zeigen! Dies war ein Duell, vielleicht sogar eines auf Leben und Tod!

„Ich weiß natürlich, von wem Sie diese Informationen haben“, sagte der Major. „Ludwig Sebald ist ein guter Mann, aber sein Bruder ist ein Schwächling. Aus der Art geschlagen, verweichlicht. Ein Verräter. Und Verräter verfallen der Feme.“

War das eine Morddrohung? Hendrik nahm sich vor, Leander bei nächster Gelegenheit zu warnen. „Wenn Sie Max Unger nicht kennen, wie kommt es dann, dass er Ihre damaligen Aktionen finanziert hat?“

„Sie wollen also die Wahrheit über die Exekution der Spartakusführer hören? Sie haben natürlich vollkommen recht, ich habe diese angeordnet.“ Pabst lehnte sich selbstgefällig zurück und lachte Hendrik ins Gesicht. Er wusste, dass ihn nie jemand belangen würde.

„Exekution? Wohl eher feiger Mord!“ Hendrik war sich darüber im Klaren, dass er ein gefährliches Spiel spielte, wenn er sein Gegenüber reizte, aber nur so würde er Informationen bekommen.

„Ein militärisches Standgericht. Ich habe mich mit meinem Adjutanten und meinem Stellvertreter beraten, und wir sind zu demselben Ergebnis gekommen: Die Brut muss ausgerottet werden! Wir werden nicht zulassen, dass die Herrschaft der Minderwertigen unser Volk in den Untergang treibt. Meine Männer waren allesamt begeistert dabei, als sie hörten, worum es ging. Brave Kerls!“

„Mord bleibt Mord, mit welch schönen Worten Sie diese Tatsache auch immer verbrämen.“

„Wenn Sie ein Geschwür im Körper haben, schneiden Sie es heraus. Die beiden Volksverhetzer waren ein Geschwür im Körper des deutschen Volkes, und niemand sonst brachte den Mut auf, zum Skalpell zu greifen. Ich habe Versammlungen besucht, auf denen Liebknecht sprach, das hat mir gezeigt, was für ein geschickter Demagoge er war. Die Luxemburg war noch schlimmer, die war mit ihrem Mundwerk gefährlicher als eine Kompanie Soldaten mit entsicherten Waffen. Selbst einige meiner eigenen Leute hat sie infiziert! Eine erstaunliche Frau, alles was recht ist! Sie hat ihren Rocksaum genäht und im Faust gelesen, während sie auf ihre Hinrichtung wartete. Und sie war klug genug zu wissen, was ihr bevorstand. Weiß Gott, ich bereue keine Sekunde, dieses gefährliche Weib ausgeschaltet zu haben!“

„Und man hat Sie nie zur Verantwortung gezogen?“

„Wer hätte das tun sollen? Man hat mich natürlich zur Berichterstattung in die Reichskanzlei bestellt, das schon. Ich bin mit den besten meiner Männer hin. Die hätten mich notfalls mit Gewalt herausgeholt. Aber das war gar nicht nötig. Ebert und Noske haben mir die Hand gedrückt. Gemeinsam haben wir uns darauf geeinigt, ein Ermittlungsverfahren durch das Kriegsgericht unserer Division einzuleiten, und das war’s.“

„Den Bock zum Gärtner gemacht.“

„Kriegsgerichtsrat Jorns, der die Untersuchung leitete, bekam seine Anweisungen von mir. Mein Freund Canaris war einer der Richter und hat zusammen mit mir die Fäden gezogen. Eine armselige Sache, das gebe ich zu. Irgendwie unter meinem Niveau. Aber es hat seinen Zweck erfüllt, das ist die Hauptsache. Hin und wieder muss man den regierenden Sozialdemokraten einen Brocken hinwerfen, damit sie nicht bellen. Die Hauptsache ist, dass eine Gefahr für unser Vaterland abgewendet wurde, ohne die Ehre der Armee anzutasten.“

„Ehre! Ist das Ihre Vorstellung von Ehre, einen Eid auf eine Regierung zu leisten und Geld von ihr zu nehmen, um sie mit eben diesem Geld zu bekämpfen? Gefahr für Deutschland abzuwenden, indem sie es moralisch und wirtschaftlich in den Ruin treiben?“

„Wir sind Deutschland! Wer außer uns hat den Weitblick, die Erfahrung? Nennen Sie dieses korrupte jüdische Gesocks, das einen Erzberger unter sich duldet, eine Regierung? Grundpfeiler des Staates ist kein labiles Parlament, sondern die Armee! Und diese Armee soll nach dem Willen der Erfüllungspolitiker widerstandslos aufgelöst werden! Deutschland soll schutzlos seinen Feinden preisgegeben werden!“

Major Pabst merkte wohl, dass er zu viel gesagt hatte, und klingelte nach seinem Adjutanten. „Ich hoffe, ich konnte Ihre Neugier stillen. Geben Sie sich damit zufrieden, dass Sie am Leben sind.“

„Tut mir Leid, wenn ich Ihre kostbare Zeit verschwendet habe“, meinte Hendrik sarkastisch.

„Haben Sie ganz und gar nicht! Wir unterbreiten der alten Regierung in Stuttgart gerade ein Verhandlungsangebot. Ihr Besuch hat mir klargemacht, dass wir auch die Niederschlagung sämtlicher Prozesse in der Sache Liebknecht-Luxemburg verlangen müssen.“

Während Pabst den hereinkommenden Adjutanten anwies, Hendrik zum Ausgang zu geleiten, fiel dessen Blick auf den Kleiderhaken, an dem die Zivilkleidung des Majors hing. Es war ein grauer Cutaway. Verstohlen drehte er ihn so, dass er den hinteren Teil des Kragens zu fassen bekam, und wirklich gab es dort eine geflickte Stelle. Gelobt seien Josephs scharfe Augen! „Wo waren Sie am vergangenen Dienstag zwischen acht und zehn Uhr abends?“, bohrte Hendrik.

„Leben Sie wohl, Professor!“

Hendrik wurde weitaus schneller aus dem Reichstag hinauskomplimentiert, als er hineingelangt war. Unzufrieden überquerte er die freie Fläche vor dem Gebäude, nahm sein Fahrrad und schob es Richtung Pariser Platz. War es dumm gewesen, Pabst herauszufordern? Was hatte ihm sein Besuch eingebracht?

Erstens die Bestätigung, dass Pabst Thor war, der geheimnisvolle Unbekannte. Wenn es Gregor gelang, ein Foto aufzutreiben, könnte er es Joseph vorlegen, der den Major womöglich als den Mann identifizierte, der am 12. Februar Max Unger besucht hatte. Womit dessen Behauptung, er habe den Industriellen nicht gekannt, zusammenbrach.

Zweitens wusste er jetzt ein paar Dinge über den Spitzel, der ihn verfolgte, und das war ein nicht zu unterschätzender Pluspunkt. Gegen einen Feind, den man kannte, konnte man sich wappnen.

Ein unbestimmtes Gefühl brachte Hendrik dazu, sich umzudrehen; vielleicht das Geräusch eines allzu verstohlenen Schrittes, der urplötzlich beschleunigte, vielleicht eine Art sechster Sinn. Sein Verstand, mit der Analyse des Gesprächs beschäftigt, brauchte eine Sekunde, um die Wahrnehmungssplitter zusammenzusetzen: das Auftauchen eines Spitzbartes, keuchender Atem, eine abrupte Bewegung mit der Hand. Ein schmerzhafter Stich traf ihn oberhalb seiner linken Hüfte, während er instinktiv zur Seite wich. Es krachte; Hendrik stürzte über sein Rad. Zwischen seinen Rippen schmerzte es, sein Hemd saugte sich mit etwas Nassem voll, aber er hatte nicht die Zeit, darüber nachzudenken.

Ein plötzlicher Adrenalinstoß gab ihm die Kraft, seine Lähmung abzuschütteln. Ohne nachzudenken griff er nach einem Pflasterstein, während sein Gegner noch fluchend über das unerwartete Hindernis hinter ihm hersprang. Hendrik trat nach den Beinen des Meuchelmörders und entging einem tödlichen Stich nur um Haaresbreite. Mit aller Wucht schlug er mit dem Stein zu, streifte aber nur die Stirn des Spitzels. Dennoch genügte der Moment der Überraschung, um die Messerhand zu ergreifen und festzuhalten.

Schwitzend rangen die Männer miteinander. Die körperliche Nähe zu dem Attentäter verursachte Hendrik Übelkeit. In Todesangst trat, biss und schlug er um sich und erhielt auf diese Weise genug Luft, um mit einem Sprung noch einmal das Rad zwischen sich und seinen Gegner zu bringen.

Ein Soldat wurde auf den Vorfall aufmerksam. „He! Sie da!“, rief er.

Der Spitzel begriff, dass der Überraschungseffekt dahin und der Anschlag misslungen war. „Wir sehen uns, Professor!“, flüsterte er mit sardonischem Grinsen. Es erfüllte Hendrik mit Entsetzen, die Stimme von letzter Nacht wiederzuhören. Der Mann hastete über den Pariser Platz auf die Wilhelmstraße zu. An der Ecke drehte er sich noch einmal um, lüftete spöttisch einen imaginären Hut und verschwand wie ein Spuk.