I.

D as Kind beobachtet das Rotkehlchen auf dem Ast. Das Kind wartet. Der kleine Vogel sitzt und fliegt nicht. Auch die anderen Vögel, die Bussarde, Sperber, die beiden Kanarienvögel, sitzen auf ihren Ästen und fliegen trotz ausgebreiteter Schwingen nicht auf. Das Kind wartet. Die Tiere sind wie im Märchen erstarrt. Das mächtige Buch, in mattrotes Leinen gebunden, mit einer geprägten Goldzeichnung: Ein bärtiger Riese steht hinter einer Tanne, davor der Däumling. Ein Wunderbuch. Auf den Papierseiten glänzt und blitzt es. Diamanten, sagt der Vater, aus der Schatztruhe von König Drosselbart. Grimms Märchen. Die erste eindrückliche Wahrnehmung eines Buchs, das jetzt hinter mir im Schrank der ausgewählten Bände steht. Die Augen der Mutter wandern beim Vorlesen hin und her. Die Vorfreude auf das Umblättern, die zarten Aquarellbilder, das tapfere Schneiderlein, die erstarrte Zeit in Dornröschens Schloss, der Däumling, der mit seinem Spazierstock, einer Stecknadel, durch den Schornstein mit dem Rauch in die weite Welt hinausgetragen wird, und der Schrecken, König Drosselbarts Schloss, das verbotene Zimmer. Geschichten, die wiederholt werden konnten, gleichbleibend, und sich doch durch Fragen des Kindes und Antworten der Mutter veränderten. Stille. Draußen war Krieg. Pommerland ist abgebrannt, sagte die junge Frau des Leutnants, die mit uns zur Untermiete in dem ziegelroten Haus wohnte, an der Itz, in Coburg.

Unter der Zimmertür der Lichtschein, dort sitzt die Mutter, liest oder näht. Draußen auf der Straße ziehen die dem großen Morden entkommenen Menschen vorbei.

Im Herbst die Rückkehr nach Hamburg. Eine Trümmerstadt. Schuttberge. Geruch nach feuchtem Mörtel. Wohnen und schlafen in einem zugigen Kellerzimmer mit einer Eislandschaft an der Wand. Hunger und abermals Hunger. Die Mutter, der Vater lesen vor: Geschichten aus Tausendundeine Nacht. Der magnetische Fels, an dem die Schiffe zerschellen. Die Palastpforte, durch die der Sultan als Bettler geht. Der Bucklige. Die Gärten. Die Rose. Das Wasser. Der Zauberer. Der Dichter. Der Handwerker.

 

1955, kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, stellte ich mich bei Erich Levermann vor. Gekommen war ich mit dem Vater, der, obwohl er das Kürschnerhandwerk nicht erlernt hatte, ein kleines, aber gut gehendes Pelzgeschäft betrieb, das er Atelier nannte. Er hatte uns bei Erich Levermann angemeldet. Ein Selbstständiger, worauf der Vater Wert legte, sprach zum Selbstständigen, wenn auch der Unterschied in der Selbstständigkeit erheblich war, der Betrieb des Vaters hatte, samt Chauffeur, zwölf Angestellte, der von Levermann an die sechzig. Erich Levermann saß im Büro hinter einem breiten Schreibtisch und ihm gegenüber der Vater. Ich stand daneben und blickte aus dem Fenster auf ein gegenüberliegendes Bürohaus, darüber der Himmel. Schien die Sonne oder war es nieselig grau? Ein Tag im März, nicht mehr Kind, aber noch nicht erwachsen. Woran dachte ich? Dass in dem Gespräch über mein Leben verhandelt wurde? Wahrscheinlich dachte ich an den Einbeinigen aus der Schatzinsel. Das für Jugendliche gekürzte und illustrierte Buch las ich gerade zum zweiten oder dritten Mal. Draußen flog hin und wieder eine Möwe vorbei, dieses schwerelose Gleiten, diese jähen Abstürze, als hätten sie sich an der Luft gestoßen. Die Außenalster war nah, nur einen Büroblock entfernt. Die beiden Männer redeten über mich. Was sie sagten, davon ist mir nichts im Gedächtnis geblieben. Die Hände aus den Taschen, hat der Vater gesagt, bevor wir ins Büro gingen. Ich trug den dunkelblauen Konfirmationsanzug, ein weißes Hemd. War die Krawatte grün? Sie war grün, sagt eine Stimme in mir, nein, hellblau, sagt eine andere Stimme. Das Blau war eine sichere Farbe. Die Farbe Grün konnte ins Braun spielen. Nicht Farbenblindheit, aber eine Farbenschwäche im Rot-Grün-Bereich. Das durfte nicht erwähnt werden. Aber die feinsten Grauschattierungen konnte ich sehen und genau bestimmen.

Den Beruf des Kürschners hatte ich mir nicht ausgesucht, so wie auch der Vater ihn nicht für sich ausgesucht hatte. Sein Wunsch war wohl gewesen – er sprach nicht darüber –, Künstler zu werden. War es seine Entscheidung, dass ich auf der Volksschule blieb? Vielleicht wollte der Vater mich vor einem Versagen auf der Höheren Schule schützen. Meine Aufsätze waren lang, aber voller Fehler. Das Schreiben war ein Stutzen, ein Widerwille gegen die Beliebigkeit der Zeichen. Sie waren so fern von dem, was sie bezeichneten, warum, sagt die Erinnerung, muss der Schwan mit einem a geschrieben werden, da er doch zwei Flügel hat? Die Autorität der Zeichen, die durch die Lust am Erzählen überwunden wurde. Dieses gewundene Wort: Rechtschreibschwierigkeit.

Die Möglichkeit, dass ich sitzen bleiben könnte, schreckte den Vater. Besser ein guter Volksschüler als ein schlechter Gymnasiast. Und überhaupt sollte der Junge, nachdem der ältere Sohn gefallen war, einmal das Geschäft übernehmen. Ich schickte mich in die Entscheidung. Die Trauer über den Verlust der Freunde, die zum Gymnasium wechselten, darunter der beste, Klaus Meyer. Der Schmerz, zurückzubleiben. Ich stand da und hörte den beiden Männern zu, die rauchten und Kaffee tranken. Der Nochvierzehnjährige spürte in seiner verträumten Abwesenheit, dass der sonst so souverän auftretende Vater hier zum Bittsteller wurde. Levermann hatte nochmals die Bewerbung gelesen, mein Zeugnis studiert und in unser abwartendes Schweigen hinein gesagt, eigentlich stelle er nur Lehrlinge mit Abitur oder Mittlerer Reife ein. Aber gut, sagte er, das Zeugnis ist in Ordnung.

Der Vater und Levermann gaben sich die Hand. Ich wurde mit einem Kopfnicken entlassen.

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl hinunter.

Geschafft, sagte der Vater, und du machst mir keine Schande!

Das Wort Schande bezeichnete alles, was die so mühsam aufgebaute Existenz der Familie, die Selbstständigkeit, hätte vernichten können.

Das Pelz- und Modehaus Levermann lag in der Hamburger Innenstadt, dem Rathaus nah. Es war das größte Pelzgeschäft in der Stadt und galt als elegant und solide, allein Edelpelz Berger hatte ein vergleichbares Niveau, mit einem nicht unwesentlichen Unterschied: Dessen Namensgeber und Besitzer Otto Berger begleitete der Ruf eines genialen Modisten, der, wenn die ausgefallenen Modelle seiner Mäntel nicht den richtigen Faltenwurf zeigten, im Entwurfsatelier tobte und einmal einen Stellspiegel mit einem Stuhl zertrümmert haben soll. Alltagsmythen, die sich um jeden gefragten Schneider, Friseur, Künstler oder Kürschner ranken. Sie alle dürfen, ja müssen etwas Außerordentliches, auch Verrücktes haben, den Ausweis des Genialen. Nichts davon hatte Erich Levermann, dafür war die Firma – und mit ihr die Lehrlinge und Meister – mit zahlreichen Preisen für solides Handwerk ausgezeichnet worden. Die Modelle wirkten zeitgemäß, also modern, aber in Maßen, sodass man nicht über die Form der Mäntel stutzte und den Trägerinnen irritiert nachblickte.

 

Unten, an dem Eck Bergstraße und Hermannstraße, zog sich an zwei Seiten die breite Fensterfront der Firma Levermann entlang, eine der Kunststoffpuppen trug einen Ozelotmantel. Wir blieben vor dem Fenster stehen. An keiner Stelle war zu erkennen, wo die zwei Felle, um die Länge des Mantels zu erreichen, aneinandergesetzt worden waren, das feine und dichte, falbbraun bis gelbrötlich glänzende Fell, oben an Kopf und Hals die dunklen Längsstreifen, die sich in Reihen zu Voll- und Ringflecken auflösten, dieser so staunenswerte Farbschutz, der das Tier im Laub verbergen konnte, war hier ausgestellt.

Das sind die Könner unter den Kürschnern. Wenn du mal so einen Mantel machen kannst, dann hast du es geschafft, wird der Vater gesagt haben.

Das waren so ganz andere Schaufenster als das eine mit der darüber leuchtenden milchweißen Neonröhren-Schrift Pelze Timm. Das Pelze in Schreibschrift mit einem schwungvollen, aus dem E kommenden Unterstrich, darunter das Timm in Blockschrift. Die Schrift hatte der Vater selbst entworfen, und auf dem Foto wirkt sie noch heute – oder schon wieder – modern. Eine kopflose Puppe stand im Schaufenster und trug wochenweise wechselnde Pelzmäntel: Rotfuchs, Nutria oder Persianer. Neben der Puppe lag ein weiterer Mantel oder eine Pelzjacke und auf der anderen Seite, geometrisch aufgefächert, ein Bündel Nerze oder schwarzer Persianerfelle. Wohlgewählt das gedämpfte, ins Goldene spielende Licht. Und stets ein großer Strauß frischer Blumen, die dem Schaufenster etwas Privates, Einladendes geben sollten. Tatsächlich leuchtete das Geschäft in der Nacht und zog die wenigen Passanten auf dem Eppendorfer Weg an. Die kopflose Puppe mit dem angedeuteten schwarzen Samthals war zeitlos und blieb über Jahrzehnte, bis das Geschäft verkauft wurde.

Im Schaufenster Levermanns hingegen konnte man den Sittenwandel verfolgen und datieren, die stilisierten Kunststoffpuppen der Sechzigerjahre lockten in den frühen Achtzigerjahren mit naturalistischen Echthaar-Perücken, schwungvollen Wimpern und zeigten unter halb geöffneten Nerzmänteln schwarz bestrumpfte Beine mit Strapsen. Zwei Jahrzehnte später schmeichelten die Mäntel abstrakten Stahlgestellen.

 

Im obersten Stock lag die Werkstatt, zwei über Eck gehende große, lichte Räume, hinter deren Fensterreihen der Himmel nahe schien. An der Fensterfront verlief ein durchgehender, fünfundzwanzig Meter langer Holztisch, Esche poliert, an dem neun Kürschner, zwei Kürschnerinnen und sechs Lehrlinge standen oder auf hohen Holzböcken saßen und arbeiteten, ein ruhiges Tun, Felle nach Farbe und Rauche sortieren, in feine Streifen schneiden, die millimeterweise verschoben und ausgelassen wurden, wie es fachgerecht heißt.

Die Kürschnerei zählte im mittelalterlichen Florenz wegen ihres kostbaren Materials, also der Hermelin-, Nerz-, Fuchs- und Biberfelle, zu den sieben Höheren Künsten. Kürschner waren hoch angesehen und in der Stadt wohlgelitten, während die Gerber abgeschieden am Rande der Dörfer und Städte leben mussten, zu nahe waren sie mit ihrer Tätigkeit dem Tod und dem Gestank.

Die weißen Kittel, die säuberlich geschnittenen Schablonen, die Schnittmuster, die geknickten Leder- und Stoffscheren, die silbernen Markier-Rädchen, die hellen, nach Holz riechenden Polarfuchsfelle, die, hauchte man darüber, sich vom reinen Weiß ins Hellgrauweiß abschatteten, all das Werkzeug und Material hatte mich lange nicht an den Tod und das Leid der Tiere denken lassen. Da war eine Ferne, wie sie ähnlich die Träger der Pelzmäntel, der Ledertaschen oder der Schuhe fraglos begleitet. Ich war nie mit der Tötung der Tiere oder mit dem Abziehen ihrer Felle in Berührung gekommen. Das Gewerk der Zurichtung habe ich nur einmal anlässlich eines Besuchs in einer Gerberei gesehen. Die räumliche Form des Lebens war in eine Fläche verwandelt worden, die nur noch von fern an das Tier erinnerte.

Die Felle aus der Gerberei rochen nach dem Holz der Sägespäne, mit denen sie geläutert wurden, oder nach einem unbestimmten orientalischen Gewürz. Genaue Berechnungen nach Vorgabe der Schnittmuster für die Länge und Breite der Mantelteile oder Capes, Jacken oder Stolen waren notwendig. Nerzfelle mussten, um auf die Länge eines Mantels zu kommen, in Streifen geschnitten und wieder zusammengenäht werden. Eine Arbeit, die, waren die Streifen nur 0,5 Zentimeter breit, eine ruhige Hand und äußerste Präzision erforderte.

Hinter den Kürschnern an der Werkbank standen in einer Reihe die zehn leise surrenden elektrischen Pelznähmaschinen. Eine Arbeit, die keine Gespräche zuließ. Die Näherinnen saßen, der Rangfolge ihres Könnens entsprechend, hintereinander, die beste, eine etwas geziert Gehende und Sprechende mit hochgeschnallten Brüsten, saß in der Nähe von Meister Walther Kruse. Hinter ihr kamen all die anderen bis zu der jeweils Jüngsten, die eben ihre Ausbildung abgeschlossen hatte. Das Nähen erforderte beides, Fingerspitzengefühl und Fingerfertigkeit. Die Nähte durften so wenig wie möglich vom Leder erfassen und mussten dennoch haltbar sein. Haare durften nicht eingenäht, die Fellkanten nicht zu hoch sein und die festgelegte Zeit pro Stück nicht überschritten werden. Auch bei dieser mechanischen Arbeit zeigte sich Können. Von den Kürschnern fehlerhaft berechnete Fellstreifen vermochte eine geschickte Näherin ein wenig auszugleichen. Vor allem durften sich in den fertigen Nerz- oder Nutriamänteln die Nahtstellen im Fell nicht abzeichnen. Das unterschied die gelungene Arbeit von Pfusch.

So anders war der von sachten Bewegungen und verhaltenen Gesprächen erfüllte Raum, in dem an jeweils sechs langen Tischen je vier Handnäherinnen saßen. Am Kopfende stand der Tisch der Directrice und ihrer Assistentin. Hier wurden die Seiden aus Italien, Persien und China nach den Schnittmustern zugeschnitten. Dahinter stand der Tisch, an dem die teuren Pelzmäntel wie Nerz, Nutria, Feh und Biber von meist älteren, schon langjährig in der Firma arbeitenden Frauen gefüttert wurden, wie es sprechend hieß. Sie verstärkten das Leder der Mantelteile mit Vliesstoff, an den Rändern mit einem fest gewebten Stoffstreifen und brachten die Schulterpolster an. Sodann wurden die Seidenfutter eingenäht. Hinter diesem Tisch kam ein zweiter, an dem die weniger wertvollen Mäntel gefüttert wurden, die verschiedenen Persianer-, Fuchs-, Wallabymäntel, und die hinteren Tische waren den aus Persianerstücken zusammengesetzten Mänteln sowie den Reparaturen vorbehalten.

Die Handnäherinnen arbeiteten wie alle anderen auf Akkord, allerdings war der damals noch gemach. Die vorgegebene Stückzeit war, wie die Stempeluhr, eine Neuerung in der Firma Levermann. Im hellen Raum der Handnäherinnen herrschte zumeist die Ruhe einer nachmittäglichen Hausarbeit, hin und wieder das Rascheln der Seide, das Zischen eines der wuchtigen Bügeleisen.

Der Weg durch diesen Raum zu den weiter hinten gelegenen Waschräumen und Toiletten war begleitet von den leisen Gesprächen der Näherinnen und diesem unbestimmbaren Duft aller nur denkbaren Parfums, der sich süßlich schwer auf das Hirn legte. Hin und wieder, eher selten, blickte eine der Näherinnen von ihrer Arbeit auf. Die Erinnerung bringt mit dem Raum sogleich diese junge Frau vor Augen, die unter ihnen saß, vielleicht drei oder vier Jahre älter als ich, also schier unerreichbar fern, mit ihrem mir zugewandten Lächeln jedoch so nah. Das Erscheinen dieser blond strahlenden Näherin wurde von den Gesellen mit Bemerkungen kommentiert. Vor allem von Breitkamp, meinem Lehrgesellen, einem ehemaligen Marineleutnant, der sie so gern einmal eingeladen hätte, was sie freundlich ablehnte.

 

Die Lehrlinge wurden für drei oder mehr Monate einem Meister zugeteilt oder einem Lehrgesellen, der kurz vor der Meisterprüfung stand oder sich darauf vorbereitete. Keiner von ihnen hatte eine pädagogische Ausbildung. Breitkamp war, wenn er nicht von seinen Liebschaften sprach – er brauchte Zuhörer –, ein umgänglicher, gut aussehender, witziger, sich mehrmals am Tag das Haar kämmender Mann Anfang dreißig. Er prüfte seinen Kamm, zählte die darin hängenden Haare, schüttelte den Kopf, sagte: Bitte keine Glatze. Er erzählte von seinen norwegischen Freundinnen, die er in Narvik, Stavanger und Bergen gehabt hatte, und von dem vor zehn Jahren zu Ende gegangenen Seekrieg, von U-Booten, Torpedobooten und dem Untergang seines Schiffs, eines Transporters. Der war trotz des heftigen Abwehrfeuers der Flak von englischen Flugzeugen angegriffen und mittschiffs von einem abgeworfenen Torpedo getroffen worden. In wenigen Minuten war der mit Eisenerz aus Narvik beladene Frachter gesunken. Breitkamp hatte das Glück, gerade auf der Brücke Dienst zu tun, sprang in das sieben Grad kalte Wasser und wurde nach wenigen Minuten von einem begleitenden Torpedoboot aus entdeckt und von der Besatzung geborgen. Von dem Schock war ihm der Tick geblieben, dass er, war er aufgeregt, einen Rachenlaut ausstieß, als müsse er Wasser ausspucken.

Das waren die Erzählungen der Überlebenden.

Breitkamp zeigte mir, wie Persianerfelle mit einer Zackennaht ineinandergeschnitten wurden, damit sie die erforderliche Mantellänge bekamen, erklärte die Formeln für die Berechnung. Er nahm sich Zeit für seine Erklärungen, schob mir allerdings auch Arbeiten zu, die ihm erlaubten, die eigene Stückabrechnung zu verbessern.

Einmal kam eine Näherin, stempelte ihre Karte ab, ging zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein Lachen, sie gab ihm einen leichten Stoß vor die Brust und ging zurück zu all den anderen Näherinnen. Gott sei Dank, sagte er, sie hat ihre Tage bekommen. Das war, solange ich mit ihm arbeitete, seine Hauptsorge, dass eine seiner Freundinnen schwanger werden könnte. Geschafft, sagte er dann. Und manchmal schwieg er und schüttelte nur den Kopf.

Sein Reden war jedes Mal ein Stich, und ich versuchte das Gespräch in andere Richtungen zu lenken, auf Stavanger, auf die Vorpostenboote und den Schiffsuntergang, auf die junge Frau, die Norwegerin, wie er sie nannte, die nach der Kapitulation der Wehrmacht in Stavanger von ihm schwanger zurückgeblieben war. Er habe sie zurücklassen müssen, betonte er. Die Wehrmacht hatte kapituliert, und er kam drei Monate lang in englische Kriegsgefangenschaft. Zugleich begleitete ihn die Furcht, die Frau könne eines Tages mit dem Kind an der Hand vor seinem Reihenhaus in Rahlstedt stehen.

Und Ihre Frau?, fragte ich.

Kann keine Kinder kriegen.

Die Lehrlinge siezten die Gesellen, diese wiederum duzten die Lehrlinge. Drei, höchstens vier Jahre, dann wird die Lust zur Pflicht, sagte Breitkamp. Heirate nicht, war sein Rat.

Ein Filou, sagten die Maschinennäherinnen, von denen er der einen oder anderen auch schon Gutes getan und mir davon erzählt hatte, der die Einzelheiten nicht hören wollte. Nichts von dieser mir noch unbekannten Nähe mit all dem nur Wünschbaren, dem noch Unfasslichen und Geheimnisvollen.

 

Die Werkstatt Levermanns war durch die Anmietung eines Büros im obersten Stockwerk des gegenüber gelegenen Fölsch-Blocks erweitert worden. In dem hellen, sparsam eingerichteten Raum arbeiteten der Geselle Drechsler, die Kürschnerin Annabell, eine aus dem Banat geflohene Maschinennäherin, und ich. Annabell und Drechsler waren ein Paar. Ich stand als Lehrling zwischen ihnen. Hin und wieder brachte Drechsler, was in der Werkstatt verboten war, einen Plattenspieler mit, legte Jazzplatten auf und erzählte von Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Miles Davis, den er mit der Platte Blue Moods gerade für sich entdeckt hatte. Die lichte Werkstatt war erfüllt von einem Rhythmus, einer Melodie, die zu der sorgsamen Arbeit, dem hellen Leder, den Fellen passten. Hier hörte ich den Jazz, der zu Hause, wo es nur Beethoven-, Brahms- und Tschaikowski-Schallplatten gab, verpönt war. Drechsler konnte die Melodien summen und den Rhythmus bestimmter Stücke in bewundernswerter Präzision mit den Zeigefingern und der flachen Hand auf den Tisch trommeln. Seine Platten lieh er nicht aus – ihm sei einmal eine zerkratzt zurückgegeben worden. Spielte er Trompete? Oder Schlagzeug oder Bass oder beides? Sonderbar, dass ich mich daran nicht erinnern kann. Und fragen kann ich nicht mehr. Aber das blieb im Gedächtnis: Dieser junge Mann mit dem dichten hellblonden Haar und den blauen Augen konnte sich regelrecht in Wut reden, über die Wiederbewaffnung, über die alten Nazis in Regierung und Wirtschaft. Als Kind war er mit seiner Mutter aus Braunsberg in Ostpreußen geflüchtet. Sie hatten die Wohnung aufgeräumt und sorgfältig abgeschlossen und waren, die russische Artillerie feuerte schon in die Stadt, mit den Koffern zum Bahnhof gegangen und in einem der letzten überfüllten Züge Richtung Westen, ins Reich, gefahren, mussten aber, weil der Zugverkehr unterbrochen war, umkehren und den Weg mit einem Treck über das zugefrorene Haff nehmen, wurden manchmal von einem Pferdewagen oder einem Militärlaster mitgenommen bis nach Kolberg, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, und sind von dort mit einem Fischkutter nach Flensburg gebracht worden. Die Mutter hatte auf dem gesamten Weg den Wäschesack mitgeschleppt. Am Straßenrand lagen die Erfrorenen und die durch Beschuss getöteten Frauen und Kinder.

Aufbrausend und ungeduldig mit mir, dem Lehrling im ersten Jahr, hatte er etwas Einschüchterndes, von dem auch die Maschinennäherin und seine Freundin Annabell betroffen waren. Diese arbeitete in der Hierarchie des Könnens und der Achtung im mittleren Feld der Kürschner, die mit der Herstellung von Persianermänteln beschäftigt waren, wobei es in der Gruppe abermals eine Rangordnung gab: Jene, die auch die in Locke, Farbe und Glanz kompliziert zu verarbeitenden hell- bis weißgrauen Naturpersianer in Mäntel oder Jacken verwandeln durften, standen über denen, die nur die einheitlich schwarz gefärbten und daher leichter zu verarbeitenden Persianerfelle zugeteilt bekamen. Eine besondere Herausforderung hingegen waren die in der Locke flachen, geflammten Breitschwanzpersianer, die eine Fachklasse bearbeitete, zu der Drechsler gehörte.

Aus den anfallenden Fellresten wurden Persianer-Stücke-Mäntel hergestellt, eine Aufgabe der Lehrlinge im dritten Lehrjahr und zwei alter Kürschner. Eine gering geachtete Arbeit, bei der die Ränder ähnlicher Stücke gerade geschnitten, zusammengenäht und dann auf einer Holzplatte aufgezweckt wurden. Die Maschinennäherinnen hassten diese Arbeit, die Lehrlinge und die beiden in der Hierarchie zuunterst stehenden Kürschner auch.

Für das Sortieren der Persianerstücke war ein weiteres Büro im Fölsch-Block angemietet worden, dessen beide Fenster in den Hof des großen Hauses führten. Das Sortieren, das Vergleichen der Fellstücke, die nach Größe, Form der Locke und dem Glanz in verschiedenen Kästen gesammelt wurden, war ein ruhiges Tun, das dem Tagträumen Raum ließ. Das Vergleichen dieser bei näherer Betrachtung so ähnlichen und doch unterschiedlichen Fellstücke hatte etwas von einer meditativen Tätigkeit. Eine bei den Lehrlingen unbeliebte, da einsame Arbeit, die mir allerdings zusagte.

Ich saß und blickte in die gegenüberliegenden Büros, wo Frauen an Schreibmaschinen saßen, telefonierten, schrieben, gut ausgeleuchtet von den Neonröhren und Schreibtischlampen, die jetzt, im November, schon am frühen Nachmittag, wenn die Dunkelheit sich im Innenhof sammelte, angeschaltet waren. Hin und wieder, selten, kamen Männer in die Zimmer, wahrscheinlich leitende Angestellte, deren Räume zum Rathaus und zur Bergstraße hinausgingen. Einmal, abends, sah ich, wie, als ein Mann ins Zimmer kam, eine Frau vom Schreibtisch aufsprang, ihm entgegenstürzte, um den Hals fiel, während er sich mit ihr wie zum Tanz drehte, sie mit dem Rücken gegen die Tür drückte, die beiden sich küssten, wie er die Hand unter ihren Rock schob und wie die wild verknäuelte Bewegung plötzlich erstarrte, sie den Rock wieder herunterzog. Beide standen lauschend da, dann ging er schnell aus dem Zimmer und sie zum Schreibtisch, ließ sich in den Sessel fallen, schüttelte den Kopf, ihr Haar flog nur so hin und her.

Ein andermal saß in einem weiter unten gelegenen Büro eine Frau über den Schreibtisch gebeugt, das Gesicht in den Händen verborgen, ihr Kopf zuckte, dann blickte sie hoch, holte aus der Handtasche ein Taschentuch, einen Spiegel und ein Etui, wischte sich die Augen und begann sich zu schminken, sorgfältig, prüfte mit kleinen Kopfbewegungen sachlich ihre Arbeit im Spiegel. Das waren die seltenen Bilder zu dem Kummer, den Leidenschaften, der Eifersucht, von denen in der Werkstatt erzählt wurde. Das Gewöhnliche war das Telefonieren, Schreibmaschineschreiben, Abheften der Briefe in Ordner.

Die Tage dehnten sich. Und ich träumte vor mich hin. Drechsler kam selten ins Zimmer, und wenn, nicht etwa zur Kontrolle, sondern weil ich etwas für ihn holen oder ausrichten sollte. Auf dem kurzen Weg vom obersten Stock hinunter auf die Straße, die ich überqueren musste, um im gegenüberliegenden Gebäude mit dem Fahrstuhl hinauf zur Werkstatt in den fünften Stock zu fahren, hatte ich, in ganz andere Welten versunken, vergessen, was ich denn bringen oder ausrichten sollte. Kam zurück und hatte etwas anderes gebracht. Drechsler sagte: Himmel Sack, und schlug auf den Tisch. Es war Annabell, die ihn dann beruhigte, vorsichtig, da sich seine Wut auch gegen sie richten konnte. Fünfzehn Jahre war ich alt und stolperte oft, stieß an Tische, Stühle, Tassen fielen zu Boden, Gläser zersplitterten, ich war mit der Länge meiner Arme und Beine noch nicht vertraut. In den letzten Monaten hatte ich überraschend noch ein paar Zentimeter zugelegt.

Das Sortierzimmer, so wurde es in der Firma genannt, hatte den Vorteil, dass ich dort lesen konnte, nur in Maßen allerdings, denn die geleistete Arbeit war an den verschiedenen Kisten ablesbar. Jedenfalls habe ich mich später, im Sommer des zweiten Lehrjahrs, zur Überraschung von Werkmeister Jäckel nochmals freiwillig zum Stückesortieren gemeldet. Ich las die in einem Trödelantiquariat gekauften Bücher über die Polarforscher Fridtjof Nansen und Ernest Shackleton, vor allem die zweibändige Eroberung des Südpols von Roald Amundsen. Das jeweilige Buch konnte ich, falls jemand ins Zimmer kam, unter die Persianerstücke schieben. Die staunenswert akribische Vorbereitung Amundsens auf die Reise zum Südpol, die Mühen und Strapazen der Wanderung über das Eis haben mich – draußen zog der Sommer vorbei – zu seinem Begleiter gemacht. Jahrzehnte später, eingeladen zu einer Lesung in Oslo, war mein Wunsch, dieses Museum zu besuchen, das eine Ausstellung zu Amundsen zeigte, seine Tagebücher, Berechnungen, Pelzjacken. Amundsen, der mit einem Flugzeug 1928 zur Rettung des mit seinem Zeppelin auf einer Eisscholle notgelandeten Generals Nobile aufgebrochen war, kehrte von diesem Flug nicht zurück. Eine Suchexpedition wurde ausgeschickt, vergeblich. Amundsen war und blieb verschwunden. Nach Jahren wurde in Nordnorwegen ein Treibstofftank seines Flugzeugs angeschwemmt. Fünfzig Jahre nach der Lektüre habe ich ihn gesehen, zylindrisch, in Form und Länge einem Kajak ähnlich. Der Tank war wie eine Konservendose an einer Seite ein Stück weit aufgeschnitten, das Metall war hoch- und umgebogen worden. Wahrscheinlich hatte aus dem Metalltank ein Boot gebaut werden sollen.

 

Eines Tages kam ein junger Mann in mein stilles Zimmer, groß und kräftig, trug, was im Pelzgeschäft nicht gern gesehen wurde, eine abgetragene proletarische Lederjacke. Erik war nur kurz in der Hauptwerkstatt beschäftigt gewesen, hatte Ärger mit dem Werkmeister bekommen und war überraschend dieser den Lehrlingen zugeordneten Beschäftigung zugeteilt worden. Nun saßen wir, Erik und ich, nebeneinander an dem langen Tisch auf hohen Holzböcken – man musste auf die ausgebreiteten Fellstücke von oben blicken können. Die im Hof gestaute Wärme strömte durch die beiden geöffneten Fenster ins Zimmer.

Erik war ein gutes halbes Jahr durch die Vereinigten Staaten gereist und der Erste, dem ich begegnete, der das Land nach dem Krieg besucht hatte. Erzählungen über Amerika, andere, kannte ich von den dort interniert gewesenen deutschen Kriegsgefangenen.

Ich saß im weißen Umhang vor dem Spiegel, und Friseur Mansfeld machte mit der Schere ein paar Leerschnitte in der Luft, erzählte, wie er als Soldat im Afrikakorps 1943 von den Amerikanern in Tunesien gefangen genommen und mit anderen Gefangenen in einem Truppentransporter nach Amerika gebracht worden war. Voll schwärmerischer Bewunderung waren seine Erzählungen, wie er mit dem Schiff in New York ankam, die Lichter der Wolkenkratzer sah, die lange Fahrt in den Süden, die Landschaft, die Berge, die Wüste, und wie sie, während die Menschen in Deutschland der Gefahr der Bomben ausgesetzt waren, sicher, wenn auch hinter Stacheldraht, und gut genährt leben konnten. Sein Staunen sprach aus der Beschreibung der Baumwollhemden, der Kammgarnhosen, der Qualität der Lederschuhe, des reichhaltigen Essens. Er verdiente als Kriegsgefangener in einer Konservendosenfabrik achtzig Cent pro Tag und im Lager etwas hinzu, konnte als Friseur arbeiten, sich im Beruf perfektionieren und lernte, mit der Schere eine Stoppelfrisur zu schneiden. Die trug er mir bei jedem Besuch wieder von Neuem an, was ich jedes Mal wieder ablehnte, um weiter bei meinem unauffälligen Kurzhaarschnitt zu bleiben. Sommer 1946, sagte er, war der amerikanische Traum aus, da wurde er mit anderen Kameraden aus dem Paradies in New Mexico vertrieben und in das zerstörte Hamburg zurückgebracht. Wir hatten Glück, sagte er jedes Mal, die armen Kameraden, die in Sibirien Bäume fällen mussten.

Ganz anders waren Eriks Erzählungen. Nach dem Abschluss seiner Lehre war er wiederholt im Frankfurter US -Konsulat vorstellig geworden, hatte schließlich ein Visum bekommen und war an Bord eines Frachters nach New York gefahren, hatte sich, wie es hieß, rübergearbeitet, als Hilfssteward. Davon zeugten Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt durch ihre Detailgenauigkeit Beglaubigung gewann. Dieser junge Mensch musste dem Kapitän regelmäßig eine Tasse Kaffee auf die Brücke bringen. Bei Wellengang schwappte der Kaffee über, und die Tasse war nur noch halb voll. Nachdem Erik jedes Mal angeschnauzt worden war, nahm er fortan einen kräftigen Schluck Kaffee in den Mund und spuckte ihn kurz vor der Tür zur Brücke wieder in die Tasse.

In Amerika war er mit Bus, Eisenbahn und per Anhalter gereist und erzählte von den weiten Feldern, den Wäldern und der Gastfreundschaft auf dem Lande, aber auch vom Leid und der Armut der Menschen in den Städten. Er hatte in New York in einer großen Pelzmanufaktur gearbeitet, wo er, obwohl nicht gelernt, als Maschinennäher angestellt worden war. Zeitungen hatte er ausgetragen, in einer Reinigung Hemden gepresst und in Chicago in einer Fleischfabrik den geschlachteten Rindern die Zungen herausgeschnitten.

 

Ich fragte viel und war ein begieriger Zuhörer, sodass er, obwohl sechs Jahre älter als ich, mich zu einem Kinobesuch einlud – der Lehrling verdiente 30 DM im Monat. War es Das Fenster zum Hof? Aber die Vorführung war ausverkauft. So gingen wir, eine milde Frühsommernacht, weiter zur Reeperbahn, schlenderten zwischen den Neugierigen und Erlebnishungrigen an den Kneipen, Restaurants vorbei, am Café Keese mit seinem Ball Paradox – Kurt Student, hochdekorierter General der Fallschirmjäger, war der damals noch Empfangschef? –, gingen diesen Boulevard der Lüste entlang. Im Eingang einer großen Bar – kein Bums, kein Striptease, kein Rotlicht, ein Etablissement, das sich als gepflegt auswies – spielte ein Barpianist auf dem Klavier. Wir hörten einen Augenblick den gängigen Melodien zu. Der Pianist stand auf, reckte sich, zündete sich eine Zigarette an. Der Portier, ein geübter Aufreißer und Menschenkenner, hatte Erik beobachtet, wie er dastand und zuhörte, und sagte: Versuchen Sie’s doch mal.

Nach einem kurzen Zögern setzte Erik sich tatsächlich auf den Klavierhocker, griff sehr langsam, kurz innehaltend, in die Tasten, einen Moment dachte ich peinlich berührt, noch kannte ich ihn zu wenig, er wolle den Pianisten parodieren, könne gar nicht spielen, aber nach einem kurzen Lauf, und dann sehr entschieden und konzentriert, spielte er drei Stücke, drei [28]Stücke von Bach. Das ist die Erinnerung: Der Barpianist hielt wie vergessen die brennende Zigarette in den Fingern, Passanten waren stehen geblieben, ein paar Touristen, rotgesichtige Bauern mit Ehefrauen, aus Schleswig-Holstein oder Niedersachsen, Matrosen eines im Hafen liegenden spanischen Zerstörers, zwei, drei Nutten, ein Betrunkener mit schaukelndem Oberkörper, den Kopf nach vorn gebeugt und schwerfällig nickend. Erik spielte in diesem breiten, grell beleuchteten Eingang, umgeben von einer konzentrierten, den Trubel draußen abgrenzenden Stille. Er endete, stand auf, ein kurzes Nicken zu dem Pianisten und den Zuhörern, deren Klatschen er mit der Hand abwinkte.

Komm, sagte er, komm, und so gingen wir weiter in den trunkenen Lärm, in das Neonleuchten der Nacht.

In den knapp zwei Wochen, die wir zusammenarbeiteten, hatte er nicht erwähnt, dass er Klavier spielen konnte, und erst recht nicht, in welch staunenswerter Perfektion. Jetzt erzählte er auf meine Frage, dass er fast jeden Abend spiele. Die Behandlung der Felle sei gut für die Finger und für das Klavierspiel. Und ich dachte, mit diesen Händen hat er geschlachteten Ochsen die Zungen herausgeschnitten.

Nach gründlicher Vorbereitung zur Aufnahme am Konservatorium – in Frankfurt oder Berlin? –, sagte er, sei er nach seinem Vorspiel in der klassischen Abteilung abgelehnt worden. Er hatte sich entschieden, mit seiner Mittleren Reife eine Kürschnerlehre zu machen, um seinen, wie er mit einem inzwischen nahezu ausgestorbenen Wort sagte, Broterwerb zu sichern. Spielen, mit dem Ziel aufzutreten, wollte er weiter, und zwar ganz entschieden – Jazz. Jetzt spiele er hin und wieder in einer Band in Pinneberg, manchmal hier und da in Amateurbands, er müsse sich aber weiter perfektionieren.

Ich hatte ihn in den nächsten Tagen in seiner kleinen, gesondert auf einem Grundstück in Eppendorf stehenden Garage besucht, in der ein Opel Olympia auf Holzpfosten aufgebockt war, die Reifen standen an der Wand, daneben ein paar leere, noch aus englischem Militärbestand stammende Benzinkanister. Das rückwärtige Mauerwerk war, vermutlich aus akustischen Gründen, mit einer Spanplatte abgedeckt, auf die er eine Wolldecke gezweckt hatte. Davor stand das Klavier. Dort spielte er am Abend, oft auch nachts, in einem Geruch von Öl und Benzin.

Ich saß auf einem Kanister und hörte zu, wie er einige Etüden von Chopin spielte, er nannte die Nummern der Stücke, und nach einer kurzen Pause, in der er die Tasten anstarrte, als wollte er sie durch Hypnose eigenständig zum Erklingen bringen, sagte er, in der nächsten Woche werde er in Barmbek mit einer Amateurband auftreten. Das Klavier hatte er stimmen lassen, dennoch, der Klang war nicht gut. Auch diese Verstimmung gehöre, wie er sagte, dazu. Ich fragte ihn, ob er in Amerika gespielt hätte, nein, aber er habe viele Bands in den Clubs gehört.

Ein fremder Klang, schroff, disharmonisch, schlug gegen die Wolldecke, nicht vergleichbar dem Swing, den ich bis dahin gehört hatte. Sommer 1956, der Free Jazz kam, nach Meinung der Fachleute, erst um 1960 auf. Vielleicht wurde ich in dieser Garage Zeuge eines Experiments, das von vielen Musikern zur gleichen Zeit, an verschiedenen Orten betrieben wurde, um schließlich in so herausragenden Musikern wie Ornette Coleman, John Coltrane und anderen seine Ausprägung zu erlangen.

Ich habe Erik und seine Band in Barmbek gehört. Ein guter Swing, mehr nicht. Er saß am Piano, hinzu kamen ein Kornett, Bass, Klarinette, eine dieser zahlreichen Amateurbands, die sich am Wochenende verabredeten und in inniger Versunkenheit miteinander spielten. Ungefähr zwanzig Zuhörer saßen in der Kneipe. Ich war der Einzige, der nicht rauchte und kein Bier trank.

Ich erzählte ihm, dass ich als Schüler im Amerikahaus Hemingways The Old Man and the Sea mithilfe eines Wörterbuchs gelesen hätte. Gut drei Wochen dauerte es, bis ich mich durch den kurzen Roman gekämpft hatte, ganz auf die Handlung konzentriert, die verlässliche Freundschaft zwischen dem Jungen und dem alten Fischer, wie der Junge sich um den Alten sorgt, ihm Essen und ein Bier bringt, den Korb mit den Seilen und der Harpune zum Boot trägt, Abschied von dem Alten nimmt, der hinausrudert, sich von der Strömung weit treiben lässt, bis auf dem offenen Meer ein Fisch anbeißt, der Kampf mit dem mächtigen Tier, zwei Tage und zwei Nächte zieht der Fisch das Boot an der Angelschnur hinter sich her, die aufgerissenen Hände des Alten, der die Angelschnur über den Rücken gelegt in den Händen hält, damit er nachgeben und wieder anziehen kann, der nicht loslässt, mit dem Fisch redet, ihn seinen Bruder nennt, ihn schließlich mit der Harpune tötet, der Kampf mit den Haien, die den Kadaver anfressen, und das Ende, als das Boot den Hafen mit einem gewaltigen Skelett erreicht.

Ich habe nicht die Bezüge zum Alten Testament erkannt und nicht die Anspielung auf Melvilles Moby-Dick, nicht die Struktur der knappen Sätze, nicht die feinen Abschattierungen in der Beschreibung der Farben des Meers, der Wolken, der Fische, all das geschah erst bei einer späteren Lektüre. Und doch hatte ich das Buch auf meine Weise verstanden, bewunderte die Kompromisslosigkeit, die Ausdauer, die Zähigkeit des Alten in seinem vergeblichen Kampf.

Warum gerade dieses Buch? Ich weiß es nicht, kann mich nicht entsinnen, ob mir jemand bloß das Buch oder den Autor Hemingway empfohlen oder ob ich darüber in einer Zeitschrift gelesen hatte. Die Verfilmung kann es nicht gewesen sein, die kam erst 1958 in die Kinos.

Erik brachte mir am nächsten Tag Der Mann im Roggen von Jerome D. Salinger mit, ein Buch, dem, wohl um es in der Manteltasche tragen zu können, die Pappumschläge abgerissen worden waren. Was hat er mir dazu gesagt? Das Buch sei mit ein Grund für ihn gewesen, nach Amerika aufzubrechen? In dem sichtlich zerlesenen Buchblock waren feine Anstreichungen und einige nur schwer oder gar nicht zu entziffernde Anmerkungen mit Bleistift gemacht worden.

Noch hatte ich nicht mit der Lektüre begonnen, als er eines Tages in das Sortierzimmer gestürmt kam, seinen weißen Kittel vom Haken riss, sagte: Der kann mich mal am Arsch lecken. Alles Gute. Wir sehen uns.

Ich habe ihn nie wiedergesehen. Auch nichts von ihm gehört. Hieß er Blohm? Erik Blohm? Oder hatte er einen Künstlernamen? Breitkamp hatte ihm den Spitznamen Erik der Rote gegeben. Ich achtete in den folgenden Jahren auf Jazzplatten und -gruppen, auf der Suche nach seinem Namen. Später brachte ich ihn mit dem Aufkommen des Free Jazz in Verbindung. Der Mann im Roggen hatte er mir wie eine Flaschenpost zurückgelassen. Diese Geschichte von Holden Caulfield, die ich langsam las und abermals las. Und heute, sie wieder lesend, nun ungekürzt in einer neuen, von Eike Schönfeld erstellten Übersetzung unter dem seit 1963 üblichen Titel Der Fänger im Roggen, kann ich nachempfinden, mit welcher Wucht gerade diese Geschichte mich, den eben Sechzehnjährigen, traf – das so ganz andere, ferne Milieu, der Erlebnisreichtum, die Wildheit, die Orte, Personen und Erfahrungen, die mit dem Kehren und Feudeln der Werkstatt, dem Reinigen der Toiletten, dem Sortieren der Persianerstücke, dem fieseligen In-Streifen-Schneiden der Felle so gar nichts gemein hatten.

Die Lektüre muss ein Kraftstoß gewesen sein, dem es nachzuleben galt, dem Widerständigen, Aufmüpfigen, auch das war zu lernen, eine Verweigerung, die sich dort nicht zuletzt in der Sprache ausdrückte, dieser flapsigen Jugendsprache, dem Witzelnden, der gute Luce, den Übertreibungen, eine Sprache, die beim heutigen Lesen schwer erträglich ist, mir damals aber Mut zusprach, wie die Beschreibung des nächtlichen Herumstreunens in New York, der Bars und des Lebens am College. Die Vorstellung bildete sich, ebenfalls ein College zu besuchen, nicht aber wie Holden Caulfield das Lernen als Anpassung zu missachten, sondern es vielmehr mit aller Kraft und Neugier auf ein Gelingen hin zu betreiben. Vor allem waren es diese Leselust, die ferne Welt, die Sprache, das Flapsige, das Freche und auch die liebevolle Bewunderung Holdens für seine kleine Schwester Phoebe, die in ihrer Wahrheit und Unschuld für all das steht, was die Erwachsenenwelt vermissen lässt. Dass der Bericht von Holden als therapeutische Maßnahme in einer Klinik geschrieben ist, hat sich, obwohl erzähltechnisch doch wichtig, nicht eingeprägt. Ist es mir damals gar nicht aufgefallen?

Die Lektüre bestärkte jedenfalls das Schreiben- und Erzählen-Wollen. Vorausgegangen war, noch in der Volksschule, der naive Versuch, einen Roman zu schreiben. Warum einen Roman? Niemand hatte mich dazu angeregt oder gar ermutigt. Woher kam dieser Wunsch? Von der ersten überwältigenden Lektüre der Schatzinsel? Das Schreiben war voller Lust und Fehler und eine Gegenwehr zum lähmend langweiligen, zugleich mit Abfragen drohenden Zensurunterricht. Erzählen wollte ich die Geschichte einer der tausend Familien, die, was eben im Unterricht behandelt worden war, als unnütze Esser Weihnachten 1813 von den französischen Truppen aus Hamburg vertrieben worden waren. Ein koloriertes Historienbild zeigte die Verzweifelten, deren Schicksal dem der aus Ostpreußen Vertriebenen in der Nissenhütten-Siedlung am Isebekkanal glich.

Ich schrieb nicht zu Hause, sondern in den Pausen, auf und manchmal unter der Bank. Es war wie ein Luftholen. Bis der Lehrer, Herr Blumenthal, dem die Haare büschelweise aus Nase und Ohren wuchsen, auf den Schreibenden aufmerksam wurde, ihm das Heft wegnahm, darin las, den Kopf schüttelte und es in den Papierkorb warf.

 

Gegen Ende sagt Holden Caulfield – tatsächlich redet er zu viel daher: Es tut mir leid, dass ich so vielen davon erzählt habe. Ich weiß eigentlich nur eins, dass ich irgendwie alle vermisse, von denen ich euch erzählt habe. Das Erzählen Holden Caulfields hat sich in dem Roman ins Schreiben gekleidet. Eine Erinnerungsarbeit, durch deren Festschreibung Holden Caulfield die herbeizitierten Personen nicht mehr loswird. Sie werden ihn weiterhin geisterhaft begleiten und mit ihnen die Trauer über das erwartbar endgültige Vergessen.

 

Breitkamp erzählte später, der Rote Erik habe sich morgens vor dem Abstempeln beim Werkmeister beschwert, er habe keine Lust zum Stückesortieren. Ich habe längst ausgelernt, verstehen Sie? Und als Jäckel ihn zurechtwies und sagte, er habe das zu tun, was er ihm befehle, habe Erik Leck mich gerufen und sei gegangen.

 

Wieder in meiner Einsamkeit, schrieb ich auf das Papier der alten Schnittmuster, ein festes zart hellbraun gestreiftes Papier, Wörter, Sätze und zerschnitt sie, setzte sie neu zusammen, zerschnitt sie abermals, bis kleine zusammenhanglose Wörter dastanden, die ich aneinanderpuzzelte. Merkwürdige Wortgebilde.

 

Eines Tages, als ich in die große Werkstatt kam, sagte Meister Jäckel mal wieder: Seht, da kommt unser Träumer, was hat er uns denn zu melden?

Worauf ich sagte, Sie haben sich bei den Nerzfellen verzählt, Herr Jäckel. Ich habe nachgezählt. Es ist eines zu viel. Hier! Und reichte ihm das Fell.

Von da an blieb ich von Kommentaren verschont.

 

Im zweiten Lehrjahr war ich dem Meister Walther Kruse auf dessen Wunsch zugeteilt worden. Kruse, der wenige Jahre vor seiner Rente und in der Hierarchie der Kürschner ganz oben stand, wurden die kostbaren, kompliziert zu verarbeitenden Biber-, Ozelot-, Feh-, Luchs- und Chinchillafelle anvertraut. Er nahm in der Rangordnung des Betriebs eine Sonderstellung ein, konnte sich die Arbeit aussuchen und hatte die Freiheit, morgens später zu kommen. Sein Platz war am Ende des langen Werktischs, vor dem letzten Fenster, von dem, beugte man sich vor, ein Stück der Binnenalster zu sehen war, ein Sehnsuchtsort des Lehrlings.

 

Jetzt, als ich mir das Haus wieder ansehe, stelle ich fest, dass dieses Erinnerungsbild trügt, die Alster ist von dort aus nicht zu sehen, allenfalls etwas vom Jungfernstieg. Die Erinnerung will aber diesen Blick. Kruse saß meist auf einem hohen Holzbock, das fein geschnittene Gesicht mit dem grauen gescheitelten Haar über die Felle gebeugt, konzentriert und ruhig, einem Gelehrten gleich, sprach er ein genau artikuliertes Deutsch, oft wie für sich, versunken in seine Arbeit. Niemand behelligte ihn. Er war Sozialist, hatte als Kind an der Hand seines Vaters noch August Bebel sprechen hören, und er war Betriebsrat, nicht kündbar, vor allem aber wegen seines Könnens unverzichtbar. Das war der Anspruch der Gewerkschaft: Die politische Arbeit und das handwerkliche Können gehören zusammen. Im Betrieb gab es zwei Beschäftigte, die Levermann offen widersprechen konnten, eine schöne Schleichende, die Designerin, die sich diese Freiheit durch einen Moment der Hingabe geschaffen hatte, und ihn, Kruse, der durch Erfahrung, Wissen, Genauigkeit und Ausdauer in seinem Fach nicht nur zum Meister, sondern zum Künstler geworden war. Er war nicht zu ersetzen. Eine genau zu beobachtende, erst später für mich auf den Begriff zu bringende Herr-Knecht-Dialektik. Wie ich auch bei der Lektüre von Richard Sennetts Handwerk, worin er die Künste dem Handwerk so schwesterlich nah deutet, Walther Kruse vor Augen hatte. Die Obsession der Genauigkeit, die Achtung gegenüber der Besonderheit des Materials und die Verpflichtung, dieses in eine perfekte Form zu bringen, ist ein sinnbildender Prozess. Er ist das emotionale Gegenteil zu dem verbreiteten: Passt schon. In Walther Kruse fand der Handwerker zu seiner Autonomie.

Allerdings kamen diese so besonderen, auch charakterlich bedingten Eigenschaften an ihre Grenzen in den Zeiten der Gewalt. Da war das Können nur noch in Ausnahmefällen gefragt, wenn Frau v. Ribbentrop einen Fehmantel von ihrem Mann, dem Außenminister, geschenkt bekam, der die Fehfelle wiederum von einem General der Heeresgruppe Nord bekommen hatte. Sonst war der Könner Kruse, wegen Wehrwirtschaft unabkömmlich, damit beschäftigt, für die Soldaten an der Ostfront schlichte Fellkappen und einfache Schaffellmäntel zuzuschneiden, die dann die Näherinnen zusammenschusterten. Passt schon. Im Russlandkrieg wurden Kürschner und Kürschnerinnen gebraucht. Allerdings reichte der wärmende Schutz in der Nazizeit nur für diejenigen, deren Pass kein eingestempeltes J zeigte.

 

Walther Kruse, der politisch dachte und handelte, bot mir, dem Verträumten, allein dadurch, dass er neben mir stand, Schutz. Ihm hatte ich mich mit meiner Farbenschwäche anvertraut, musste nicht indirekt wie bei Breitkamp fragen: Wie finden Sie diesen Zusammenschnitt der Nerzstreifen? Der ist ein wenig zu dunkel, nicht? Die Farbenschwäche, die ich verheimlichen musste, konnte ich meistens durch das genaue Erkennen von Schattierungen ausgleichen. Dennoch konnte es passieren, dass Breitkamp sagte: Nee, da ist doch ein [38]zartes Rot drin. Also nee, passt nicht zu dem Braunton. Es kam also vor, dass ich Walther Kruse fragen musste: Passt das im Ton? Und er antwortete sachlich und half mir beim Suchen nach dem passenden Fell.

Seit ich neben ihm stand, konnten die anderen Kürschner mich nicht mehr anweisen, mal eben etwas zu holen, zu suchen, zu putzen, zu bringen. Die ruhige Art der Meisterschaft, mit der Kruse mir die komplizierte Berechnung der Auslassschnitte erklärte.

Die Zahl der Schnitte und der prozentuale Verlust durch die Nähte erforderten genaue Berechnungen. Die Fellbahnen wurden abgeglichen, zusammengenäht, die Lederseite der Vorder- und Rückenpartie des Mantels wurde mit Wasser eingestrichen, auf große Holzplatten gestreckt und mit Nägeln fixiert – aufgezweckt. Die getrockneten Felle waren auf der Lederseite wie Pergament, auf das die Zacken oder Auslassschnitte mit einem Kugelschreiber eingezeichnet wurden, blau oder schwarz, rot die Abstände, mit denen die Streifen verschoben und zu einem langen Fellstreifen zusammengenäht wurden. Die Nähte wurden mit einer Messingrolle flach gedrückt, anschließend erneut mit Wasser eingestrichen und aufgezweckt. Während die Teile trockneten, bereitete man die nächste Arbeit vor. Persianerfelle wurden nach Haardichte, Lockenform, Farbe und Glanz sortiert, ein Hin- und Herschieben, ein Austauschen, abermaliges Suchen nach dem geringst sichtbaren Übergang von Fell zu Fell, die wiederum mit einer Zackennaht eingeschnitten und zusammengenäht wurden. Das war die Zeit, in der erzählt wurde. Das Erzählen begleitete die eingeübten Arbeitsgänge, die keine rechnende Überlegung erforderten, aber doch höchst genau in der Handhabe sein mussten, wie das feine In-Streifen-Schneiden der Felle.

Das muss, da der Beruf ausstirbt oder in seiner exklusiven Feinheit bereits ausgestorben ist, so ausführlich beschrieben werden. Mit ihm gehen seine Kenntnisse, seine Handreichungen, Fertigkeiten und auch jahrhundertalte Geheimnisse verloren.

Die genauen Berechnungen boten jedoch keineswegs die Gewähr dafür, dass die Fellstreifen nach dem Zusammennähen die gewünschte geschweifte Form bekamen. Hinzutreten musste die jahrelange Erfahrung im Taktilen, die Fähigkeit zu fühlen, wie geschmeidig das Leder war, wo es etwas brüchig werden konnte, wie genau die Haare beschaffen waren, wo man die Streifen eine Winzigkeit schmaler, die anderen etwas breiter schneiden musste.

Kruse saß auf seinem Holzbock, ich, der Lehrling, stand neben ihm, so arbeiteten wir nebeneinander und konnten miteinander reden. Bei vielen Arbeitsgängen gab es diesen Wechsel von Berechnung zum handlichen Tun, dem Einschneiden, tatsächlich hantieren Kürschner die meiste Zeit mit dem Messer, gleichmäßig, mit ruhiger Hand, wie ein Chirurg, sagte Kruse, fünf Millimeter Breite, und nicht zu vergessen das Anpassen, das Vergleichen der Farbe, der Haarhöhe und -dichte, der Rauche – all das und die Begriffe dafür werden mit dem Handwerk verschwinden. Und mit ihm die tragbaren Pelze.

Gut gearbeitete Pelzmäntel hatten eine lange Lebensdauer, und die Ausbesserungen, die für langjährige Kundinnen im Sommer gemacht wurden, gehörten zu den Aufgaben der Lehrlinge im zweiten Lehrjahr. Die getragenen Mäntel verrieten etwas von den Trägerinnen. Hatten eine eigene Individualität. Wie und an welcher Stelle das Fell abgerieben war, Uhrenträgerinnen und Links- oder Rechtshänder waren am Fell zu erkennen, auch die Art, wie ein Schalkragen hochgeschlagen wurde, verrieten die Druckstellen im Fell. Und die Reinigung mit Sägemehl und das lange Klopfen der Felle mit Weidenstöcken, eine Aufgabe der Lehrlinge im ersten Lehrjahr, konnten nicht den Geruch des Parfums austreiben.

Als Lehrling wurde mir einmal der Persianermantel der Frau des in Nürnberg hingerichteten Außenministers v. Ribbentrop zur Ausbesserung gegeben. Walther Kruse hatte den Mantel Ende der Dreißigerjahre angefertigt und erzählte mir, dass er im Rückenteil des Mantels eine Lockenbildung in Form eines Sowjetsterns belassen habe. Ich konnte in der abgewetzten, mildhaarigen – eines dieser sterbenden Wörter – Stelle keinen Stern erkennen. Aber Kruse behauptete, als der Mantel neu gewesen sei, die Locke noch glatt, habe diese Persianerlocke, wenn man genau hinsah, wie ein Sowjetstern geglänzt. Die Stelle war nun aber derart berieben, dass sie herausgeschnitten und durch ein neues Stück Fell ersetzt werden sollte. Nachdem das Futter des Mantels von einer Näherin aufgetrennt worden war, sah ich, das Stück war schon einmal eingesetzt worden, also nicht natürlich gewachsen.

Es war kein großer Widerstandsakt, die Frau des großkotzigen Nazi-Außenministers mit dem Sowjetstern auf dem Rücken herumlaufen zu lassen.

Die Erzählung in der Werkstatt: Frau v. Ribbentrop kommt zur Anprobe, Meister Kruse wird aus der Werkstatt gerufen, er prüft nochmals den Sitz des Mantels, sagt, würden Sie sich bitte einmal umdrehen, und dann sein Blick auf den Rücken und: Passt genau.

Das war die Zeit des Erzählens, von dem Walter Benjamin in seinem Essay Der Erzähler sagt: Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben. Und unter denen, die Geschichten niedergeschrieben haben, sind es die Großen, deren Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen Erzähler abhebt.

Die Erzählung, wie sie im Kreis des Handwerks – des bäuerlichen, des maritimen und dann des städtischen – lange gedeiht, ist selbst eine gleichsam handwerkliche Form der Mitteilung.

Aus den zwei Urformen des Erzählens aus dem bäuerlichen und maritimen Umkreis hat sich die des Handwerks herausgebildet: Die reale Erstreckung des Reiches der Erzählungen in seiner ganzen historischen Breite ist nicht ohne die innige Durchdringung dieser beiden archaischen Typen denkbar. Eine solche Durchdringung hat ganz besonders das Mittelalter in seiner Handwerksverfassung zustande gebracht. Der seßhafte Meister und die wandernden Burschen werkten in den gleichen Stuben zusammen; und jeder Meister war Wanderbursche gewesen, bevor er in seiner Heimat oder in der Fremde sich niederließ. Wenn Bauern und Seeleute Altmeister des Erzählens gewesen sind, so war der Handwerkerstand seine hohe Schule. In ihm verband sich die Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach Hause bringt, mit der Kunde aus der Vergangenheit, die am liebsten dem Seßhaften sich anvertraut.

 

Walther Kruse hatte auf der Veddel eine Parzelle in einer Kleingartensiedlung hinter den von der Reederei Hapag gebauten Hallen für die Auswanderer nach Amerika. Dorthin lud er mich am Wochenende ein. Seine Frau brachte uns die Thermosflasche mit Kaffee und Kuchen. Wir hatten ein wenig umgegraben, aber die Arbeit, zu der ich ihm eine Hand reichen sollte, wie er sagte, war nur ein Vorwand. Es war nicht viel zu tun, ein bisschen Unkrautzupfen, das Auflesen der Birnen von dem einzigen Bäumchen auf der Parzelle. Eine Holzhütte, zwei Fenster, dahinter Gardinen, über der Tür befand sich als ironisches Herrenhauszitat ein auf zwei weiß gestrichenen kannelierten Holzsäulen liegendes Teerpappen-Vordach. Der Tisch gedeckt mit einfachem weißem Porzellan, Tassen und Tellern, dem Kuchenblech, das seine Frau aus der nahe gelegenen Wohnung brachte, ein dünner Teig, darauf die fein geschnittenen, zum Fächer drapierten Birnenscheiben. Wir saßen und redeten, auch über den neuen Menschen, den befreiten, wir saßen zwischen Levkojen und Blumenkohl und hin und wieder, wenn der Wind von Nordwesten kam, im Duft von Schokolade. Dort hinten lag eine Kakaorösterei. Kinder hatte das Paar nicht bekommen können – leider, sagte Kruse.

Er, der Meister seines Fachs, hätte lieber Häuser bauen mögen, wäre gern Architekt geworden. Aber wie? Der Vater Zimmermann, die Mutter Näherin. Die Volksschule – dann das reine Glück, damals eine Lehrstelle bei einem Kürschner zu bekommen. Jetzt ein Sozialist zwischen Sellerie und Sipprisa. Er hatte Marx gelesen, Engels und Kautsky. Nie hätten die Sozialdemokraten unter Bebel den Kriegskrediten zugestimmt. Aber Ebert. Er machte eine wegwerfende Handbewegung in die Rabatten. Ebert hatte mit Noske den für immer unverzeihlichen Fehler gemacht und die Erlaubnis gegeben, die Verteidiger der Revolution, die Marinedivision, von der Reichsarmee niederkämpfen zu lassen. Damit war die Entscheidung gefallen. Die Revolution abgewürgt. Die konservativen Kräfte, Monarchisten, adelige Offiziere, blieben an der Macht. Kruse war nicht zu den Kommunisten gegangen, war bei den Sozis geblieben, in der Gewerkschaft, hatte im Bildungsverein gearbeitet. Er brachte mir Bücher mit. Keine politischen Schriften, sondern Literatur, Die göttliche Komödie, Wilhelm Meisters Lehrjahre, die er mir empfahl, dringlich, die ich zu Hause in meinem Alkoven las, so wunschnah der Figur Philine, wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an, und das von der Gesellschaft vom Turm begleitete Leben Wilhelms, die Beschreibung des Theaterspielens, die eigene Wünsche bestärkte und mich später auf die Studentenbühne im Braunschweig-Kolleg führte.

Walther Kruse empfahl die russische Literatur. Lermontows Erzählungen, Turgenjew, Gorki, vor allem Gogol. Lies Der Mantel. Und unbedingt Dostojewskis Der Idiot. Das Buch im schwarzen Leineneinband stand zu Hause im Bücherschrank. Es wäre greifbar gewesen, aber es fehlte der dazu nötige, für ein veränderndes Lesen so wichtige Anstoß. Der Bertelsmann-Lesering bot um 1950 vielen Hamburger Haushalten die Chance zum Neuaufbau einer Bibliothek, nachdem die alte in der Gomorrha-Nacht 1943 in Flammen aufgegangen war. Die Bücher, die Kruse mir mitbrachte, waren nicht wie in der Schule Pflichtlektüre, das war kein vorgeschriebener Kanon, sondern es waren Geschenke. Die Begeisterung des Schenkenden lag darin.

 

Im Sommer und Herbst 1956 habe ich Dostojewski gelesen, Roman um Roman, keine Zigaretten, kein Alkohol, ich war süchtig nach Worten. Kam nach der Arbeit nach Hause, aß mit Mutter, Vater und Schwester zu Abend und zog mich in mein kleines Zimmer, den Alkoven, zurück. Die Wohnung lag hinter dem Geschäft, hinter der Werkstatt, die der Vater strikt das Atelier nannte. Ich las Schuld und Sühne, Der Spieler, Die Dämonen, Die Brüder Karamasow. Ich war versunken in diesen Wortwelten. Ich las Der Idiot, wie auch die anderen Romane, mit einem eingeklebten Zettel, auf dem ich die Namen der jeweiligen Personen aufgeschrieben hatte, um sie zuordnen zu können.

Zwei Szenen aus dem Roman habe ich damals, ums tiefere Verstehen bemüht, mehrmals gelesen. Sie begleiten mich seitdem durch mein Leben.

Der junge, an Epilepsie leidende Fürst Myschkin erscheint in seiner kindlichen Treuherzigkeit, seiner großherzigen Hilfsbereitschaft und außergewöhnlichen Ehrlichkeit, also den denkbar besten Charaktereigenschaften, als Sonderling in der ihn umgebenden adeligen Gesellschaft. Was sich mir eingeprägt hat, sind die Wahrhaftigkeit und das gänzliche Fehlen von Neid, Konkurrenzgefühlen und taktischen Überlegungen, mit denen sich Myschkin in einer Gesellschaft bewegt, in der von Geburt her die Ungleichheit festgeschrieben ist und in der Dünkel und Heuchelei verbreitet sind. Eine Hoffart des Adels gegenüber all jenen, die sie nähren, den Bauern, die ihr Tagwerk vollbringen, die für Nahrung und Auskommen der Anderen, Wenigen, Glänzenden sorgen, ohne selbst über das von ihnen Hervorgebrachte bestimmen zu können. Die adeligen Personen werden von Dostojewski nicht überzeichnet, nicht karikiert, sie sind eher sympathisch, großzügig, förmlich und manchmal schrullig – aber eine lähmende Stimmung liegt über dieser Gesellschaftsschicht, die, das teilt sich deutlich mit, selbst ökonomisch gefährdet und von Schulden bedrängt ist. Die Hoffnung, so las ich es, sprach aus dem Buch, es möge eben diese Kindlichkeit des Unverstellten, die Ehrlichkeit und ein echtes Mitempfinden die russische Gesellschaft reinigen, der Mensch möge ohne Standesschranken dem anderen begegnen, also gleich zu gleich nach seiner Arbeit geachtet werden, der Handwerker, der Bauer, der Wissenschaftler oder der Staatsdiener. Eine derart einander zugewandte Gemeinschaft könnte die Zukunft jeglicher Gesellschaft sein.

So ungefähr hatte ich damals diese Szene verstanden, in der Fürst Myschkin zur Abendgesellschaft des Generals Jepantschin redet. Ausdrücklich warnt Aglaja, die Tochter des Generals, den Fürsten, sich in seiner Ungeschicklichkeit nicht einer im Saal stehenden teuren, ihrer Mutter so wichtigen chinesischen Vase zu nähern, indem sie ihn ironisch auffordert: Machen Sie doch eine Ihrer Gesten, wie Sie es sonst tun, und stoßen Sie gegen die Vase, setzen Sie sich absichtlich neben die Vase.

Myschkin beginnt, nachdem er sich in die weiteste Entfernung zu dieser Vase gestellt hat, seine Sicht auf Russland, den Westen, die Gesellschaft, Philosophie, den Katholizismus, die freie Frau, die russische Orthodoxie, den Adel und den Anarchismus – kurzum über Gott und die Welt – zu verbreiten, eine wirre, prophetische, durch Wiederholungen, logische Brüche, sonderbare Vergleiche und Bilder bestimmte Rede.

Gestern hat mir Aglaja Iwanowna verboten zu sprechen und sogar die Themen genannt, über die ich nicht reden dürfte; sie weiß, dass ich dabei lächerlich bin. Ich bin siebenundzwanzig, aber ich weiß, daß ich wie ein Kind bin. Mir steht es nicht zu, meine Ideen auszusprechen, das sage ich schon seit langem; nur in Moskau, mit Rogoschin, habe ich offen geredet … Wir lasen zusammen Puschkin …wir haben alles von ihm gelesen; er kannte nichts davon, nicht einmal den Namen Puschkin … Ich fürchte immer, durch mein lächerliches Auftreten meine Gedanken und die Hauptidee zu kompromittieren. Ich habe die Geste nicht. Ich habe stets die verkehrte Geste, und das ist zum Lachen und erniedrigt die Idee. Mir fehlt auch das Gefühl für Maß, und das ist doch die Hauptsache; sogar die allerwichtigste Hauptsache … Ich weiß, ich sollte lieber dasitzen und schweigen.

Während dieser Rede nähert er sich jetzt – beim Wiederlesen springt ins Auge, wie staunenswert genau das sprachmimetisch und psychologisch beschrieben ist – sehr langsam dieser Vase und stößt sie schließlich um. Die Gesellschaft versucht, ihn über die am Boden liegenden kostbaren Scherben zu beruhigen, lacht wohlwollend und ermunternd, zeigt keine Schadenfreude. Myschkin fährt in seiner so wirren wie tiefsinnigen Rede fort, bis er mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem furchtbaren Schrei in den Armen der hinzugeeilten Aglaja zusammenbricht. Der Kranke lag auf dem Teppich, jemand hatte ihm eilig ein Kissen unter den Kopf geschoben.

Die Figur des Myschkin war mir wie ein Bruder nah, durch ihn wurde mir ein so ganz anderes Verstehen dessen möglich, was als gesund und was als krank in der Gesellschaft gilt. Wie diese Abweichungen im Verhalten ausschließen und wie sehr wiederum solche Abweichungen, die Erscheinungsformen der Krankheit, in diesem Fall der Epilepsie, einen anderen Blick auf die Gesellschaft ermöglichen. Eine Einsicht, die über das spontane Mitleid mit einem beschädigten Leben [48]hinausgeht: dass Krankheit von dem Verständnis des Normalen her gedeutet oder stigmatisiert wird und welch ausschließende Macht das Konstrukt des Normalen hat, wie es das Ein- und Unterordnen bestimmt.

 

Das Lesen von Der Idiot wurde und wird von der Erinnerung an zwei Kinder begleitet. Karlchen, ein Junge, der von seinen Eltern zwölf Jahre lang in einer Wohnung im vierten Stockwerk eines Mietshauses im Eppendorfer Weg versteckt worden war, ein Kind mit Downsyndrom, das herangewachsen war, leise auf Socken gehend, damit die darunter Wohnenden nicht hörten, dass über ihnen nicht zwei, sondern drei Menschen lebten. Haben sich die Eltern Schuhe mit kräftigen Absätzen angezogen, um ihren Tritt deutlicher werden zu lassen? Wussten einige der Mitbewohner von dem Versteckten und haben geschwiegen? Hätten sie geschwiegen, wäre es ein jüdisches Kind gewesen? Karlchen wurde vor den Mördern und den grauen Vergasungsbussen gerettet.

In der hessischen Stadt Hadamar wussten die Einwohner: Jedes Mal wenn die grauen, fensterlosen Busse kamen und in die Corrigenden-Anstalt fuhren, musste man Türen und Fenster schließen. Zwei, drei Stunden später stieg ein dunkler, übel riechender Rauch aus dem Schornstein der Anstalt auf.

Karlchen kam am 4. Mai, einen Tag nachdem das britische Militär Hamburg besetzt hatte, auf die Straße, stand da, als wäre er eben vom Himmel gefallen. Niemand hatte ihn je zuvor gesehen, ein dreizehnjähriger Junge, kräftig, der eigentümliche Schreie ausstieß und einen Baum umarmte. Aus dem Fenster zur Straßenseite, wo die Kastanien standen, hatte er nicht hinausschauen dürfen. Man hätte ihn von den gegenüberliegenden Häusern aus sehen können. Fast zwölf Jahre blickte er auf den asphaltierten Hof der Batterien-Fabrik Habafa.

Der andere Junge, Jürgen Heise, war 1946 mit mir eingeschult worden und mein Banknachbar. Er konnte so staunenswerte Fragen stellen: Warum man die Wolken nicht einfach mit dem Besen wegschieben könne. Was für eine dumme Frage, sagte Frau Sörensen. Aber immerhin, dachte ich, kann er die Frage doch stellen. Und dumm schien sie mir auch nicht zu sein, nur wunderlich, und was er sagte, hatte etwas von einem Märchen. Frau Holle schüttelte doch auch die Kissen – waren das nicht die Wolken? – und der Schnee fiel. Ich versuchte meiner Mutter zu erklären, dass Jürgen Heise ein sehr schlauer Junge war. Ich mochte ihn, spielte mit ihm. Er schwieg, wenn er von den anderen gehänselt wurde, grinste nur, wehrte sich auch dann nicht, wenn er herumgeschubst wurde, und ich nahm ihn gegen den Spott und die Attacken der anderen Kinder in Schutz, nicht körperlich, aber ich versuchte zu erklären, was er mit seinem Sagen vielleicht meinte.

Dann habe auch ich ihn verraten. Er hatte den Schwamm von der Tafel abgerissen und in den Isebekkanal geworfen, der an der Schule vorbeiführte. Befragt vom Lehrer, warum er das getan hatte, sagte er, der Schwamm habe trinken wollen.

Die Klasse lachte, und ich lachte mit. Und sogleich schämte ich mich. Er saß stumm da, verwundert. Hätte er wenigstens geweint. Aber er lachte fröhlich mit.

Eines Tages kam er nicht mehr zur Schule, und die Lehrerin sagte, er sei in ein Heim gekommen. Ein kranker Junge. Aber so erschien er mir, dem Kind, nicht, sondern wie jemand, der das Ungewöhnliche als etwas Normales denken konnte.

 

Ist die Literatur nicht in eben diesem Sinn das Nicht-Normale? Das, was man nicht kennt. So verstand ich den Roman Der Idiot. Ein Gegenraum zum Gewohnten. Das Erlaubt-Verbotene.

 

Zutiefst beunruhigend war die rätselhafte Dreiecksbeziehung zwischen Rogoschin und Fürst Myschkin und der gesellschaftlich geächteten Mätresse Nastassja. Ein Gespräch darüber war weder mit Walther Kruse noch mit den Eltern, auch nicht mit anderen Erwachsenen, denkbar, ernsthaft auch nicht mit Breitkamp, dem sonst nichts fremd war. Wie kompliziert war das Geflecht von Zuneigung, Abneigung, Liebe, Hass und Eifersucht, in das diese drei Menschen verstrickt waren. Als Sechzehnjähriger erlebte ich den Schluss des Romans wie einen Albtraum.

Nastassja, die Braut, die vor der Heirat mit Myschkin, der sie, aber auch Aglaja liebt, im letzten Moment zurückschreckt – warum? – und im Hochzeitskleid zu Rogoschin in dessen Wohnung flieht, um dort – das hieße ja mit ihrer Zustimmung – von ihm erstochen zu werden. Myschkin, der, von einer Ahnung getrieben, Rogoschin sucht, der wiederum Myschkin finden will und auf ihn wartet. Rogoschin führt den ahnungsvollen Myschkin – und mit ihm den Leser – in seine Wohnung, alle Fenster sind, obwohl es sehr heiß ist, geschlossen, die Rollos heruntergelassen, alle Vorhänge zugezogen, durch die Räume, in das abgedunkelte Schlafzimmer: Inzwischen hatten sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt, und er konnte das Bett deutlich sehen; jemand schlief darauf in einem völlig reglosen Schlaf; man hörte nicht das leiseste Geräusch, nicht den leisesten Atemzug. Der Schlafende war bis über den Kopf mit einem weißen Laken zugedeckt, die Glieder jedoch hoben sich irgendwie undeutlich ab; man konnte nur an den Erhebungen erkennen, daß dort ein Mensch ausgestreckt lag. Ringsum in großer Unordnung, auf dem Bett, am Fußende, auf einem Sessel unmittelbar vor dem Bett, sogar auf dem Fußboden lagen hastig abgestreifte Kleidungsstücke, ein prachtvolles weißes Seidenkleid, Blumen, Bänder. Auf dem Tischchen am Kopfende funkelten abgelegte, achtlos hingeworfene Juwelen. Am Fußende bauschten sich zusammengeknüllte Spitzen, und inmitten des weißen Bausches sah unter dem Laken eine nackte Fußspitze hervor; sie schien wie aus Marmor gemeißelt und war furchtbar unbeweglich. Der Fürst schaute und fühlte, dass es im Zimmer, je länger er schaute, immer toter und stiller wurde. Plötzlich summte eine erwachte Fliege, flog über das Bett und verstummte am Kopfende.

So sieht der Fürst seine Braut wieder. Die Beschreibung der abgelegten Kleider, der gebauschten Unterröcke legt nahe, dass sich Nastassja selbst ausgezogen hat. Und er hört Rogoschin: Und … und da is’ noch was, wo ich mich wundern tu’: Das Messer is’ vielleicht anderhalb  … oder sogar zwei Werschok tief reingegangen … genau unter der linken Brust … Blut aber kam nur wenig, kaum ein halber Suppenlöffel, auf das Hemd; mehr war’s nich’…

Das damalige mehrfache und genaue Lesen gab keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Und ich ahnte, es war die falsche Frage.

Mein Erschrecken über das, worauf der Text – sage ich heute – keine Antwort gab, war groß und die Verunsicherung wuchs mit jedem Wieder- und Wiederlesen. Wie unerklärlich waren die Gefühle dieser Menschen, die ich nicht distanziert wie literarische Figuren, sondern wie mir nahe Menschen las, wie rätselhaft waren ihre Motive, wie abgründig ihre Wünsche, ihr Hass, ihre Liebe und der Schmerz – das war die Wunde Leben. Hier ist irgendetwas, was ich Ihnen nicht erklären kann …, sagt Fürst Myschkin.

Und unfasslich war – ist –, wie diese beiden Liebenden sich neben der Leiche Nastassjas ein Lager aus Kissen bereiten. Außerdem hab’ ich Angst, daß es schwül is’ und daß es riecht. Merkst du schon, daß es riecht? Merkst du schon?, fragt Rogoschin, und Fürst Myschkin antwortet: Vielleicht merk ich es, weiß nicht. Gegen Morgen fängt es bestimmt an.

Dort verbringen die beiden Liebenden, der Mörder Rogoschin und Fürst Myschkin, auch sie in gegenseitiger Ablehnung und Zuneigung verstrickt, neben der Leiche liegend die Nacht. Dieser Wirrwarr der Gefühle. Am nächsten Morgen werden sie gefunden, der Mörder bewusstlos und mit hohem Fieber. Der Fürst saß unbeweglich neben ihm auf dem Kissen und strich dem Kranken jedesmal, sobald er aufschrie oder redete, behutsam mit zitternder Hand über Haar und Wangen, als wolle er ihn liebkosen und beschwichtigen.

Der Fürst verliert in dieser Nacht den Verstand – ist jetzt, wie es heißt, ein Idiot  – und wird wieder in das Schweizer Sanatorium gebracht, in dem er schon zuvor einige Jahre gelebt hat.

 

Das damals gelesene Exemplar existiert nicht mehr. Wahrscheinlich war der Roman von dem bekannten Dostojewski-Übersetzer Hermann Röhl in ein genaues, inzwischen ein wenig klassisch wirkendes Deutsch übertragen worden – was der Lektüre zugutekommt. Beim Vergleich mit der neuen Übersetzung sticht als größter Unterschied die Wiedergabe der Dialoge hervor. Swetlana Geier hat die Nuancen der wörtlichen Rede herausgearbeitet, die prägend für die Charakterisierung der Figuren sind. Fürst Myschkins erregtes Sprechen, das durch Stocken, Auslassungen, Wiederholungen gekennzeichnet ist, wird in der Typografie wie auch im Original durch drei Pünktchen sichtbar gemacht. Dagegen die klare, entschiedene Diktion Aglajas, die sich von dem nachlässigen Reden Rogoschins mit seinen verschluckten Endungen, den Auslassungen, seinem Genuschel abhebt. Auch das war beim jetzigen Wiederlesen für mich neu und eine Entdeckung, Dostojewski hat einen feinen Witz in seinen Dialogen und Beschreibungen. Die Vase schwankte, wie unschlüssig, ob sie nicht einem der alten Herren auf den Kopf fallen sollte, neigte sich aber plötzlich nach der entgegengesetzten Seite, nach der Seite des deutschen Dichterlings, der gerade noch Zeit hatte, entsetzt zurückzuspringen, und stürzte zu Boden.

 

Im Sommer, an Sonntagen, fuhr ich, schien die Sonne, an die Ostsee, nach Travemünde, und an diesem Sonntag schien die Sonne. Ich ging zum Hundestrand, wo keine Strandgebühren verlangt wurden, lag im Sand, las, so war das Geschilderte erträglicher, in dem eingebundenen Buch Der Idiot. Gäbe es das Exemplar noch, könnte man auf den Seiten die eingetrockneten Tropfen der Ostsee sehen.

Ich watete ins Wasser, das Kläffen und Japsen der Hunde hinter mir, und wenn ich weit genug hinausschwamm, der schwedischen Fähre entgegen, die langsam aus dem Hafen auslief, drehte ich mich auf den Rücken und konnte als Toter Mann meinen Gedanken nachhängen, wahrscheinlich denen an Fürst Myschkin, der die kostbare chinesische Vase trotz, ja wegen der Warnung Aglajas und mit dem festen Willen, das große Gefäß zu meiden, umstößt und zerbricht, eine Zwangshandlung. Vielleicht dachte ich aber auch an nichts oder an fast nichts, hatte nur die Wolken im Blick, die bei Nordwestwind weiß und tief und langsam den Himmel zuzogen.

Die Rückfahrt am späten Abend im überfüllten Zug mit all dem von Sonne und Wind müde braun gebrannten Fleisch. Draußen zog die Holsteinische Landschaft vorbei, schwarz-weiße Kühe, Knicks, kleine umbuschte Toteistümpel, daraus aufrudernde Krähen, am Wegrand Milchkannen, solitäre Eichen. Es roch nach getrocknetem Schweiß und Sonnenöl, und das erschöpfte Schweigen galt schon dem kommenden Tag, dem Montag.

 

In der Werkstatt hatte ich mit der Arbeit an einem Nerzkragen, der auf einen Stoffmantel genäht werden sollte, einige Schwierigkeiten. Die Felle mussten ausgesucht und sortiert werden. Je nach Kragengröße mussten drei oder vier unterschiedliche Nerzbahnen eingeschnitten werden, die kleinste für die Innenseite, die größte für die Außenseite, jede Bahn am Anfang schmal, sodann breiter werdend und in einem Bogen ausschwingend. Länge, Breite und Biegung waren genau zu berechnen, wurden eingeschnitten und dann millimeterweise jeder Lederstreifen unterschiedlich verschoben, so bildeten sie den vorgeschriebenen Bogen zum Kragen. Für die Maschinennäherin war das eine verfinkelte Arbeit.

Ich hatte mich verrechnet, die eine Außenbahn war genäht, aber nicht rund genug geworden, hatte zudem in der Innenseite kleine Lederfalten. Ich musste alles wieder auftrennen, eine mühselige Arbeit, die schmalen Streifen mit Stecknadeln auf einem Brett feststecken und mithilfe von Walther Kruse neue Abstände einzeichnen. Die Bahnen mussten nun neu genäht werden. Was äußerst schwierig war, weil die schmalen Streifen schon Nähstiche hatten und das Leder durch das Auftrennen weich geworden war. Vor allem konnte die abermalige Näharbeit nicht abgestempelt werden. Ich hätte zu Jäckel gehen müssen und der ins Lohnbüro, womöglich hätte Levermann die zusätzliche Arbeit abzeichnen müssen. Zwei Näherinnen weigerten sich, den Kragen nochmals zu nähen. Eine ältere, sonst schweigsame, zuweilen mufflige Maschinennäherin hörte von dem Problem, sagte: Gib her, ich mach das am Sonnabend, gleich nach Arbeitsschluss.

Am Montag habe ich ihr einen Blumentopf mit Vergissmeinnicht geschenkt. Wann immer es möglich war, haben wir von da an zusammengearbeitet.

 

Wieder einmal war ich auf die Veddel zu Walther Kruse gefahren. Wir saßen im Schrebergarten und sprachen über diese Hütten, die nicht winterfest waren und keine Öfen haben durften. In eine der Hütten hatten sie 1933, nachdem die sozialdemokratischen Genossen in den Untergrund gegangen waren, einen Apparat geschafft, auf dem mittels einer Handkurbel Flugblätter abgezogen werden konnten. Dass seine SPD nicht gemeinsam mit den Kommunisten den Generalstreik ausgerufen hatte, war für Walther Kruse ein unverzeihlicher Fehler gewesen. Es gab in den Parteigruppen und in der Gewerkschaft Stimmen, die, nachdem 1933 das Ermächtigungsgesetz beschlossen worden war, zum Streik aufgerufen hatten. Man hätte alles verhindern können, die Toten, die Mordlager, die Zerstörung Deutschlands. Aber die Parteileitung war wie schon 1919 zu staatsgehorsam gewesen. Er erzählte von einem Werftarbeiter, der von der Gestapo verhaftet worden und erst nach Tagen zurückgekommen war. Ein wandelnder Toter. Der nicht erzählte, was man ihm angetan hatte. Ein Kämpfer, wie Kruse sagte, unbeirrt und stark. Eines Tages war der Kämpfer von einer Helge gefallen. War es ein selbst gewählter Tod oder ein Unfall?

Wie hatte es dazu kommen können, dass Genossen so bereitwillig zu den Nazis übergelaufen waren? Das Versprechen von der klassenlosen Gesellschaft ist fern und grau, aber die Beförderung vom SA -Sturmmann zum SA -Obersturmmann kann schon morgen kommen, das verspricht Aufstieg, bringt sofortige Vorteile, Übersichtlichkeit, zudem klare Befehle, Gehorsam, Autorität. Und jeder wusste, es ist besser, mit einem Gewehr andere beim Schaufeln zu bewachen, als selbst zu schaufeln.

Walther Kruse begleitet mich mit seinem kritischen Blick auf die Gesellschaft und auf die deutsche Geschichte. Meine vom Elternhaus geprägten Argumente, dass jeder doch seines Glückes Schmied sei, es allein darauf ankomme, zu wollen, zu können, tüchtig zu sein, widerlegte Kruse geduldig mit Beispielen, wie und wodurch diese freie Entfaltung verhindert werde. Vor allem war da seine stille zähe Wut, mit der er beschrieb, wie Hitler mit seiner SA das demokratische Zusammenleben terrorisiert, wie er mit dem Er[58]mächtigungsgesetz die freien Wahlen beschränkt und schließlich ausgesetzt hatte, wie diese Vorstellung vom kriegerisch arischen Herrenvolk jüdische Menschen ausgegrenzt und später in die Mordlager gebracht und dort umgebracht hatte. Geschärft in der Argumentation, begann der Kampf – und es war ein Kampf – mit den Argumenten des Vaters, die immer auf die Behauptung zuliefen, man – es war immer das man, nicht das Ich – habe nichts von der Vernichtung der Juden gewusst. Die Luftwaffe, in der der Vater gedient hatte, sei nicht daran beteiligt gewesen, ein endloser Streit, der in meinem Vorwurf gipfelte, dass all die Soldaten der Marine, der Luftwaffe mit ihrer Tapferkeit, mit den Eisernen Kreuzen und Ritterkreuzen, dem Eichenlaub und den Brillanten am Hals das Morden nicht nur ermöglicht, sondern auch verlängert und verziert hatten. Rede und Gegenrede, Geschrei, ja, Geschrei. Und die Mutter, die zu vermitteln versuchte, wo nichts mehr zu vermitteln war.

Walther Kruse hielt, was ich nicht glauben wollte, ein erneutes Aufleben des Faschismus für möglich. Er nannte all die leitenden Beamten, die für den NS -Staat gearbeitet hatten und jetzt in der Regierung Adenauers ihren Dienst taten, in der Justiz, in Schulen und Universitäten, und nun kam auch noch die Gründung der Bundeswehr hinzu, die ehemaligen Wehrmachtsgeneräle, die in eben der Funktion in die Bundeswehr eintraten.

Nie hat Kruse versucht, mich für die Gewerkschaft oder für die SPD zu gewinnen. Aber er hat mir, als wir im Spätherbst in seiner Laube saßen, auf dem Tisch das Blech mit Apfelkuchen, mit diesem köstlich dünnen, aber festen Teig, ein Buch hingelegt: Der SS -Staat von Eugen Kogon. Ein Buch, das er mir diesmal nicht schenkte, sondern sich zurückerbat. Darin fand sich die Widmung eines Genossen, der, wie er mir erzählte, im KZ Neuengamme inhaftiert gewesen war und überlebt hatte, wie auch der Häftling Egon Kogon das KZ Buchenwald, paradox genug, als Schreibkraft eines mit Menschen experimentierenden SS -Lagerarztes überleben konnte.

Das Buch habe ich abends in meinem Alkoven gelesen, keineswegs heimlich, aber doch abgeschieden von den Eltern. Das Konzentrationslager wird von Kogon als ein in sich geschlossener Staat des Terrors beschrieben, eine kalte bürokratische Konstruktion zur Entmenschlichung der Häftlinge. In der absoluten Rechtlosigkeit waren diese nicht nur der Willkür der Bewacher ausgeliefert, sondern wegen kleinster Vergünstigungen in einem wölfischen Überlebenskampf ineinander verbissen. Das Unverständnis des jugendlichen Lesers wuchs: Wie war es möglich gewesen, dass Menschen arbeiteten, sich vergnügten, Feste feierten, Musik hörten, Theater besuchten, während es zugleich diese Lager der Qual gab. Die Lektüre löste eine bleibende Empörung aus – das Entsetzen kam später hinzu durch Alain Resnais’ Dokumentarfilm Nacht und Nebel.

 

Eines Tages fand der Vater das Buch, hatte darin geblättert und sinngemäß gesagt: Das alles haben wir so nicht gewusst. Damit verschärfte sich abermals der bis zu seinem Tod dauernde zähe Streit über die Vergangenheit, ein Streit über den Sinn des Todes meines Bruders, der sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte – der tapfere, anständige Junge, der mir ein Vorbild sein sollte. Ein Streit, der die Autorität des Vaters infrage stellte, ein Streit über den Sinn der Anstrengungen, der Kämpfe, der Tapferkeit, ein Streit über die zerstörten Städte, die Vertriebenen, aber vor allem ein Streit über das, was man hätte wissen können und wissen müssen, wenn man es denn gewollt hätte, über das Verschwinden der Mitbürger, der jüdischen Menschen. Ich weiß nicht, wie weit der Vater im SS -Staat gelesen hatte, der Band lag ja zugänglich auf dem kleinen Tisch im Alkoven, denn seine Argumente fußten, anders als bei vielen seiner Generation, nicht darauf, das Massenmorden zu bezweifeln, so verblendet war er nicht, sondern es war der Versuch, das Geschehene als ein Nicht-zu-verhindern-Gewesenes zu deuten. Und schließlich hätten sie, die Anständigen, versucht, noch Schlimmeres zu verhindern. Aber was heißt anständig, wenn Heinrich Himmler in der Posener Rede zu seinen SS -Führern sagte, sie, die Hunderte oder Tausende hätten tot daliegen sehen und dabei anständig geblieben seien, das sei ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte. Die anständige Ausrottung von Menschen.

 

Und dann sah ich den Vater, der immer Haltung bewahrte, eines Tages am Heißluftkamin stehen, die Hände ringen und still weinen. Ich war erschrocken und peinlich berührt und hätte ihn doch einfach in die Arme nehmen sollen, vielleicht wäre danach ein anderes Reden möglich gewesen, so blieben wir im Streit, bis zu der Nacht, als er tot, von einem Herzschlag gefällt, am Boden des Geschäfts lag.

 

Das Buch Der SS -Staat habe ich Walther Kruse nach der Gesellenprüfung zurückgegeben. Er bat mich, meinen Namen hineinzuschreiben. Ich zögerte, aber er bestand darauf. Einfach deinen Namen.

 

Im dritten Lehrjahr wurde ich dem Gesellen Zoern zugeteilt. Anders als der immer noch zackige und wasserspuckende Leutnant zur See Breitkamp, der aufbrausende Jazzfanatiker Drechsler oder der ruhige, nachdenklich fragende Kruse gab Dieter Zoern sich betont exquisit, trug enge Cordhosen, dazu abwechselnd hellbraune oder dunkelblaue Lederschuhe mit weißen, alternativ schwarzen Kappen. Niemand wusste, woher er diese Schuhe bezog. Er verriet es nicht, wahrscheinlich befürchtete er, dass dann der eine oder andere Geselle, womöglich einer der Lehrlinge, mit ähnlichem Schuhwerk herumlaufen könnte. Die Brille, für deren Fassung eine der seltenen hellgelb-braun gemusterten Schildkröten der Karibik ihren Panzer hatte lassen müssen, schob er sich, arbeitete er nicht, ins rötlich blonde Haar, das schon ein wenig dünn war, aber dramatisch zerwühlt und hochgebürstet. Er trug keinen weißen Kittel, damit die schräg gestreiften lila oder grün-orangen Hemden zur Geltung kamen, Hemden, die er sich nach genauer Farbvorgabe schneidern ließ. Dieter Zoern sollte Jahrzehnte später, wie Jil Sander und Wolfgang Joop, als deutscher Modedesigner auch international bekannt und vor allem reich werden.

Erbringen Modedesigner kulturelle Leistungen? Schließlich sind sie es, die der Notdurft, sich vor Kälte, Regen oder Hitze zu schützen, dem Praktischen jene Linie geben, die schon in der Schnurkeramik über den Gebrauchswert des Wasserschöpfens hinausführte und das Spiel, das Zweckfreie, das Schöne in Erscheinung treten lässt. Die Mode erinnert zugleich an die Vertreibung aus dem Paradies, in dem die langweilige Unschuld der Nacktheit herrschte. Dem Zwang, sich kleiden zu müssen, aus klimatischen Gründen oder aus Scham, fügt die Mode ein zweckfrei Spielerisches hinzu. Sie ist in ihrer Raffinesse die späte Rache an der Vertreibung aus dem Garten Eden. Wegen seines Schutzes vor Kälte ist der Pelzmantel ein schlichter Gebrauchsgegenstand, erst wenn die verschiedenen Farbtöne, die Haarlängen geordnet, also stimmig gemacht, oder im Gegenteil gekontert werden, entsteht aus dem natürlich Gewachsenen ein Künstliches, ein noch nie Gesehenes.

 

Ich stand neben Zoern und arbeitete an einem Persianermantel, während Zoern die Rotfuchsfelle für einen weit fallenden Mantel einschnitt und über die blonde Designerin lästerte, die mit ihrem schleichenden Schritt hin und wieder in die Werkstatt kam, eine auffallend schöne Frau mit einer hell leuchtenden Pagenfrisur. Sie hatte in dem damals als fortgeschritten geltenden Alter von Mitte dreißig noch ein Kind bekommen, von dem Firmenbesitzer. Ein Skandal. Anhaltender Gesprächsstoff der Kürschnerinnung und vor allem der Angestellten in der Werkstatt. Wo war das Kind gezeugt worden? Breitkamp behauptete, in der Kammer, auf Fellsäcken, nach einer nächtlichen Arbeitssitzung mit Champagner und Häppchen. Eine schnelle saftige Nummer auf einer weißen Wolke, so Breitkamp, der glaubte, das Zeugungsdatum zurückrechnen zu können in die Zeit, als er eine Polarfuchsstola angefertigt hatte. Eine höchst kompliziert verschlungene Stola, in der die Felle zu verschiedenen geschweiften Bahnen hatten ausgelassen und wieder zusammengeführt werden müssen. Darüber hinaus hatte er, eine besondere Raffinesse, in den Pumpf, das dicht, fast filzig behaarte Hinterteil der Fuchsfelle, feine, schmale weiße Lederstreifen einnähen lassen, wodurch das Fell luftiger wurde und besonders locker fiel.

Auch in dem großen Raum der Näherinnen wurden der Ort und Anlass der Zeugung ausgeschmückt: eine gemeinsame Reise zur Pelzwarenmesse in Frankfurt. Die Rede war von Musik, Tanz, Rotwein. Von dem Moment an war sie unkündbar.

Wobei gesagt sein muss, sie war eine sehr gute Designerin, ihre Schnitte waren solide, genau und immer passgerecht.

Erich Levermann erhöhte sich selbst durch maßgefertigte Schuhe mit hohen Absätzen. Er hatte als einer der Ersten in Bad Harzburg eine Schulung für Führungskräfte der Wirtschaft durchlaufen. Drechsler berichtete, wie er bei dem Versuch, eine Lohnerhöhung zu erstreiten, von Levermann sofort in die Defensive gedrängt worden sei. Noch hatte er seine Forderung gar nicht ausgesprochen, da habe Levermann ihm einen Vortrag gehalten, wie schwierig die Situation gerade jetzt sei, die Material-, Miet- und Elektrizitätspreise seien gestiegen, zugleich habe der Neuverkauf nachgelassen, die Billigproduktion in den Kaufhäusern und so weiter und so weiter. Drechsler hatte sich nicht beirren lassen, hatte seine Forderung vorgetragen, verbunden mit dem Hinweis, er habe ein Angebot von einem namhaften Geschäft bekommen, was den Konkurrenten Edelpelz Berger insinuierte. Die Lohnerhöhung bekam er, allerdings nicht in der erhofften Höhe, dennoch war es Drechsler gelungen, die Bad Harzburger Vorwärtsverteidigung durch einen linken Flankenangriff zu durchbrechen.

Die Bad Harzburger Akademie war von dem ehemaligen SS -Oberführer und Träger des SS -Ehrendegens Reinhard Höhn 1956 gegründet worden. Das schon in der SS und der NSDAP regierende Führerprinzip war Grundlage der Schulungskurse, die später auch von Vertretern der Bundeswehr und sogar der Gewerkschaften besucht wurden. Man musste die gegnerischen Positionen kennen, um, wie Drechsler, Gegenangriffe führen zu können. Klare Anweisung, knappe Begründung. Beherrschung der Mimik. Kontrolle der Aufgaben durch genaue Vorgaben. In der Bundesrepublik wurden aus den Wirtschaftsführern Manager und aus den Untergebenen, den Arbeitern und Angestellten, Mitarbeiter. Franz Six, ein ehemaliger SS -Brigadeführer, der eine Einsatzgruppe befehligt hatte, auch er war in Bad Harzburg Schulungsleiter.

Man hatte dazugelernt. Kein dumpfes Auftreten, kein Brüllen, keine Kommandosprache, sondern in Bad Harzburg wurden psychologische Strategien gelehrt, Gespräche – das Wort Motivation. Routineentscheidungen wurden an die Mitarbeiter delegiert, deren Arbeit diskret beobachtet und kontrolliert, wichtige Entscheidungen wurden als betriebswichtig begründet und schließlich von oben entschieden. Mitarbeiter – aber kühle Distanz. Kein Duzen.

Wurde ich zu Levermann befohlen, was selten vorkam, führte mich die Sekretärin in das Büro, dort, hinter der leeren, spiegelnden Schreibtischplatte, saß er, vor dem hellen Fenster, der Kopf von einem Glorienschein umgeben. Sein Gesicht war kaum zu erkennen. Im Winter, am Abend, mit einem noch stärkeren Effekt, stand hinter ihm eine Lampe, wie bei einem Verhör. Nie wurde dem Lehrling ein Stuhl angeboten. Levermann kommentierte sachlich distanziert die Noten der Berufsschule, sagte, weiter so. Oder er sagte, das kann nicht einfach ein Strohfeuer bleiben, sondern erfordert konstante Arbeit. Die Arbeitszeiten müssen stimmen, gemeint war die Stückzahl, die für Lehrlinge gar nicht gelten durfte.

Da ich oftmals das Abstempeln vergaß – unser Träumer! –, häufte sich auf einem Arbeitsstück unverhältnismäßig viel Zeit, Zeit, die einem anderen, unbeteiligten Kürschner zugerechnet und vom Lohn abgezogen wurde. Meine sich wiederholenden Schreckträume: Ich hatte falsch abgestempelt oder es ganz vergessen. Die Zeit – ein Angsttraum.

Zeit ist Geld, sagte Levermann. Dann wurde ich mit einem Kopfnicken entlassen.

Einen Kopf kleiner, vermied ich, mit ihm im Fahrstuhl zu fahren. Es war mir peinlich, wie er sich streckte und reckte, die stets gebräunte – Höhensonne? – Stirn, das dünner werdende Haar auf dem Schädel, vor allem aber dieser Moschusdunst, den er mit seinem Herrenparfum verströmte. War die Designerin davon betört oder irritiert worden?

Kritisierte Levermann etwas an einem Modellentwurf, ließ die schöne Schleichende diesen allmächtigen, in Bad Harzburg zum Wirtschaftsführer geschulten Chef vor allen Werkstattaugen einfach stehen und ging in ihrem langsamen lasziven Schritt zurück in ihr Schnittmusteratelier.

Designerin, Himmel, sagte Zoern, wie sich das schon anhört, bisschen ville. Sie macht gute Schnittmuster, das schon, aber sonst bringt sie nichts Neues. Alles etwas sehr bieder. Und bieder war für Zoern nur durch spießig zu überbieten. Hier dieser Schnitt, sagte er, ist doch zu knapp, müsste flach fallen und erst unten, am Mantelsaum, den leichten Schwung nehmen. Die Abnäher zur Taille, die sind viel zu groß, müssten auch weiter runter. Und die Nähte müssen dem Körper folgen, nicht umgekehrt.

Die Modelle der Mäntel und Jacken sollten einfach sein, schlicht. Zoern hasste Schnörkel, predigte das Einfache, andererseits konnte man nicht sicher davor sein, dass er plötzlich einen gigantischen, an Elefantenohren erinnernden Kragen entwarf. Oder an eine schwarze, streng geschnittene Persianerjacke eine große, aus weißen und schwarzen Nerzpfoten gefertigte sternenartige Brosche applizieren wollte.

Sieht aus wie ’ne Zielscheibe. Unmöglich, sagte Levermann.

Zoerns Entwürfe wurden von Levermann und der Designerin regelmäßig abgelehnt.

 

Das Geheimnis ist das Unerwartete, das Neue, sagte Zoern, als er ein eigenes Pelzatelier eröffnete. War das eingenähte große »Z« auf den Rücken der geschorenen Goldzobelmäntel, das Stück à 150.000 Mark, eine zoernsche Eingebung? Giorgio Armani hatte den dick genähten Adler auf seinen Sweatshirts 1988 herausgebracht. Hatte Dieter Zoern sein Z-Signet von Armani abgekupfert? Oder hatte er es schon vor Armani entworfen?

In jener Zeit war Zoern auch international mit seinen Modenschauen unterwegs. 1985 gewann er für seine Kreationen den amerikanischen Spitzenpreis, den Golden Cup Blackglama. Außerdem wurden ihm zwei Saga-Goldmedaillen, zweimal Gold im Viking-Lamb-Wettbewerb und Gold beim Modellwettbewerb des Deutschen Kürschnerhandwerks verliehen. Sehr viel Gold in einem Jahr.

Drei Monate stand ich neben Zoern. Hatte ich eine Frage, gab er kurz Auskunft, ließ mich sonst meine Arbeit tun. Er hatte nicht den Mitteilungsdrang eines Breitkamp mit seinen bis in die anatomischen Details reichenden Beschreibungen nächtlicher Freuden.

Zoern fragte nichts, erzählte nichts, offenkundig war ich für ihn kein Gesprächspartner, kam hingegen die eine der beiden Kürschnerinnen, um mit ihm zu reden, wurde er munter. Unsere beiden Paradiesvögel, sagte Walther Kruse. Sie trug einen eng taillierten weißen Kittel, war grell geschminkt, eine übergroße blau eingeschattete Brille hing an einer Kette aus kleinen, bunt eingefärbten Korken von Baldrianfläschchen um ihren Hals. Die Werkstatt wusste von ihren Schlafproblemen. Mit einer unvergleichlichen Geste, den kleinen Finger nach oben gereckt, schob sie sich die Brille ins volle rötlich braune Haar. Dann standen sie nebeneinander, ein Gekicher und Gelächter, etwas kindlich Albernes war an den beiden, sie lästerten über die anderen, es störte sie nicht, dass ich, der Lehrling, danebenstand und Zeuge ihrer Sottisen wurde. Beide waren scharfe Beobachter von Eigenarten, Unregelmäßigkeiten und Abweichungen in Gesichtern und Körpern, in den Bewegungen der anderen, ein erbarmungsloser Blick für das Sonderliche, der sich auch auf die Kleidung richtete. Eine sprachliche Übung für die Arbeit, die ja körperlich Harmonisches hervorheben, Unregelmäßigkeiten und Defekte aber verdecken oder verspielen – so der Fachausdruck – sollte. Bestimmte Körperformen, Brüste und Gesäß konnten durch Abnäher hervorgehoben oder versteckt werden. Abfallende Schultern wurden durch Polster priesterlich angehoben, und ein Buckel konnte durch einen guten Zuschnitt abgemildert oder, je nach Größe, sogar verdeckt werden.

Alle im Haus bekamen von den beiden Lästerern Spitznamen wie Johnny-Look oder der SA -Kater. Das war Jäckel, der Werkmeister, der früher in SA -Uniform in die Werkstatt gekommen war. Der scharfe Zerstörer: Breitkamp. Die Gazelle – eine schwergewichtige Näherin. Die Bosheit der beiden hatte sicherlich auch für mich einen Spitznamen. Aus Furcht, verletzt zu werden, habe ich andere Lehrlinge nie danach gefragt. Jetzt wüsste ich ihn gern. Insbesondere über die zweite Kürschnerin, Annabell, die Freundin Drechslers, erregten sich die beiden, das war die Plantschkuh. Die Frau war auf eine mich sehr ansprechende Weise rundlich, der Busen, die Hüften, der Hintern, sie hatte einen freundlich warmen Blick und war hilfsbereit gegenüber den Lehrlingen. Mir unerklärlich, warum gerade sie den Spott der beiden auf sich zog. Wahrscheinlich, weil sie freundlich war, ihre Arbeit machte und keinen Ehrgeiz zeigte.

Einmal fragte ich Zoern, was ihn an der Frau störe.

Zum Einschlafen, sagte er. So was von normal. Die gesamte Evolution ist bei der zum Stillstand gekommen.

Aber ausgerechnet sie sollte der Mittelpunkt eines Falls von versuchtem Totschlag aus Eifersucht werden, so jedenfalls die Deutung Breitkamps. Das einzige spektakuläre Ereignis in den drei Jahren meiner Lehre. [70]Die meisten Dramen spielten sich in der Ferne ab, die Todesfälle, Krankheiten, Abtreibungen, Trennungen waren kleine Epen, die ihren Stoff vor allem aus dem Wochenende bezogen. Das war, was den Erzählfluss anging, ein Strömungsbeschleuniger für den Montag. Am Samstag hatten sich all die Wünsche, Sehnsüchte aufgestaut, richteten sich auf diesen freien Nachmittag, auf den Abend. Samstags wurde bis 13:30 Uhr gearbeitet. Am Samstagnachmittag begann die Freiheit. Der Horizont war offen, schier grenzenlos, ausschlafen, am Sonntag aber wartete schon der Montag. Der Samstag war der Tag der Wünsche, der Sonntag der Tag der Enttäuschungen. Am Samstag war in dem großen Raum der Handnäherinnen, die sonst eher leise ihrer Arbeit nachgingen, ein Gerede, Rufen, Lachen, begleitet von den langsamen, gezielten Bewegungen des Nähens.

Am Samstag drängten sich die Näherinnen im Vorraum der Toilette, schminkten sich, richteten die Frisuren, prüften den Sitz der Nylonstrümpfe. Am Montag grau die Gesichter, grau die Herzen. Schon samstagnachts der Familienkrach, die Tochter war spät nach Hause gekommen. Das Essen angebrannt. Der Mann war erst im Morgengrauen und wieder betrunken aufgetaucht, hatte nicht die Säuferregel eingehalten, einen Schnaps, ein Bier. Stattdessen immer Lütt-un-Lütt. Zum zweiten Mal Vom Winde verweht gesehen. Clark Gable oder Leslie Howard. Nie diesen Howard. Könntest mir den auf den Bauch binden. Und wieder das Klosett verstopft. Erst kotzt das Mädchen, dann der Junge. Die Tage, jetzt schon zehn Tage drüber. Wenn? Nicht auszudenken. Der Opel wieder stehen geblieben. Rätselhaft. Kühlte der Motor ab, sprang er wieder an, fuhr eine Zeit lang, blieb stehen. Bockig wie ein Esel. Politik, davon hatten die Älteren die Nase voll. Das hatte man ja nun erlebt. Erst ganz groß und dann alles in Trümmern. Alltagsbanalitäten, hin und wieder weitererzählte, drangen bis in die Kürschnerwerkstatt, der Mann, der auf seiner BMW  – einer der dämlichen Sprüche: BMW fährt nie im Schnee – verunglückt war. Der Opa, der wieder einmal verschwunden war, drei Tage lang gesucht und dann in Elmshorn aufgegriffen wurde, in einer neuen Hose und frisch gewaschenem Hemd, und niemand wusste, wie und von wem er das bekommen hatte, wer ihn gefüttert, wer ihn beherbergt hatte und von wo er wieder weggelaufen war. Mutmaßungen. Geschichten. Vor allem nach dem Urlaub. Drei Wochen mit dem Zelt nach Italien, im VW -Käfer. Eine Näherin, der Mann Automechaniker, die hatten Mut, waren mit dem Käfer bis nach Sorrent gefahren. Sonnenuntergänge, unglaublich. Und die Pizza, die sah so ganz anders aus als beim Itaker auf der Reeperbahn. Gab ja nur einen in Hamburg. So dick war die Pizza. Und der Wein billig. Waren auch beklaut worden. Und jeden Abend ganz schön angeschickert ins Bett gesunken. Kam auch schwanger zurück. Gespräche über Schwangerschaften, komplizierte und abgebrochene. Das Erzählen befreite, man wurde wenigstens darin Herr des Zufalls und ein wenig Siegerin über all die anderen Niederlagen.

Und dann die Geschichte jener Kürschnerin, die Zoerns Spott auf sich zog, die als Kontrast zu ihrer unauffälligen Erscheinung, rundlich, freundlich, still, einen geheimnisvoll fremden Vornamen bekommen hatte, Annabell. Zoern fielen immer wieder neue Reime ein – und es ist ein Name, der zum Reim regelrecht drängt: Annabell, sehr reell, man schläft schnell.

Und plötzlich das – eines Morgens kam sie und ging ungewohnt schnell, beschwingt klang ihr Schritt, sie trug nicht wie sonst Latschen, sondern Schuhe mit hohen Absätzen, und zwei Tage später war das mittelblonde Haar zu einem Helm hochtoupiert, die Augen wie ein Kohlentrimmer geschminkt, sie lachte oft, redete munter, summte, sang sogar bei der Arbeit.

Vom wilden Schwan gebissen, sagte Zoern. Aber wann und wo und vor allem, wer hatte sie gebissen?

Samstags mussten die Lehrlinge nach Arbeitsschluss noch die Werkstatt fegen und feudeln, die Klosetts putzen.

Dann, endlich, um 13:30, war Feierabend. Was für ein schönes Wort, dachte ich. Ja, man konnte feiern – konnte lesen.

An einem Samstag kam Annabell in einem schwingenden Petticoat in die Werkstatt. Der erste in der Werkstatt getragene Petticoat.

Zugegeben, die Beine sind nicht schlecht, sagte Zoern, aber so, in diesem wippenden Rock, die ist doch längst kein Teenie mehr.

Annabell war vor einigen Wochen von dem Fölsch-Block zurück in die große Werkstatt gewechselt, hatte ihren alten Platz eingenommen. Inzwischen war ein neuer Geselle eingestellt worden, neben dem sie jetzt stand, kräftig von Gestalt, voll gelocktes braunes Haar, eine rheinische Fröhlichkeit, kein aufbrausender Intellektueller wie ihr Freund Drechsler, der seine Wut auf die Tischplatte trommelte, sondern ein Mann, der wanderte, der lachte, der im Kürschner-Chor sang, Hoch auf dem gelben Wagen / sitz ich beim Schwager vorn. Und tatsächlich sang er manchmal, ein samtener Bariton, der die Werkstatt leuchten ließ.

Oh Gott, sagte Zoern und hielt sich dramatisch die Ohren zu, dumm sein und Arbeit haben, zitierte er Gottfried Benn, das ist das Glück, mit dem Blick auf die Frohnatur, und dann heißt er auch noch Herbert.

Die Gottfried-Benn-Gedichte waren das Einzige, was mich mit Zoern verband. Zum ersten Mal blickte er mich mit seinen verwaschenen blaugrauen Augen erstaunt an, als ich den Titel des Gedichts nannte, aus dem er zitiert hatte: Eure Etüden.

Wenn Zoern Gedichtzeilen zitierte, waren es Kommentare und nicht Ausdruck seiner Stimmung. Nie kam es zu einem Gespräch über eines der Gedichte. Den Siebzehnjährigen störte, dass Zoern die Verse wie Einwickelpapier für seine Meinungen benutzte.

 

Ich weiß nicht, wer mir Benn empfohlen haben könnte. Das schmale Feuilleton des Hamburger Abendblatts las ich nicht. Wahrscheinlich war es ein Zufallsfund bei Lüders. Gesammelte Gedichte, 1956 bei Limes/Verlag Arche erschienen. Vielleicht lag der Band einfach da und wartete darauf, dass ich hineinblätterte. Er wollte mitgenommen werden. Die Benn-Gedichte trafen meine Stimmung, meine Unsicherheit, meine Zweifel, und schufen Distanz zu den eigenen so bedrängend konfusen Gefühlen.

TEILS -TEILS

In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs

wurde auch kein Chopin gespielt

ganz amusisches Gedankenleben

mein Vater war einmal im Theater gewesen

Anfang des Jahrhunderts

Wildenbruchs »Haubenlerche«

davon zehrten wir

das war alles.

Nun längst zu Ende

graue Herzen, graue Haare

der Garten in polnischem Besitz

die Gräber teils-teils

aber alle slawisch,

Oder-Neiße-Linie

für Sarginhalte ohne Belang

die Kinder denken an sie

die Gatten auch noch eine Weile

teils-teils

bis sie weitermüssen

Sela, Psalmenende.

Heute noch in einer Großstadtnacht

Caféterrasse

Sommersterne,

vom Nebentisch

Hotelqualitäten in Frankfurt

Vergleiche,

die Damen unbefriedigt

wenn ihre Sehnsucht Gewicht hätte

wöge jede drei Zentner.

Aber ein Fluidum! Heiße Nacht

à la Reiseprospekt und

die Ladies treten aus ihren Bildern:

unwahrscheinliche Beauties

langbeinig, hoher Wasserfall

über ihre Hingabe kann man sich gar nicht erlauben

nachzudenken.

Ehepaare fallen demgegenüber ab,

kommen nicht an, Bälle gehn ins Netz,

er raucht, sie dreht ihre Ringe,

überhaupt nachdenkenswert

Verhältnis von Ehe und Mannesschaffen

Lähmung oder Hochtrieb.

Fragen, Fragen! Erinnerungen in einer Sommernacht

hingeblinzelt, hingestrichen,

in meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs

nun alles abgesunken

teils-teils das Ganze

Sela, Psalmenende.

Ein Gedicht, das mich in seinen Bildern, in seinem melodisch-erzählerischen Ton damals berückt hat und mich immer noch gefangen hält. Eine Biografie in Gedichtform, rhythmisiert und in gebrochenen Zeilen, die eine lapidare, sprachliche Präsenz entfalten – die Herkunft und Familie des Dichters ist unspektakulär eingelagert in die politische Geschichte – Oder-Neiße-Linie. Allein dieses Für Sarginhalte ohne Belang, geschrieben von Benn Mitte Juni 1954, mit diesem biblischen Schluss: Sela, Psalmenende. Der Zuruf: Sela!, der das Schlusszeichen einer Strophe beim Spiel des Psalteriums ist.

Die Brüche, die Schnodderigkeiten neben den lyrischen Bildern relativieren den hohen Ton, und meine emotionale Erinnerung wehrt sich gegen den heute kritischen Blick auf diese männerbündlerische Sprache vom hohen Wasserfall, will sich auch nicht irritieren lassen von der trüben Altmännersicht auf Frauen, über ihre Hingabe kann man sich gar nicht erlauben/ nachzudenken. Die poetische, in den Bildern der ersten beiden Strophen liegende Kraft überdeckt den lässig ausgestellten Zynismus des Kommentators. Darin liegt das Geheimnis der Gedichte Gottfried Benns, dass sie zugleich so betörend anziehend wie abstoßend sein können, von einer zur anderen Strophe, wie etwa in dem Gedicht D-Zug:

Eine Frau ist etwas für eine Nacht.

Und wenn es schön war, noch für die nächste!

Oh! Und dann wieder dies Bei-sich-selbst-sein!

Diese Stummheiten! Dies Getriebenwerden!

Aber dann steht in der nächsten Strophe dieser Hymnus:

Eine Frau ist etwas mit Geruch.

Unsägliches! Stirb hin! Resede.

Darin ist Süden, Hirt und Meer.

An jedem Abhang lehnt ein Glück.

Dieses eine ungewöhnliche, dreisilbig tonal gedehnte Wort Resede, eine duftende, rosafarbene, beiläufig an Wegesrändern stehende Pflanze, mit ihrer schmerzstillenden, beruhigenden Wirkung, ist so genau gesetzt und hebt damit all das im Gedicht Grobschlächtige auf. Diese wunderschöne Zeile: An jedem Abhang lehnt ein Glück.

Darüber war nur das Selbstgespräch im Alkoven möglich. Verschwiegenheit.

 

Damals fehlte noch das erst später hinzugekommene Wissen von dem politischen Sündenfall des Bewunderten, der sich für knapp zwei Jahre mit Hitler und der Bewegung gemeingemacht hatte und verächtlich über die Emigranten hergefallen war – dieser unsäglich dumm-arrogante Brief an Klaus Mann.

Später kamen die langen, kontroversen Diskussionen in den linken Zirkeln, wo er wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus rundweg abgelehnt wurde. Seine Gedichte zu verteidigen, schärfte den Blick auf die Sprache und die Frage, inwieweit man die Kunst vom Künstler und seinem Leben, seiner Moral, seiner politischen und religiösen Überzeugung trennen kann. Es ist diese für mich am Beispiel Gottfried Benns gewonnene Einsicht, dass literarische Werke, Lyrik wie Prosa, ihre eigene Logik und Intentionalität entfalten und sich damit auch gegen die Intention des Autors behaupten und ihre Schönheit schadlos bewahren können.

 

Eine ganz eigentümlich faszinierende Wirkung hat der kleine, dickliche, glatzköpfige, gamaschentragende Dichter auf Frauen ausgeübt. War es seine illusionslose Sicht, sein Zynismus, seine überraschende Bildhaftigkeit auch im Gespräch, die eher monoton gleichgültige Stimme, der verhangene Blick? Bei einer Mensur war ihm der Lidnerv des linken Auges durchtrennt worden. Ein durch so viele Formen gegangenes Leben?

Die letzte seiner zahlreichen Geliebten, die fünfunddreißig Jahre jüngere Ursula Ziebarth, legte sich am Abend vor der Beerdigung Gottfried Benns in das ausgehobene Grab und verbrachte darin die Nacht. Sie hatte es für ihn warm gelegen.

 

Das Grab Benns habe ich Jahre später vergeblich auf dem Dahlemer Dorffriedhof gesucht, dann recherchiert, dass es auf dem Dahlemer Waldfriedhof liegt.

Berlin, ein Morgen im Januar, neblig, Raureif auf Wiesen und Wegen und den immergrünen Büschen. Ein heller Stein, rechteckig, mit der Aufschrift: Gottfried Benn 2.5.1886–7.7.1956. Darunter: Ilse Benn geb. Kaul 14.7.1913–18.3.1995. Auf dem Grabstein lagen eine von Raureif bedeckte vertrocknete Rose und eine tote Maus.

Hatte ein Raubvogel sie dort abgelegt? Ein Besucher oder eine Besucherin?

Gottfried Benn, glaube ich, hätte dieses Arrangement gefallen.

 

Jahre später, im Braunschweig-Kolleg, haben wir, Benno Ohnesorg und ich, eine kleine literarische Zeitschrift gegründet, die nicht über die erste Nummer hinausgekommen ist. Wie sollte sie heißen? Wir einigten uns nach einer langen Diskussion auf Teils-Teils, auch wenn Ohnesorgs Vorschlag Sprachgitter literarisch aktueller gewesen wäre.

 

Der Raum im Fölsch-Block war gekündigt worden. Vielleicht war die Kündigung dieser Werkstatt das erste Anzeichen, dass im Jahr 1957 das Geschäft mit Pelzen nicht mehr so gut ging, nicht mehr brummte, wie es hieß. Annabell war gleich in die Hauptwerkstatt versetzt worden, Drechsler sollte noch zwei Monate, bis zum Ende der Miete, in diesen gemütlich sonnigen Räumen bleiben, und mit ihm die Maschinennäherin aus dem Banat.

Was in dieser kleinen ausgelagerten Werkstatt dann geschah, darüber gab es Gerüchte, es gab das Sortierzimmer mit den weichen Fellstücksäcken, die so gut nach Sägespänen rochen. Aber vielleicht arbeiteten die beiden schweigend, hin und wieder von Drechslers Summen und Brummen einer Jazzmelodie unterbrochen. In der Pause unterhielten sie sich, die Thermosflasche auf dem Tisch, die Butterbrote in der Blechdose. Und das einzig Erregende war wohl, wenn Drechsler wieder einmal eine Jazzsequenz kräftig auf den Arbeitstisch trommelte.

Annabell stand jetzt an dem langen Werktisch neben diesem Herbert, und plötzlich sang auch sie. Eine angenehm sanfte Stimme, ein Mezzosopran.

Zusammengestellt und an die Wand gelehnt standen die Zweckplatten, massive Holzplatten, vier Zentimeter dick, mit einer Fläche von drei mal vier Metern. Die Breite war für die damals taillierten, zum Saum hin ausschwingenden Mäntel erforderlich. Aneinander und gegen die Wand gestellt, bildeten sie eine massive, meterdicke Holzwucht. Die Platten konnten nur von zwei Männern auf die Böcke gehoben werden. Darauf wurden die nach dem aufgezeichneten Schnittmuster aneinandergenähten Fellteile mit Wasser eingestrichen, glatt gezogen und mit dem Fell nach unten aufgezweckt. Über Nacht trockneten die Lederflächen, glatt und fest, der Rand mit den Löchern der Zwecknägel wurde sauber abgeschnitten, abgeglichen, wie es heißt, morgens kamen die Teile in den Raum der Näherinnen.

Der muntere Sänger wollte am Abend den Wallabymantel, an dem er eine Woche herumgebastelt hatte, aufzwecken. Kurz vor Arbeitsschluss bat er Breitkamp, ob er das für ihn tun könne, da er an eben diesem Abend überraschend für einen Auftritt des Kürschner-Chors angefordert worden sei. In seiner Marinetradition zur Kameradschaft verpflichtet, willigte Breitkamp ein. Vielleicht zog ihn an dem Abend auch nichts in sein Reihenhaus. Breitkamp stand an dieser großen Holzplatte, die er noch mit Herbert auf die Böcke gewuchtet hatte, stand, den Stapel Holzplatten im Rücken, und zweckte. Genoss er die Stille, wie ich sie genießen konnte, wenn eine Arbeit weit in den Abend hineinreichte? Die Stille im Haus. Dieser Kontrast zu dem umtriebigen Wirken am Tag. Jetzt war allein das ferne Anfahren des Fahrstuhls zu hören. Der allmählich nachlassende Lärm der Stadt, die Schiffssirenen, noch waren bis in die Nacht hinein die Presslufthämmer von der Stülcken-Werft zu hören. Breitkamp hatte sich einen Augenblick, so erzählte er später, um sich zu entspannen, an die Holzplatten gelehnt, als er plötzlich einen Druck spürte, als legte sich eine mächtige Hand schwer auf seinen Rücken. Der langsam wachsende, massige Druck der sich auf ihn neigenden Holzplatten. Sein Versuch, sie mit aller Kraft wieder in ihre alte Stellung zurückzustemmen, misslang. Vielmehr nahm der Druck stetig zu. Nach vorn konnte Breitkamp nicht springen, dort lag die massive Holzplatte mit dem aufgezweckten Mantel auf den Böcken. Er wäre nicht nur von der Wucht der Holzplatten erschlagen, sondern auch von den zahlreichen, wenn auch kleinen Stahlnägeln perforiert worden. Auch zur Seite konnte er nicht entweichen, links die Wand, und rechts war ein großer Weidenkorb mit Fellen abgestellt. So stand er eine gute Stunde, spürte, wie ein Zittern seine Beine ergriff, wie sich Hals und Schultern verkrampften, wie auch die Arme, mit denen er sich auf die vor ihm liegende Platte aufstützte, zu zittern begannen. Unmöglich, diesem Druck eine Nacht lang standzuhalten. Ein Zittern, das mehr und mehr den ganzen Körper erfasste. Was ihm zunächst noch peinlich gewesen war, brüllte er jetzt heraus, erst ein Hallo, Hallo, dann Hilfe! Zunächst noch leise, dann laut, schließlich schrie er. Durch das Schreien, dieses stoßweise heftige Ausatmen, wurde der Oberkörper noch weiter nach vorn und unten gedrückt, was abermals den Druck der Holzplatten erhöhte.

Er hatte Glück. Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte er lebensrettendes Glück. Der Hausmeister, der seine letzte Runde durch das Gebäude machte, hörte ein Keuchen, Ächzen, schließlich das Rufen, dann das Schreien, schloss die Tür zur Werkstatt auf, kam herein, und gemeinsam stemmten sie die Platten wieder gegen die Wand.

Breitkamp konnte nicht mehr gehen. Ein Dauerkrampf versagte ihm jeden Schritt. Weich gebettet, aber zuckend lag er auf einem Fellbündel. So lag er bis in den Morgen, als die ersten Näherinnen kamen, die Lehrlinge, die Kürschner, der Werkmeister.

Später witzelte er, dass es doch etwas komisch gewesen wäre, einen Schiffsuntergang zu überleben, um dann von Holzplatten erschlagen zu werden.

Breitkamp fuhr im Taxi nach Hause und bekam für den nächsten Tag frei.

Keine Polizei! Das fehle noch, Pelze Levermann in der Boulevardpresse. Versuchter Holzplattenmord oder so ähnlich. Die Kundschaft von Edelpelz Berger hätte die Nachricht womöglich goutiert, nicht aber die von Erich Levermann. Welche Reedersgattin will einen Pelzmantel an der Operngarderobe abgeben – das Etikett von Levermann war gut sichtbar und groß im Innenfutter eingenäht –, um sich fragen zu lassen, ob der Kürschner die Anfertigung des Mantels überlebt habe.

Nein, das war ein dummer Zufall, eine dieser Merkwürdigkeiten im Leben.

Aber natürlich wurde in der Firma geredet, wurden Mutmaßungen über einen Täter und ein Tatmotiv angestellt. Denn das konnte sich doch nur gegen diesen Herbert, den singenden Kürschner, gerichtet haben, die rheinische Frohnatur, der an dem Abend eigentlich den Mantel aufzwecken wollte. Wer hatte mühsam die massiven Platten derart sorgfältig zusammengestellt, dass sie kurz vor dem Kippen zu stehen kamen? Drechsler? Hatte sich doch schon vorher von Annabell getrennt. Ach ja? Wann? Drechsler, nee, hat schon ’ne Neue. Unachtsame Lehrlinge? Ein Dummejungenstreich?

Zoern war überzeugt, die rheinische Frohnatur hatte zum Schweigen gebracht werden sollen, nicht von Drechsler, nicht von einem Lehrling, sondern von einem Gegner des deutschen Volkslieds. Oder hatte jemand es auf Breitkamp abgesehen? Aber warum? Mutmaßungen. Verdächtigungen. Gesprächsstoff für Wochen.

Höchst sonderbar war, dass Breitkamp danach nicht mehr das gutturale, imaginäres Wasser ausspuckende Geräusch machte. Wir haben nie darüber geredet, aber diese die Platten auf dem Rücken wegstemmende Haltung und die Panik, erschlagen zu werden, hatten ihn von dem Tick befreit.

 

Im dritten Lehrjahr war ich nach Dieter Zoern Johnny-Look zugeteilt worden. Den Namen hatte ihm Zoern gegeben und damit etwas von diesem jungen Mann erfasst, nicht nur weil er tatsächlich in die Wolken guckte wie Johnny-Look-in-the-Air, sondern weil er ein Staunender war. Er kam, freundlich, ohne Allüren, der Ruf, im Sinne des Wortes ein ausgezeichneter Kürschner zu sein, eilte ihm voraus. Tatsächlich arbeitete er mit großer Genauigkeit, geradezu skrupulös, zeichnete die Entwürfe der Mäntel mit einer Ausziehfeder und schwarzer Tusche, als ginge es darum, Kathedralen zu bauen. Er wäre wohl, trotz seiner freundlichen Zugewandtheit, als Sonderling dem Spott in der Werkstatt ausgesetzt gewesen, wenn nicht sein Können, seine Perfektion sowie die scheinbar mühelose Bewältigung der Stückzeiten ihm größte berufliche Anerkennung gebracht hätten. Fachlich musste ich nichts Neues dazulernen, mich nur perfektionieren. Überraschend aber waren für mich die so nie zuvor geführten Gespräche während der Arbeit. Er sagte, die Aufmerksamkeit und Exaktheit beim Arbeiten seien eine Verantwortung, die wir, die Kürschner, hätten, eine Verantwortung gegenüber den Tieren, die sie uns mit ihrem Tod übertrugen, die Verpflichtung, ihr gelebtes Leben in Schönheit zu verwandeln. Das war ein merkwürdiger Satz und eine ganz ungewöhnliche Sicht auf unsere Arbeit, die so sehr von dem wegführte, was sie sonst war, ein Material in Stückzeit zu verarbeiten und wie die meisten Kürschner im Zweifelsfall zu sagen: Das passt schon. Ich hatte mir bis dahin äußerste Mühe gegeben, genau zu arbeiten, hatte das aber nie mit dem Gedanken an eine Verpflichtung gegenüber dem früheren Lebewesen verbunden, das um seines Pelzes willen zu Tode gekommen war. Das Fell war die Haut des Lebens.

Dieser Johnny-Look war ein Grübler. Ein Fragender, ein Staunender, ein Wolkengucker. Die Werkstatt gab den Blick in den Himmel frei. Wir, er und ich, machten uns gegenseitig auf die sich beständig verändernden Farben und Formen aufmerksam. Allein diese Worte: Federwolken, Quellwolken, Schäfchenwolken, Schleierwolken, die, wie ich fand, bei Weitem nicht die vielfältigen Formen erfassten. Er las, ich las, und wir tauschten uns über die Lektüre aus. Wir lasen in einer antiquarischen Ausgabe Arthur Schopenhauers Über die Freiheit des menschlichen Willens. Über die Grundlage der Moral. Johnny-Look wohnte an der Rothenbaumchaussee zur Untermiete in einem dunklen Zimmer, dessen Fenster auf eine schmale Durchfahrt hinausging. Das gegenüberliegende Haus war höchstens sieben Meter entfernt, und fast auf der gleichen Ebene lag dort ein Fenster, hinter dem eine junge Frau wohnte, wahrscheinlich wie Johnny-Look zur Untermiete. Die Zimmer waren, auch bei hellem Tag, derart dunkel, dass man Licht brennen lassen musste. So sahen wir die junge Frau hinter einem Vorhang im Zimmer hin und her gehen und manchmal am Fenster sitzen, wohl in einer Zeitschrift oder einem Buch lesend. Diesmal nähte sie an dem Bund eines Rocks. Ein so ruhiges Tun. Sie biss, wie als Zuwendung zum Rock, den Faden ab, zog den Bund straff, betrachtete ihn. Hatte sie ihn verkleinert oder erweitert? Dieses eine Mal konnten wir sie deutlich sehen. Hatte sie absichtlich den hellgrauen Vorhang aufgezogen, der gewöhnlich auch tagsüber geschlossen blieb und nur ihren schattenhaften Umriss zeigte? Wir saßen und redeten über den freien Willen, als es dunkel geworden war, sie den Vorhang wieder zuzog, und warteten, ohne es anzusprechen, auf die Bewegungen hinter dem Vorhang. Darüber, wie Schopenhauer den freien Willen versteht und dass man Schopenhauer wohl nur in einem jugendlichen Alter lesen kann, als eine theoretische Absicherung der eigenen ängstlich-neugierigen Unsicherheit, als wirkendes Wollen, da der Wille angeboren ist als Charakter. Ist jede Entscheidung arbiträr? Wir warteten darauf, dass der Schatten gegenüber aus dem Kleid oder dem Rock stieg, den Unterrock fallen ließ, den Büstenhalter öffnete und aus dem Blickfeld verschwand, nach einiger Zeit wieder erschien, dann schließlich nach rechts, wo vermutlich das Bett stand, verschwand. Wir redeten weiter über den freien unfreien Willen. Bis drüben das Licht gelöscht wurde. Die Zeit, zu der wir uns verabredeten, war, ohne dass wir darüber je sprachen, ebendie, in der die junge Frau zu Bett ging. Nie wurde dieses wie für uns inszenierte Schattentheater kommentiert. Allenfalls ein: Heute wird sie müde sein, wenn das Licht gegen zehn Uhr gelöscht wurde. Etwas Keusches war an diesem Johnny-Look, nur einmal haben wir erörtert, ob sie wisse, dass wir sie beobachteten. Wir glaubten oder wollten glauben, sie wisse es nicht.

Einmal habe ich sie auf der Straße getroffen, es war ein Schock, sie war als Schatten so vertraut, und plötzlich stand sie in ihrer Leiblichkeit da, eine junge Frau, das volle kupferrote Haar hochgesteckt, ein kurzes Lächeln, und noch bevor ich etwas sagen konnte, war sie im Eingang des Nachbarhauses verschwunden.

 

Auch darin glichen Johnny-Look und ich uns, wir verbargen unsere Lesesucht vor den anderen, mit denen wir tagsüber an den Arbeitstischen standen. Allerdings habe ich zunächst auch vor ihm etwas verborgen – dass ich nicht nur las, sondern auch schrieb.

Einmal, im ersten Lehrjahr, ich war fünfzehn und schrieb Tagebuch und kleine Geschichten, hatte ich auf die Frage, was ich denn später einmal werden wolle, spontan gesagt, ich wolle schreiben, würde gern Schriftsteller werden – damit war ich für Wochen zum Gespött der Lehrlinge geworden. Erst im Braunschweig-Kolleg traf ich jemanden, der auch schrieb, Benno Ohnesorg. Ein gegenseitiges Offenbaren, was ihm, da er schon kleine Texte veröffentlicht hatte, leichter fiel als mir, der sein Schreiben bis dahin für sich behalten hatte. Vielleicht hätte ich es Johnny-Look erzählen sollen. Sicherlich hätte er dann etwas lesen wollen, aber da war durchaus schon das rätselhaft genaue Wissen, dass das, was ich schrieb, noch nicht gut genug war, um es herzuzeigen.

 

Johnny-Look trug Schwarz. Einen schwarzen Anzug, weiße Hemden, zuweilen einen grobmaschigen, wie gehäkelten, sehr schmalen schwarzen Schlips. Hochgewachsen war er und hielt sich sehr aufrecht, das dichte mittelblonde Haar schlug eine eigensinnige Welle, und in den ein wenig hervortretenden blauen Augen lag ein beständiges kindliches Staunen über die alltäglichen Dinge. Er betrachtete ein Markier-Rädchen und sagte, wie sinnvoll doch die Krümmung sei, die von oben den Blick erlaube, der handlich gerundete Holzgriff, dieses kleine Messingrad, mit dessen Spitzen die Form der Schnittmuster auf die Mantelteile übertragen wurde. Er feierte den wunderbaren Flug der Möwen, die so ruckartig hart abknickten und hinunterstießen, und dieses Wunder der Haare, diese unendlich feinen, sich bei einem leisen Hauch sacht wie Quecksilber bewegenden Haare der Chinchillafelle, die erstaunlichen feinst nuancierten Grautöne der Naturpersianerfelle, die in der Natur nie ihre Schönheit zeigen konnten, staubig, verfilzt, wie sie waren, die Felle der Füchse, jene der Biber oder Persianer waren sich jeweils ähnlich, aber nie ganz gleich, eine unendliche Variation beim genauen Hinsehen, wie das Allgemeine sich da im Einzelnen brach, wie die zarte Maserung der Holzplatten, die von Wuchs und Zeit erzählte. Er sah die alltäglichen Dinge, wie sie das Lied des Lammes rühmt: Groß und wunderbar sind Deine Werke.

Von den Näherinnen und Kürschnern wurde seine Gutgläubigkeit hin und wieder mit seltsamen Geschichten auf die Probe gestellt, nicht gerade mit einem eben am Fenster vorbeifliegenden Esel, mit dessen Erscheinung Thomas von Aquin von seinen Confratres geneckt wurde, aber doch mit Erzählungen wie der von der Sprengung des U-Boot-Bunkers im Hamburger Hafen – Tausende Möwen seien tot vom Himmel gefallen. Oder wie man Fußpilz sofort heilen könne, man müsse nur die Füße in einer Schüssel mit dem eigenen Urin baden. Mondsüchtige träfen sich bei Vollmond an der Alster, an der Schwanenwik, wo sie sich mitternachts einer Therapie gegen Somnambulismus zu unterziehen hätten. Hunderte stünden dort mit den Füßen im Wasser, den Blick auf den Mond gerichtet.

Johnny-Look war beim nächsten Vollmond hingegangen. Niemand hatte dort im Wasser gestanden.

Zoern tröstete ihn: Bei dem Wetter haben die einfach zu schnell kalte Füße bekommen. Gehen Sie beim nächsten Vollmond früher hin.

Er blickte Menschen mit seinen staunenden, ein wenig herausdrängenden Augen an und konnte dann so etwas sagen wie: Geht das wirklich? Tatsächlich? Kann das sein? Aber wie?

 

Wie andere mir nahe Menschen ist Johnny-Look eines Tages aus meinem Leben verschwunden. Ich ging nach Braunschweig, um mich an dem dortigen Kolleg auf das Abitur vorzubereiten, und fuhr in den zwei Jahren aus einem zwingenden Grund – ich wollte ein anderer werden – nicht zurück nach Hamburg. Ich wollte alle Beziehungen abbrechen, eine Schneise schlagen zwischen dem bisherigen auf Verdienst ausgerichteten, zerstreut geselligen Leben und dem anderen, gewünschten, dem Leben des genauen Wahrnehmens, des Studiums und der Aufmerksamkeit, die, wie Nicolas Malebranche sagt, das natürliche Gebet der Seele sei, um in Wahrheit mit ihr zu leben.

 

Als ich nach zwei Jahren aus Braunschweig nach Hamburg zurückkam, hieß es, Johnny-Look sei nach Berlin gezogen. Niemand kannte seine Adresse, Briefe an die alte kamen als unzustellbar zurück. Ich hoffte, er würde sich irgendwann einmal melden, hörte jedoch nie wieder von ihm, wie übrigens auch nicht von all den anderen Kollegen, den Gesellen, den Näherinnen, Lehrlingen, die mich mehr als drei Jahre begleitet hatten. Allerdings habe ich mich auch nicht bemüht, sie zu sehen oder von ihnen zu hören. Hin und wieder denke ich an die eine und den anderen, hin und wieder träume ich von dem einen oder der anderen.

 

Allein von Dieter Zoern las ich später in Zeitungen und Zeitschriften, sah ihn im Fernsehen und konnte ihn einmal in seinem Geschäft an der ABC -Straße unbemerkt beobachten. Johnny-Look hingegen begleitet mich beim Lesen und begegnet mir hin und wieder im Traum. Einmal, erst jüngst, habe ich ihm, der eine Art Jockey-Kappe trug, beim Mähen eines Tulpenfelds helfen müssen. Das Gerät, ein überdimensionierter auf hohen Rädern fahrender Mähdrescher, häckselte die Blütenblätter. Mit bloßen Händen versuchte ich sie aufzufangen. Da reichte er mir vom hohen Fahrersitz herab seine Kappe. Er sang, und auf meine Frage, was er da oben singe, antwortete er, das sei das Falsett der Krähen.

 

Das Fest war im Hamburger Abendblatt angekündigt worden. Johnny-Look hatte mich angerufen und gefragt, ob ich mitkommen wolle. Pinneberg. Tanz und munteres Treiben. Samstagnachmittag. Ein warmer Tag im September, wir fuhren mit dem Zug nach Pinneberg. Der Rosengarten. Kein Jazz, eine Kapelle spielte Heinzelmännchens Wachtparade, später Foxtrott. Tanz. Die Herren im Anzug, Krawatte, polierte Schuhe. Die Frauen in Waden umspielenden Kleidern. Darf ich bitten. Wie in der Tanzstunde am Winterhuder Markt gelernt. Nach Ermessen auch: Gestatten Sie. Die Herren fordern mit einer Verbeugung auf, und wenn die Eltern am Tisch sitzen, werden auch die mit einer leichten Verbeugung bedacht, wenn Sie gestatten. Beim Tanz hatten wir in der kleinen Provinzstadt den Vorteil, Fremde zu sein und aus dem verrufenen Hamburg zu kommen. Man konnte fragen. Gespräche waren leicht zu führen. Sind die wirklich so bestimmend für die Stadt, die Haferflocken? Nein, das ist Elmshorn. Die Schulen?

Wir saßen unter einer Pergola. Später kamen zwei Mädchen an unseren Tisch. Die eine fragte, mir stockte das Herz vor diesem Glanz, dem Lachen, der Bewegung, den zusammengebundenen hellbraunen, leicht ins Rötliche spielenden Haaren, ob die beiden Stühle frei seien. Dunkelblaue Augen. Ein hellblau-weiß gestreiftes Kleid, mit Puffärmeln. So genau dieses erste, bleibende Bild ist, so matt das der Freundin, vielleicht in einem Glockenrock, wie sie damals getragen wurden, vielleicht eine Bluse, eine Pagenfrisur, braunes Haar.

Diese soziale Differenz, damals noch ausgeprägter, zwei Schülerinnen aus dem Gymnasium und zwei Kürschner, wobei der eine, ich, wenn auch im letzten Jahr, noch die niederziehende Berufsbezeichnung Lehrling hatte. Aber auch das, was danach kam – Geselle hörte sich immer noch nach der Reparatur von Steig- oder Knickrohren an. Wie hätte man den Mädchen in so kurzer Zeit das Besondere, Einmalige dieses Gewerbes und seine lange Tradition beschreiben können, die Vielfalt der Farben, den feinen Flaum, ich hätte es höchstens anschaulich machen können an einem Nutriamantel, an dem Fell, das in seiner Dichte und Feinheit das Tier vor Kälte und Wasser schützen muss und zur vollen Entfaltung seiner Schönheit mit einer aus dem Mittelalter überkommenen Rezeptur aus Essig, Senfkornsaft und der Geheimtinktur von Meister Kruse eingestrichen, dann leicht mit einem heißen, aber nicht zu heißen Bügeleisen, sonst würde das äußerst feine Haar stumpf und grau werden, also mit genau der richtigen Hitze gebügelt wurde und daraufhin den Glanz von flüssigem – ja – flüssigem Gold bekam. Wir sprachen aber nicht über Pelze und schon gar nicht über Mäntel, sondern über ihren Deutschunterricht in der letzten Klasse mit Blick auf das Abitur im nächsten Frühjahr. Sie lasen, erzählten sie, gerade Hofmannsthal und Rilke. Einer dieser Zufälle – der dann doch kein Zufall, sondern auf geheimnisvolle Weise durch uns geradezu erwirkt ist –, ich hatte wenige Tage zuvor ein Rilke-Gedicht auswendig gelernt, das mich, den Siebzehnjährigen, höchst genau in meiner Stimmung traf, das Hoffen, Wünschen, Suchen, gefunden auf einem Kalenderblatt, das den Herbst ankündigte, was dem Gedicht nichts anhaben konnte, wie auch die dämlichen Weingirlanden nicht: Herbsttag. Die beiden Mädchen kannten das Gedicht, die eine sagte ein wenig belustigt die erste Strophe auf, die andere, innig, mit ruhig-genauer Betonung die zweite – damals wurden Gedichte noch auswendig gelernt –, und ich konnte mit der dritten Strophe fortfahren, konzentriert und mit Herzklopfen, es war meine Stimmung, die ich darin beschrieben und im Klang erkannt hatte, bis mir beim in den Alleen hin und her / unruhig wandern in der vorletzten Zeile der Atem ausging und mir schwindelig wurde. Die beiden Mädchen schwiegen, und Johnny-Look sagte mit seinem staunenden blauen Blick: Was für ein toller Blues. Wenig später kam der Bruder der Freundin gelaufen, unvergessen, ein pickeliger Junge, und sagte, die Eltern wollten fahren, die Mädchen müssten sofort kommen. Und ich saß stumm und brachte es nicht über mich, nach der Adresse zu fragen. So ist dieses Herbstgedicht von Rilke mit dem biederen Rosengarten in Pinneberg verbunden und mit dem stillen Staunen über diesen auf mich gerichteten, so überraschend offenen, mich einladenden, Zukunft versprechenden Blick. Die Erinnerung löste noch Wochen später einen körperlichen Wärmestrom aus, der stets von Selbstvorwürfen begleitet war, nicht nach der Adresse gefragt zu haben.

 

Einige Zeit später, auf einem Spaziergang entlang der Elbe, dem Övelgönner Uferweg, kehrten wir in eine Wirtschaft ein, saßen draußen im Herbstwind, Johnny-Look trank ein Bier, ich eine Limonade, und er erzählte wirr und gleichermaßen begeistert von seiner Lektüre am Abend zuvor, bis in die tiefe Nacht habe er Kafka gelesen, Die Verwandlung.

Johnny Look erzählte, was Gregor Samsa widerfahren war, er erzählte es in einer händeringenden Rede, als müsse er sich von einer Last befreien. Meine Frage, ob er mir das Buch ausleihen könne, beantwortete er mit einem Nein, er müsse den Band bei sich behalten. Er sagte das mit Überzeugung und Ernst, denn Ironie, dieser autoritäre Sprachgestus, war ihm fremd.

An dem folgenden Montag kaufte ich das Taschenbuch Franz Kafka, Die Erzählungen bei Lüders in Eimsbüttel. Lüders sagte, Lesefutter gehöre in Silos, nicht in seinen Laden.

 

Zu Hause, nach der Arbeit und nach dem von der Mutter bereiteten Abendbrot, der Wurst- und Käseplatte, dem Lüneburger Brot und dem sehr leichten schwarzen Tee mit Zitrone, saß ich im Alkoven und las, und von da an war mir ein anderer Blick gewährt. Ein Lesen, in dem ich mich selbst verlor und mir fremd wurde. Ein Überschuss an Nichtgewusstem, nie Gelesenem, die Frage, warum etwas ist, wie es ist, und wie es so ganz anders sein könnte. Wie die Dinge durch eine leichte sprachliche Verschiebung aus den Fugen geraten und doch als Unbekanntes sich zum erschreckend Bekannten neu fügen. Der immer wieder zitierte Anfang vollzieht die Kreation eines Tierwesens, mit menschlichem Bewusstsein und Erinnerung ausgestattet, aber zur Sprachlosigkeit verdammt. Denn das Erschreckende ist nicht einmal die Verwandlung – mit der geht Gregor Samsa eher gefasst um –, sondern dass er sich nicht mitteilen kann. Dieser fürchterliche Zwang, verstehen, aber nicht sprechen zu können. Die Fähigkeit der Sprache ist verloren. Geblieben ist ein Fauchen, Zischen, Grunzen, Schnauben, das nicht mehr die Wünsche, Verletzungen, Ängste, Träume artikulieren kann: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten hilflos vor den Augen.

»Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Es war kein Traum.

Die Glaubwürdigkeit dieser so unrealistischen Szene wird durch die Beschreibung beiläufiger, höchst realistischer Details hergestellt, so, wenn die Bettdecke vom durch die bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch abgleitet. Es war kein Traum. Das ist zwar dem dachte er nahe, aber doch aus der objektiven Perspektive als Aussagesatz gesetzt. Dem folgt die Beschreibung von dem Menschenzimmer und dessen Interieur.

Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinander gepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender –, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.

Das Zimmer wird nicht distanziert sachlich beschrieben, sondern da spielt, wie in der gesamten Prosa Kafkas, immer eine deutende Valeur hinein, was sich schon in dem ungewöhnlichen Substantiv Menschenzimmer andeutet, welches das Menschsein vom Verwandelten abrückt. Darin zu sehen sind Alltagsgegenstände aus Samsas Menschenleben, darunter, hervorgehoben durch den goldenen Rahmen, das Illustrierten-Bild der Dame mit Pelzhut, Pelzboa und dem Betrachter entgegengehobenem Pelzmuff – die Accessoires aus Kürschnerhand –, die als Wärmendes, Schmeichelndes in einem so argen Kontrast zum Chitinpanzer des Käfers stehen, der nicht einmal der Bettdecke Halt geben kann. Könnte es sein, dass Samsa der Wunsch nach Zartheit, Geborgenheit und Schönheit bewegt, denn als das etwas zu kleine Menschenzimmer von der Schwester und der Mutter ausgeräumt wird, die Möbel verschoben, der Kasten mit der Laubsäge und den Werkzeugen, der Schreibtisch herausgetragen werden, bricht Gregor Samsa unter dem Bett hervor: … die Frauen stützten sich gerade im Nebenzimmer an den Schreibtisch, um ein wenig zu verschnaufen –, wechselte viermal die Richtung des Laufes, er wußte wirklich nicht, was er zuerst retten sollte, da sah er an der im übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und preßte sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat. Dieses Bild wenigstens, das Gregor jetzt ganz verdeckte, würde nun gewiß niemand wegnehmen. Er verdrehte den Kopf nach der Tür des Wohnzimmers, um die Frauen bei ihrer Rückkehr zu beobachten.

 

Das Interesse vieler Literaturwissenschaftler an der Sexualität Kafkas hat dieses Bild der Dame im Pelz mit Sacher-Masoch in Verbindung gebracht. Einen Bezug, den wir damals nicht kannten, aber von der Beziehung des Pelzes zur Sexualität wussten wir durchaus. Nicht nur Breitkamp erzählte von Ehefrauen, die sich im Bett zum Coitus – a tergo – den Pelzmantel anziehen mussten.

Ein überraschendes Verrücktsein – so fremd, so fern, so unbekannt –, das, wie bei fast allen Erzählungen und Romanen Kafkas, ohne einen vermittelnden Wärmestrom auskommt und dennoch einen gleichermaßen verstörenden wie fesselnden Sog zum Weiterlesen und Abermals-Lesen entwickelt. Wo ist dieses Wort, dieser Satz, der nach dem Grund, der Ursache der Verwandlung fragt. »Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Es war kein Traum.

Kafka lässt Samsa nicht fragen: Träume ich?, sondern Was ist mit mir geschehen? Es ist etwas außer ihm Liegendes, das keinen Namen, keine Begründung erhält. Kafka ist Realist, der durch einen Schnitt, durch ein Wort, das Wort Ungeziefer, die Wirklichkeit ver-rückt, in eine neue fremde, erschreckende Wirklichkeit. Plötzlich ist man in einer anderen Welt. Im Talmud findet sich die Vorstellung, dass ein Wort die Welt zurechtrücken und heilen könne. Sodass sie, wie Ernst Bloch sagt, Heimat wird. Das eine, das richtige Wort, das die Welt verändert. Also müssen alle Worte richtig sein. Daraus leitet sich Karl Kraus’ strenger Anspruch auf Genauigkeit, auf Richtigkeit der Sprache bis zur Setzung der Kommata ab. Demnach kann auch ein falsches Wort, das Wort Ungeziefer, die Welt gänzlich aus den Fugen bringen – ins Unheimliche drängen, wo Mord und Vernichtung drohen.

 

In den nächtlichen Gesprächen über Die Verwandlung war Johnny-Look zu der Erkenntnis gekommen, es sei eine Verpflichtung unseres Handwerks, durch Genauigkeit und Sorgsamkeit dem Leid und Tod der Tiere Achtung zu zollen – als wären wir verschwistert.

Wir zogen den naheliegenden Vergleich dieser Erzählung mit dem Traum, dem Albtraum, in dem der Betroffene sich in Handlungen sieht, von außen wie von innen, ohne handelnd eingreifen zu können. Es war ein erstes tastendes Verstehen dessen, was Literatur sein könnte. Und im Weiterlesen der anderen Erzählungen bemerkten wir, dass bei Kafka Tiere häufig wie Menschen auftauchen, selbst zur Person werden, wohingegen die Menschen in ihren wärmenden Pelzen gleichsam in die Tiere hineinschlüpfen, sich ihnen anverwandeln. Tiere, die märchenhaft sprechen, denken, auch forschen können.

 

Ist das Schlachten, das Essen von Tieren ein lustvoller Kannibalismus? Das Abziehen ihres Pelzes eine Häutung, wie sie die Janitscharen an den Ungläubigen praktizierten? Das Tragen ihrer Haut zum eigenen Schutz zugleich ein Zeichen der Macht? Je seltener das Fell, desto höher die Stellung.

Die in der Natur lebenden Völker zeigen den Tieren gegenüber eine vom Nützlichkeitsdenken geprägte Haltung, die mit einer hohen Achtung einhergeht – die Tötung muss durch ein Opfer ausgeglichen werden, und sei es durch ins Feuer geworfene Bissen.

 

Auch das Erotische und Sexuelle offenbart sich im Pelzwerk, das Weiche, das Tierhafte, eine Ahnung von Wildnis, von einer reflexionsfernen Vorzeit. Noch in den einfachsten Modellen von Mänteln und Capes besteht das Raffinement darin, nicht nur den Voyeur zu erwecken, sondern auch das direkte taktile Verlangen.

Die hoch verfeinerte Arbeit mit Pelzen führte in die ferne Welt der Triebe und in die Wildnis zurück.

 

Auf dem Sandweg in Tansania standen Menschen, Frauen, Kinder, Männer, ein Zusammenlauf. Der Fahrer unseres Wagens hielt, und wir gingen zwischen den gestikulierenden, erregt redenden Menschen hindurch. Auf dem Weg lag eine ungeheure Masse Fleisch, in die Dorfbewohner mit Äxten hackten. Es roch nach Blut, und der graue Sandboden war rot gefärbt, ein Elefant, ein gewaltiges Tier, war eben erlegt worden. Ein riesiger Stoßzahn lag herausgehauen, blutig, mit Fleischfetzen im Sand. Den anderen schälte ein Mann mit einem Buschmesser aus dem Schädel. Das kleine Auge stand offen, wie erstaunt, aber schon stumpf blickte es in den Himmel. Ein Rinnsal zog eine schwarze Spur über die graue Haut.

Die Menschen waren wie berauscht, lachten und riefen und klatschten in die Hände, andere trugen Fleischklumpen zu den Hütten. Einer hatte die Hand ins Blut getaucht und einen Abdruck auf der staubgrauen Elefantenhaut hinterlassen. Etwas abseits stand der Schütze, ein schwarzer Wildhüter, in einer zerschlissenen Uniform. Das große Gewehr hatte er neben sich auf den Boden gestellt.

Der Elefant, ein Einzelgänger, musste seit Tagen die umliegenden Maisfelder zertrampelt und abgefressen haben. Das sei ein genehmigter Abschuss gewesen, erzählte uns der Fahrer, als wir wieder in den Wagen stiegen und weiter zu der Lodge nach Arusha fuhren.

 

Das breite Fenster des Alkovens ging nicht, wie man vermuten könnte, ins Grüne, sondern auf einen asphaltierten Hof, dahinter ragte die in roten Ziegelsteinen erbaute Batterien-Fabrik Habafa auf. Zur Produktion der Batterien gehörte ein silbrig schwarzer Grafitstaub. In Säcken wurde er von Lastwagen angeliefert und von zwei Männern in Kapuzenkitteln in den Keller getragen. Die Hände, die Gesichter der Träger waren grafitschwarz, die Augen geisterhaft weiß. Auch nach der Arbeit blieben, obwohl sie sich geduscht und gewaschen hatten, die Falten in ihren Gesichtern schwarz, wie auf Masken eingekerbt. Kamen die Männer nach dem zweifachen Sirenenton, der den Arbeitsschluss anzeigte, durch den dunklen Torweg, liefen die Kinder schreiend davon.

 

Sonderbar, Kafka habe ich nicht wie die anderen Bücher im Freien lesen können. Für mich passte er nicht in die Natur.

 

An einem der Samstage war ich mit Johnny-Look über die Reeperbahn gegangen, hatte ihm von Erik erzählt. So ganz anders als damals ging ich, gingen wir von einer Neugier bestimmt auf das, was wir suchten, ja, was? Erleben. Das Unbekannte. Frauen. Das Glück der Nähe. Wir gingen, müde vom Schlendern und Schauen inmitten all dieser nach dem Ungewöhnlichen Suchenden, den Trunkenen, den Frauen mit den hochgegürteten Brüsten, in eine kleine Bar, nicht zu vergleichen mit der glänzenden, sich breit öffnenden, vor der Erik der Rote einmal Klavier gespielt hatte, ja, auch Holden Caulfield begleitete mich noch. An der mit einer polierten Bronzestange bewehrten Bartheke saßen ein paar Männer. Als wir hereinkamen, wandten die auf dem Hocker Sitzenden uns wie auf Zuruf die Köpfe zu, blickten dann wieder in die verspiegelte Wand mit all den davorgestellten Flaschen. Merkwürdig, wie diese Männer zusammen und doch jeder für sich allein sitzen und trinken konnten. Eine junge Frau bediente hinter dem Tresen. Johnny-Look bestellte sich, was ihn als Barbesucher auswies, einen Bourbon, einen Wild Turkey, mit Eis, was die junge Frau mit: Good taste, kommentierte.

Und du?

Ich bestellte eine Cola.

Ohne alles?

Ja.

Das fand die Frau ganz süß. Darfst du überhaupt schon hier rein?

Genau genommen nicht, noch war ich nicht achtzehn, und die Frau ließ sich nicht von meiner Größe und nicht von dem gediegenen grauen Jackett täuschen.

Du musst noch angelernt werden.

Woran sehen Sie das denn?

Erfahrung, mein Kleiner.

Auffällig an der jungen Frau waren ihre gepflegten kräftigen Hände, deren spitze Fingernägel abwechselnd schwarz und rot lackiert waren, das volle, hellbraun gewellte Haar, der zarte Busen im Ausschnitt der Bluse, aber vor allem die Iris ihrer Augen, ein zartes Türkis. Mir schob sie wie einem Kind ein paar Erdnüsse hin, sagte: Für dich, etwas zum Knabbern, während sie mit Johnny-Look sprach und sich nur dann den neben uns sitzenden, vor sich hin schweigenden Männern zuwandte, wenn diese noch ein Bier oder einen Scotch haben wollten. Ich knabberte die Nüsse und lauschte dem Gespräch, das von Johnny-Looks Fragen und den Erzählungen der Frau bestimmt war, die in Kopenhagen und London in Hotels gearbeitet hatte und von den Gästen und deren Gewohnheiten erzählte. Von Erich Maria Remarque, dem sie in einer Bar in Locarno oft die Drinks gemixt hatte und der an der Bar saß, bis er betrunken vom Hocker sackte, dabei jedes Mal rechtzeitig von ihr aufgefangen und in ein Taxi bugsiert wurde. Ein Erlebnis, das mir später ganz ähnlich eine Frau in Braunschweig erzählen sollte, die Urlaub in Locarno gemacht hatte. Von Remarque hatte ich Arc de Triomphe gelesen und dachte, wie sonderbar, dass die Geschichte des Arztes, die verzweifelt dunkle Stimmung des Exilierten dem Leben des erfolgreichen Autors in der Schweiz ähnelten. Ich saß mit meiner Cola wie ein vergessener Schuljunge neben Johnny-Look. Als sie begann, ihm über den Tresen die Hand zu streicheln, und sich immer wieder das volle Haar ins Gesicht schüttelte, sagte ich: So, ich geh jetzt mal, und Johnny-Look sagte nur: Ja, dann bis Montag.

 

Er kam in die Werkstatt, die Lider um die blauen Augen gerötet. Hier könne er das nicht erzählen, sagte er nur kurz. Später begann er doch zu reden, zerstreut, stockend. Wir hatten uns abseits auf den Werktisch gesetzt. Ich bot ihm von den belegten Broten an, aber er mochte nichts essen, trank nur von meinem Kaffee, wollte erst am Abend weitererzählen, dann aber hielt es ihn nicht länger, er sei mit der Frau, dieser Barfrau, gegen Morgen mitgegangen in ihre kleine Wohnung in Altona, sie habe ihm Wein angeboten, sie hätten sich geküsst, sie habe begonnen, sich auszuziehen, und gesagt, du wirst überrascht sein. Er habe das nicht gleich verstanden, dann aber gesehen, sie war ein Mann und doch kein Mann, ein Schwanz, aber auch Brüste. Und dann? Sie oder er hat über sein Gesicht gelacht. Und? Sie hätten sich ins Bett gelegt. Und? Ja, sagte er, es war gut. Seltsam. Sehr zärtlich. Ungewohnt. Nein, eher so, als hätte er alles geträumt. Den ganzen Sonntag in dieser Wohnung. Heute Morgen sei er direkt von ihr gekommen. Rasierzeug hatte sie ja. Er schüttelte während des Erzählens immer wieder den Kopf. Wiedersehen? Nein, eher nicht.

Seine Erzählung war keineswegs von Empörung oder Abwehr bestimmt, nur dieses grenzenlose Wundern, was alles in der Welt ist – oder sein kann.

 

Es muss Mitte des dritten Lehrjahrs gewesen sein, als eine neue Näherin eingestellt wurde. Es hieß, sie habe ihre Lehre gerade mit Auszeichnung bestanden, was selten vorkam, und sei nach zwei Jahren Arbeit von dem Pelzgeschäft in Lübeck nach Hamburg gewechselt. Sie saß, trotz ihrer Jugend und allein wegen ihres Könnens, an dem bevorzugten Rand des langen Tischs zum Gang. Manchmal blickte sie, ging ich durch die Werkstatt, hoch. Auf diesen Blick, auf diese von der Näharbeit Hochblickende, auf ihr kurzes mir zugewandtes, mich begleitendes Lächeln freute ich mich, und es war das Unglück des Tages, wenn sie auf ihre Näharbeit konzentriert blieb. Sie war das Gespräch der Kürschner, verheiratet war sie nicht, wurde auch nicht zum Feierabend abgeholt. Hin und wieder kam sie, deren Name mir einmal so innig nahe gewesen, jetzt aber eigenwillig, seit dem Schreiben, entfallen ist, in den Raum der Kürschner und Maschinennäherinnen, und ich konnte sie, ihr hellblondes, volles, mit einem Kamm hochgestecktes Haar, sehen, wenn sie an der Uhr das beendete Werkstück auf ihrer Karte abstempelte.

Hin und wieder wurde sie, war kein Mannequin im Hause, hinunter in die Verkaufsräume geschickt, wo sie die unterschiedlichen Mantelmodelle den Kundinnen und ihren Ehemännern vorzuführen hatte. Und Tag für Tag blieb ich am Abend so lange, bis sie das Tagwerk abgestempelt hatte.

Breitkamp hatte ein-, zweimal versucht, sie einzuladen, was ihr, da sie freundlich, aber bestimmt abgelehnt hatte, den Namen die Unberührbare eintrug. Dabei wollte er, wie er sagte, dieser Schönen gern etwas Gutes tun und sie mal richtig rannehmen. Ihn so reden zu hören, störte mich jetzt besonders, und ich fragte ihn wieder einmal nach seinen Kriegserlebnissen, bei deren Bericht er meist schnell auf die so entgegenkommenden jungen Norwegerinnen zu sprechen kam, die in der Dunkelheit des öden Nordens vor sich hin träumten.

 

Neben Breitkamp hatte noch ein anderer Berufsoffizier, Hans Quaet-Faslem, nach Krieg und Gefangenschaft eine Kürschnerlehre gemacht. Die eben noch gesellschaftlich Hochstehenden, allein durch ihre silbernen Schulterstücke Gehorsam Einfordernden fanden sich jäh auf der untersten Stufe der Handwerkerhierarchie wieder. Dennoch behielten sie etwas von ihrem alten Rang – die Achtung. Sie wurden mit Sie angeredet und waren von bestimmten Lehrlingsaufgaben, dem Fegen und Feudeln der Werkstatt und den Besorgungsgängen, entbunden. Ich habe Quaet-Faslem nur wenige Wochen in der Werkstatt erlebt, während er an einem komplizierten Nerzmantel arbeitete. War es sein Meisterstück? Oder recherchierte er damals schon für die zweite, von ihm überarbeitete Ausgabe des Fachbuchs Der Kürschner? Quaet-Faslem, ehemaliger Korvettenkapitän und Kommandeur einer Schnellbooteinheit im Mittelmeer, war für solch einen hohen Dienstrang noch sehr jung. Er unterhielt einen jovialen Umgang mit den Lehrlingen, erzählte nichts aus seiner Militärzeit, pflegte einen weltläufig künstlerischen Stil, gekleidet wie die englische Gentry – er war in englischer Kriegsgefangenschaft gewesen –, Cordhosen, weite Pullover oder Thornproof-Tweed-Sakkos, ein Leser englischer Kriminalromane. Auch er ein Besucher des Jazzkellers Barrett. Den militärischen Habitus hatte er abgelegt, die Hände in den Hosentaschen, ging er, groß und schlaksig, durch die Werkstatt, legte, trank er Kaffee, die Füße auf den Tisch. Dennoch nahm Breitkamp, fragte Quaet-Faslem ihn etwas, immer noch Haltung vor dem Ranghöheren an.

Quaet-Faslem wurde nach seiner Meisterprüfung Dozent an der Fachhochschule für Mode und dort mein Lehrer für Pelzfachkunde, mit einem Faible für das Definieren, so hatte er etwa das Auslassen in seinem Standardwerk Der Kürschner definiert: Auslassen heißt, Felle, Fell-Flächen oder Fellteile durch geeignete Schnitte auf Kosten der Breite in bestimmter Weise zu verlängern. Ein logisches Herleiten und Ableiten, die strategische Planung der Arbeitsschritte, wie an der Kriegsschule gelernt, als ginge es um den taktischen Einsatz mehrerer Torpedoboot-Flottillen. Seine Begeisterung für die Schnittwinkel erinnerte an die Standortbestimmung mit dem Sextanten.

 

In der Berufsschule, die in der Modefachschule an der Armgartstraße untergebracht war, gab es das Fach Pelztierkunde, unterrichtet von einem Berufsschullehrer, der in seiner Freizeit Hühner züchtete. Ein Mann, der von seiner Militärzeit in Frankreich und Russland erzählte, keineswegs heroisierend, eher abfällig und kritisch. Er war zur bespannten schweren Artillerie eingezogen worden, und als Stadtkind hatte er erstmalig Gelegenheit, Tiere aus der Nähe zu beobachten, vor allem die massigen Zugpferde, Ermländer, die jeweils zu sechst die Geschütze nach Russland und drei Jahre später wieder zurückzogen. Beim Biwak, aber auch als Späher im Gelände konnte er Iltisse, Füchse, Wölfe und Kleintiere, Schmetterlinge und, wenn er unter Beschuss in Deckung lag, am Boden Käfer und Würmer studieren. Er hatte ganz erstaunliche Kenntnisse durch diese teilnehmende Beobachtung erworben. Hinzu kam begleitende Lektüre. Möglicherweise war er der einzige Soldat im Ostheer, der die gewichtigen Bände drei, Vögel, und vier, Säugetiere, von Brehms Tierleben  im Tornister mitschleppte. Ermöglicht wurde es allein dadurch, dass er sein Gepäck nicht wie bei der Infanterie tragen, sondern auf der Bespannung fahren lassen konnte.

Er empfahl uns, die wir mit Fellen vertraut waren, dringlich die Lektüre von Brehms Tierleben, damit wir auch die Fellträger kennenlernten. Er las uns Abschnitte daraus vor, immer wieder unterbrochen von Ergänzungen aus seinen konkreten Beobachtungen. Allein schon das Hermelin, das er als Artilleriebeobachter im Schnee bei Grody entdeckt hatte. Das Hermelin hatte gerade eine Maus gewürgt. Außer der schwarzen Schwanzspitze waren zudem rote Blutspritzer auf dem reinweißen Fell zu erkennen.

Die ausführlich illustrierte sechsbändige, sogenannte kleine Ausgabe von Brehms Tierleben stand, vom Vater gekauft, zu Hause im Bücherschrank. Nie hatte der Vater mir die Lektüre empfohlen, und wenn, hätte die Empfehlung nicht dieselbe Dringlichkeit gehabt wie bei diesem schwärmerisch begeisterten Berufsschullehrer. Ich las zu Hause in dem Band Säugetiere über ihren Lebensraum, ihren Körperbau, ihre Lebensweise. Die Lektüre im letzten Lehrjahr fiel mit den Überlegungen von Johnny-Look zusammen, dass unsere Arbeit eine besondere Verantwortung einschlösse. Es war eine Lektüre, die ein Verstehen ermöglichte, das die Besonderheit, ja Einmaligkeit jeglicher Art erschloss.

Jetzt, beim Hineinlesen in die vom Vater geerbten Bände, ist das Überraschende, wie erstaunlich der Autor durch seine genaue Beobachtung die jeweilige Tierart mit einem entsprechend beweglichen Satzgefüge beschreibt.

Alfred Brehm hatte von seinem Vater, einem Pfarrer und Vogelkundler, schon als Kind das Interesse am Leben der Tiere übernommen. Zwei Forschungsreisen führten ihn nach Afrika, darunter eine fünfjährige Reise nach Ägypten und in den Sudan, später folgten Reisen nach Sibirien, Ungarn und Spanien. Ab 1863 erschienen die ersten Auflagen von Illustrirtes Thierleben. Brehm und die Zoologen, die an diesem Werk weitergearbeitet haben, waren der Kreatur noch nah, die Beobachtungen wurden in der sie umgebenden Natur gemacht, oft unter höchst beschwerlichen Umständen.

Brehms Tierleben hat zwar als wissenschaftliches Werk kaum noch Bedeutung, ist aber immer noch eine lesenswerte Zoografie, die den biologischen Aufbau, die Lebensgewohnheiten und den Lebensraum der Tiere beschreibt, eine Einübung in die genaue Beobachtung und Beschreibung:

Zu diesem Ende setzt sich der Biber neben dem betreffenden Bäumchen nieder und nagt ringsum so lange an einer bestimmten Stelle, bis der Baum niederstürzt, wozu bei einer 8 cm dicken Weide oder Birke 5 Minuten erforderlich sind. Nunmehr packt der Biber den gefällten Baum an seinem dickeren Ende mit den Zähnen, hebt den Kopf und watschelt vorwärts. Ist die Last leicht, so trägt sie das Tier ohne Aufenthalt dem Ziele zu; ist sie schwerer, so bewegt es sie absatzweise, indem es das aufgeladene Holzstück mittels eines kräftigen Ruckes des Kopfes vorwärts zu bringen sucht. Astreiche Schößlinge werden vor dem Wegschleppen genau besichtigt, unter Umständen geteilt, hindernde Aststummel weggeschnitten, alle Holzstücke aber zunächst ins Wasser geschleppt und hier entrindet oder für spätere Zeiten aufgespeichert. Erst nachdem der Knüppel geschält worden ist, verwendet der Biber ihn zum Bauen. Von einer regelmäßigen Anordnung der Bauhölzer läßt sich nichts wahrnehmen. Einige Knüppel liegen waagerecht, andere schief, andere senkrecht, einzelne ragen mit dem einen Ende weit über die Wandungen der Burg vor, andere sind gänzlich mit Erde überdeckt; es wird auch fortwährend geändert, vergrößert, verbessert.

Das zumindest, das fortwährende Verändern, Verbessern, ist der Arbeit des Schriftstellers, jedenfalls meiner, durchaus vergleichbar.

 

Alfred Brehms so mustergültiges Wissenschaftsdeutsch ist, möchte man meinen, an der Prosa des bürgerlichen Realismus geschult, an den Erzählungen, Novellen und Romanen von Gottfried Keller, Theodor Storm oder Wilhelm Raabe – und die wissenschaftlichen Beschreibungen dürften wiederum auf die Belletristik zurückgewirkt haben. Erkennbar wird, welcher Verlust entstehen könnte, wenn das Deutsche zugunsten des Englischen noch weiter aus den Wissenschaften verdrängt wird.

Allein diese rhythmisierte Dreierreihung der dreisilbigen Verben: geändert, vergrößert, verbessert. Ein verbaler Stil, der dem Text die Lebendigkeit, die ja sein Generalthema ist, im Präsens verleiht: packt, hebt, watschelt, elegant eingeleitet durch eine in die Gegenwart führende Bewegung, durch das Adverb nunmehr. Der Wortreichtum: Astreich, Aststummel, Bauhölzer, Wandungen. Bezeichnend ist, wie in jener Zeit das Augenmerk auf die Gestaltung des Habitats ausgerichtet ist, wie der Prozess der Umwälzung der Natur durch die Industrialisierung als ein Reflex in die Tierwelt getragen wird. Der Blick auf den Nützlichkeitsaspekt im Tierleben, im doppelten Sinn, wie die Tiere sich die Natur aneignen und sich ihr gleichermaßen anpassen.

Verglichen mit dieser im literarischen Realismus und Naturalismus erprobten, sachlichen Sprache wirkt Alexander von Humboldts Beschreibung der Natur weit poetischer, klangvoller, eine Sprache, die an Goethes Prosa gemahnt. Das fragende Verstehenwollen belässt der Natur ihre Eigenheit. In den Ansichten der Natur, Stuttgart 1849, beschreibt Humboldt auf der beschwerlichen Reise vom Rio Apure zum Orinoco die Tierstimmen im Urwald.

Nach 11 Uhr entstand ein solches Lärmen im nahen Walde, daß man die übrige Nacht hindurch auf jeden Schlaf verzichten mußte. Wildes Thiergeschrei durchtobte die Forst. Unter den vielen Stimmen, die gleichzeitig ertönten, konnten die Indianer nur die erkennen, welche nach kurzer Pause einzeln gehört wurden. Es waren das einförmig jammernde Geheul der Aluaten (Brüllaffen), der winselnde, fein flötende Ton der kleinen Sapajous, das schnarrende Murren des gestreiften Nachtaffen (Nyctipithecus trivirgatus, den ich zuerst beschrieben habe), das abgesetzte Geschrei des großen Tigers, des Cuguars oder ungemähnten amerikanischen Löwen, des Pecari, des Faulthiers, und einer Schaar von Papageien, Parraquas (Ortaliden) und anderer fasanenartigen Vögel. Wenn die Tiger [gemeint ist der schwarze Jaguar] dem Rande des Waldes nahe kamen, suchte unser Hund, der vorher ununterbrochen bellte, heulend Schutz unter den Hängematten. Bisweilen kam das Geschrei des Tigers von der Höhe eines Baumes herab. Es war dann stets von den klagenden Pfeiftönen der Affen begleitet, die der ungewohnten Nachstellung zu entgehen suchten.

Fragt man die Indianer, warum in gewissen Nächten ein so anhaltender Lärm entsteht, so antworten sie lächelnd: »die Thiere freuen sich der schönen Mondhelle, sie feiern den Vollmond.« Mir schien die Szene ein zufällig entstandener, lang fortgesetzter, sich steigernd entwickelnder Thierkampf. Der Jaguar verfolgt die Nabelschweine und Tapirs, die dicht aneinander gedrängt das Strauchwerk durchbrechen, welches ihre Flucht behindert. Davon erschreckt, mischen von dem Gipfel der Bäume herab die Affen ihr Geschrei in das der größeren Thiere. Sie erwecken die gesellig horstenden Vogelgeschlechter, und so kommt allmählich die ganze Thierwelt in Aufregung.

 

Das ist ein erlebend betrachtendes Beschreiben der Natur und ihrer Tiere, im Gegensatz zu dem distanzierten Beobachten der Zoologen, die an Brehms Tierleben gearbeitet haben. Auch Humboldt versucht, die Besonderheit der Tierstimmen sprachlich distinkt zu beschreiben, im Gegensatz zu der schönen, poetischen Sicht der Indigenen, die das Verhalten der Tiere als Freude an dem Licht des Vollmonds deuten und sie damit in die Nähe ihrer eigenen Wahrnehmung stellen.

In beiden Beispielen, bei Humboldt wie bei Brehm, rücken uns die Tiere näher, gewinnen damit auch Schutz – einen Schutz, der immer noch den Nutztieren vom Wort her vorenthalten wird. Als Haustiere sind sie immerhin der Sprachempathie so nahe, dass sie zu quälen sich verbietet.

 

Die Nähe zu Tieren, die Identifikation mit ihnen, schlägt sich auch in den Kosenamen der Kinder nieder, sie heißen dann Häschen, Maus, Ente, Kaninchen, Bärchen, Robbe. Mit einer solchen »Vertierung« ist nicht nur das Niedliche gemeint, sondern eine ferne, im Kreatürlichen doch recht nahe Verwandtschaft. Sogar das Schweigen der Tiere ist immer noch als Spur in uns, als Staunen über unsere Sprache, worauf ihr Dasein keine Antwort finden kann.

Durch die »Vermenschlichung« der Tiere wurden sie zu Brüdern und Schwestern, rückten uns einerseits zwar nahe oder, wie man so sagt, auf den Pelz, andererseits blieben und bleiben sie uns doch fern, allein wegen unserer einseitigen Macht über sie, die nicht durch eine Herr-Knecht-Dialektik aufgelöst werden kann.

 

Verwandtschaftsformen hingegen, die Ethnologen in dem nahen Zusammenleben von Menschen und Tieren Nordamerikas untersucht haben, deuteten eine Übertragung von bestimmten Eigenschaften, Besonderheiten und Fähigkeiten von Bruder Elch und Schwester Krähe auf den Namen an: Black Elk, Little Crow, Lone Wolfe, White Bear, Sitting Bull, Encouraging Bear. Der berühmte Sioux-Häuptling Crazy Horse, der General Custers Truppen in der Schlacht am Little Big Horn vernichtete, hatte noch andere sprechende Namen, als Kind wurde er Light Hair, später His (!) Horse in Sight und mit achtzehn Jahren nach einem tapferen Kampf also Crazy Horse genannt, in der Sioux-Sprache Lakota: Tashunka Witko.

 

Solche Namensübertragungen gehören auch noch heute zum Alltag. Anlässlich der ersten gemeinsamen Reise nach Franken im späten Juli, an einem heißen Nachmittag, beobachtete die junge Frau ihren Liebsten und gab ihm, der zur Erfrischung in einen Teich gestiegen war und mit seinem Kinnbart durch die Entengrütze auf sie zuschwamm, den Kosenamen für die kommenden Jahrzehnte ihres Zusammenlebens – Biber. Wobei nicht allein die Lust am Schwimmen und der Fleiß beim Staudammbauen namensbildend waren, sondern auch die alte Bezeichnung Biber für den Kinnbart hineinspielte. So vereint gehen Gesehenes und Gewusstes überraschende Allianzen ein.

 

Eine Germanistin, nennen wir sie Rebecca, die ich an der Washington University in St. Louis kennenlernte, erzählte mir von ihren Besuchen im Zoo der Stadt. Zweimal in der Woche ging sie in der Mittagspause zum Gorillagehege. Der Zoo gilt in den USA als mustergültig angelegt und ist ein Zentrum für verschiedene Forschungsprojekte, von denen eines das Kommunikationsverhalten der Gorillas untersuchte. Rebecca interessierte sich für diese mächtigen Tiere, möglicherweise angeregt durch King Kong, den sie vielleicht in ihrer Jugend gesehen hatte? Leider habe ich sie nicht nach dem Warum gefragt. Oder war der Auslöser eine zufällige Begegnung während eines Zoobesuchs? Sie beobachtete einen großen männlichen Gorilla, der bei ihren Besuchen meist an einer bestimmten Stelle nah der Glaswand saß. Eine massive Glaswand, nicht nur weil das mächtige Tier unvermittelt Sprünge gegen das Glas machte, die Wand sollte auch die menschlichen Stimmen von den Tieren fernhalten. Sprechen und Rufen waren in dem Bereich des Geheges verboten. Zweimal in der Woche kam Rebecca mittags zur selben Zeit und setzte sich auf einen mitgebrachten Klappstuhl vor die Glaswand, trank Kaffee aus einem Pappbecher und aß ein Sandwich. Beim dritten oder vierten Mal kam der Gorilla an das Glas und beobachtete still ihr Tun, das abwechselnde Essen und Trinken, die Bisse in das Sandwich und das Trinken aus dem Becher. Nach einigen Wochen wartete er, wenn sie kam, an genau derselben Stelle. Sie saß und betrachtete ihn, und er betrachtete sie. Drei, vier Monate sahen sie sich jede Woche zweimal. Nie sprang er in dieser Zeit gegen die Glaswand. Im Winter, ein eisiger Wind mit feinem Schnee wehte von den großen Seen herüber, kam sie in einem Mantel mit einer Kapuze aus Silberfuchs. Er legte die Hand auf den Kopf, als wollte er andeuten, dass auch er eine solche Kapuze haben wolle oder aber – war das denkbar? –, dass sie die Kapuze vom Kopf ziehen sollte. Sie tat es, und er sah sie an.

In dem folgenden Frühjahr bekam sie eine Stelle in Ann Arbor und kam nur noch einmal im Monat in den Zoo, aber stets freitags. Der Gorilla saß jedes Mal an der vertrauten Stelle vor dem Glas und wartete. Sie setzte sich und legte die flache Hand an die Scheibe. Ihr Besuch wurde schließlich verboten. Es hieß, das Forschungsprogramm werde durch ihr Auftauchen gestört. Der Gorilla sei regelmäßig einen Tag vor ihrem Kommen unleidig, wolle nichts essen, reagiere aggressiv auf den Wärter und die Wissenschaftler.

Ein Mal, das hatte sie sich von der Direktion des Zoos erbeten, wollte sie den Gorilla noch sehen. Allerdings an einem Dienstag, nicht am gewohnten Freitag. Der Gorilla – hatte sie ihm, frage ich mich, einen Namen gegeben? – war mit einem Tauende beschäftigt, das er mit den Fingern und den Zähnen aufdröselte. Einen Moment war sie versucht, gegen die Glaswand zu klopfen, was streng verboten war. Nach einiger Zeit entdeckte er sie, kam mit zwei, drei mächtigen Sprüngen zur Scheibe. Er habe an dem Tag beide Handflächen an das Glas gelegt und sie habe ihre dagegengelegt, als wollten sie sich halten. Sie habe mit den Tränen gekämpft, habe sich umgedreht und sei gegangen. Nach wenigen Schritten habe sie hinter sich einen Knall gehört und ein Beben unter sich gespürt. Der Gorilla war mit der ganzen Wucht seines Körpergewichts gegen die Glaswand gesprungen.

 

Projektionen, sagte ein Verhaltensforscher und fand die Geschichte nicht so außergewöhnlich, sagte, man müsse sich doch nur die Beziehungen mancher Hunde zu den ihnen vertrauten, sie fütternden Personen ansehen, um etwas über die Empathie bei den Beteiligten zu erfahren, Hund wie Mensch, wobei die von Hund zu Hund, von Mensch zu Mensch und von Hund zu Mensch recht unterschiedlich ausgebildet sein könne.

 

Und wieder gehe ich durch die Werkstatt der Näherinnen, sehe sie sitzen, sehe ihr Aufblicken, daraufhin mein Lächeln, das ich selbst als derart verkrampft empfinde, dass ich mir vornehme, diesen Weg nicht mehr zu gehen, dann aber wieder warte, dass sie zum Abstempeln in unsere Werkstatt kommt.

Ihren Namen kann ich auch jetzt, nach der monatelangen Schreibarbeit, nicht aus dem Vergessen holen. Seit ich hieran schreibe, tauchen Situationen, Sätze, Gesten auf, aber nicht ihr Name.

 

Andere Gestalten drücken sich herum, einige fern und undeutlich, kommen während des Schreibens näher, werden deutlicher, keineswegs grau oder gar undurchsichtig, gekleidet in diese Fünfzigerjahre-Jacken, die Kleider, die Anzüge mit breitem Revers, die Hosen mit Aufschlag, die Brüste in steifen BH -Rüstungen, noch sind die Kleider wadenlang, einige wenige Röcke umspielen kühn das Knie. Sie, die immer mit der Handtasche schlenkert. Das aufgesteckte hochtoupierte Haar, darin ein Glitzerstern. Der Mann mit der Autobrille, den Schal schwungvoll um den Hals geworfen. Sie alle fordern ihre Namen, reiten mir nachts auf der Brust, oder wie jetzt, wenn ich den Kopf nach rechts drehe, da sagt einer: Mensch, sieh mich doch an, genau, wie heiße ich, und da, die Frau, die sich scheu zurückzieht, sagt, wenn du mich beim Namen nennst, komme ich. Und andere, von denen ich weiß, sie sind gestorben, plaudern munter, auch wenn ich ihnen zurufe, ihr könnt doch gar nicht mehr reden, reden sie weiter, ich vermisse den Strand, sagt einer, das Rauschen der Wellen. Ein anderer: Ein Glas Rotwein. Und die Frau dort redet vor sich hin: Es war eine Qual, eine furchtbare Arbeit, ja, Arbeit, aus dem Leben zu kommen. Was? Die Wärme. Kalt, murmelt er, kalt, ich friere, so geht er im Leichenhemd ins Dunkle. Nein, flüstert die junge Frau im karierten Bikini, das Schönste im Sommer ist doch, den warmen Sand durch die Finger rieseln zu lassen. Und der dahinten sagt: Den Wind, den sanften, abends vom Land auf die See wehenden. Das ist kein Wind, das ist Thermik, sagt eine Frauenstimme. Da ist einer, steht im Dunklen, sagt: Nieren, Nieren in Cognac, eine Frauenstimme, nur eine Zigarette. Mein Lieblingsessen, Kutteln mit Zwiebeln und, ganz wichtig, Lorbeer, und wieder ein anderer: Einfach ein Bier, kalt, dass es zischt. Einfach nur ein klares Glas Wasser. Nur das. So reden sie durcheinander. Die Wünsche der Toten, nichts Hehres. Bücher? Nein. Etwas anderes, Spürbares, Sonne, nein, Regen wollen sie, den plötzlichen Regen, aus dem Himmel stürzenden Regen, große Tropfen, unregelmäßig zuerst, mit kleinen über den Aufprall empörten Fühlern auf dem sonnenhellen Asphalt, dunkle Punkte, dann jäh die glänzend dunkle Fläche, der aufsteigende Geruch von Laub und Staub. Die Regenkühle auf dem Gesicht, und an den Häusern ringsum öffnet / sich ein Blumenfenster um das andere. Auch das, ein Anschreiben gegen das Vergessen. Reib dir die Augen, sieh mich an, nein, hierher.

 

Die Hände kühl. Die können, kommt man von draußen herein, kühl sein. Aber nicht derart, bis in die Arme, und dann sagte meine Schwester: Am Hinterkopf, ja, da war noch etwas Wärme, Leben, ein schwindender Rest, spürbar.

Später saß ich allein neben ihr, deren Hände die Krankenschwestern ineinandergelegt und zwischen die sie ein paar Gänseblümchen gesteckt hatten. Elim heißt das Krankenhaus. Dort hatte sie mich geboren, hier war sie gestorben, Elim, ein Ort der Ruhe, eine Oase mit zwölf Wasserquellen und siebzig Palmen. Moses hat dort nach der langen Wanderung durch die Wüste das Lager aufschlagen lassen.

 

Schnittmusterpapier, Schnipsel zusammengeschoben und dieser Satz: Möwen, die eine Ratte verfolgen. Krähengewitter.

 

Abends erzählte der Vater dem Kind die Geschichte vom Hamster Dickback, der in einer Blechdose zu einer Weltreise aufbricht, die Elbe hinuntertreibt, all die Abenteuer, die fremden Strände, Ufergestrüpp, die Hunde, der Regen und immer das glückliche Ende. Ging ich an seiner Hand, fürchtete ich nichts und niemanden.

 

Wie schweigsam die Toten im Traum sind.

 

Auf meinem Schreibtisch in Berlin steht eine chinesische Vase. Ich habe sie von dem Geld eines Literaturpreises in einem Antiquitätengeschäft in Hongkong gekauft. Ein Fehlbrand, in der Glasur eingeschlossen sind kleine Ascheflecken, und es gibt einige freie, von der Glasur nicht abgedeckte Stellen, die blaue Bemalung der Ranken ist zu einem expressionistischen Muster zerlaufen.

 

Die Seide aus Hongkong, lila, darin eingewebt die hellgrauen Kirschblüten.

 

Der Geruch der Kiefern, das horizontweite Blinken des Meers. Der Gesang von der nächsten Felsinsel, eine Amsel. Diejenige Amsel, die sich in ihrem Werben am meisten Mühe gibt, wird erhört.

 

Erik, die Reeperbahn, dieser Augenblick, als er auf dem Klavierhocker saß und in die Tasten griff, die uns umgebende Stille an diesem so denkbar fernsten Ort für ein Bach-Konzert, und doch war gerade hier der wahre Ort dafür. Bei den Besuchen in Jazzkellern, mit Johnny-Look, mit Quaet-Faslem, mit Jensen, Lothar Loewe, stand immer auch Erik mit im Raum, nachdenklich lauschend, kein Gefummel mit den Fingern, kein Klopfen mit dem Fuß, Michael Naura spielte im Barrett.

 

Mit Michael Naura bin ich später zweimal aufgetreten, einmal im Freien, auf dem Hamburger Rödingsmarkt, gemeinsam mit Peter Rühmkorf und anderen Schriftstellern. Wir lasen Gedichte auf der Ladefläche eines Lastwagens, auf dem gewaltige Verstärker aufgebaut worden waren. Überraschend viele der Vorbeieilenden blieben stehen und lauschten der Musik, auch den Gedichten. Der Jazz war für diese Aktion, Lyrik unter die Leute zu bringen, wichtig. Das Spielerische, Unverbindliche stand im Vordergrund, niemand sollte überzeugt werden, niemand predigte.

Anders die Agitprop-Gedichte, die wir später vor dem Fabriktor von Kampnagel lasen, keiner der Arbeiter blieb stehen, die wollten alle nur nach Hause, Feierabend, aus, auch wenn ihnen Ausbeutung und Kapitalismus hinterhergerufen wurde.

 

So anders im Auditorium Maximum der Hamburger Universität. Studentinnen und Studenten saßen auf den Treppen, lehnten an den Wänden. Michael Naura am Piano spielte mit seiner Band, und die Gruppe Hamburg linksliterarisch las Gedichte, Uwe Wandrey, Klaus Kuhnke, Joachim Fuhrmann, Diederich Hinrichsen und, wenn meine Erinnerung nicht trügt, auch Peter Rühmkorf, aber ganz sicher saß Peter Schütt mit auf dem Podium. Das war die kreative Zeit der Rebellion, die anarchische, antiautoritäre, in der unter dem Pflaster der Strand vermutet wurde und Eiffe der Bär seine surrealen Sprüche mit einem Filzstift in U-Bahn-Stationen schrieb. Peter Schütt, der immer das Gute, Richtige tun wollte, als Lutheraner, Katholik, Kommunist, später als Muslim, und jeweils zutiefst von seinem Tun überzeugt war, was ihm bei aller dogmatischen Enge etwas Glaubwürdiges gab. Der spätere Mitbegründer der Gruppe Roter Morgen behauptete, dass Schütt drei Waschlappen habe, einen für das Gesicht, einen für oben und einen für unten. Wir saßen auf der Bühne und von unten wurden mit Gejohle kleine Seifenstücke auf den Kommunisten Schütt geworfen. Michael Naura, der in einem Ort mit so vielen Ls und Us gestorben ist, wie man es sich als in Sprache und Musik Verstrickter nur wünschen kann, in Hollbüllhuus, kam vom Hard Bop. Die oft und immer wieder gehörte Platte Lyrik und Jazz, Gottfried Benns Gedichte von Gert Westphal gelesen, mit der Improvisation Dave Brubecks und Paul Desmonds.

Der Roman Rot hat den Pianisten und Jazzkritiker Thomas Linde als Protagonisten, der sein Geld als Beerdigungsredner verdient und sich ein Lied nach Ko-Ko von Charlie Parker pfeift. Gelesen habe ich diese Stelle aus dem Roman in Dillenburg. Der Posaunist Albert Mangelsdorff hat die Lesung improvisierend begleitet. Ich musste mich beim Lesen im Tempo drosseln und dann wieder Speed geben, so kam der Roman über den sterbenden Beerdigungsredner und Jazzpianisten musikalisch zu sich selbst. Und auch das Klatschen der Zuhörer später war eine eigenwillige Improvisation.

 

Einmal ging ich mit Johnny-Look nach Feierabend den Elbweg in Övelgönne entlang. Ein Herbsttag, die Sonne stand groß und tief im Westen. Auf dem ölig glänzenden Strom fuhren Fähren und hin und wieder ein Frachter. Brackig roch das Wasser und nach Öl und Rost. Ein Mann stand, die Hosenbeine aufgekrempelt, in den auf den Sand schwappenden Wellen und deklamierte in einer uns nicht verständlichen Sprache einen eigentümlich an- und abschwellenden Sprachgesang. Johnny-Look wollte nach Hause, musste etwas besorgen. Ich blieb, setzte mich in den Sand und lauschte. Nach einiger Zeit verstummte der Mann, blieb noch einen Augenblick stehen, drehte sich um und stapfte ans Ufer. Er setzte sich neben mich, und wir blickten über den Strom zu der am Horizont wie vom Gewicht des Tages gestaucht untergehenden Sonne. Er sprach Deutsch mit einem fremden Anklang. Während er sich seine abgetragenen Halbschuhe anzog, die ausgefransten Schnürsenkel zuband – wie eigentümlich sich Details, ohne ihre tiefere Bedeutung zu verraten, in unsere Erinnerung beharrlich gegen das Vergessen verkapseln –, fragte ich, in welcher Sprache er den Gesang vorgetragen habe. Georgisch, ein Epos, Der Recke im Tigerfell. Warum er das im Wasser stehend vorgetragen habe, fragte ich ihn. Weil mir sonst das Herz brennt. Ein Satz, den man nicht vergisst. Auch dieser Mann schrieb, was mich aufhorchen ließ, Gedichte, lange, sehr lange, und er rezitierte eine Strophe. Die Sonne war untergegangen.

Er reise durch Deutschland, Österreich und die Schweiz und trage dieses Epos vor. Was er zum Leben brauche, bekomme er durch Einladungen und Geschenke, auch zum Wohnen werde er eingeladen. So nähre ihn dieses Epos aus dem 12. Jahrhundert. Über die Jahrhunderte war es mündlich vorgetragen und angereichert worden durch Generationen von Sängern. Aufgezeichnet wurde es erst im 15. Jahrhundert.

Er lud mich ein, am nächsten Abend ins Curio-Haus zu kommen, wo er das Epos den hier im Exil lebenden Georgiern vortragen werde.

Am nächsten Tag ging ich von dem Wunsch getrieben, diesen unverständlichen und doch in seinem Melos begreiflichen Gesang nochmals zu hören, ins Curio-Haus.

In dem kleinen Saal hatten sich vielleicht dreißig Menschen versammelt, mehr Männer als Frauen, fast alle waren alt, grauhaarig und einfach gekleidet. Der Sänger trat auf, gekleidet wie am gestrigen späten Nachmittag, und wieder setzte dieser Sprechgesang ein, der Mann rezitierte mit sparsamen Bewegungen, die zuweilen pantomimisch innehielten. Ich verstand, ohne zu verstehen, und von einem Moment zum anderen begannen erst die Männer und danach die Frauen zu weinen, und ich dachte wohl, jetzt werden diese Tränen sein Herz kühlen.

Am Schluss umarmte sich die Gemeinde der Exilierten, auch ich wurde umarmt. Und so ging ich als Novize, mit dem Gefühl, eingeweiht worden zu sein.

War das ein Grund, später als Prüfungsstoff für das Rigorosum bei dem faszinierenden Hugo Kuhn die mittelalterlichen Epen zu wählen?

 

Eines Tages, nach all den Monaten, habe ich mir ein Herz gefasst – genau so – und die Unberührbare angesprochen. Ich arbeitete in Überstunden spätabends an einer Nerzjacke, die rechtzeitig zu Weihnachten ausgeliefert werden sollte, und sah sie auf unserem, dem den Kürschnern vorbehaltenen überdachten Balkon sitzen, im Mantel. Draußen fiel ein langsamer Regen. Sie saß da und blickte in die gleißende Nässe der Bergstraße, trank und aß etwas. Nie hatte ich sie auf dem Balkon gesehen, nicht im Sommer, nicht im Herbst, und jetzt saß sie da, allein, im Dunklen, und blickte hinunter auf die von Weihnachtsilluminationen nass leuchtende Straße. In der Werkstatt waren nur noch zwei, drei Kürschner und ein paar Näherinnen. Überstunden wurden gut bezahlt, allerdings durften, das schrieb das Arbeitsgesetz vor, Lehrlinge keine machen. Mit Jäckel hatte ich jedoch eine Vereinbarung getroffen, für fünf Überstunden konnte ich im neuen Jahr einen ganzen Tag freinehmen.

Ich hatte all meinen Mut zusammengenommen und mich mit einem Becher Tee zu ihr gesetzt. Sie sagte: Hallo, wie schön, und bot mir von ihren dreieckigen Schnittchen an, belegt mit Mett- und Leberwurst.

Ich fragte sie, um überhaupt etwas zu sagen, warum sie sich herausgesetzt habe.

Ich warte auf Schnee, sagte sie, heute könnte er erstmals fallen. Ja, sie freue sich jedes Mal auf den ersten Schnee. Die Temperatur liege jetzt bei null Grad.

Der Regen war kalt, er fiel langsam und schon schwer.

Irgendwann, sagte sie, plötzlich, fallen einzelne Tropfen als flauschige Flocken aus dem Himmel. Und wenn es richtig schneit, tut es mir leid, nicht am Fenster, sondern am Gang zu sitzen.

Wir blickten in den Regen.

Ich erzählte vom Schnee, wie ihn Amundsen beschrieb, wie dieser bei großer Kälte zu einem besonders kristallin dünnen Schnee werde, Himmelsfolk genannt.

Was für ein schönes Wort, sagte sie.

Der könne sich aber recht schnell zu einem schweren Schneefall wandeln, bei dem man völlig die Orientierung verliere. Und dann diese vielen Worte für Schnee, ein Wort für den Schnee, der auf Ästen liegt, eins für den Schnee, der vom Hang herunterweht, oder eins für eine Schneeschicht, unter der die Tiere noch Futter finden können. Ich hatte mich ein wenig in Begeisterung geredet.

Sie fragte, woher ich das wisse. Reisebeschreibungen von Nansen und Amundsen. Und dazu ein Buch über den Schnee. Bücher, die ich in der Stille des Sortierzimmers gelesen hatte.

Ihr Wunsch sei es, einmal in die Schweiz zu fahren, in einen dieser Orte, die sie von Fotos und Filmen kannte. Zu Hause habe sie ein Foto an der Wand, sagte sie, das Greta Garbo mit einer schneebestäubten Zobelfellmütze zeige. Pelze können so wunderschön sein.

Sie hielt mir die Thermosflasche hin.

Kaffee?

Gern. Ich trank den Rest meines Tees aus, hielt ihr den Becher hin.

Schade, sagte sie, nur noch ein Schluck. Aber heiß.

Wir saßen einen langen Augenblick zusammen und schwiegen. Von unten der nass quietschende Lärm der Autoreifen, Motorengeräusch, Menschen unter Regenschirmen, der Lichterglanz der Geschäfte auf dem Asphalt.

Ich hoffte so sehr, ihr die erste feuchte Flocke in dem langsam fallenden Regen zeigen zu können.

Sie fragte nach der Gesellenprüfung, die in zwei Monaten begann, und welches Arbeitsstück ich für die Prüfung anfertigen wolle.

Einen Persianermantel, naturgrau, und eine Nerzstola.

Ganz schön kompliziert?

Es geht.

Ich erzählte ihr, dass ich gerade an einer Nutriajacke arbeitete, die etwas ausgefallen sei. Ausgefallen, weil die Felle tief dunkelbraun und so wunderbar leicht seien.

Schade, sagte sie, da passt die Seide nicht gut dazu. Vor zwei Wochen sei Seide aus Hongkong geliefert worden, ein tiefes Lila mit zarten, stilisierten hellgrauen Kirschblüten darin. Leicht sei die Seide und doch fest, und dieses leuchtende Lila.

Das Braun der Felle ist ein sehr tiefes, fast ins Schwarze führende Braun, jedenfalls am Rücken. Vielleicht könnte die Seide doch passen, sagte ich und wusste, welche Seide für welche Pelze genommen wurde, darüber entschied allein die Directrice.

Komm, wir gehen rein, sagte sie, sonst erkältest du dich.

Das Unglück wollte es, dass in dem Moment, als wir die Werkstatt betraten, die rheinische Frohnatur hinzukam – oder hatte er gewartet? – und die Unberührbare fragte, ob sie, die doch so eine schöne Sopranstimme habe, nicht mit im Kürschner-Chor singen wolle. Der Chor treffe sich regelmäßig und die Proben seien ein Vergnügen, auch danach, das Beisammensein bei einem Glas Wein, das gehöre zum Gesang. Ich stand daneben und hätte diesen Mann, der stets freundlich zu den Lehrlingen war, erwürgen mögen.

Und du, wandte sie sich an mich, ohne ihm eine Antwort zu geben, hättest du Lust?

Ich kann nicht singen.

Jeder kann singen, sagte der Rheinländer und lachte.

Mein Musiklehrer hat mich aus dem Chor geworfen. Er glaubte, ich singe absichtlich falsch.

Die rheinische Frohnatur drehte mir den Rücken zu, redete weiter auf die Unberührbare ein.

Ich nickte ihr zu und ging zu meiner Arbeit, wütend über mich, dass ich mich so hatte beiseiteschieben lassen. Ich arbeitete unkonzentriert, war in Selbstgesprächen versunken, suchte nach Sätzen, die den Rheinländer stumm werden ließen.

Wie lange brauchte es, diese gehorsame Schüchternheit abzulegen? Den Unwillen, nein, die Wut zu zeigen?

 

Zwei Tage vor Heiligabend ging ich an den Tischen der Handnäherinnen entlang, sah sie sitzen, über ihre Arbeit gebeugt, sie blickte hoch, und das war kein Lächeln, sondern ein Strahlen, und zum ersten Mal sprach sie mich in der Werkstatt an, fragte: Gefällt dir die Seide?

Und ich sah, sie hatte die von mir gearbeitete Jacke auf dem Tisch liegen und war damit beschäftigt, die chinesische Seide einzuheften, lila, mit dem Muster kleiner stilisierter Kirschblütenzweige.

Was habe ich gesagt? Vielleicht: Wunderbar oder Wie schön.

Aber ich wusste, dass ich rot wurde, denn die am Tisch sitzenden Näherinnen lachten, und auch von den anderen Tischen drehten sich die Frauen um. Ein freundliches, aufmunterndes Lachen. Vielleicht hatten all die anderen längst bemerkt, was ich mit einem gleichmütigen Blick zu verbergen suchte.

Ich ging weiter zum Teeraum und versuchte, mich darauf zu konzentrieren, die Füße richtig zu setzen. Steif ging ich und verkrampft, und jede, dachte ich, jede der vierzig Frauen sieht, dass du vor Freude falsch gehst.

Im Waschraum hielt ich mein Gesicht unter das laufende kalte Wasser.

 

Die Gesellenstücke: ein Mantel aus grauen Naturpersianerfellen, eine Stola aus hellbraunen Wildnerzen. Wildnerze waren selten und teuer und schwierig zu verarbeiten, da sie im Gegensatz zu Zuchtnerzen von Fell zu Fell in Haardichte und Färbung stärker voneinander abwichen. Beides, Mantel und Stola, musste in der Modeschule unter Aufsicht der Innungsmeister angefertigt werden. Einer der älteren Meister sagte mit dem Blick auf den aufgezweckten Persianermantel mit seinen zahlreichen Zackeneinschnitten: Erst auseinanderschneiden und dann wieder zusammennähen, das ist jetzt die neue Masche. Die alte Methode war, dass die Felle einfach aneinandergenäht wurden. Die komplizierte neue Masche brachte die jeweils ähnlichen Partien der Felle zusammen, die in der Lockenbildung und im Glanz zueinanderpassten, und schuf einheitliche Vorder- und Rückenteile. Es war das Gegenteil der alten Schule, wo alles irgendwie schon zueinanderpasste. Hinzu kam die von Johnny-Look erlernte akribische, mit schwarzer Ausziehtusche gezeichnete maßstabgetreue Konstruktionszeichnung der ausgelassenen Stola.

Zwei Lehrlinge der Firma Levermann bestanden mit Auszeichnung. Levermann ließ die Nachricht als einen Prestigeerfolg seiner Firma in die Zeitung setzen. Wir bekamen zwei Monate vor Ablauf der Lehrlingszeit, mein Lehrlingskollege Gert Kranz und ich, den Lohn eines Gesellen, wobei wir schon seit Monaten die Arbeit von Gesellen gemacht hatten – allerdings zu der geringen Ausbildungsvergütung. Lehrlinge im dritten Jahr brachten, wenn sie denn genau und zügig arbeiteten, den Handwerksbetrieben einen erheblichen Gewinn. Gert Kranz habe ich als einen genau arbeitenden, klugen und mutigen Kollegen und Freund in Erinnerung, allein diese Szene, wie er, der eher schwach wirkte und Brillenträger war, in einer Freistunde der Berufsschule von einem Angeber und Schläger angerempelt wurde, ruhig die Brille abnahm und wie aus dem Nichts dem Großkotz kurz und trocken mit voller Wucht die Faust aufs Maul schlug, eine Wucht, die den Mann auf den Hintern fallen ließ, Blut spuckend und benommen stand er auf und setzte sich auf seinen Platz.

 

Kam die Unberührbare zum Abstempeln, leider stand ich weit entfernt von der Uhr, lachte sie einen Gruß in meine Richtung. Ich hätte, egal, was die anderen dachten, hingehen und einfach fragen sollen: Können wir uns auf einen Kaffee treffen? Aber das Einfache war unendlich schwer. Das war nicht so beiläufig zu sagen, und Kaffee hörte sich nach einem Kränzchen alter Frauen an. Bier hörte sich nach Kneipe an. Und Wein wurde damals nicht so selbstverständlich getrunken, Wein klang nach Gesellschaft, nach abgedunkeltem Licht, engem Tanz, nach Verführung. Also keinen Wein, sondern Kaffee, besser noch Tee. Ich schwieg.

 

Am 17. April 1958, einem Samstag, so sagt meine Erinnerung, es war kalendarisch aber ein Donnerstag, arbeitete ich an einer Rotfuchsstola. Die Kundin, Gattin eines Chefarztes – hin und wieder wusste man, für wen man arbeitete –, wollte die Stola bei einem Opernbesuch tragen. Werkmeister Jäckel hatte mir ein Bündel Rotfüchse hingelegt und gesagt: Das schaffen Sie doch bis nächsten Dienstag. Nach der Gesellenprüfung hatte sich die Ansprache vom Befehl zur imperativen Frage und zum Sie verfeinert, verbunden mit dem wesentlich besseren Verdienst, dem wöchentlichen Lohn.

Ich saß an diesem Donnerstag, berechnete die Felle zur Verlängerung, vor allem zu den unterschiedlich geschweiften Fuchsfellbahnen. Ein, zwei Maschinennäherinnen waren in der Werkstatt, die eilige Arbeiten fertigstellen mussten. Das leise Surren der Maschinen, das sich beim Nähen verstärkte. Von unten, von der Straße, vom nahe gelegenen Rathausmarkt, waren Stimmen aus dem Lautsprecher zu hören und immer wieder ein aufbrandendes Klatschen, Sprechchöre verstärkt durch den Straßentrichter. Über hundertfünfzigtausend Menschen waren gekommen und demonstrierten gegen die von Adenauer und Strauß geplante Atombewaffnung der Bundeswehr.

Schon aus der Straßenbahn in Eimsbüttel hatte man die Menschen verfolgen können, die Richtung Innenstadt zum Rathaus zogen. Dann hatte die Straßenbahn gehalten. Die Straße war gesperrt. Eine Zeit lang war ich mit den Demonstrierenden, die von überallher dem Rathausplatz zustrebten, mitgegangen, dann aber, die Arbeit musste getan werden, zur Werkstatt abgebogen.

Irgendwo in dieser Menschenmenge waren auch meine Mutter und Tante Martha. Ihr Mann, Onkel Tommy, Besitzer einer kleinen Werft, hatte der Tante verboten, zu der Demonstration zu gehen. Tante Martha, jüngste Schwester meines Vaters, hatte in die Ehe nichts als ihre blonde Schönheit einbringen können. Sie wurde von Onkel Tommy, dessen Mutter Engländerin war, in der Langenhorner Villa wie eine Leibeigene gehalten. Bekam ein geringes Taschengeld, musste über Ausgaben genau Buch führen und sich jede Woche von ihrem Mann die Wochenausgaben abzeichnen lassen. Er erlaubte ihr nicht, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. Größere Ausgaben waren allein der Kleidung vorbehalten. Daran sparte Onkel Tommy nicht, schließlich musste sie repräsentieren. Ihre Pelzmäntel kaufte er zur Verbitterung meines Vaters nicht bei Pelze Timm, sondern bei Edelpelz Berger.

Sie hatte auf meine was Bewaffnung und einen möglichen Krieg anging hoch empfindliche Mutter eingeredet, dass man nicht nur kritisieren dürfe, sondern auch etwas tun müsse. Die Atomaufrüstung müsse verhindert werden.

Die beiden Frauen waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf eine Demonstration gegangen. Tante Martha hatte ein Schild gemalt: Keine Atomwaffen! Gesehen habe ich sie nicht, auch nicht die Mutter, obwohl wir uns an der Buchhandlung im Fölsch-Block verabredet hatten. Es war kein Durchkommen.

Zunächst musste ich noch arbeiten, berechnete den Nahtverlust und die Schwünge der Streifen, schnitt die Felle ein, hörte vom Rathaus die Lautsprecher und die Sprechchöre: Keine Atomwaffen. Kein Atomkrieg. Es wurde eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik, und sie war ein Grund dafür, dass die Adenauer-Regierung ihren Plan für eine Atombewaffnung aufgeben musste.

In den Wochen zuvor war, nach dem Protestbrief von Göttinger Wissenschaftlern, darunter Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker, in der Werkstatt diskutiert worden. Alle waren sich darin einig, Breitkamp, der Leutnant, der ehemalige Korvettenkapitän Quaet-Faslem, auch die Kürschner, die noch als Flakhelfer eingezogen worden waren, Meister Kruse, Johnny-Look, Drechsler und alle Näherinnen, dass dieser von Adenauer und Strauß vorgebrachte Plan, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten, unbedingt verhindert werden musste. Ich kann mich an keine Stimme erinnern, die sich für eine Atombewaffnung ausgesprochen hätte. Auch der Vater war strikt dagegen. Nie wieder Krieg war nicht nur ein Slogan, noch sah man die Folgen im Alltag, die Kriegsverletzten an Krücken oder mit quietschenden Prothesen, die umgeschlagenen Jackenärmel, und noch immer wurden im Radio die Namen der vermissten Kinder und Soldaten durchgesagt.

Am frühen Abend ging ich zu Fuß nach Hause, obwohl die Straßenbahnen wieder fuhren. Auf den Straßen waren noch immer erregt diskutierende Menschen zu sehen. An Laternen und Hauswänden standen zusammengestellt Plakate und Schilder, darunter war irgendwo auch das Plakat von Tante Martha. Sie soll, nachdem sie am Abend heimgekommen war, gelacht haben, wie Tochter Lily später erzählte, und richtig gelöst gewesen sein. Als ihr Mann sie fragte, wo sie herkomme, lautete ihre knappe Antwort: Vom Demonstrieren.

 

Im Mai wurde die Gesellenprüfung gefeiert. Gesellen und Näherinnen wurden in das Brauhaus am Dammtor-Bahnhof eingeladen. Johnny-Look, der inzwischen in einer anderen Kürschnerei arbeitete, war gekommen. Breitkamp lernte für seine Meisterprüfung. Walther Kruse hatte sich entschuldigt. Zoern sagte, in diesen Bums am Dammtor gehe er nicht. So waren nur die jungen Kürschner und Näherinnen mitgekommen. Diese feinen, noch aus der Zeit der Zünfte stammenden Unterschiede wurden mit der Gesellenprüfung – je nachdem, von welcher Warte man es sah – eingeebnet oder hervorgehoben. Die Gesellen, die den Lehrling duzten, boten ihm nun selbst das Du an, die weiter gesiezt werden wollten, sprachen einen mit Sie an. Ich empfand es als eine freundschaftliche Ehre, dass Walther Kruse, der sich mit allen siezte, mir schon kurz vor der Prüfung das Du angeboten hatte.

Zu meiner Überraschung war die Unberührbare gekommen. Sie saß mir schräg links gegenüber, an einem langen, blau-weiß kariert gedeckten Holztisch. Bier wurde getrunken, Wein, ein saurer Weißwein, dazu gab es Salzbrezeln. Anfang Mai, ein warmer Tag, so will es die Erinnerung, als sie mir, über den Tisch vorgebeugt, erzählte, sie habe gekündigt, gehe zur Konkurrenz, zu Edelpelz Berger.

Diese plötzliche Kälte im Herzen.

Wann?

In vierzehn Tagen.

Wie schade, kam es spontan aus meinem Mund. Und ich verstummte, hörte, wie am Tisch darüber geredet wurde, ob man so einfach zur Konkurrenz gehen könne, und das Gespräch verlor sich in Anekdoten über den Inhaber Otto Berger. Im Saal und auf der Terrasse wurde getanzt. Foxtrott, Rumba, die Schritte waren in der Tanzstunde geübt. Wie üblich wurde zwischendurch Damenwahl angesagt. Die Unberührbare stand auf, ging um den Tisch und auf mich zu, machte einen Knicks und forderte mich auf. Abends versuchte ich, das zu beschreiben, diesen Aufruhr des Herzens, fast am Hals schien es zu schlagen, ja, zu schlagen, diese Wirrnis, die Gesichter der Sitzenden, deren dummes Staunen, die mich, die uns anstarrten – sie nahm mich an der Hand und zog mich zur Tanzfläche, die auf die Terrasse hinausging, dahinter eine schmale Gartenanlage, die Eisenbahnbrücke, die Gleise, eine schnaufende Lokomotive, schrill quietschendes Metall der Räder. Der Tanzkurs war eine Vorbereitung auf diesen Moment gewesen, ein Foxtrott, geredet haben wir nicht, entfernten uns von den anderen Paaren, das Gefühl, weggetragen zu werden, Verwirrung, Parfum, die Fülle der Haare vor Augen, an der Wange, dieser Duft und die Sensation, erstmals ein so ganz anderes Spüren einer Frau, die überraschende Weichheit der Schenkel, den zart gewölbten Schoß, die Brüste, ihren um meinen Hals gelegten Arm. Lange standen wir in der fernen Ecke der Veranda. Der Geschmack des Lippenstifts.

Ich muss gehen, sagte sie schließlich. Benommen folgte ich ihr zum Tisch, wo die Gesichter sich in anzüglich grinsende verwandelt hatten. Sie nahm ihre Tasche. Bleib hier, sagte sie, bleib sitzen, aber ich ging wie ein Mondsüchtiger hinter ihr her, brachte sie zur Straßenbahn, bleib da, sagte sie, gab mir einen Kuss und stieg ein, bis Montag.

 

Als Breitkamp mich am Montagmorgen in der Teeküche fragte, wie die Feier gewesen sei, da quoll mir das Herz über, nein, es war kein Renommieren, sondern nur die Erleichterung, spontan erzählen zu können, wofür ich in der Nacht zuvor nicht die Worte hatte finden können, eine hemmungslos überbordende Begeisterung. Meine Güte, sagte er, du bist wirklich ein Spätzünder. Und da bemerkte ich, dass sie neben dem Vorhang gestanden hatte und alles mitgehört haben musste, mein Reden, ja, doch auch dieses Unwürdige, ausgerechnet ihm, Breitkamp, davon erzählt zu haben, wobei ebendenen, die selbst alles auf der Zunge haben, das Überwältigende leichter zu erzählen ist als den Verschwiegenen. Und dass sie es gehört hatte, sagte ihr Blick, ein getrübter Blick, ein schmales Lächeln. Enttäuschung lag darin. Ich hätte mit dem Kopf gegen die Wand rennen mögen.

In den folgenden Tagen der wiederholte Versuch, sie anzusprechen, eine Entschuldigung, eine Begründung für meine Geschwätzigkeit zu finden, zu erklären, dass mich das Glück überwältigt hatte, dass es vielleicht, ja, doch diese Freude, dieser Jubel gewesen war, erwählt worden zu sein, und wer wünscht sich nicht, erwählt zu werden.

Sie blickte nicht mehr hoch, wenn ich durch die Werkstatt vorbei an den Tischen der Näherinnen ging. Ich wollte sie ansprechen, aber sie verließ jedes Mal mit anderen Näherinnen die Werkstatt, so wie sie stets mit einer befreundeten Kollegin kam. Der Mut fehlte mir, sie trotz der anderen Frauen anzusprechen, ich will mit dir reden, verzeih, dass ich geredet habe. Nie wieder, das habe ich mir geschworen, werde ich etwas erzählen!

Dieser fürchterlich quälende Gedanke, dass sie das Geschehene bereute.

Ich versuchte einen Brief zu schreiben, wollte erklären, wie ich zu dieser peinlichen Dummheit des Ausplauderns gekommen war, mein Überraschtsein und der Stolz, da ich … weil ich … Mehrere Anfänge und immer dieses Ungenügen, keine Worte für dieses Zarte einer Empfindung zu finden und keine für das Versagen und keine für das Glück des Erwähltseins. Auch der Stolz? Aber das Wort Stolz gab dem Urheber eine Bedeutung, die dem Zerknirschten gar nicht entsprach.

Die klein gerissenen Papierschnitzel am Boden zeigten: Mir fehlte die Sprache.

 

Überraschend – ich bin nicht abergläubisch, jedoch ein Beobachter sinnbildender Koinzidenzen – begann sich, als ich an dieser Stelle schrieb, der Zwischenraum zweier Absätze auf dem Bildschirm schwarz zu füllen. Bei dem Versuch, das Schwarz zu löschen, bildeten sich weitere schwarze Zwischenräume, sodann ein Rand mit einem dicken schwarzen Balken, und wenig später war der ganze Bildschirm schwarz. Ein tiefer Schreck: Gerade dieser eben geschriebene, mir so wichtige Text könne vollständig gelöscht sein. Mein Sohn konnte bei einem Telefonat den Schaden beheben, ohne je Ähnliches erlebt zu haben. Das Schwarzwerden hat sich inzwischen mehrmals wiederholt.

Ein neuer Rechner ist fällig.