Staten Island, die Nacht vom 29. auf den 30. August
Als der heftige Ruck durch die Limousine lief, stieß Annie Little einen spitzen Überraschungsschrei aus. Sie merkte, wie der Wagen dank ABS zwar abrupt, aber kontrolliert zum Stillstand kam, und klopfte mit den Knöcheln gegen die getönte Scheibe, die sich wenig später mit einem leisen Sauggeräusch nach unten senkte.
»Was ist passiert?«, fragte Annie im gleichen Moment, als India sich neben dem apricotfarbenen Sharpei zu regen begann. Der Welpe machte einen seiner üblichen unnatürlich wirkenden Bellversuche, legte aber den nilpferdähnlichen Kopf mit den nach vorn geklappten Ohren sofort wieder friedlich auf die Vorderpfoten. Als Wachhund war er völlig überfordert.
Annie hatte eine Abneigung gegen das völlig überzüchtete Schoßhündchen, das India vor ein paar Wochen anlässlich ihres 5. Geburtstages, passend zur Tapete ihres Kinderzimmers, von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte.
»Da vorn liegt jemand«, sagte Harry, der Chauffeur, ohne den Kopf zu drehen.
»Ein Unfall?«, krähte India sofort hellwach. Sie befreite ihren Lockenschopf aus den Falten des chinesischen Hirtenhundes.
Annie schüttelte unsicher den Kopf und befahl: »Leg dich wieder hin. Harry macht das schon!«
»Hoffentlich«, knurrte Harry.
India sah nicht aus, als wollte sie um diese Zeit und an diesem Ort Befehle ihrer Nanny annehmen. Der Sharpei heulte auf, als er von ihr als Trittleiter missbraucht wurde, damit sie über die Sitzlehne hinwegsehen konnte.
Annie ließ es seufzend geschehen. Als sie sich selbst vorbeugte, sah sie das Bündel im Scheinwerferlicht. Eine Gestalt, vermutlich eine alte Frau, lag mit grotesk verrenkten Gliedern mitten auf der Fahrbahn. Regungslos. Das Gesicht lag nach unten. Das sackartige Kleid verhüllte das meiste.
»Ist die Oma tot?«, flüsterte India.
»Steigen Sie nicht aus?«, fragte Annie, ohne darauf zu achten.
Der Chauffeur knurrte etwas Unverständliches und fügte dann deutlich hörbar hinzu: »Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht!«
»Vielleicht lebt sie noch«, herrschte Annie ihn an. Sie schlief hin und wieder mit Harry, der genauso schwarz wie sie selbst war, aber in der Öffentlichkeit – und dazu zählte auch jeder Ort, an dem India mit von der Partie war – hielten sie vordergründige Distanz. Wie viele weiße Familien mit Vermögen bevorzugten auch die Wyatts dunkelhäutige Bedienstete – aber sie sahen es überhaupt nicht gern, wenn sich innerhalb des Personals etwas abspielte. Die Dienstverträge enthielten eine Klausel, die solche Fälle äußerst unromantisch regulierte.
»Ich rufe die Polizei«, entschied Harry. Er griff nach dem Telefonhörer. Der 12-Zylinder schnurrte weiter, während die Limousine mit angezogener Handbremse dastand.
Sie befanden sich auf der Rückfahrt von einem Kindergeburtstag auf Staten Island, und es würde ohnehin Ärger geben, weil Annie sich von India zu einer Überschreitung des Zeitlimits hatte breitschlagen lassen.
Annies stille Hoffnung war, dass sie den Unfall – oder was immer es war – als Grund für ihre Verspätung anführen konnte. Zu diesem Zweck musste Harry aber mitspielen.
»Und wenn sie noch lebt – aber vor unseren Augen stirbt, weil wir nichts tun?«
Sie sagte es, obwohl Harrys Zögern berechtigt war. Schon angesichts der Meldungen, die seit Tagen durch die Presse geisterten.
Die Straße unweit des High Rock Parks lag gottverlassen in der Dunkelheit. Seit ihrem Aufbruch war ihnen kein Fahrzeug mehr begegnet. Es musste kurz vor 23 Uhr sein. Um diese Zeit hätte die Limousine bereits auf dem Grundstück der Wyatts einrollen müssen. Nur mit Mühe hatte Annie den Mann am Steuer davon abhalten können, schon früher telefonischen Kontakt mit ihren Brötchengebern aufzunehmen.
Harry tastete routiniert eine Nummer in den Hörer.
Annie handelte, ohne zu überlegen. Mit einem Ruck öffnete sie die Fondtür und kletterte in die kühle Nacht. Ein Insekt taumelte gegen ihr erhitztes Gesicht, als sie an Harry vorbei nach vorn eilte, wo die Gestalt lag.
»Bleib stehen, du Verrückte!«
Angesichts ihres Alleingangs verzichtete Harry auf jede falsche Etikette. India krähte vergnügt, als auch er aus dem Wagen sprang und dem Kindermädchen nacheilte.
»Das wird Folgen ...«, setzte er an, als er das Bündel fast gleichzeitig mit ihr erreichte.
Der Rest seiner Predigt erstickte in einem dumpfen Stöhnen, mit dem er neben Annie zu Boden schlug. Aus den Büschen am Wegrand war eine maskierte Gestalt hervorgesprungen und hatte blitzschnell und mit großer Brutalität zugeschlagen.
Indias gellender Schrei zerriss die Stille.
Dazwischen klang verschrecktes Bellen.
Annie realisierte die veränderte Situation erst richtig, als sich der Baseball-Schläger zum zweiten Mal hob.