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Mandy fing uns ab, als wir Mr. McKees Büro verließen und uns an unsere Schreibtische zurückbegeben wollten. Durch den Zwischenfall im Pornostudio war wieder allerhand Papierkrieg fällig geworden. Mr. McKee hatte uns unmissverständlich klargemacht, dass er einen lückenlosen, schriftlichen Bericht über die Razzia haben wollte. Und in der gegenwärtigen Situation konnten wir ihn einfach nicht enttäuschen.

Aber zunächst war Mandy am Zug. »Old Neville hat sich gemeldet«, sagte sie in mitfühlendem Ton. Sie wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Wände und Türen konnten gar nicht dick genug gedämmt sein, um einer guten Sekretärin unüberwindbare Hindernisse in den Weg zu stellen. »Er möchte euch sehen.«

»Wenigstens einer, der uns noch mag«, frotzelte Milo.

»Wenn alle Stricke reißen«, versicherte Mandy, »mag ich euch auch. Beruhigt?«

Sie schenkte uns ihr strahlendstes Lächeln.

»Das wollte er hören«, lachte ich mit einer Kopfbewegung auf Milo. »Er kann ohne Streicheleinheiten einfach nicht leben.«

»Und Sie, Jesse?«

»Das kommt auf die Streichlerin an.«

Ich verabschiedete mich mit Augenzwinkern. Mandy wäre mehr als eine Sünde wert gewesen. Aber unser Verhältnis glich eher einem »Mit-der/dem-kann-man-Pferde-stehlen«-Status. Daran sollte man nicht rütteln. Zumal Pferdediebe vor gar nicht langer Zeit noch öffentlich gehenkt wurden.

Old Neville erwartete uns bereits, als wir tief unten aus dem Lift traten.

»Neuigkeiten?«, fragte ich.

»Nichts, was euch freuen dürfte«, erwiderte er. Seine Miene ähnelte einem älteren Arzt, der seinem Patienten gerade schonend beizubringen versuchte, dass hinter dessen harmlos geglaubter, langwieriger Erkältung noch ein kleiner, tödlicher Haken steckte.

Nein, als Medicus hätte ich Neville glatt abgelehnt.

»Warum nicht?« Milo blätterte interessiert in einer der vielen Akten, die sich auf Nevilles Tisch stapelten. »Was haben dir deine Informanten denn geflüstert?«

»Nichts«, erwiderte Neville kopfschüttelnd. »Leider Gottes so gut wie nichts. Es scheint nur sicher, dass keiner der großen Bosse mit den Entführungen zu tun hat. Vielmehr sieht es so aus, als wüsste man in Mafia-Kreisen selbst ganz gern, wer da die Territorien so unsauber verletzt.«

»Und das ist deine schlechte Nachricht?«, fragte ich. »Darum wolltest du uns sprechen?«

Ich war enttäuscht.

»Nein.« Er rückte in seinem Stuhl etwas näher zu uns heran. »Ich wollte euch sprechen, weil ich in Sachen Angus Tycon recherchiert habe.«

Ich spürte das typische Kribbeln in der Magengegend, das immer einsetzte, wenn eine unvorhergesehene Wendung eintrat.

»Wusstet ihr, dass Tycon in Wirklichkeit Dashill Emmerson heißt?«

Er betonte es, als wäre dies bereits die kleine Sensation, auf die wir mit wachsender Spannung warteten.

»Himmel, Neville«, seufzte Milo. »Muss man das wissen?!«

Der Mann, der die Zeit der großen Bandenkriege noch selbst erlebt hatte, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Es ist ganz hilfreich ... Emmerson alias Tycon hat eine lupenreine Weste ...«

»Noch so eine Neuigkeit, und ich schlafe ein.« Milo gähnte gleichermaßen demonstrativ wie respektlos.

Ich schwieg, weil ich wusste, dass dies nicht Old Nevilles letztes Wort sein konnte. Sein Faible für dramatische Auftritte musste man ihm nachsehen. Immerhin verbrachte er einen Großteil seines Lebens zwischen Papier gewordener Vergangenheit.

Und er wusste, was er uns schuldig war, denn er fügte hinzu: »... was man von seiner Familie nicht unbedingt behaupten kann.«

Neville klopfte mit den Knöcheln auf einen dicken Stapel Papiere, der vor ihm in einer vergilbten Schutzhülle lag. Die Jahreszahl darauf lautete 1952. Demzufolge war die Akte im selben Jahr angelegt worden – zu Nevilles Hoch-Zeit also, als er selbst noch im aktiven Dienst auf Verbrecherjagd gegangen war.

»Ich habe diesen Fall nie vergessen«, sagte er mit veränderter Stimmlage. »Allerdings wusste ich anfangs nicht, dass Tycon identisch mit dem fünfjährigen Dashill Emmerson von damals ist, der das Blutbad als einziger seiner Familie überlebte.« Sein Ton war immer dunkler geworden – so dunkel wie seine Augen, als er sich im Stuhl zurücklehnte, mit den Fingern beider Hände in einer müden Geste darüber strich und sekundenlang völlig zu vergessen schien, dass er nicht allein war. »Die Emmersons«, murmelte er. »Ein schwarzer Tag in der Geschichte des FBI!«