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Der Ruf erreichte uns exakt 23:17 Uhr auf dem Nachhauseweg. Aus dem Sprechfunk meines Sportwagens bellte eine Stimme, die unmöglich Linda Sanders, unserem Engel in der Zentrale, gehören konnte. Grabestief, feldwebelmäßig und nur mit sehr viel gutem Willen überhaupt als weiblich identifizierbar, scholl es uns entgegen: »Entführung auf Staten Island ...«

Auch Engel brauchen Schlaf. Deshalb verziehen wir Linda die Wahl ihrer Nachtvertretung, für die sie ohnehin nichts konnte. Milo murmelte noch etwas von »Stimmbruch«, dann hatten wir die Meldung bereits bestätigt und hielten Kurs auf den Brooklyn Battery Tunnel, der uns auf dem kürzesten Weg unter dem East River hindurch auf die andere Seite brachte. Von dort ging es oberirdisch weiter über den Gowanus Expressway zur Verrazano Narrows Bridge.

Nach dieser Brücke befanden wir uns bereits auf Staten Island. Kurz darauf begegneten uns zwei sirenenheulende Ambulanzfahrzeuge mit zuckenden Lichtschienen.

Als wir den Tatort in der Nähe des High Rock Parks erreichten, herrschte ungewöhnlich wenig Gewimmel. Die üblichen Schaulustigen fehlten völlig. Die Straße lag einsam in einem kleinen Waldstück ohne direkten Kontakt zu einem Wohngebiet. Mehrere Streifenwagen und ein Privatfahrzeug – ein schwarzer Kleintransporter – hielten am Wegrand. Mitten auf dem linken Fahrbahnstreifen stand eine gewaltige Limousine. Jeweils eine Tür vorn und hinten waren geöffnet.

Wir wiesen uns aus und wurden von einem Cop zum Einsatzleiter der City Police geführt. Sein Name war Jenkins. Detective Lieutenant. Im Fachjargon einfach »Teck« genannt. Er war höchstens vierzig und gestikulierte wie aufgezogen, während er uns Meldung erstattete. Die Narbe quer über die linke Gesichtshälfte hatte er sich bestimmt nicht beim Rasieren zugezogen.

»Als wir kamen, war schon alles vorbei«, sagte er. »Ein Mann, der mit seinem Kleintransporter unterwegs war, hat uns per Funk benachrichtigt.« Er nickte hinter sich, und wir ahnten, dass dieser Autofahrer gerade irgendwo in der Dunkelheit Protokolle diktierte. »Der Motor des Wagens lief noch, als wir eintrafen. Der Chauffeur und eine junge Frau, beide schwarz, lagen bewusstlos im Scheinwerferlicht auf der Fahrbahn. Sie befinden sich bereits auf dem Weg in die nächstgelegene Klinik. Beide wiesen schwerwiegende Schädelverletzungen auf. Eine ausführliche Diagnose kann erst nach den Röntgenaufnahmen erfolgen.«

Ich nickte Jenkins zu.

»Das Entführungsopfer ist die fünfjährige India Wyatt«, fuhr der Teck fort. »Erst ein Anruf bei ihren Eltern brachte ans Licht, dass es sich überhaupt um eine Entführung handelt. Das Mädchen war zusammen mit seinem Kindermädchen auf einem Kindergeburtstag hier in der Nähe. Sie befanden sich auf dem Nachhauseweg, als die Falle zuschlug.«

Er führte uns zum Wagen.

»Wir warten auf Ihre Männer«, sagte Jenkins. »Es wurde, mit Ausnahme der notversorgten Opfer, nichts angerührt.«

Er sprach unseren FBI-eigenen Spurendienst an, der den Ruf genoss, selbst anhand winzigster Partikel Rückschlüsse auf Kleidung, Geschlecht und Alter von Tätern herbeiführen zu können.

»Was ist das?«, fragte Milo, der uns ein paar Schritte vorausgeeilt war und die Polizisten, die uns bislang den Blick versperrt hatten, weg scheuchte.

Zunächst hatte es so ausgesehen, als läge zwischen den Kreidezeichnungen noch eine dritte Person. Aber man erkannte bald, dass es sich nur um eine Puppe handelte.

Wenn es sich um unseren Serientäter handelte, konnte man ihm nicht nachsagen, dass er sich nicht immer wieder etwas Neues einfallen ließ. Möglich aber auch, dass wir es mit einem von den Medien animierten Trittbrettfahrer zu tun hatten.

»Die Puppe diente dazu, den Wagen zu stoppen«, erklärte Jenkins das Offensichtliche. »Dass der Kidnapper sie hier zurückließ, beweist, wie sicher er sich fühlt.«

»Was ist mit den Eltern?«, fragte ich. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich die Ankunft eines kastenförmigen FBI-Einsatzwagens. Warren Clymer und sein Team. Sie würden Wagen und Umgebung auf den Kopf stellen und möglicherweise verwertbare Hinweise auf das Täterfahrzeug finden, das irgendwo abgestellt gewesen sein musste. Dass der Kidnapper die Wälder – zunächst solo und später samt Opfer – in Lederstrumpf-Manier durcheilt hatte, war höchst unwahrscheinlich.

»Sie sind unterwegs hierher«, sagte Jenkins.

Ein missglücktes Bellen lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich.

Milo rief: »Himmel, was ist denn das?!«

Der Teck zuckte die Achseln. Ein Cop stand neben der Limousine und hielt einen Welpen, faltig wie eine Ziehharmonika und mit hochgestelltem Ringelschwänzchen, auf dem Arm. Das kleine Wesen sah aus wie ein Häuflein Elend.

»Das Tier saß im Fond«, berichtete Jenkins. »War wohl das Schoßhündchen der Entführten. – Haben Sie so was schon mal gesehen?«

Milo und ich schüttelten einträchtig den Kopf. Als die Wyatts später eintrafen, wurden wir aufgeklärt.

Mrs. Wyatt hielt einen zweiten Faltenhund auf dem Arm. Fliederfarben.

»Sind die Tiere krank?«, wagte Milo zu fragen.

Nachdem wir erfahren hatten, dass die jungen Sharpeis erst noch in ihre Felle hineinwachsen mussten und sich bis dahin durch den beliebten Kleinkinder-Kuscheleffekt auszeichneten, ließen wir das Thema ruhen. Es war deprimierend genug zu sehen, dass Mrs. Wyatt mehr Leidenschaft für ihr dekadentes Statussymbol aufbrachte, als für das Schicksal ihrer leiblichen Tochter oder den Gesundheitszustand ihres Personals.

Mr. Wyatt, Boss eines Immobilienmakler-Büros, gab sich etwas betroffener, wirkte dabei aber wie ein drittklassiger Mime, dem zwar sein Verstand sagte, er müsse angesichts des Tatbestands Erschütterung zeigen. Tief im Herzen schien er mit solchen Gefühlen jedoch ebenso wenig anfangen zu können wie sein Vorzeige-Frauchen.

Trotz ihres Vermögens und ihres gesellschaftlichen Ranges war leicht zu entlarven, was sie in Wirklichkeit waren – und was sie ihren Sharpeis näher brachte, als sie selbst ahnten.

Arme Hunde.