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Als das Riverside Hospital uns informierte, dass das Kindermädchen der entführten India Wyatt aus der Bewusstlosigkeit erwacht war, betrachteten wir uns gerade eines von Angus Tycons Machwerken. Ein Video mit dem bezeichnenden Titel »Das Silvester-Massaker«. Nach dieser Kostprobe wussten wir Tycons »Kunst« besser einzuschätzen. Er hatte bei der Blutmatsch-Orgie selbst Regie geführt. Aber das war nicht das Traurigste. Was einem wirklich zu denken gab, war, dass es ganz offenbar Abnehmer für diese Primitiv-Unterhaltung gab.

»Das ist ja schon fast krankhaft, was da abgeht«, brachte Clive, der mit von der Partie war, auf den Punkt.

»Den Kerl, der das verbrochen hat, würde ich gern mal auf die Couch schicken.«

Wir unterbrachen die Vorführung, um sofort zum Krankenhaus zu fahren.

Kaum dass wir die Intensivstation, wo das Kindermädchen immer noch unter strengster ärztlicher Kontrolle lag, betraten, eilte uns auch schon der bereits bekannte Arzt entgegen.

»Der Mann, Harry Dove, ist heute Nacht seinen Verletzungen erlegen«, empfing er uns. »Ich wollte es Ihnen nicht am Telefon sagen, weil sie ohnehin vorbeikommen wollten.«

Das war kein guter Auftakt.

Damit wurde die Liste der bisherigen Vergehen, die der Unbekannte bereits auf sich geladen hatte, um den ersten Mord bereichert.

Sonderlich rücksichtsvoll war er ohnehin nicht vorgegangen. Weder bei den Entführungen selbst, noch bei der Freisetzung von Luke Glover. Die Art und Weise, wie er ihn auf dem Fluss ausgesetzt hatte, hätte uns ohne weiteres schon viel früher einen Toten bescheren können.

Unwillkürlich rief ich mir das Erscheinungsbild von Angus Tycon in Erinnerung. Es bereitete mir größte Probleme, mir diesen Allerweltstyp als Drahtzieher dieses undurchschaubaren Manövers vorzustellen.

Obwohl, Regisseure ...

»Wie geht es der Frau?«, fragte Milo.

»Sie wird durchkommen. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass ihre Motorik bleibenden Schaden davonträgt.«

»Ihre Motorik?«

»Sie hat große Probleme zu sprechen, und wahrscheinlich wird sie den Rest ihres Lebens im Rollstuhl zubringen.«

Ich presste die Lippen zusammen.

Der Mann im weißen Kittel führte uns in einen abgeschotteten, dämmrigen Raum.

Annie Little starrte uns bereits mit offenen Augen entgegen, als wir eintraten. Ihr Kopf war mit dicken Verbänden umwickelt und zusätzlich von einer Plastikhaube bedeckt. Medizinische Schläuche mündeten in Nase und Venen. Rote Amplitudenblitze und ein monotones Piepen erfüllten das mit Technik vollgepfropfte Zimmer.

Milo und ich stellten uns rechts und links neben das Bett. Ich übernahm es, uns mit leiser Stimme vorzustellen. Der Doc hatte uns dazu verdonnert, äußerste Behutsamkeit walten zu lassen.

Eine Selbstverständlichkeit.

Das Ganze lief in erdrückender Atmosphäre ab. Nur die Bewegung ihrer Augäpfel signalisierte zunächst, dass sie mir zuhörte.

Ich erklärte ihr, was wir von ihr wissen wollten.

»Haben Sie den Mann, der auf Sie einschlug, gesehen?«, fragte ich. »War er maskiert, oder würden Sie ihn wiedererkennen?«

Sie lag da und starrte mich an. Sie schien etwas sagen zu wollen, aber nicht dazu in der Lage zu sein. Ihr Gesicht war hübsch. Verdammt hübsch. Wahrscheinlich war sie eine sehr attraktive Frau gewesen. Vor der Nacht auf den 30. August!

»Es hat keinen Zweck«, sagte der Arzt, der die Sache vom Bettende aus verfolgte, um jederzeit eingreifen zu können. »Sehen Sie es ein. Wahrscheinlich bedarf es langwieriger Rehabilitationsanstrengungen, ehe sie auch innerlich dazu bereit ist, sich wieder ihrer Umwelt gegenüber auszudrücken. Sie dürfen nicht vergessen, welchen Schock sie erlitten hat.«

Er hatte recht. Von seiner Warte aus.

Wir hatten zwar keinen hippokratischen, aber einen anderen Eid abgelegt, der uns verpflichtete.

»Ein Versuch noch«, sagte ich.

Er nickte widerstrebend.

Ich beugte mich weit vor, in ihr vor Angst und Verzweiflung erstarrtes Gesicht, und wiederholte noch einmal meine Fragen. Ich spürte beinahe körperlich, dass sie mir etwas sagen wollte. Sie konnte nur nicht. Ehe sich ihr Zustand verschlimmerte, gab ich es auf.

»Lassen wir sie ausruhen«, sagte ich. »Vielleicht probieren wir es später noch einmal.«

Der Doc öffnete die Tür. Milo und ich schoben uns an ihm vorbei. Als er die Tür zuziehen wollte, hörten wir etwas, das meinen Puls zum Rasen brachte und mir zugleich einen Stich ins Herz versetzte.

Brüchig wie eine uralte Frau klang die Stimme, die uns einholte und nur ein einziges Wort formulierte.

»Wieder-er-ken-nen ...«