3.

Dienstag, 16. März bis Freitag, 19. März 1920

 

 

Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.

Gustav Landauer, Anarchist,
1919 von Freikorpsmitgliedern ermordet

19

„Du hättest dabei draufgehen können!“

Hendrik nahm die Standpauke seines Bruders demütig hin; Gregors Sorge brauchte schließlich ein Ventil. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Hendrik ihm den Zusammenstoß mit dem Spitzel verschwiegen, aber die Tatsache, dass er bei jeder falschen Bewegung vor Schmerz zusammenzuckte, verhinderte Heimlichtuereien. Zum Glück war es nur eine oberflächliche Wunde; der Arzt, der ihn gestern nach dem Vorfall behandelte, meinte, er habe großes Glück gehabt.

„Es war purer Leichtsinn von dir, dich so in Gefahr zu begeben! Weißt du eigentlich, was für ein Risiko du eingegangen bist? Die hätten dich an die Wand stellen können, und ich wäre machtlos gewesen! Ich verbiete dir, dich noch einmal einzumischen, hast du verstanden? Du … du behinderst meine Arbeit mit deinen Eigenmächtigkeiten!“ Gregor holte Atem. „Ich kann es mir nicht leisten, Männer zu deinem Schutz abzustellen. Für den Rest des Tages wirst du deshalb in meiner Nähe bleiben. Brauchst gar nicht so zu grinsen, ich weiß, dass ich dir damit einen Gefallen tue!“

In der Tat war Hendrik zufrieden, sich weiter an der Quelle der Informationen im Fall Unger aufzuhalten. Umso mehr, als er im Augenblick von jeder Verpflichtung entbunden war, weil die Universität aufgrund des Putsches geschlossen hatte. Eine Gefahr für ihn bestand seiner Meinung nach nicht mehr. Der Spitzel hatte sicher auf eigene Faust gehandelt; Pabst hatte gar keine Möglichkeit gehabt, ihm einen Mordbefehl zukommen zu lassen. Wahrscheinlich war der Mann einfach in Panik geraten, als er Hendrik zum Major gehen sah.

Gregor warf sich einen Mantel über. „Du kommst mit und benimmst dich unauffällig. Dass du dir Gedanken machst, kann ich wohl nicht verhindern, aber ansonsten halt dich raus!“

„Wohin fahren wir?“

„Zu den Broschecks.“

„Da dürfte um diese Zeit höchstens der alte Broscheck sein.“

„Hoffentlich.“

Irgendwie war es Gregor gelungen, einen Wagen aufzutreiben, und so brausten sie schon fünf Minuten später durch ein desolates Berlin. Die Wasserversorgung der Stadt war gestern Abend durch die Technische Nothilfe wieder in Gang gesetzt worden, nur die höher gelegenen Stadtteile hatten nach wie vor Probleme. Vielerorts waren die Aborte verstopft. Elektrizität blieb Mangelware, die Gasversorgung fehlte ganz. Das Wasser aus den wenigen Brunnen war braun und kaum noch genießbar.

Die Sintflut aus Flugblättern und Handzetteln, die sich über die Stadt ergoss und deren Informationsgehalt eine fragwürdige Qualität besaß, war nicht geeignet, den Hunger nach Nachrichten zu befriedigen. Mit größer werdender Verwirrung und der allgemeinen Gereiztheit nahmen auch die Übergriffe zu, die oft genug blutig endeten. Es hatte bereits die ersten Toten gegeben.

Die einzigen Fernzüge, die noch eintrafen, waren die Milchzüge. Auch private Fuhrwerke fuhren nach massenhafter Requirierung durch das Militär nur noch spärlich. Nicht wenige Leute mussten ihr Brot trocken essen, denn die Fettverteilung blieb diese Woche aus, und in den Läden gab es praktisch keine Lebensmittel mehr.

Bittere Erinnerungen an den Kohlrübenwinter vor drei Jahren wurden in Hendrik wach. Bis heute verstand er nicht, wie es dazu hatte kommen können, dass in Deutschland, dem größten Kartoffelland der Welt, Kartoffelmangel herrschte. Kaum weniger absurd war der Zuckermangel gewesen, teilweise durch das Militär verschuldet, das Zucker zur Herstellung von Sprengstoff benutzte. Die Ernährung bestand praktisch aus Ersatzstoffen. Der so genannte Kriegsbrotaufstrich anstelle von Fett war nichts anderes als Kunsthonig. Tee wurde aus Blättern von Erdbeeren, Brombeeren, Stechpalmen, Heidekrautblüten und was die Fantasie sich noch ausdenken konnte hergestellt. Skrupellose Händler boten sogar welchen aus getrocknetem Wiesengras an. Hagebutten, Schlehen und Mehlbeeren gaben besonders haltbare Marmelade. Die Kinder sammelten Bucheckern und erhielten dafür neben einem Lohn sechs Prozent der Menge in Bucheckernöl. Wegen der Lebensmittelknappheit war eine Kopfprämie von zehn Pfennigen auf Spatzen ausgesetzt worden. Hunger und Konstitutionsschwäche führten zu mehr Infektionen, die Menschen starben wie die Fliegen an einfachen Erkältungen. Dazu durfte es einfach nicht noch einmal kommen!

Das Auto bog in die Hermannstraße ein. „Ich habe mich gestern übrigens mit Diana getroffen“, sagte Hendrik und gab weiter, was er von ihr erfahren hatte, insbesondere die Information über die Falschaussagen von Hermann und Friedrich. Gregor nahm es kommentarlos zur Kenntnis und äußerte sich auch nicht, als Hendrik betonte, wie gut es doch war, dass Diana am Ball blieb.

Vor einer Damen- und Herrenhut-Umpresserei entdeckten sie Curt Broschecks Vater im Gespräch mit einer Blumenverkäuferin; offenbar war er so weit genesen, dass er das Bett verlassen und ein paar Schritte an der frischen Luft machen konnte. Hendrik hoffte, dass der alte Mann sich auf dem Weg der Besserung befand.

Dann waren sie am Ziel und stiegen die Stufen zur Broscheck’schen Wohnung hoch. Gregor klopfte an die Tür, doch erwartungsgemäß rührte sich nichts.

Sie holten den Hausverwalter, einen wichtigtuerischen Mann, der ihnen aufschloss und dabei vor Diensteifer beinahe platzte. Am liebsten wäre er wohl mit hineingekommen, aber das wusste Gregor zu verhindern. Hendrik fragte sich, ob sein Bruder damit nicht gegen irgendeine Bestimmung verstieß; er meinte gehört zu haben, dass bei einer Hausdurchsuchung die Anwesenheit eines Zeugen erwünscht war. Aber er war froh über diese Eigenmächtigkeit. Irgendwie hätte die Gegenwart dieses Mannes die Privatsphäre der Broschecks weit mehr verletzt als die Durchsuchung selbst.

Die Kaninchen hoppelten in Deckung, als die beiden Männer das Zimmer betraten, und das Huhn starrte sie aus empfindungslosen Augen an. Auch um diese Zeit erreichte kein Tageslicht die Wohnung, die umliegenden Hauswände hielten jeden Sonnenstrahl ab. Gregor war gezwungen, seine Taschenlampe einzusetzen, während er Schubladen und Regale durchsuchte.

Sogar verlassen wirkte die Wohnung überfüllt. Hendrik wollte nicht im Weg stehen und hielt sich deshalb nahe am Eingang. Außerdem fühlte er sich unbehaglich. Es hatte etwas Beklemmendes, die persönliche Habe eines Menschen zu durchwühlen, mochte es auch noch so sehr auf legaler Grundlage geschehen.

Um seine Befangenheit zu überwinden, machte er Konversation. „Kapp hat dafür gesorgt, dass die Universität geschlossen wird. Ich nehme an, er braucht die reaktionären Studenten für wichtigere Dinge. Unser verehrter Herr Direktor konnte sich ihm nicht schnell genug andienen.“

„Was hat er getan?“

„Kapps Anweisungen weiterverbreitet und per Anschlag alle ‚national denkenden und deutsch empfindenden‘ Studenten zu einer Versammlung im Auditorium Maximum eingeladen, wo ein Vertreter der ‚neuen Regierung‘ sprach. Und ein Zimmer eingerichtet, in dem Studenten für Freikorps zur Unterstützung Kapps geworben wurden.“

„Deutsch empfindend? Wie habe ich mir das vorzustellen – trägt so eine Empfindung einen Stempel Made in Germany?

„Da musst du Herrn Meyer fragen. Jedenfalls hat er die schwarz-weiß-rote Fahne gehisst. Wundert mich nicht. Er war schon im Krieg ein eifriger Verfechter der Annexionspolitik.“

Gregor ging dazu über, erst den Kohlenkasten und anschließend das Ofenrohr zu untersuchen. „Hoffentlich hat diese Provinzposse bald ein Ende! Ein Bekannter aus dem Ullstein-Verlag hat mir erzählt, dass die Vossische gestern den telefonischen Befehl bekommen hat, keine Falschmeldungen mehr zu verbreiten, insbesondere keine Kundgebungen der alten Regierung.“

„Ja, ich habe einen Anschlag gelesen, dass die weitere Ausgabe von Nachrichten mit Rücksicht auf die verhängte Zensur eingestellt wird.“

„Aber du kennst die Pointe noch nicht. Heute gab es einen neuen Telefonanruf. Der ‚Herr Reichskanzler‘ ordnete an, die Plakate zu entfernen und mit der Nachrichtenübermittlung fortzufahren, weil es keine Zensur gebe. Andernfalls werde der Betrieb geschlossen.“

Hendrik lachte schallend. So etwas brachten nur Deutsche fertig, mit vollkommener Ernsthaftigkeit Aushänge zu zensieren, um damit zu beweisen, dass keine Zensur stattfand.

Gregor lag bäuchlings auf dem Fußboden, löste mit einem Federmesser Schmutz vom Holz und verstaute die Proben in einer Papiertüte. Dabei lief ihm das Huhn vor der Nase herum und pickte unermüdlich nach seinen Fingern.

„Was suchen wir hier eigentlich?“, erkundigte sich Hendrik.

„Ich habe da so eine Idee.“

Gregor überzeugte sich davon, dass hinter den Pappen, die die Löcher in der Wand verdecken sollten, nichts verborgen lag, begutachtete die Kleider auf dem Kleiderhaken an der Wohnungstür und machte sich mit deutlichem Widerwillen daran, einen Berg Lumpen zu untersuchen. Er entdeckte einen abgenutzten, aber sauberen Anzug, vermutlich der Sonntagsanzug von Curt Broscheck, das einzige Kleidungsstück, das er neben seiner Alltagskleidung besaß. Mit erwachendem Jagdeifer suchte Gregor die dazugehörigen Schuhe und nahm diese sorgfältig in Augenschein, insbesondere die Sohlen. Seine Suche wurde jedoch nicht belohnt. Enttäuscht legte er alles wieder an seinen Platz. „Vermutlich trägt er die Schuhe, die er an jenem Abend anhatte. Ich nehme nicht an, dass er mehr als zwei Paar besitzt.“

Ein Pappschild, das gegen eine Wand lehnte, erregte Hendriks Aufmerksamkeit. Er drehte es um und hielt es ins Licht. Auf der Vorderseite stand in großen Buchstaben: Das sind die geistigen Waffen der Arbeitgeber, darüber war die Silhouette eines Maschinengewehrs abgebildet. Vermutlich hängte sich Curt Broscheck dieses Schild um den Hals, wenn er Streikposten vor dem Tor der Unger-Werke bezog. Hendrik fand es originell.

„Frau Broscheck wird übrigens morgen aus der Untersuchungshaft entlassen.“ Der Genuss war Gregor anzusehen, als er die Bombe platzen ließ.

„Aber … was … wieso …?“

„Ich habe gestern Abend den schriftlichen Obduktionsbefund bekommen.“

„Und?“

„Da hat jemand geschlampt und eine wichtige Information nicht umgehend an mich weitergeleitet, nämlich, dass ein winziges Stück der Messerspitze aufgrund der wuchtigen Stöße an einem Knochen Max Ungers abgebrochen ist und in der Leiche gefunden wurde. Während das Messer mit den Fingerabdrücken von Frau Broscheck keine Absplitterung aufweist.“

„Mit anderen Worten: Es war gar nicht das Messer!“ Wie würde Anton sich über diese Nachricht freuen!

„Das führt uns zu interessanten Erkenntnissen, nicht wahr?“

„Wir haben echtes Blut an einem falschen Messer. Folgerung: Frau Broscheck hat vermutlich die Wahrheit gesagt, ihre Mordabsicht im letzten Moment aufgegeben und das Messer weggeworfen.“

„Wobei sie der Mörder beobachtete. Er ergriff die günstige Gelegenheit, nahm das Messer an sich und wälzte es nach dem Mord im Blut des Toten. Was erklärt, warum die Fingerabdrücke so klar zu erkennen sind.“

„Und das beweist nun endgültig, dass der Mörder und der Absender des Päckchens ein und dieselbe Person sind.“ Hendriks Verstand lief auf Hochtouren. „Sag mal, du weißt seit gestern, dass das Messer nicht das Mordmesser ist? Warum lässt du Frau Broscheck erst morgen frei?“

„Ich hatte den Durchsuchungsbefehl noch nicht. Der mir einzig und allein aufgrund des angeblichen Mordmessers ausgestellt wurde.“

„Und welche Spur verfolgst du in Wirklichkeit?“

In diesem Augenblick klappte die Wohnungstür. Curt Broscheck tauchte auf, lädiert, schmutzig, mit zerrissener Kleidung. Er blutete am Kopf. Vermutlich hatte er sich mit Soldaten oder Streikbrechern des Technischen Hilfswerkes eine Straßenschlacht geliefert und war dadurch in der richtigen Stimmung, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Mit dem Instinkt eines wilden Tieres, das sein Revier verteidigt, sprang er auf sie zu und packte Hendrik beim Kragen. „Was haben Sie hier zu suchen?“, brüllte er.

Der harte Griff ließ Hendriks Wunde aufplatzen. Der Schmerz raubte ihm für eine Sekunde die Besinnung.

Sein Bruder erhob sich mit einer Gelassenheit, die Hendrik unangemessen fand. „Wir haben einen Durchsuchungsbefehl“, sagte Gregor mit seiner Amtsstimme und hielt dem Arbeiter ein behördliches Dokument vor die Nase.

Widerstrebend ließ Curt Broscheck sein Opfer los. Hendrik rang nach Luft und hielt sich die schmerzende Seite.

„Wir sind so gut wie fertig“, sagte Gregor. „Wir brauchen nur noch eine einzige Sache.“

„Und welche wär’ das?“

„Ihre Schuhe.“

20

„Sie?“ Diana war überrascht, Gregor Lilienthal vor der Tür des Unger’schen Anwesens zu finden.

„Ich habe noch ein paar Fragen.“

„An mich?“

„Vor allem an Ihre Onkel, aber vielleicht auch an Sie.“

„Sie meinen, Sie richten freiwillig das Wort an mich und würden mir sogar zuhören, wenn ich antworte?“

Er runzelte die Stirn.

„Oh, sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, es war ein Scherz!“ Und als er immer noch nicht reagierte, fuhr sie mit den Fingerspitzen über seine Stirn. „Machen Sie die Falten weg, Sie sehen furchtbar streng damit aus!“

Er drehte den Hut in seinen Händen. „Darf ich reinkommen?“

Sie errötete. „Verzeihung! Natürlich!“, sagte sie und gab den Weg frei.

Gregor betrat den Flur des Hauses. Aus einem fernen Zimmer erklang Klavierspiel, Für Elise. Joseph, der inzwischen erschienen war, nahm ihm den Mantel ab.

Diana führte den Kommissar in die Bibliothek. Ihre Familie bemühte sich, den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten – es war beispielsweise verpönt, den Putsch zu erwähnen –, aber die überall verteilten Petroleumlampen sprachen eine deutliche Sprache. Grunewald war von Berlin abgeschnitten, es gab keinen Verkehr, kein Telefon, kein Licht. Gestern musste sie sich von Hermanns Chauffeur in die Stadt fahren lassen, um Hendrik zu treffen. Erst seine Verletzung hatte ihr klar gemacht, wie gefährlich die Lage wirklich war. Deshalb scheute sie davor zurück, ausgerechnet jetzt nach Berlin zu ziehen, obwohl ihre Sachen allesamt gepackt waren. „Onkel Hermann ist nicht da, er müsste aber bald kommen.“

„Dann werde ich zunächst mit Friedrich Unger sprechen.“

Diana wandte sich an den Diener. „Würden Sie ihn bitte holen?“

„Sehr wohl!“

„Ach, einen Augenblick noch, Joseph!“, hielt Gregor ihn zurück. „Sagen Sie, ist das der Herr, der Max Unger am 12. Februar aufgesucht hat?“ Er holte ein Foto von Major Pabst aus der Tasche, das Edgar in der Redaktion der Vossischen Zeitung aufgetrieben hatte.

Joseph betrachtete das Foto gewissenhaft und nickte dann. „Ja. Ja, das ist er, ich bin mir sicher.“

Gregor steckte das Foto wieder ein. „Vielen Dank! Sie haben uns sehr geholfen.“

„Wer ist das – Major Pabst?“, fragte Diana neugierig, sobald der Diener verschwunden war.

„Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.“

Es entging ihr nicht, dass der Kommissar ihrer Frage ausgewichen war. „Werden Sie mir je vertrauen?“

„Ich vertraue niemandem.“

„Wie traurig!“

Ihre Äußerung brachte ihn für einen Moment aus dem Konzept. „Das ist mein Beruf“, verteidigte er sich.

Friedrich kam herein. Der jüngste der Unger-Brüder machte im Unterschied zum letzten Mal einen gut gelaunten Eindruck. „Guten Abend, Herr Kommissar! Was kann ich für Sie tun?“

„Mir ein paar Fragen beantworten, hoffe ich.“

Diana machte keine Anstalten, sich zu entfernen. Entweder Gregor bemerkte es nicht, oder er zog es vor, so zu tun als ob.

„Es geht noch einmal um die Nacht, in der Ihr Bruder ermordet wurde. Ist Ihnen inzwischen irgendetwas eingefallen, das uns weiterhelfen könnte?“

„Bedaure, leider nicht!“

Gregor machte es sich im Sessel gemütlich und ließ seinen Blick gelangweilt durch den Raum schweifen. Wer ihn kannte, wusste, dass es jetzt angeraten war, auf der Hut zu sein. „Und, ist Ihnen zumindest eingefallen, wo Sie in der Nacht waren?“

Eine volle Sekunde sagte niemand ein Wort. Dann brachte Friedrich ein nervöses Lachen zustande. „Gratuliere! Sie haben mich kalt erwischt! Ich habe keine Ahnung, woher Sie das wissen, aber ich gebe zu: Ich war wirklich noch mal weg.“

„Und wo genau waren Sie?“, fragte Gregor, ohne auf den scherzhaften Ton einzugehen.

„Es ist mir ein bisschen unangenehm … Ich … habe mich umgesehen. Es geht um ein Grundstück, das mir günstig zum Kauf angeboten wurde. Hermann würde es wieder ein dubioses Geschäft nennen.“

„Gibt es Zeugen, die Sie gesehen haben?“

„Ich fürchte, nein!“

„Natürlich nicht. Wo wir gerade dabei sind, alte Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, denken Sie doch noch einmal darüber nach, ob Sie und Ihr Bruder an jenem Abend wirklich in bestem Einvernehmen schieden.“

Wieder zögerte Friedrich. Seine Augen irrten im Raum umher. Schließlich gab er sich geschlagen. „Nein“, sagte er leise. „Er hat mich beschimpft. Es war wegen … einer Investition, die ich getätigt hatte. Ein günstiges Angebot, aber das hätte er natürlich nie zugegeben.“ Hilfesuchend wandte er sich an seine Nichte. „Du weißt, wie er war! Immerzu hat er mir meine Fehler vorgeworfen. Nie hat er meine Fähigkeiten gesehen. Nie konnte ich ihm etwas recht machen.“

Es war Diana peinlich, wie er sich aufführte.

„Dabei habe ich große Visionen! Einen Teil unserer Produkte aus Ersatzrohstoffen herzustellen – das wäre ein echter Fortschritt! Aber er hat mich nur verlacht!“ Er sank in sich zusammen. „Diese Investition, von der ich sprach … ich bin dabei betrogen worden“, sagte er niedergeschlagen. „Max hatte Recht, ich tauge nichts.“

Die folgende Stille war laut und unangenehm. Diana war dankbar, dass Gregor die Quälerei beendete und Friedrich mit einem „Das wäre vorerst alles!“ entließ.

Mittlerweile war Hermann nach Hause gekommen und keineswegs entzückt, den Kommissar vorzufinden. „Was wollen Sie schon wieder?“, fragte er unfreundlich.

„Das Übliche: Fragen stellen.“

„Hätten Sie das nicht gleich beim ersten Mal erledigen können?“

„Durchaus. Hätten Sie mir damals die Wahrheit gesagt, hätte ich jetzt Feierabend und müsste nicht kilometerweit durch die Straßen hetzen, um mir weitere Lügen auftischen zu lassen.“

„Sie unterstellen mir, dass ich lüge?“

Diana konnte sich gut vorstellen, dass Hermanns Tonfall seine Untergebenen einschüchterte. Aber der Kommissar war kein Untergebener. Er bohrte seine Augen in die ihres Onkels und wartete einfach ab.

Hermann verlor den Kampf. Und er war ein schlechter Verlierer, denn er versuchte, die Niederlage dadurch zu bemänteln, dass er schnaubend zur Bar stapfte und sich ein Glas Cognac einschenkte. Jemandem etwas anzubieten, kam ihm nicht in den Sinn.

Gregor machte es sich wieder im Sessel bequem. „Also. Erzählen Sie mir von dem Abend, an dem Ihr Bruder starb.“

„Was soll ich da erzählen?“

„Zum Beispiel, was Sie in seinem Arbeitszimmer zu suchen hatten.“

Man konnte Hermann ansehen, dass er im ersten Moment leugnen wollte. Dann besann er sich jedoch, kippte den Cognac hinunter und ließ sich in einen anderen Sessel fallen. „Na schön, ich war bei ihm.“

„Was wollten Sie von ihm?“

„Max war ein verbohrter Idiot. Ohne jeden Weitblick. Nehmen Sie nur das Haus in Neukölln. Er hat es von unserem Vater geerbt. Ich habe ihm immer wieder gesagt, er soll es abstoßen. Wozu sich mit Kleckerkram abgeben, wo er doch Herr über einen Konzern war, den er zum führenden Eisen verarbeitenden Unternehmen Deutschlands, ja Europas hätte ausbauen können! Aber so war er eben. Wer den Pfennig nicht ehrt, war sein Lieblingsspruch. Er konnte nicht in großen Dimensionen denken. Jetzt hat er die Quittung bekommen. Was musste er sich auch mit solchem Pöbel einlassen?“

„Sie sind überzeugt, die Broschecks haben Ihren Bruder ermordet?“

„Wer sonst?“ Hermanns Miene drückte Verwunderung darüber aus, dass etwas anderes überhaupt in Erwägung gezogen wurde. „Ist das nicht offensichtlich?“ Es schien ihm nicht aufzufallen, dass er kürzlich mit derselben Gewissheit politische Hintergründe für den Mord verantwortlich gemacht hatte.

„Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie im Arbeitszimmer Ihres Bruders zu suchen hatten.“

„Er wollte mich zur Rede stellen. An diesem Tag hatte er nicht nur von irgendwelchen neuen Dummheiten Friedrichs erfahren, sondern auch entdecken müssen, dass ich eigene Pläne verfolge. Das muss ein Schock für ihn gewesen sein.“ Hermann lachte in sich hinein. „Jahrelang hat er seine Spielchen mit mir getrieben, mich hingehalten, mir ein paar Brocken hingeworfen, um mich bei der Stange zu halten, mir dabei aber jede Einflussnahme auf die Geschäftspolitik verwehrt. Er hat wirklich geglaubt, mich mit diesen billigen Tricks gängeln zu können.“

Der Industrielle ging zur Bar und schenkte sich nach. „Aber er hat mich unterschätzt. Mit den Brosamen, die er mir zukommen ließ, habe ich heimlich Investitionen getätigt, gewinnbringende Investitionen. Ich habe mich in Stahlkonzerne eingekauft, die unser Werk beliefern, und in den Kohlebau. Mit Hilfe meiner Söhne habe ich private Kontakte zu unseren Auslandskunden aufgenommen. Langfristig wäre die Firma von mir abhängig geworden.“

Er schwenkte sein Glas, wie um sich selbst einen Toast auszusprechen. „An dem Tag muss er davon erfahren haben. Er war in heller Aufregung, vermutlich ging ihm zum ersten Mal auf, dass er mich nicht so fest in der Hand hatte, wie er glaubte. Also hat er mich für den Abend zu sich bestellt, ganz korrekt, wie zu einer Geschäftsbesprechung. Das gibt Ihnen einen Eindruck davon, was für ein Pedant er war.“ Hermann kippte den Inhalt seines Glases hinunter und schenkte sich nach.

„Um wie viel Uhr war das?“

„Muss so gegen halb acht gewesen sein.“

Diese Information verschlug Diana den Atem, und auch den Kommissar schien es aus dem Konzept zu bringen. „Also noch vor der Besprechung zwischen Max und Friedrich?“

„Ja, natürlich.“

Diana konnte es nicht fassen. Wenn das der Wahrheit entsprach, war ihr Verdacht gegen Hermann haltlos!

„Wir hatten Streit. Ich habe ihm die Pistole auf die Brust gesetzt – äh, im übertragenen Sinne, natürlich! – und gedroht, dass ich ihm mit einem eigenen Unternehmen Konkurrenz mache, wenn er mich nicht als gleichberechtigten Partner akzeptiert.“

„Warum dieser Umweg? Wäre es nicht besser gewesen, sich selbstständig zu machen, statt sich weiteren Querelen mit Ihrem Bruder auszusetzen?“

Es sei denn, Hermann war davon ausgegangen, dass Max’ Lebensspanne knapp bemessen war, ergänzte Diana in Gedanken.

„Um die Wahrheit zu sagen: Meine Investitionen waren noch nicht so weit gediehen, wie Max glaubte. Ich bestärkte ihn natürlich in seinem Irrglauben. Wenn er gewollt hätte, hätte er mich zu diesem Zeitpunkt nämlich noch in den Bankrott treiben können. Aber das hat er nicht begriffen. Wie gesagt: Er hatte keinen Weitblick.“ Hermann nahm noch einen Schluck. „Im Übrigen will ich kein Konkurrenzunternehmen. Ich will dieses. Und ich werde es zu neuer Größe führen.“

Sein Blick war auf Höhenflüge gerichtet, die nur er sehen konnte, die aber, daran hatte Diana keinen Zweifel, binnen kürzester Zeit Realität werden würden. Wie groß war doch der Unterschied zwischen Friedrich und ihm! Max hatte beide in Abhängigkeit gehalten, beide hatten eigene Pläne für das Unger’sche Unternehmen. Aber während Friedrich sich in Luftschlössern verlor, verfolgte Hermann seine Absichten mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit.

„Sie sind der Erbe des Unternehmens, nicht wahr?“

„Wenn Sie mir unterstellen wollen, ich hätte meinen Bruder umgebracht … das war nicht nötig. Als er sich plötzlich mit meiner Unabhängigkeit konfrontiert sah, wurde Max lammfromm. In seiner Kopflosigkeit hat er mir aus der Hand gefressen. Zähneknirschend, natürlich. Es wurmte ihn, dass er klein beigeben musste. Aber er besaß immerhin so viel Verstand zu begreifen, dass wir uns als Gegner nur gegenseitig zugrunde richten würden.“

Dianas Gedanken wirbelten durcheinander. Sowohl Friedrich als auch Hermann hatten ihren Bruder gehasst und brauchten dessen Geld. Aber Hermann hatte sich bereits eine starke Position gegen Max erkämpft. Löste sich damit sein mögliches Mordmotiv in Luft auf? Andererseits gab es für all das nur sein Wort. Sein Bruder hatte ihn unterschätzt, sagte er. Vielleicht unterschätzten sie ihn alle?

21

Auch am Mittwoch war die Situation in der Stadt desolat. Gerüchte kursierten, dass in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet die Arbeiter gesiegt hätten und Räteregierungen eingesetzt wurden. Außerdem hieß es, in Berlin seien Waffenlager der Spartakisten entdeckt worden. Absperrungen wurden verstärkt, Kontrollen verschärft, während sich gleichzeitig das Gerücht verdichtete, Kapp sei aus der Reichskanzlei verschwunden. Der Zusammenbruch der „neuen Regierung“ schien immer wahrscheinlicher.

Nach wie vor waren die Straßen voll debattierender Menschen, die ihre alten Argumente mit neuer Wut vorbrachten. Die Entbehrungen taten ein Übriges, um die Erbitterung der Bevölkerung zu offenem Hass anschwellen zu lassen. Die Stadt war ein Pulverfass.

Die Noske-Ebert-Regierung müsse jetzt vor dem Volk kapitulieren, hieß es in kommunistischen Kreisen. Das Militär werde sich auf die Innenstadt innerhalb des Spreebogens zurückziehen, anschließend würden die Arbeiter bewaffnet und als Sicherheitspolizei aufgestellt werden. Das neue Kabinett dürfe sich nicht ohne Zustimmung der organisierten Arbeiterschaft bilden. Immer wieder wurde an die Blutweihnacht 1918 erinnert, als Ebert die reaktionären Fronttruppen gegen die Revolutionäre zu Hilfe geholt hatte. So etwas dürfe sich nicht wiederholen!

In der Villenkolonie Grunewald, wo man nur bei genauem Hinsehen feststellen konnte, dass nichts mehr so war wie noch vor einer Woche, tigerte Hermann Unger im Wohnzimmer des Unger’schen Anwesens auf und ab und zerbrach sich den Kopf, wie man den Streik beenden konnte. Die Fabrik stand still, das machte ihn gereizt.

Diana hütete sich, ihn in dieser Verfassung anzusprechen, und ignorierte sein Herumlaufen. Sie war damit beschäftigt, eine Liste zusammenzustellen mit allem, was sie und Hendrik über den Mord an ihrem Onkel herausgefunden hatten, aber sie besaß nicht die Geduld dazu. Viel lieber wäre sie losgelaufen und hätte irgendetwas getan. Wenn doch nur Hendrik hier wäre! Seine methodische Vorgehensweise hätte sie jetzt brauchen können! Außerdem knurrte schon wieder ihr Magen!

Joseph kam herein. „Ein Major Pabst möchte Sie sprechen“, meldete er Hermann. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, es handelt sich dabei um jenen Herrn, der vor einigen Wochen Ihren seligen Bruder besuchte. Der Herr, nach dem die Polizei sich erkundigt hat.“

Diana war wie elektrisiert. Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken, doch sobald ihr Onkel das Zimmer verließ, schlüpfte sie hinaus. Hermann würde den Besucher in der Bibliothek empfangen, da das Arbeitszimmer noch immer versiegelt war, also musste sie vor ihm dort sein! Sie schaffte es, ohne dass jemand sie bemerkte, und schloss leise die Tür hinter sich. Wohin? Der Spalt zwischen Bücherschrank und Wand, hinter dem Samtvorhang! Sie zwängte sich in die Nische, bemüht, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen, da wurde auch schon die Tür geöffnet, und die beiden Männer kamen herein. Vorsichtig schob Diana den Kopf nach vorn. Wenn sie durch eine abgewetzte Stelle des Vorhangs schaute, konnte sie schemenhaft erkennen, was im Raum vor sich ging.

Hermann bot seinem Gast Platz an, verhielt sich ansonsten jedoch reserviert.

„Zunächst einmal muss ich Sie bitten, meinen Besuch vertraulich zu behandeln“, eröffnete Major Pabst das Gespräch. „Sie sind vermutlich darüber im Bilde, dass es einen langjährigen freundschaftlichen Kontakt zwischen Ihrem verstorbenen Bruder und mir gab; nicht zuletzt habe ich ihn während des Krieges in Waffengeschäften beraten.“

Er zupfte einen Fussel von seiner Uniform. „Sie haben sicher bemerkt, dass es um unsere Sache nicht gut steht. Zwar haben wir nach wie vor die Stadt in der Hand, aber wir kommen nicht voran. Vor allem fehlt uns Geld, um unsere Leute zu bezahlen und die versprochenen Solderhöhungen zu leisten. In der Vergangenheit hat Ihr verehrter Bruder unsere Sache großzügig unterstützt, und, kurz und gut, ich bin gekommen, Sie zu fragen, ob Sie gewillt sind, die Zusammenarbeit zwischen uns und Ihrem Hause fortzusetzen.“

Diana zwang sich zur Ruhe, um die Männer nicht durch eine unbedachte Bewegung auf sich aufmerksam zu machen, obwohl das Gehörte sie so aufwühlte, dass ihr das schwer fiel. Der Major und ihr Onkel kannten sich tatsächlich! Wie hatte das Verhältnis zwischen ihnen ausgesehen?

Hermann hatte sein Gegenüber ausreden lassen, jetzt hielt er nicht länger an sich. „Absolut nicht!“, fuhr er auf und fing wieder an, erregt im Raum auf und ab zu gehen. „Was für eine gedankenlose Dummheit dieses ganze Unternehmen ist! Es sieht meinem Bruder ähnlich, sich auf so etwas einzulassen, ohne die Konsequenzen zu überdenken! Ich kann Ihnen versichern, Herr Major, hätte ich nur das Geringste von alledem gewusst, hätte ich ihn davon abgehalten. Jedem Kindskopf muss klar sein, dass ein Putsch von rechts die Arbeiter radikalisiert und in die Arme des Bolschewismus treibt! Sehen Sie sich doch das Ergebnis an! Meine Fabrik steht still. Stündlich erhöhen sich die Forderungen der Arbeiter. Und dafür tragen allein Sie die Verantwortung, Sie und Ihre Freunde!“

Major Pabst hatte offensichtlich nicht erwartet, derart brüsk zurückgewiesen zu werden. „Ich verstehe Sie nicht!“, rief er aus. „Es muss doch in Ihrem Interesse sein, dass in Berlin eine Regierung sitzt, die bereit ist, der Bolschewisierung der Gesellschaft mit Waffengewalt entgegenzutreten!“

„Genauso kurzsichtig hat mein Bruder auch immer gedacht! Wen kümmern schon die Brocken, die man dem wildgewordenen Pöbel hinwirft, um ihn ruhigzustellen? Denken Sie doch in großen Dimensionen, Mann! Solange die Leute willig ihre Arbeit verrichten, schert mich alles andere wenig. Selbst die Gewerkschaften können als Sicherheitsventil von Wert sein. Natürlich muss man ein paar Zugeständnisse machen, aber unterm Strich zahlt sich das aus, weil größere Katastrophen verhindert werden. Oder wollen Sie hier Zustände wie in Russland?“

Diana fühlte, wie es in ihrem Magen grummelte. Sie wünschte, sie hätte vorhin etwas gegessen. Das fehlte noch, dass ihr Bauch anfing, Geräusche von sich zu geben!

Major Pabst brauchte einige Zeit, um das Gehörte zu verdauen. Dann versuchte er es mit Schmeichelei. „Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen. Die Reichsbank weigert sich, einen von Reichskanzler Kapp unterschriebenen Scheck zu akzeptieren.“

„Wie viel wollten Sie denn abheben?“

„Zehn Millionen Mark. Gestern habe ich Kapitän Ehrhardt beauftragt, das Geld mit Waffengewalt herauszuholen.“

„Stellen Sie sich jetzt mit Safeknackern auf eine Stufe?“

„Hören Sie doch mit dieser Heuchelei auf! Sie reden schon wie Ehrhardt! Wir putschen, Mann! Wen interessiert die Legalität, solange wir unserem Vaterland dienen? Tun Sie doch bloß nicht so scheinheilig! Ihr Bruder hat seinen Teil dazu beigetragen, den Krieg zu verlängern, und auf diese Weise glänzende Geschäfte gemacht. Und behaupten Sie jetzt nicht, Sie hätten auch davon nichts gewusst! Ihre Firma verdankt ihren Aufstieg einzig der Tatsache, dass Ihr Herr Bruder ein Kriegsgewinnler war.“

Trotz seines cholerischen Temperaments konnte Hermann eiskalte Ruhe bewahren, wenn die Situation es erforderte. „Streiten wir uns nicht um Wertvorstellungen“, sagte er. „Ideale sind etwas für Träumer, da pflichte ich Ihnen bei. Was zählt, ist politisches Kalkül. Sie haben Ihre Pläne, ich habe meine. Ich will nicht ausschließen, dass wir später einmal auf die eine oder andere Weise zueinander finden. Aber Ihren Putsch halte ich für eine große Dummheit, die nur die Macht der Mehrheitssozialisten stärkt und mir schon jetzt eine Menge Scherereien bereitet.“

„Mit anderen Worten: Ich bin entlassen.“

Hermann zuckte die Achseln, widersprach jedoch nicht.

Major Pabst erhob sich. „Dann ist der Putsch gescheitert.“

„Dieser Putsch ist nicht an Geldmangel gescheitert. Er war von Anfang an zum Zusammenbruch verurteilt, weil er von Abenteurern geführt wurde, die jeglichen Realitätsbezug vermissen lassen.“ Hermann ließ einen Atemzug verstreichen, ehe er in verändertem Tonfall fortfuhr: „Nichts im Leben ist vergebens, Major! Immerhin hat diese Episode Sie eine Menge gelehrt. Und wenn Sie das nächste Mal putschen, werden Sie es weniger halbherzig tun.“

Obwohl er mit leeren Händen gehen musste, lächelte Major Pabst. „Vielleicht habe ich Sie unterschätzt“, sagte er. „Sie haben recht: Womöglich finden wir unter besseren Umständen wieder zusammen.“

22

Immer wieder ließ Hendrik den Schein der Taschenlampe in die Runde wandern und holte die Silhouetten von Toreinfahrten oder Zäunen aus dem Dunkel, während er die Fontane-Promenade entlangging. Zu Anfang hatte er sich noch bei jedem zweiten Schritt umgedreht und befürchtet, plötzlich dem Mann mit dem spitzen Bart gegenüberzustehen, aber seine Vorsicht war überflüssig. Seit zwei Tagen hatte er den Spitzel nicht mehr zu Gesicht bekommen, vielleicht war er von seinem Posten abgezogen worden. Hoffentlich! Trotzdem kam es vor, dass ein unerwartetes Geräusch oder ein Schatten, der sich bewegte, Hendrik erschreckte.

Eine halbe Stunde war er schon zu Fuß unterwegs; er brauchte einfach frische Luft, um nachdenken zu können. Bei Kerzenschein in der Wohnung ließ es sich ohnehin nicht gut arbeiten, und wenn er sich jetzt einen weiteren Tag in Folge um acht Uhr schlafen legen sollte, würde er durchdrehen.

Die Menschen hatten sich auf die Dunkelheit eingestellt. Überall begegnete man Nachtschwärmern mit Taschenlampen und Laternen, manche Leute benutzten sogar Fackeln. Vereinzelt waren auch ein wichtiges Gebäude oder eine Kreuzung durch Scheinwerfer der Putschisten erhellt.

Am Ufer des Kanals ließ Hendrik sich schließlich nieder und überdachte die Ereignisse des heutigen Tages. Sein Bruder hatte ihm am Nachmittag mitgeteilt, dass er Curt Broscheck verhaften würde. Simon Weinstein hatte dessen Schuhe untersucht und dabei nicht nur winzige Blutreste mit der Blutgruppe Max Ungers in den Rillen der Sohlen gefunden, sondern auch Teppichfasern aus dem Arbeitszimmer. War der Fall damit gelöst? Hendrik ließ noch einmal die vergangenen Tage Revue passieren. Nichts schien wirklich zueinander zu passen. Spuren gab es zuhauf, aber sie führten in alle Himmelsrichtungen. Zeit für eine Zwischenbilanz!

Was hatten er und Diana herausgefunden? Hermann, Friedrich, Käte Unger logen. Die Broschecks logen. Major Pabst log. Es gab einen mittlerweile verschwundenen Schuldschein der Broschecks. Max Unger unterstützte die Nationale Vereinigung. Major Pabst unterhielt eine enge Beziehung zu ihm und war der gesuchte Thor. Er hatte Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg umbringen lassen. Dafür, dass dies ihre erste Detektivarbeit war, kein schlechtes Ergebnis.

Was er jetzt brauchte, war ein bisschen Systematik, um seine Gedanken zu sortieren. Hendrik holte ein Stück Papier und einen Bleistiftstummel aus der Manteltasche und kritzelte im Schein der Taschenlampe:

 

1. Familie Unger
a. Friedrich Unger in der Nacht draußen. Warum?
b. Hermann Unger in Max’ Arbeitszimmer. Vor Friedrichs Gespräch? Unklare Zeit!
– Motiv: alle, inkl. Käte (Hass, Geld).
2. Broschecks
a. Verschwundener Schuldschein.
b. Spuren vom Tatort an Curt Broschecks Schuhen.
c. Beide lügen hinsichtlich ihrer Rückkehr. Wer schützt wen und warum?
– Motiv: beide (Hass, Schuldschein).
3. Putschisten
a. Identifikation Pabsts durch Joseph (Pabst leugnet, Max Unger zu kennen).
b. Briefe aus dem Umkreis der Nationalen Vereinigung. Langjähriger konspirativer Kontakt. Vermutliche Beteiligung Max Ungers am Putsch (finanzielle Unterstützung).
c. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg?
– Motive: unklar, aber denkbar (politisch motiviert, evt. Geld).
4. Mehrdeutige Spuren
a. Ein dem Tatmesser ähnliches falsches Messer mit dem richtigen Blut und Barbara Broschecks Fingerabdrücken. Mit ziemlicher Sicherheit vom Mörder als falsche Spur zugesandt.
b. Spuren hinter einem Gebüsch vor dem Fenster des Arbeitszimmers. Mögliche Schlussfolgerung: Der Mörder (?) hat Max Unger vorher beobachtet.
c. Terminkalender. Eintrag Thor, weist womöglich auf Pabst als späten Besucher hin. Warum Seite umgeblättert?

 

Hendrik las seine Notizen noch einmal durch und schüttelte den Kopf. Er wurde einfach nicht schlau daraus. Vielleicht sollte er es mit einer Aufstellung der zeitlichen Reihenfolge versuchen.

 

tagsüber

Max Unger findet Verschiedenes über seine Brüder heraus

???

Aufbruch Barbara Broscheck

6.30

Abendessen Ungers, anschl. Max Unger ins Arbeitszimmer

7.30

Gespräch Hermann Unger bei Max (laut eigener Aussage)
Curt Broscheck entdeckt Abwesenheit seiner Frau

8.00 – 10.00

geschätzte Todeszeit

8.00

Gespräch Friedrich Unger bei Max
Aufbruch Curt Broscheck mit Fahrrad

8.20

Barbara Broscheck bei Max Unger, wirft anschließend Messer weg
(laut eigener Aussage). Mörder beobachtet sie dabei?

8.30

Gespräch Thor (= Pabst) bei Max Unger (laut Terminkalender)

8.45 – 9.00

Curt Broscheck bei Max Unger (geschätzte Zeit)

9.45

Curt Broscheck zu Hause

10.30

Barbara Broscheck zu Hause

 

Hendrik studierte seine Notizen, fand aber keinen neuen Anhaltspunkt. Curt Broscheck hatte in jedem Fall Zeit genug gehabt, um zur Villenkolonie Grunewald hinauszuradeln, dort möglicherweise seine Frau zu beobachten und den Mord zu begehen. Nur: Woher hatte er die echte Tatwaffe? Schließlich konnte er nicht im Voraus wissen, dass seine Frau ein Messer zurücklassen würde.

Wer immer den Mord verübt hatte, konnte den konkreten Plan erst fassen, als er Barbara Broscheck dabei beobachtete, wie sie das Messer fortwarf. Was bedeutete, sofern die Arbeiterin unschuldig war und die Geschichte sich so abgespielt hatte, wie sie sagte, dass der Mörder gegen acht Uhr zwanzig am Tatort gewesen sein musste. Da sämtliche Zeitangaben nur Schätzwerte darstellten, waren allerdings Abweichungen nach oben und unten möglich.

Wie sah es mit den Alibis zur betreffenden Zeit aus? Schlecht. Die Broschecks waren nachweislich am Tatort gewesen. Die Brüder Unger hätten überall sein können. Käte Unger hatte angeblich geschlafen. Wo Pabst sich aufhielt, wusste der Teufel.

Seufzend faltete Hendrik den Zettel zusammen. Er steckte fest. Wenn doch nur Diana hier wäre! Ihren Enthusiasmus hätte er jetzt brauchen können! Er konnte es kaum abwarten, dass sie zu ihm zog. Und dabei war er nach wie vor sicher, dass er sie nicht liebte. Obwohl er ein zärtliches Gefühl für sie hatte. Obwohl er sie gern in den Arm nehmen würde.

Was war es nur, was einen dazu brachte, sich in jemanden zu verlieben? Diana war hübsch, klug, warmherzig – all das, was ihm an einer Frau gefiel. Und trotzdem war der Funke zwischen ihnen nicht erotischer Natur. Hendrik schüttelte den Kopf. Überflüssige Grübelei, nicht wahr? Freundschaft war schließlich eine Form von Liebe.

Er horchte auf. Geräusche näherten sich, Geflüster. Einige Sekunden später erschienen die Brüder Sebald am Kanalufer. Jemand hatte sie in die nächstbeste Uniform gesteckt; vermutlich unterstützten sie die Technische Nothilfe.

Hendrik erhob sich. „Guten Abend!“, sagte er.

Die beiden Männer schraken zusammen und richteten ihre Taschenlampen auf ihn. Hendrik blinzelte im grellen Licht.

Ludwig fasste sich als Erster. „Mit Ihnen reden wir nicht.“

„So?“

„Wenn es auf der Welt gerecht zuginge, wären Sie längst Ihres Amtes enthoben wie der Judenfreund Nicolai. Oder man hätte Ihnen das Maul gestopft.“

„Lass ihn!“ Leanders Stimme klang erstaunlich fest.

„Sie haben meinen Bruder ausgetrickst!“

Leander ergriff ihn beim Arm. „Hör auf damit!“

„Ihr Bruder hat sich entschlossen, sein Gewissen nicht länger zu ignorieren“, korrigierte Hendrik. „Sie dagegen haben ihn in Gefahr gebracht.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Sie hatten ja nichts Eiligeres zu tun, als unser Gespräch Ihrem Major Pabst zu melden, der mir daraufhin einen Spitzel angehängt hat. Von mir hat der Major nichts erfahren, was er nicht bereits durch diesen Spitzel wusste.“ Er wandte sich Leander zu. „Seien Sie vorsichtig! Pabst hat Drohungen gegen Sie ausgestoßen. Verräter verfallen der Feme, hat er gesagt.“

Leander wurde blass.

„Er würde seinen eigenen Männern niemals etwas antun!“, sagte Ludwig. „Er weiß, dass mein Bruder ein treuer Verfechter unserer Sache ist.“

„Ganz wie Sie meinen.“ Hendrik verließ die beiden Studenten ohne ein weiteres Wort, um sich nicht zu Äußerungen hinreißen zu lassen, die er später bereuen würde. Ludwig rief ihm Beleidigungen hinterher, während Leander ihn zu beruhigen suchte. Hendrik konnte die Brüder noch eine ganze Weile streiten hören.

Immerhin hatte die Auseinandersetzung ihm einen willkommenen Adrenalinschub gegeben. Mit frischer Energie wälzte er den Fall Unger im Kopf. Ob Curt Broscheck die Tat gestanden hatte? Hendrik beschloss, seinem Bruder gleich morgen früh einen Besuch abzustatten und ihn nach Neuigkeiten auszuhorchen. Hoffentlich war der Arbeiter unschuldig, schon um seines Sohnes willen!

Der Gedanke an Anton bedrückte ihn. Was könnte aus dem Jungen werden, wenn er die Möglichkeit hätte zu studieren! Aber das war natürlich lächerlich, allein die Immatrikulationsgebühr betrug achtzehn Mark, dazu kamen das Honorar für Privatvorlesungen, das Auditoriumgeld, die Bibliotheksgebühr, der Studentenfonds, die akademische Krankenkasse … Anton hatte ja nicht einmal das Geld, um eine höhere Schule zu besuchen! Es war nicht gerecht, dass ein so viel versprechendes Kind von jeder Möglichkeit zur Entfaltung ferngehalten wurde, während Raufbolde wie Ludwig Sebald alles nachgeworfen bekamen!

Irgendwo fielen Schüsse. Zusammen mit der Dunkelheit übten die Geräusche eine beklemmende Wirkung auf Hendrik aus. Er fühlte sich in die Schützengräben vor Ypern zurückversetzt. Die Gräben, die teilweise mit Körperteilen gefallener Soldaten befestigt waren. Wenn man es wagte, über den Rand zu sehen, glotzten einen tote Augen an, die Augen von Leichen, die nicht beerdigt werden konnten, weil ein Feind, den man nie zu sehen bekam, wenige hundert Meter entfernt unter den gleichen Bedingungen dahinvegetierte und nur darauf wartete, dass sich jemand eine Blöße gab. Nichts bekam man zu sehen, nichts als Regen, Schlamm und Ratten. Um nicht durchzudrehen, hatte er angefangen, philosophische Schriften auswendig zu lernen, Platon, Aristoteles, Epikur. Die Worte waren ihm ebenso unwirklich vorgekommen wie die Situation, in der er sich befand.

Dann, plötzlich, Soldaten, die aus dem Morgendunst tappten. Schwankend. Blind. Mit ausgestreckten Armen bewegten sie sich auf die Gräben zu. Manchmal fiel einer von ihnen um und ließ eine Lücke in der weit auseinandergezogenen Reihe, schlug noch eine Weile um sich und blieb verkrümmt liegen. Mit Verzögerung drang schließlich auch das Stöhnen und Röcheln herüber. Einige derjenigen, denen die Haut vom Gesicht fiel, krochen auf allen vieren, bettelnd, fluchend, wimmernd. Die ersten fielen in die Gräben.

Hendrik hatte sich nicht rühren können. Und wenn eine Bombe direkt auf seinem Platz eingeschlagen wäre, er hatte nichts weiter tun können, als zuzusehen, wie die Gasvergifteten zu seinen Füßen verendeten. Gelbkreuz. Senfgas.

Das waren die Dinge, die er Diana nicht erzählt hatte. Bilder, Gerüche, die ihn nicht losließen. Die ihn zweifeln ließen, dass es einen Sinn im Leben gab, dass Vernunft existierte, dass Verständigung zwischen Menschen möglich war. Die ihn zynisch werden ließen und dazu gebracht hatten, dass er nach seiner Genesung seine Vorlesungen nur noch mechanisch abhielt.

Ist denn eine andere Welt möglich? Immer wieder lief es auf diese Frage hinaus. Würde es ihm gelingen, die Lähmung abzuschütteln, eine Lähmung, die nicht in den Muskeln saß, sondern im Kopf, im Herzen? Wieder für die andere Welt einzutreten? Existieren kann man nicht ohne Leidenschaft, sagte Kierkegaard. Bis vor wenigen Tagen hatte Hendrik gelebt, als sei seine Seele mit den Kameraden auf dem Schlachtfeld gefallen. Er hatte gegessen, geatmet, sogar Scherze gemacht, aber nichts davon hatte je sein Herz erreicht.

Erst jetzt merkte er, dass er fror. Er beschleunigte seine Schritte, um sich durch Bewegung Wärme zu verschaffen und gleichzeitig seine Gedanken dazu zu bringen, sich vorwärtszubewegen statt im Kreis. Vielleicht konnte er seinem Leben noch einmal eine neue Wendung geben. Die Morduntersuchung hatte etwas in ihm geweckt, das er längst zerstört glaubte, einen Hunger, ein Verlangen danach zu leben, das er nicht wieder loslassen wollte. Zum ersten Mal seit seiner Teilnahme an dem unseligen Krieg bereitete ihm wieder etwas Freude. Ein anregendes Gespräch mit Diana, der Funke in Anton Broschecks Augen, ein Ziel zu haben, an dem er seinen Scharfsinn messen konnte – all das erinnerte ihn daran, wie wertvoll das Leben war.

Hendrik hielt das keimende Hochgefühl fest und hangelte sich daran empor. Sah es nicht aus, als sei der Putsch bald vorüber? Alles in allem waren die vergangenen Tage glimpflich abgelaufen. Es war nicht undenkbar, dass die Menschen aus diesem Vorfall lernen würden, dass sie diese Republik, so unfertig sie auch sein mochte, zu schätzen begannen. Dass sie eine andere Welt möglich machten.

Schüsse und Schreie ließen ihn zusammenfahren. Das Rattern von Gewehren, mit wütendem Geheul beantwortet, gar nicht weit entfernt. Es schien vom Kottbusser Tor zu kommen. So rasch es in der Dunkelheit möglich war, lief Hendrik auf die Geräusche zu.

Fackeln und Laternen erhellten das Gelände an der Hochbahn auf gespenstische Weise. Mindestens sechs- oder siebenhundert Menschen hatten sich zusammengerottet und an der Admiralstraße eine Barrikade errichtet. Wie Hendrik erfuhr, war es den Männern gelungen, erfolgreich eine Patrouille der Sipo zurückzuschlagen und die daraufhin erscheinenden Soldaten der Reichswehr ins Wasser des nahe gelegenen Kanals zu werfen.

Inzwischen war eine neue, stärkere Abteilung der Reichswehr auf dem Kampfplatz erschienen und lieferte sich ein hitziges Gefecht mit den Arbeitern. Anwohner hatten ihre Fenster geöffnet und spähten hinaus, die meisten waren zumindest so klug, die Petroleumlampen in ihren Wohnungen zu löschen.

Zu seinem Entsetzen entdeckte Hendrik, wie die Soldaten fünfhundert Meter von den Barrikaden entfernt einen Minenwerfer in Stellung brachten. Während ringsum das Gefecht tobte, wurde das Rohr geladen und ein Ziel anvisiert. Die Männer neben dem Gerät hielten sich die Ohren zu. Als nächstes gab es einen dumpfen Knall. Heulend sirrte das Geschoss durch die Luft und krepierte unweit der Hochbahn. Eine furchtbare Explosion erfolgte, riss Straßenpflaster und Schienen auf und zerfetzte mehrere Menschen. Geschosssplitter flogen umher und verfehlten Hendrik nur um Haaresbreite.

Dann war die Luft erfüllt von Schmerzens- und Hilfeschreien. Während der größte Teil der Menge auseinanderstob, halfen andere den Verletzten auf und schleppten sie aus der Gefahrenzone. Ein Mann, der einen anderen mitschleifte, torkelte Hendrik entgegen. Immer wieder sank der Verwundete zu Boden. Hendrik griff zu und erkannte mit Grausen, dass ein Arm abgerissen war. Trotz des starken Blutverlustes kämpfte der Arbeiter gegen eine Ohnmacht an. Eine Frau kam schreiend herbeigelaufen und umschlang ihn schluchzend, während sie unablässig seinen Namen rief. Weitere Helfer eilten hinzu und übernahmen den Mann.

Am ganzen Körper mit Blut beschmiert, blieb Hendrik zurück und starrte fassungslos auf das Bild sinnloser Zerstörung, frierend, allein und jeder Zuversicht beraubt.

23

Die Gewalttätigkeiten hörten nicht auf. Zwölf Todesopfer und zahllose Verletzte waren bei dem Barrikadenkampf an der Admiralstraße zu beklagen gewesen. In der Nacht hatten darüber hinaus die Kommunisten versucht, sich der Kaserne in der Wrangelstraße zu bemächtigen.

Kapp hatte offiziell seinen Rücktritt bekanntgegeben, getarnt als erfolgreiche Beendigung seiner Mission, und die Frage, die alle beherrschte, war: Ziehen auch die Truppen ab? Von einer Abdankung von General Lüttwitz war nichts zu vernehmen, die Gefahr einer Militärregierung schien eher größer geworden.

Obwohl Hendrik sich bereits früh ins Polizeipräsidium begab, war Barbara Broscheck vor ihm da. Gregor, der vergeblich versuchte, die Arbeiterin höflich hinauszukomplimentieren, bedeutete Hendrik, sich still in eine Ecke zu setzen.

„Es hilft Ihrem Mann nicht, wenn Sie für ihn lügen, um ihm ein falsches Alibi zu verschaffen“, sagte er gerade. „Wir haben Blutspuren von Max Unger und Fasern vom Teppich des Arbeitszimmers unter seinen Schuhen gefunden. Außerdem gibt es Zeugen, die ihn in der Nähe des Tatorts gesehen haben.“

Die Arbeiterin weinte. „Curt is’ ein guter Mann“, schluchzte sie. Und dann, nach einer Weile: „Es is’ doch alles nur aus Verzweiflung passiert!“

Gregor rückte einen Stuhl heran, setzte sich rittlings darauf und reichte ihr ein Taschentuch. „Hat er Ihnen die Tat gestanden?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Aber Sie glauben, dass er es war. Was bringt Sie auf den Gedanken?“

„Er … er hat mich so komisch angekuckt, als Sie uns verhört ham. Und dann, weil er gelogen hat, dass wir zusamm’ war’n.“

„Haben Sie ihn nie danach gefragt?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. Hendrik verstand sie. Es musste praktisch unmöglich sein, in ihrer Wohnung ein privates Wort miteinander zu wechseln, zumal mit einem Fremden als Dauergast.

„Ich will aufrichtig zu Ihnen sein: Es sieht nicht gut aus für Ihren Mann. Andererseits haben wir keinen Beweis seiner Schuld. Sie nützen jedenfalls weder ihm noch sich, wenn Sie hier herumlungern.“ Gregor stand auf und legte ihr in einer väterlichen Geste die Hand auf die Schulter. „Gehen Sie nach Hause. Denken Sie an Ihren Sohn und Ihren Schwiegervater.“

Wie eine Puppe erhob sich die Frau, stand eine Sekunde verloren im Büro und schlurfte wortlos hinaus.

Sie liebt ihn noch, begriff Hendrik. Es mag im Alltag untergegangen sein, und ihre Lebensumstände sind sicher nicht dazu angetan, romantische Gefühle zu fördern, aber sie liebt ihn noch.

Als die Tür ins Schloss gefallen war, sank Gregor erschöpft auf seinen Stuhl. „Die Frau kostet mich Nerven!“

„Du hast Zeugen, die Curt Broscheck am Tatort gesehen haben?“

„Eine kleine Lüge. Aber es besteht kein Zweifel, dass er da war. Simon hat die Teppichfasern identifiziert, von den Blutspuren mal ganz abgesehen.“ Er legte seine Hände zu einem Dreieck zusammen. „Es gibt noch einen weiteren Hinweis. Ein Nachbar der Ungers hat ausgesagt, dass er bei einem späten Spaziergang an jenem Abend genau so ein Rad gesehen hat wie das der Cremers. Es lehnte bei den Ungers am Gartenzaun. Der Mann wunderte sich, weil es so schäbig aussah und nicht dorthin zu gehören schien.“

„Und Herr Broscheck?“

„Ich habe ihn die halbe Nacht bearbeitet, aber er hat geschwiegen. Ich verstehe beim besten Willen nicht warum. Er macht nicht mal den Versuch, uns Lügen aufzutischen. Ich will ihn mir noch mal vornehmen, ehe ich ihn nach Moabit verfrachten lasse.“

Hendrik machte es sich auf seinem Stuhl bequem. „Nur zu!“

Gregor sah ihn an. „Na schön, meinetwegen!“

Hendrik grinste in sich hinein. Sein Bruder würde es nie zugeben, aber in Wahrheit schätzte er seine Kommentare.

Während Gregor hinausging, besorgte Hendrik ein Glas Wasser, um die Petersilie, den Borretsch und den Schnittlauch zu gießen. Vermutlich kam jeder Wiederbelebungsversuch zu spät, so wie die Gewürzkräuter aussahen. Sein Bruder hatte einfach keine Hand für Pflanzen. Die Hartnäckigkeit, mit der er es immer wieder versuchte, war zwar sympathisch, aber verschwendet.

Hendrik schlenderte durch das Büro. An der Stirnseite des Raumes hing eine Karte von Berlin und Umgebung, eingeteilt in die sechs selbstständig arbeitenden Polizeibezirke. Hie und da steckte ein Fähnchen im Papier, vielleicht um den Schauplatz eines Verbrechens zu markieren. Das Polizeipräsidium war schwarz umrandet. Ansonsten gab es keinen freien Fleck, an dem nicht Aufnahmen des Unger’schen Arbeitszimmers hingen. Gregor hatte die Angewohnheit, sämtliche Wände mit Tatortfotos zu tapezieren, wenn er an einem Fall arbeitete. Es regt das Gehirn an, pflegte er zu sagen.

Zum ersten Mal bekam Hendrik dadurch auch die Leiche zu sehen. Es war kein schöner Anblick. Max Unger lag auf dem Rücken in einem Meer von Blut, neben ihm verstreute Papiere und ein Tintenfass, das mit zu Boden gegangen war und schwarze Spritzer auf dem Teppich hinterlassen hatte.

Weitere Fotos zeigten das Arbeitszimmer aus allen Winkeln, es gab Panoramaansichten und Nahaufnahmen. Der Schreibtisch mit den Zeitungen und dem aufgeschlagenen Terminkalender. Der Fußboden, praktisch bis in die hinterste Ecke übersät mit Blutspritzern. Das Fenster mit den zurückgezogenen Vorhängen, durch das man den Garten erkennen konnte mitsamt dem Busch, hinter dem vermutlich der Mörder gesessen hatte. Fingerabdrücke auf Tischen, Schränken, Gläsern.

Stirnrunzelnd ging Hendrik noch einmal zurück. Irgendein Detail, ausgelöst durch den Anblick der Fotos, war seinem Unterbewusstsein aufgefallen. Hatte es mit der Leiche zu tun? Er betrachtete die entsprechenden Bilder. Nein, das war es nicht. Frustriert ging er von einem Foto zum nächsten, um die Lösung des Rätsels zu erzwingen, aber er kam nicht drauf. Also kehrte er zu seinem Platz zurück und entspannte sich. Aus Erfahrung wusste er, das beste Rezept in so einem Fall war, an etwas anderes zu denken. Angestrengtes Grübeln hatte einen eher kontraproduktiven Effekt.

Gregor brachte Curt Broscheck herein. Der Mann hatte eine verschlossene Miene aufgesetzt und reagierte weder auf Hendrik noch auf die Fotos an den Wänden. Vermutlich hatte er die ohnehin bereits bei den vorigen Verhören zu Gesicht bekommen.

Hendrik zückte Bleistift und Papier. Ohne dass eine Absprache nötig gewesen wäre, übernahm er wieder das Amt des Protokollanten.

„Fangen wir also noch mal an“, leitete Gregor das Verhör ein.

„Ich hab’ nix zu sagen.“

„Lassen wir die Beweise der Mikroanalyse und die Zeugenaussagen einmal beiseite. Ihre Frau war eben hier und hat ausgesagt –“

„Meine Frau?“ Der abrupte Wechsel von Gleichgültigkeit zu Anspannung war verblüffend. „Meine Frau is’ frei?“

„Wussten Sie das nicht?“ Gregor war irritiert. „Wir haben sie entlassen, kurz bevor wir Sie verhafteten. Ich dachte, man hätte Sie informiert.“

Es war Curt Broscheck anzusehen, wie sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen. „Warum …?“

„Das Messer mit ihren Fingerabdrücken war nicht das Mordmesser. Natürlich ist es möglich, dass sie es trotzdem getan hat, aber mir sieht das eher nach dem Versuch aus, ihr den Mord in die Schuhe zu schieben.“

Curt Broscheck schien den Vorwurf gar nicht zu begreifen, der in Gregors Bemerkung steckte. „Dann is’ sie unschuldig?“ Wenn die Überraschung in seinem Gesicht nicht echt war, musste er ein verdammt guter Schauspieler sein.

Hendrik begriff. „Sie haben gedacht, sie war es!“

Zögernd nickte der Arbeiter.

„Und Ihre Frau glaubt, Sie hätten den Mord begangen.“

„Ich? Aber wie kommt sie darauf …?“

„Sie haben sich bei unserem ersten Besuch nicht gerade unverdächtig benommen“, übernahm Gregor wieder die Gesprächsführung. „Meinen Sie nicht, dass es besser wäre, uns endlich die Wahrheit zu erzählen?“

„Das is’ kein Trick, oder?“, fragte der Mann misstrauisch und wandte sich dabei an Hendrik, den er wohl als unparteiischen Dritten ansah. „Sie is’ wirklich frei?“

„Sie ist auf dem Weg nach Hause.“

Curt Broscheck musterte ihn eindringlich und sank in seinen Stuhl zurück. „Dann is’ alles gut. Fragen Sie, was Sie woll’n, ich werde reden.“

„Warum sind Sie am Mordabend zur Villenkolonie Grunewald rausgefahren?“

„Ich kam vonner Arbeit. Barbara war nich’ da. Eine halbe Stunde hab’ ich gewartet, dann hab’ ich es nich’ länger ausgehalten.“ Er zögerte. „Sie … sie hat oft so geredet, den bring’ ich um und so … wie man eben so red’. Wir ham ihn alle gehasst. Als sie nich’ da war, dachte ich … sie war sonst immer da, wenn ich nach Hause kam. Es hat sie verrückt gemacht, dass wir am nächsten Tag wieder aus der Wohnung sollten.“

„Sie befürchteten also, Ihre Frau könnte ihre Drohung wahr machen.“

„Ich dachte, vielleicht kann ich sie davon abbringen. Es hat mir nicht Leid getan um das Schwein. Aber unsereins zieht bei so was immer den Kürzeren. Also hab’ ich mir von den Cremers ’n Rad geborgt und bin wie der Teufel ’raus nach Grunewald. Feine Gegend. Nur reiche Pinkel.“

„Haben Sie kein eigenes Fahrrad?“

„Musst’ ich verkaufen, um die Schulden zu bezahl’n.“

„Und wie kommen Sie zur Arbeit?“

„Zu Fuß natürlich.“

Hendrik rechnete nach: Wenn Curt Broscheck acht Stunden in der Fabrik arbeitete und dazu einen Fußmarsch von noch einmal je einer Stunde bis zum Humboldthain auf sich nehmen musste, dann betrug seine Arbeitszeit in Wirklichkeit zehn Stunden. Es gab viele, denen nichts anderes übrig blieb, weil sie sich keinen Fahrschein für die Bahnen leisten konnten.

„Ich wusste, der Alte hat sein Arbeitszimmer im Seitenhaus. Jeder weiß das. Es stand mal was über ihn inner Zeitung. Da gibt’s ’n eigenen Eingang, zu dem bin ich hin. Es war offen.“

„Ist Ihnen irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie jemanden gesehen oder ein Geräusch gehört, das auf die Anwesenheit einer weiteren Person hindeutete?“

„Nee. Ich bin also ’rein. Wie ich zum Arbeitszimmer komme, seh’ ich die Leiche. Ich … ich war vollkommen durcheinander. Ich dachte, ich wär’ zu spät gekomm’, und außerdem … ich hab’ mich geschämt.“

„Geschämt?“

„Dass ich nich’ fähig war, meine Familie vor so’m Schweinehund zu schützen, wo meine Frau den Mut dazu aufbrachte.“ Seine Gedanken verloren sich in der Ferne. „Sie war mal richtig hübsch. Ich weiß, Sie könn’ sich das nich’ vorstell’n, weil sie von der vielen Arbeit so kaputt is’. Aber sie war das hübscheste Mädchen inner Straße. Als ich vor der Leiche gestanden hab’, hab’ ich mich plötzlich so mies gefühlt … weil ich ihr kein besseres Leben geben konnte … weil ich ihr nich’ das Leben geben konnte, das ich ihr mal versprochen hab’.“

Hendrik war froh, dass sein Bruder dem Mann die Zeit ließ, sich die lange in der Brust eingeschlossenen Gefühle von der Seele zu reden.

„Ich hab’ immer gewusst, dass sie ein Segen für mich is’. Allein wie sie das Geld zusamm’hält. Ich weiß nich’, wie sie das macht, bei dem bisschen, das ich nach Haus’ bringe. Wenn sie nich’ was dazuverdien’ würde, und Anton und Helene auch, dann wüsst’ ich nich’, was werden soll.“ Er starrte vor sich auf den Tisch und seine hilflos geballten Fäuste.

„Was haben Sie dann gemacht?“

„Ich konnte mich erst gar nich’ rühr’n. Dann hab’ ich kapiert, was ich tun muss. Jetzt keine Panik, hab’ ich mir gesagt. Zuerst hab’ ich gekuckt, ob der Mann wirklich tot is’, klar, da war nix mehr zu machen. Dann hab’ ich gedacht, ich muss seh’n, ob Barbara keine Spuren hinterlassen hat.“ Die Art, wie er ihren Namen aussprach, verriet eine Zärtlichkeit, die man bei ihm nicht vermutete.

Hendrik hatte eine Eingebung. „Dabei haben Sie den Schuldschein entdeckt.“

„Er lag ganz offen auf’m Schreibtisch. Als hätte das Schicksal ihn für mich hingelegt. Ich meine, der Mann war tot. Wahrscheinlich wusste keiner sonst davon. Und wenn schon – ohne den Schuldschein konnte uns niemand was. Wir hätten weiter inner Wohnung bleiben könn’. Er war sowieso tot“, wiederholte er trotzig.

„Ich verstehe nur nicht, weshalb Sie nicht auch den Brief mit vernichtet haben.“

„Brief? Welchen Brief?“

Offenbar hatte Barbara Broscheck den Bittbrief ohne Wissen ihres Mannes geschrieben. So konnte der auch nicht ahnen, dass die Polizei auch ohne den Schuldschein genug Gründe hatte, sie in den Kreis der Verdächtigen einzubeziehen.

Gregor überging das Thema. „Was haben Sie mit dem Schuldschein gemacht?“

„Zerrissen und verbrannt.“

„Und dann?“

„Bin ich nach Haus. Unterwegs hab’ ich immer nach Barbara gekuckt, aber sie war nirgends zu seh’n. Sie kam erst eine ganze Weile nach mir an. Sie war ja zu Fuß. Ich … ich hab’ nix gesagt. Ich wusste nicht: Hat sie es nun getan? Ich hab’ sie beobachtet, und sie war auch irgendwie komisch, aber ich hab’ nix gesagt. Dann kamen Sie, und da war ich mir sicher, dass sie’s getan hat.“

„Abgesehen vom Schuldschein – haben Sie irgendwas im Raum verändert?“

„Nee.“

Gregor trommelte geistesabwesend mit den Fingern auf seinem Schreibtisch, dann nickte er. „Gut. Ich lasse Sie erst einmal in Ihre Zelle zurückbringen.“

Curt Broscheck wirkte beinahe demütig, als er sich erhob. „Könnten Sie meiner Frau … könnten Sie ihr sagen, dass …“, setzte er an, doch er fand nicht die richtigen Worte, und so schüttelte er schließlich bloß den Kopf und folgte dem Kommissar wie ein geprügelter Hund.

„Nun?“, fragte Gregor, als er zurückkam.

„Ich glaube ihm“, erwiderte Hendrik.

„Ich auch. Womit wir wieder am Anfang stehen.“

„Nicht ganz. Immerhin können wir, wenn wir von der Hypothese ausgehen, dass die Broschecks diesmal die Wahrheit gesagt haben, einige Ungereimtheiten als nicht zum Mord gehörig ausschließen. Das Fehlen des Schuldscheins, zum Beispiel. Es erklärt darüber hinaus die Spuren vom Tatort unter den Schuhsohlen. Und es führt uns zu der immer dringenderen Frage zurück, wo und wann der Mörder Frau Broscheck mit dem Messer beobachtet hat, um auf den Gedanken zu kommen –“

Hendrik verstummte mitten im Satz, ohne den Mund zu schließen. Dann sprang er so heftig auf, dass der Stuhl umfiel, stürzte zu einer Wand und starrte auf ein bestimmtes Foto.

Gregor suchte zu ergründen, welches Bild seinen Bruder so in den Bann zog. Es war eine eher nebensächliche Aufnahme der Rückwand des Arbeitszimmers. Es zeigte blutbesudelte Wände, die Vorhänge, das Fenster mit Blick in den Garten. „Was ist los?“, fragte Gregor

„Wir waren alle blind!“, stöhnte Hendrik.

24

Diana war mehr als befremdet, weil die Brüder Lilienthal wie besessen die Hausklingel betätigten. „Außer mir und Elsa ist niemand da“, meinte sie.

„Ein glücklicher Umstand“, erwiderte Hendrik kurz angebunden, dann stürmte er zum Arbeitszimmer, gefolgt von seinem Bruder. Diana, die den beiden nacheilte, bemerkte verwundert, dass Hendrik hinkte.

„Wirst du mir jetzt endlich sagen, was du entdeckt hast?“, rief Gregor verärgert.

„Gleich, gleich! So mach doch auf!“

Gregor löste das Siegel und öffnete die Tür. „Ich hoffe für dich, dass es wirklich wichtig ist“, sagte er, und er sah nicht aus, als würde er Spaß machen.

Das Arbeitszimmer war unverändert, nur das Blut hatte begonnen, sich zu verfärben, und einen bräunlichen Ton angenommen. Vor zwei Tagen hatten Beamte die mitgenommenen Unterlagen Max Ungers zurückgegeben, aber Gregor hatte trotz Hermanns Protest darauf bestanden, das Zimmer versiegelt zu lassen. Im Präsidium war allgemein bekannt, dass er in dieser Hinsicht zu einem pathologischen Perfektionismus neigte. Wenn er gekonnt hätte, hätte er jeden Tatort für alle Zeiten in Wachs gegossen, um auch nach Jahren noch die Möglichkeit der Überprüfung zu haben.

Diese Marotte seines Bruders kam Hendrik jetzt zugute. Er stürzte zur Fensterwand und blieb abrupt zwei Schritte davor stehen. Seine Augen irrlichterten hierhin und dorthin, und seine Erregung übertrug sich auf die anderen. „Seht doch!“, rief er aus. „Seht ihr es nicht?“

Gregor und Diana stellten sich neben ihn. „Wovon sprichst du?“, fragte Gregor. Seiner Stimme war anzumerken, dass er das Rätselraten satt hatte.

„Das Blut!“

Jetzt sahen alle, was er meinte. Unterhalb des Vorhangs befand sich ein Blutfleck, der jedoch keine Fortsetzung auf dem Vorhang fand und wie abgeschnitten aufhörte.

„Da soll mich doch …“ Irritiert kniete Gregor nieder, um den Fleck genauer in Augenschein zu nehmen.

Zu seiner Freude erkannte Hendrik dieselbe Schlussfolgerung, die ihn hergetrieben hatte, in Dianas Augen. Kurzerhand trat sie an den Vorhang und zog diesen mit einem Ruck zu. Aus dem bislang im Inneren des Stoffes verborgenen Teil tauchte die Fortsetzung des Flecks auf, dazu eine Reihe weiterer Blutspritzer.

„Was bedeutet das?“, entfuhr es Gregor.

„Es bedeutet, dass niemand vom Gebüsch da draußen Max Unger beobachten konnte, weil die Vorhänge geschlossen waren!“

„Aber wir haben Spuren gefunden!“

Hendrik war schon weiter und ließ weder seinen Bruder noch Diana zu Atem kommen. „Ich wette …“, sagte er, mehr zu sich selbst, und ließ den Rest des Satzes unvollendet. Mit drei, vier Schritten durchmaß er den Raum, nahm eine Lupe vom Schreibtisch und unterzog den Terminkalender einer gründlichen Untersuchung. Wohl fünf Minuten suchte er jeden Zentimeter des aufgeschlagenen Blattes ab, blätterte vor und zurück. Gregor und Diana warteten schweigend das Ende seiner Tätigkeit ab und wagten nicht, ihn zu stören.

„Ja“, rief er schließlich, „ich wusste es!“ Triumphierend deutete er auf das oberste Blatt. „Seht ihr, hier, der Eintrag 8:30: Thor. Und hier“, er blätterte um, „wie wir ja schon gesehen haben, die winzigen Blutspritzer, die beweisen, dass der Kalender auf dieser Seite aufgeschlagen war, als der Mord geschah. Jetzt seht euch die Spritzer genau an.“

Gregor riss ihm die Lupe aus der Hand und beugte sich über das Papier. „Verdammt!“

„Was ist?“, fragte Diana frustriert, weil sie nicht einbezogen wurde.

„Die Spritzer sind zwar nur winzig, dennoch kann man an mindestens zwei Stellen erkennen, dass sie helle Stellen aufweisen, da, wo sich die Spitze des Stiftes eingedrückt hat. Das Pendant dazu findet sich auf der gegenüberliegenden Seite. Hier, das ist eindeutig der Anfang einer 3, und da ist das T von Thor.“

Hendriks Gesicht glühte. „Mit anderen Worten: Das Blut war noch nicht ganz trocken, und der Eintrag –“

„– ist nachträglich gemacht worden!“, vollendete Diana.

„Genau! Und das bedeutet …“ Erst während er es aussprach, kamen Hendrik die Konsequenzen seiner Schlussfolgerungen zu Bewusstsein, und sein Gesichtsausdruck wechselte unvermittelt zu einer bekümmerten Miene. „Tut mir Leid!“, sagte er.

Diana trug es erstaunlich tapfer. „Schon gut. Ich glaube, in meinem Inneren habe ich es immer geahnt. Ich wollte es nur nicht wahrhaben.“

„Wovon redet ihr?“, wollte Gregor wissen.

Hendrik und Diana wandten sich gleichzeitig zu ihm um und sahen ihn überrascht an. „Ist das nicht eindeutig?“

„Vielleicht bin ich etwas begriffsstutzig, aber: Nein, für mich nicht!“

„Jemand hat den Vorhang geöffnet, nachdem dieser blutbesudelt war, und das kann nur –“

„– der Mörder gewesen sein“, beendete Diana.

Hendrik bewunderte die Fassung, mit der sie es trug. „Anschließend notierte er einen falschen Termin im Kalender und trampelte ein bisschen im Gebüsch da draußen herum.“

„Falsche Spuren“, sagte Gregor, „um uns auf eine falsche Fährte zu locken, das verstehe ich schon. Aber –“

„Um uns glauben zu machen, der Mörder sei von außerhalb gekommen“, präzisierte Hendrik.

Gregor warf Diana einen misstrauischen Blick zu. „Und wer von den Bewohnern dieses Hauses …?“

Sie hatte nur Augen für Hendrik. „Ein Irrtum ist ausgeschlossen, nicht wahr?“

„Es gibt nur eine Lösung, die sämtliche Fakten erklärt.“

Sie nickte, es war mehr eine rhetorische Frage gewesen.

„Aber wir können nichts beweisen.“

„Das Chatelier-Prinzip!“, sagte Diana, als handele es sich um die nahe liegende Lösung einer nicht weiter komplizierten Gleichung.

„Das – was?“

„Ein thermodynamisches Prinzip. Es besagt, wenn man bei einem im Gleichgewicht befindlichen System an einem Ende die Parameter – zum Beispiel den Druck – erhöht, gibt es am anderen Ende eine Kompensation.“

Hendrik begann vage zu ahnen, worauf Dianas Einfall hinauslief. „Du meinst …“

„Ich werde heute beim Abendessen den Druck erhöhen. Ich werde sagen, dass Curt Broscheck mangels Beweisen freigelassen wird, wenn nicht noch belastende Indizien gefunden werden. Und dass die Kriminalpolizei zu diesem Zweck am frühen Morgen die Kellerräume in der Prinz-Handjery-Straße durchsuchen will.“

„Ein Köder, der zum Anbeißen einlädt.“

Gregors Frustration hatte ihren Höhepunkt erreicht. „Würdet ihr beiden Klugscheißer mir endlich verraten, wen ihr im Verdacht habt?“

Hendrik und Diana sahen sich an.

25

Nicht nur die Lösung des Falls trieb auf einen Höhepunkt zu, sondern auch die Situation in Berlin. Es hieß, die Baltikumtruppen würden abmarschieren. Da die Falle für Max Ungers Mörder erst während der Nacht zuschnappen konnte, begab sich Hendrik wieder einmal ins Regierungsviertel.

Es hatte zu regnen begonnen, doch trotz des schlechten Wetters waren die Straßen voller Menschen. An den Anschlagsäulen, die seit Samstag nicht mehr beklebt worden waren, hingen Fetzen schmutziger Plakate.

Unterwegs schnappte Hendrik weitere Gerüchte auf; offenbar hatte es mittags erneut ein Feuergefecht am Kottbusser Tor gegeben. Später hatte ein wütender Mob entwaffnete Soldaten massakriert, denen freier Abzug zugesichert worden war. Hendrik hatte Angst, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen würde, wenn die Truppen nicht bald abzogen.

Je mehr er sich jedoch der Innenstadt näherte, desto deutlicher wurde, dass die Soldaten tatsächlich im Begriff standen, die Stadt zu verlassen. In der Wilhelmstraße und auf dem Wilhelmplatz war die Brigade Ehrhardt dabei, sich zum Rückzug zu ordnen. Von ferne drangen Bruchstücke einer markigen Ansprache Kapitän Ehrhardts an Hendriks Ohr. Die national gesinnten Kreise seien zu feige gewesen, sich hinter ihre Sache zu stellen, und einzelne Abteilungen der Reichswehr hätten sich als unzuverlässig erwiesen, nur deshalb habe man jetzt verloren. Wie verbreitet doch die Dolchstoßmentalität war!

Hasstiraden gegen die rechtmäßige Regierung und die Arbeiter schollen herüber und endeten im Versprechen, die Truppen würden Deutschland in Zukunft noch von einer ganzen Reihe Kommunistennester säubern, genau wie sie es in Berlin getan hatten, das ohne sie im Sumpf erstickt wäre. Hendrik erschauerte. Wenn die Putschisten nicht zur Verantwortung gezogen wurden, war künftiges Unheil vorgezeichnet. Lernte die willensschwache SPD-Regierung wieder nicht aus den Versäumnissen der Vergangenheit und ließ die republikfeindlichen Kräfte abermals ungeschoren, dann würde es irgendwann zu einem neuen Putsch kommen. Und der wäre mit Sicherheit besser vorbereitet.

Die Militärkapelle begann, das Deutschlandlied zu spielen. Der Trupp setzte sich in Bewegung. Hendrik konnte es kaum glauben. Sie zogen tatsächlich ab! Sein Herz machte einen Sprung. Die Gesichter der Soldaten waren zumeist finster, weil sie das unrühmliche Ende des Putsches als Schmach empfanden. Es waren jedoch auch einige darunter, die erleichtert schienen, dass das fragwürdige Abenteuer vorüber war.

Hendrik begleitete die Soldaten zum Pariser Platz. Die Zuschauermenge wurde trotz des Regens immer dichter. Höhnische Zurufe waren zu hören; Hendrik verfolgte es mit Besorgnis. „Wenna euch noch mal blicken lasst, werta uffjeknüppt!“, schrie ein rotgesichtiger Arbeiter, während die Brigade Ehrhardt zum Brandenburger Tor einschwenkte.

Wo Soldaten und Zuschauer allzu dicht aneinandergerieten, kam es zu Handgreiflichkeiten. Auch unter den Zuschauern entstanden Schlägereien. Hier und da wurden schwarz-weiß-rote Fahnen geschwenkt, und einige Unverbesserliche riefen den Soldaten „Kommt wieder!“ zu.

Vor dem „Hotel Adlon“ entdeckte Hendrik Ludwig Sebald, der sich mit mehreren Arbeitern stritt. Fäuste flogen. Sein Bruder stand nicht weit von ihm, zögerte aber einzugreifen.

Dann sah Hendrik ein Gesicht mit Spitzbart, das sich an Leander heranmachte, und eine eisige Hand griff nach seinem Herzen. In der aufgebrachten Menge bot sich Pabsts Spitzel eine einzigartige Möglichkeit, unerkannt einen Mord zu begehen! „Vorsicht!“, schrie er, doch eine vorrückende Gruppe Arbeiter drängte ihn ab.

Der Spitzel hatte ihn jedoch gehört. Er grinste herüber, verfolgte Hendriks vergebliche Bemühungen, sich aus dem Menschenknäuel herauszuwinden, und lüftete wieder seinen imaginären Hut.

Inzwischen flogen die ersten Steine auf die Soldaten. Plötzlich fiel ein Schuss. Das Geräusch wirkte wie ein Dammbruch; die frustrierten Soldaten, deren Nerven ohnehin blank lagen, ergriffen ihre Gewehre und feuerten wahllos in die Menge. Für einen kurzen Moment hatte Hendrik freie Sicht auf den Spitzel, der seine Pistole zog, dann stürzte er im Gedränge zu Boden. Gegen den Strom der Menschen, die über ihn hinwegtrampelten, kämpfte Hendrik sich hoch. Er schrie wie von Sinnen, doch es ging in der allgemeinen Panik unter.

Eine Art sechster Sinn musste Leander gewarnt haben, denn er drehte sich um. Wie gelähmt starrte er in das grinsende Gesicht des Spitzels, und diese Lähmung wurde ihm zum Verhängnis. Den Schuss konnte Hendrik nicht hören, er sah nur etwas Rotes, das sich auf Leanders Stirn um ein hässliches schwarzes Zentrum herum ausbreitete, ehe der Student wie vom Blitz gefällt zusammenbrach.

Hendriks Augen und die des Mörders trafen sich. Der Spitzel entbot ihm einen kalten Gruß, während die Kugeln über ihre Köpfe hinwegpfiffen, und schloss sich den Fliehenden an. Hendrik wurde erneut zu Boden gestoßen.

Ludwig, der durch seinen Kampf mit den Arbeitern von der Tragödie nichts mitbekommen hatte, sah sich nach seinem Bruder um. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, als er den leblosen Körper entdeckte. Er warf sich über ihn, um ihn vor den Tritten der Menge zu schützen, und schlug rücksichtslos nach allen Seiten.

Kommandeure versuchten, ihre Männer zur Ordnung zu rufen, wurden aber in dem Durcheinander nicht gehört. Erst nach Minuten gelang es ihnen, die Truppendisziplin wieder herzustellen. Die Soldaten zogen weiter, als sei nichts geschehen.

Tote und Verwundete lagen auf der Straße, Menschen schrien, die Gerüche von Pulverdampf und nassem Straßenbelag mischten sich. Hendrik kam auf die Beine und eilte zu den Sebalds. Mit einem Blick erkannte er, dass Leander nicht mehr zu helfen war. Man musste kein Arzt sein, um zu sehen, dass die Kugel seine Stirn zerschmettert hatte.

Ludwigs Gesicht war verzerrt. Er schüttelte seinen Bruder, als könne er ihn dadurch wieder zum Leben erwecken. Hilflos stand Hendrik daneben. Sollte er den Schmerz des Studenten noch vergrößern? Aber die Wahrheit durfte nicht verschwiegen werden! „Es waren nicht die Soldaten“, sagte er. „Es war Pabsts Spitzel. Ich stand zu weit weg, um eingreifen zu können, aber ich habe es gesehen. Es war kein Unfall, sondern Mord.“

Ludwig sah ihn an mit dem Blick eines Verdammten.

26

Hendrik massierte seine Beine, die ihm schmerzhaft zu verstehen gaben, dass seine augenblickliche Körperhaltung auf Dauer der Gesundheit nicht förderlich war.

Draußen trommelte der Regen, der im Laufe des Tages beträchtlich zugenommen hatte, auf Pappe, Blech und Stein. In den Höfen der Mietskasernen türmte sich der Müll, wie überall seit Beginn des Putsches. Es roch penetrant.

Vorsichtshalber hatten sie sich bereits mit Einbruch der Dunkelheit in die Prinz-Handjery-Straße begeben und in den Kellerräumen Posten bezogen. Aufgrund der Rattenplage waren überall Meerzwiebeln und Phosphorlatwerge ausgelegt; sie mussten höllisch aufpassen, wohin sie traten. Für alle Fälle hielten sich Edgar und drei weitere Polizeibeamte auf dem Hof und in der Nähe der Broscheck’schen Wohnung versteckt, zusätzliche Schutzmänner warteten in der Umgebung des Hauses, um auf ein Signal sofort herbeizueilen.

Inzwischen war es sicher nach Mitternacht; niemand wusste, wie lange sie noch ausharren mussten. Hendrik wäre an Stelle des Mörders auch erst erschienen, wenn anzunehmen war, dass sich das Haus im Tiefschlaf befand. Mit einem unterdrückten Seufzer verlagerte er sein Gewicht und setzte sich mit der anderen Pobacke auf die viel zu niedrige Kiste. Er fühlte sich immer noch elend wegen des Geschehens am Nachmittag. Wie ihm zu Ohren gekommen war, hatte die Brigade Ehrhardt auch am Bahnhof Tiergarten und am Luisenplatz in Charlottenburg in die Menge geschossen und überall Tote zurückgelassen, blutige Rache für den verlorenen Putsch. Diana schien zu spüren, was ihn bedrückte; sie ergriff im Dunkeln seine Hand. Er empfand ihre Nähe als tröstlich und erwiderte ihren Händedruck. Auch sie konnte etwas Mitgefühl brauchen.

„Ich wünschte wirklich, ihr beide würdet aufhören, so ein Geheimnis daraus zu machen, und mir verraten, wen ihr im Verdacht habt“, kam Gregors Flüstern aus der Dunkelheit.

„Ich möchte niemanden beschuldigen, ehe ich nicht einen Beweis habe“, erwiderte Hendrik in verlogenem Tonfall.

Gregor schnaubte ungehalten.

„Still, ihr zwei, sonst war alles umsonst!“, rief Diana sie zur Ordnung, worauf sie verstummten.

Wieder tröpfelte die Zeit dahin. In der Dunkelheit schien sich jede Sekunde auf das doppelte Maß auszudehnen. Es zerrte an Dianas Nerven zu warten, ohne zu wissen, ob sie überhaupt Erfolg haben würden. Wobei sie sich im Grunde ihres Herzens gar keinen Erfolg wünschte. Wäre doch alles nur ein Irrtum! Gäbe es doch nur irgendein Indiz, das sie übersehen hatten, ein Indiz, das alles in ein anderes Licht stellte!

Die Kälte machte ihr zu schaffen, zudem meldete sich ihr Magen wie immer zu den unpassendsten Gelegenheiten. Zaghaft rückte sie an Hendrik heran und war erleichtert, als er sie nicht zurückwies, sondern einen Arm um sie legte. Sie kuschelte sich unter seinen Mantel und genoss die Wärme seines Körpers.

 

Eine Berührung ließ sie zusammenfahren. Sie musste eingedöst sein.

„Sch!“, machte Hendrik.

Jetzt hörte sie es auch. Verstohlenes Knirschen von Kies. Schritte näherten sich. War ihr Plan aufgegangen? Oder handelte es sich bloß um einen Bettler, der eine Unterkunft suchte? Ihr Herz schlug wie wild, als sie sich tiefer in die Ecke kauerte.

Auch Hendriks Hände waren feucht. Angestrengt versuchte er, mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Da – jetzt näherte sich ein schwacher Lichtschein. Der Strahl einer Taschenlampe fiel die Kellerstufen hinab, gefolgt von einem diffusen Schatten.

Die Gestalt hielt an, schien zu lauschen. Offenbar zufrieden mit dem Ergebnis ließ sie den Schein der Lampe über die Kellertüren wandern, bis dieser auf das Pappschild mit dem hingekritzelten Broscheck fiel. Gregor hatte es bei ihrer Ankunft angebracht, nicht nur, weil vorher nirgends ein Hinweis auf die Besitzer vorhanden gewesen war, sondern auch, weil der wirkliche Keller der Broschecks viel zu nahe an ihrem Versteck lag.

Der Schatten kramte in seiner Manteltasche und holte etwas hervor. Als er Anstalten machte, einen Gegenstand durch den Holzverschlag zu werfen, schaltete Gregor seine Taschenlampe ein, richtete sie auf die Person und stürzte mit einem „Halt! Kriminalpolizei!“ nach vorn.

Für eine Schrecksekunde war die Gestalt im Mantel wie gelähmt, dann aber schien sie den Ernst der Lage zu begreifen und wehrte sich wie wild. Gregor wurde die Taschenlampe aus der Hand geschleudert, was er mit einem Fluch quittierte. Es gelang dem Unbekannten, ihn beiseitezustoßen und auf die Treppe zuzuhasten, doch dort stellte sich ihm Hendrik in den Weg. Gerangel folgte. Die Polizisten vom Hof und aus dem Hausflur kamen, durch den Lärm alarmiert, herbeigerannt. Gemeinsam gelang es ihnen, die sich wehrende Gestalt zu überwältigen. Der Schein mehrerer eilig entzündeter Laternen enthüllte einen bleichen Friedrich Unger.

Gregor entwand ihm das Stück Papier aus den behandschuhten Händen, das er in den vermeintlichen Keller der Broschecks hatte werfen wollen. „Dachte ich’s mir doch! Die Einlieferungsbescheinigung für das Päckchen mit dem Messer.“ Er legte seinem Gegenüber Handschellen an. „Friedrich Unger, ich verhafte Sie wegen Mordes an Ihrem Bruder.“

Friedrichs Augen hatten seine Nichte entdeckt und ruhten unverwandt auf ihr. „Ich habe dir vertraut!“, sagte er.

„Und ich dir. Warum hast du es getan? Warum du?“

„Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, tagaus, tagein gedemütigt zu werden! Vom eigenen Bruder, der dir das vorenthält, was dir zusteht. Der seine Position missbraucht, um dich zu zwingen, ihm die Schuhe zu lecken!“ Friedrichs Kiefermuskeln mahlten. „Er hat mich behandelt wie einen gewöhnlichen Einbrecher! Und alles nur, weil ich etwas Geld aus der Kasse genommen habe! Ich war schließlich sein Bruder! Ich hätte es schon irgendwie zurückgezahlt. Und dann seine ewige Herablassung! Als sei er Gott persönlich und ich nichts als Abschaum unter seinen Füßen. Es hat gut getan, ihm das Messer in den Leib zu rammen, ja, gut getan!“ Von einer Sekunde zur anderen sank er in sich zusammen. „Du weißt, wie er war, Vivace!“, sagte er weinerlich. „Warum hältst du nicht zu mir? Du musst mich doch verstehen!“

Diana sah den Mann, der ihr einmal so nahe gestanden hatte, aus schwimmenden Augen an. „Du hättest mein ganzes Mitgefühl – wenn du nicht versucht hättest, andere für deine Tat büßen zu lassen.“

Dann drehte sie sich um und rannte nach draußen.

27

Weder Hendrik noch Diana dachten daran, Schlaf nachzuholen; die Aufregungen der vergangenen Nacht hielten ihren Adrenalinspiegel hoch. Gemeinsam räumten sie bis zur Morgendämmerung einen Raum in Hendriks Wohnung aus, um Platz für Dianas persönliche Habe zu schaffen, er systematisch, sie mit enthusiastischer Planlosigkeit.

Der Putsch war vorüber, wenngleich die Stadt noch immer vor Unruhe brodelte und Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Soldaten an der Tagesordnung waren. Noch streikten die Drucker, noch fehlten überall Elektrizität und Gas, noch fuhren weder Straßenbahnen noch Fernzüge, und doch erschienen die vergangenen Tage den meisten Leuten bereits wie ein Spuk. Diana war zuversichtlich, dass die Republik endlich zur Ruhe kommen würde und den Menschen die Augen aufgegangen waren.

Hendrik äußerte sich skeptischer. „Die Bürger ärgern sich bloß darüber, dass die 52 nicht ins Geschäft fährt und die gewohnte Morgenzeitung ausbleibt“, lautete sein Resümee. Immerhin würde der Rektor der Universität nach dem Zusammenbruch der „Regierung Kapp“ aufgrund seiner eigenen dubiosen Rolle vorerst kleine Brötchen backen und sich daher mit Disziplinarmaßnahmen zurückhalten.

Die eilig ausgerufene Fahndung nach Leander Sebalds Mörder, basierend auf Hendriks Beschreibung, war bislang ohne Erfolg geblieben. Auch Ludwig Sebald war spurlos verschwunden.

Gegen Morgen tauchte Gregor auf. Diana wischte sich den Schweiß von der Stirn und begrüßte ihn mit einem Lächeln. Die körperliche Arbeit hatte ihr gut getan und dabei geholfen, über ihren Schmerz hinwegzukommen. Und natürlich die Nachricht, dass Professor Planck sie für zwei Jahre als Assistentin einstellen würde. Da er in der Villenkolonie Grunewald wohnte, nicht weit vom Anwesen der Ungers, hatte er seine Entscheidung gestern Abend selbst überbracht, und ihre Tante hatte ihr die frohe Botschaft durchgegeben, als sie nach Friedrichs Entlarvung miteinander telefonierten.

Durch die Verhaftung und die damit verbundenen Anordnungen, die zu treffen waren, hatte Gregor noch keine Gelegenheit gehabt, Fragen zu stellen; das holte er nun nach. „Mir ist immer noch nicht klar, wie du auf Friedrich gekommen bist“, sagte er zu seinem Bruder.

„Da waren erst einmal die vielen falschen Spuren, die offensichtlich nur den Zweck hatten, unseren Verdacht von den Hausbewohnern abzulenken: der zurückgezogene Vorhang, Fußspuren im Gebüsch, ein falsches Messer …“

„Darüber war Friedrich übrigens äußerst ungehalten. Er hatte das Messer so schön am Rande des Gartens platziert, und meine Männer haben es übersehen, weil es zu gut versteckt war. Deshalb musste er improvisieren und uns das ‚Beweisstück‘ zusenden.“

„Wo eine falsche Spur ist, können auch weitere sein. Mir kam der Gedanke, dass der späte Besucher, auf den wir einen wesentlichen Teil unserer Nachforschungen konzentrierten, ebenfalls eine bewusste Irreführung war.“ Hendrik konnte sich nicht zurückhalten, einen kleinen Hieb auszuteilen. „Diese Erkenntnis habe ich übrigens einem Fachmann meiner Branche zu verdanken.“

Gregor verdrehte die Augen.

„Aristoteles systematisiert die Beobachtungen bei Veränderungen, das Werdende, wie er es nennt, indem er empfiehlt, vier Fragen zu stellen: Was hat sich verändert, wer hat die Veränderung ausgelöst, mit welchem Ergebnis und mit welchem Ziel? Interessant finde ich, dass er zwischen Ziel und Ergebnis differenziert.“

„Weil das erwünschte und das erzielte Ergebnis nicht notwendigerweise dasselbe sein muss“, begriff Diana.

„Ja. Wir haben von Beginn an darüber gerätselt, weshalb der Täter den Kalender umgeblättert hat, und vermuteten, dass er sich davon überzeugen wollte, dass sein Name nirgends auftauchte. In Wahrheit verhielt es sich genau umgekehrt: Friedrich hat einen glaubwürdigen Namen gesucht, den er eintragen konnte, und ist beim Zurückblättern auf Thor gestoßen, ein Name, der schon deshalb unseren Verdacht erregen musste, weil es sich um eine Tarnbezeichnung handelte. Als mir dieser Zusammenhang klar wurde, begriff ich auch, warum gerade diese falsche Spur so wichtig war.“

„Das ganze Haus wusste, dass Friedrich spät abends noch ein Gespräch mit Onkel Max hatte“, nickte Diana. „Auf ihn wäre immer der erste Verdacht gefallen. Also hat er versucht, uns zu suggerieren, dass er nicht der Letzte war, der Onkel Max lebend gesehen hat.“

„Das ist ihm ja auch eine ganze Weile gelungen“, gab Gregor zu. „Er hat übrigens ein volles Geständnis abgelegt. Sein Bruder hatte ihm an jenem Abend übel zugesetzt – ich nehme an, nach dem unerfreulichen Gespräch mit Hermann wird Max gereizt gewesen sein – und ihn dadurch zum Äußersten getrieben. Friedrich hatte zehntausend Mark aus der Kasse gestohlen. Max wollte ihm den Geldhahn zudrehen, hat ihm gedroht und von ihm verlangt, ein Geständnis über den Diebstahl aufzusetzen, das ihn den Rest seines Lebens von seinem Bruder abhängig gemacht hätte.“

„Er war ein abscheulicher Mensch.“ Dianas Stimme verriet nun doch Mitgefühl mit ihrem Lieblingsonkel.

„Nach dem Gespräch ist Friedrich mit Mordgelüsten umhergeirrt, aber erst als er Frau Broscheck beim Fortwerfen des Messers beobachtete, wurde eine konkrete Absicht daraus. Er ermordete seinen Bruder mit einem gleichartigen Messer aus der Küche, für das er am nächsten Tag Ersatz besorgte, so dass dem Dienstmädchen nichts auffallen konnte, legte eilig ein paar falsche Spuren und warf Messer und Kleidung in den Königssee – deshalb der Dreck an den Schuhen.“

Es klingelte.

Joseph stand vor der Tür und brachte Dianas Koffer. Mit ihm erschien Hermann Unger. Hendrik hatte gehört, dass er bereits dabei war, seine Fühler nach der Stahlindustrie in Oberschlesien und dem Ruhrgebiet auszustrecken. Der Industrielle verlor keine Zeit, das Unger’sche Unternehmen zu dem Konzern zu machen, der ihm schon immer vorschwebte.

Hermann sah sich in der Wohnung um, als betrachte er eine besonders eklige Schabenzucht. „Hier ziehst du also ein.“

Diana wechselte einen Blick mit Hendrik und unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen. Früher wäre sie vermutlich in die Luft gegangen. „Ja“, sagte sie, „hier ziehe ich ein!“ Sie drehte sich einmal um sich selbst und machte sich daran, einen Koffer auszupacken. Where’s that Tiger? Hold that Tiger!, trällerte sie und kickte ein Bein in die Luft.

Ihre unentschuldbare Lebensfreude war Hermann Unger eindeutig ein Dorn im Auge. „Und Sie?“, wandte er sich an Hendrik. „Sollten nicht zumindest Sie genug Verantwortungsbewusstsein besitzen, um meiner Nichte klarzumachen, was sich schickt, wenn ihr schon jedes Gefühl für Anstand abgeht?“

Gregor unterbrach den sich anbahnenden Streit. „Was führt Sie her?“

„Ich hatte eine Belohnung für die Aufklärung des Mordes ausgesetzt, die Ihnen zusteht.“

„Obwohl wir Ihren Bruder als Mörder entlarvt haben?“

Der Industrielle machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei das nicht von Belang. „Friedrich hat ohnehin nichts als Ärger gemacht. Die Hauptsache ist, dass es keinerlei Gerüchte mehr gibt und Unternehmen und Leitung wieder makellos dastehen.“

„Du bist unglaublich!“, murmelte Diana.

„Wie dem auch sei: Ich wünsche nicht, dass irgendwelche Verpflichtungen zwischen uns offen bleiben. Ich werde die ausgesetzte Belohnung zahlen, anschließend schulde ich keinem hier mehr etwas.“

„Ich hätte da eine Idee“, sagte Hendrik. „Ihr Geld interessiert uns nicht. Aber soviel ich weiß, ist Ihnen das Haus in der Prinz-Handjery-Straße ein Klotz am Bein. Schenken Sie es Ihrer Nichte, und wir sind quitt!“

„Aber vorher muss es noch renoviert werden!“, forderte Diana schnell.

Hermann Unger sah die beiden an, als seien sie nicht recht bei Trost, dann nickte er knapp. „Eine entsprechende Urkunde geht Ihnen in den nächsten Tagen zu.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stakste hinaus.

„Brr, ein unangenehmer Mensch!“, sagte Gregor und fügte verspätet ein „Entschuldigung!“ in Dianas Richtung hinzu.

„Nicht nötig, ich bin ganz Ihrer Meinung. Was glauben Sie, warum ich ausziehe?“ Sie machte sich daran, einen weiteren Koffer zu öffnen. Eine Anzahl Bücher purzelte ihr entgegen.

Gregor bückte sich, um ihr beim Aufsammeln behilflich zu sein. „Was haben wir denn hier?“

„Geben Sie her!“

„Siehst du diese überragenden Beispiele wissenschaftlicher Literatur, Hendrik? Die Bettelprinzeß. Durch Liebe erlöst. Hedwig Courths-Mahler, die klassenkämpferische Lektüre heutiger Spartakisten.“

Wütend riss Diana ihm die Bücher aus den Händen und stopfte sie in den Koffer zurück.

Gregor zog die Nase kraus, rollte mit den Augen und gluckste. Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde breiter und breiter und explodierte endlich in lautes Gelächter. Das letzte Mal, als Hendrik seinen Bruder so lachen gesehen hatte, trugen sie beide kurze Hosen.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Gregor sich beruhigte. „Ich wollte mich noch bei dir bedanken, Hendrik, und natürlich auch bei Ihnen, Fräulein Escher“, sagte er dann. „Ohne eure Hilfe wäre es mir nicht gelungen, den Fall so schnell abzuschließen. Ich nehme daher meine Bemerkung über Amateure mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück.“ Er ließ sich in einen Sessel plumpsen und blinzelte amüsiert. „Trotzdem will ich nicht leugnen, dass ich froh bin, dass der Fall beendet ist und ich in Zukunft von euren Einmischungen verschont bleibe.“

In seiner Euphorie entging ihm der verstohlene Blick, den Diana und Hendrik einander zuwarfen.