Kapitel 2
I ch kam um 22.45 Uhr durch meine Wohnungstür und wäre am liebsten gleich ins Bett gegangen, wollte jedoch James' Anruf nicht verpassen. Also gönnte ich mir eine heiße Dusche, bevor ich auf ein paar SMS meiner Freunde antwortete, die mir zum Geburtstag gratulierten und mich anflehten, mit ihnen auszugehen. Aber ich war nicht in der Stimmung. Mein Geburtstag holte das Schlimmste aus mir hervor. Normalerweise war ich ein glücklicher Mensch, aber an meinem Geburtstag wurde ich immer depressiv. Es war leicht, in Selbstmitleid zu baden, wenn man keine Familie hatte, mit der man feiern konnte. Ich vermisste die bedingungslose Liebe, die ich als Kind geschenkt bekommen hatte – die Gesichter meiner Eltern und Großeltern hatten immer aufgeleuchtet, wenn sie mich sahen. Unsere gemeinsamen Mahlzeiten, die meist mit dem Apfelstrudel meiner Großmutter endeten, waren immer ein Festmahl mit viel Geplänkel und Gelächter gewesen.
Ich machte es mir im Schlafanzug auf meiner rehbraunen Couch gemütlich und zappte durch die Kanäle. Juhu, Brautalarm lief, aber buh, nur noch zwanzig Minuten. Das war die beste Komödie aller Zeiten. Vielleicht versuchte das Universum, es wiedergutzumachen. Ich kuschelte mich auf die Couch und legte das Handy neben mich. Am Ende des Films überprüfte ich den Bildschirm meines iPhones. Nein, keine Anrufe. Das wusste ich zwar schon, weil das Telefon nicht geklingelt hatte, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen.
Ich gähnte. 23.30 Uhr, also 14.30 Uhr in England. Er hätte schon längst anrufen sollen, es sei denn, er wurde auf der Arbeit aufgehalten. Vielleicht gab es einen Programmiernotfall, und alle Webseiten seiner Firma waren nicht mehr erreichbar. Das war wahrscheinlicher, als dass er es vergessen hatte, nicht wahr? Obwohl, wir alle vergaßen manchmal Dinge. Enttäuschung machte sich in mir breit, und Tränen brannten in meinen überreagierenden Augen. Verdammt, Lily, er wird anrufen. Hör auf, dich wie ein Kleinkind zu benehmen. Ich schniefte und fuhr mir mit dem Handballen über die Augen. Keine Tränen mehr.
Im Fernsehen lief nun eine andere Show namens Dating Naked , in der die Kandidaten … richtig, nackt zu einem Date gingen. Der absolute Horror, Menschen nackt reiten zu sehen. Igitt. Ich wollte nicht mit der Person tauschen, die hinterher den Sattel putzte. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie andere das sahen, aber das Letzte, was ich bei einem ersten Date sehen wollte, war das Gehänge des Typen. Ich war weiß Gott nicht prüde, aber das war einfach nicht der attraktivste Teil eines Mannes. Ich war eher eine „Augen und Gesicht“-Frau. Ah, Late-Night-Fernsehen, wie du mich verhöhnst. Aber ich sah es mir trotzdem an, weil es besser war, als auf das Telefon zu starren. Okay, das war es nicht wirklich, aber egal.
Kurz nach 1:00 Uhr und zwei grässliche Folgen von Dating Naked später schlief ich mit dem stummen Handy in der Hand ein.
Verdammt, schon Morgen. Ich drehte das Gesicht von der eklig feuchten Stelle auf meinem Lieblingskissen und wischte mir den Sabber aus dem Gesicht. Es gab nichts Besseres, als mit einem emotionalen Kater auf der Couch aufzuwachen. Ich blinzelte und konnte gerade einmal die Uhrzeit auf meinem Handy erkennen. Keine verpassten Anrufe. Keine Nachrichten. Es war einfach noch zu früh für weitere Enttäuschungen. Zeit für einen Kaffee. Bis zu meinem ersten Kaffee am Morgen war ich nur zu Grunzlauten fähig, aber wenn James anrief, musste ich vollständige Worte herausbringen.
Ich schaltete die Kaffeemaschine ein und füllte das Dingsbums – ich hatte keine Ahnung, wie man das nannte, aber diese Unkenntnis beeinträchtigte meine Bedienungsfähigkeiten nicht – mit Kaffeepulver, bevor ich es in den Hauptteil der Maschine schraubte. Ich drückte einen weiteren Knopf, aber statt heißem Wasser, das in Kaskaden durch das Kaffeepulver floss, sprühten Funken aus der Rückseite der Maschine. „Nein!“ Ich beugte mich vor, riss den Stecker aus der Wand und musste vor lauter Rauch husten.
Meine Kaffeemaschine war tot. Was zum Teufel sollte das? Sie war noch kein Jahr alt. Ich würde die Ersatzmaschine herausholen müssen – meinen italienischen Espressokocher, den mir meine Großmutter bei ihrem Tod hinterlassen hatte.
Als ich in den Schrank griff, klingelte mein Handy. Es klingelte! Hm, die Nummer kannte ich nicht. Vielleicht hatte James Probleme mit seinem Telefon und musste sich das eines anderen ausleihen?
„Hallo?“
„Hallo … Lily?“ Eine Frauenstimme durchbrach das Rauschen und klang wie Millicent.
„Lily, hallo? Bist du dran? Hier ist …“
Dann war die Leitung tot. Das war schon der zweite Todesfall für diesen Morgen. Ja, es waren metaphorische Tode, aber die Nackenhaare standen mir trotzdem zu Berge. Heute sah es nicht gut für mich aus. Vielleicht sollte ich einfach wieder ins Bett gehen.
Ich gab niemals so einfach auf, also drückte ich die Wahlwiederholungstaste. Es klingelte, aber sobald jemand antwortete, wurde die Leitung unterbrochen. Hm. Der Empfang in meiner Wohnung war zwar immer gut, aber ich ging trotzdem zum Fenster.
Dann drückte ich erneut die Wahlwiederholung. Dieses Mal klingelte es nicht einmal. Ich schnaubte verächtlich und machte meinem Frust lautstark Luft. Okay. Zeit, sich anzuziehen. Ich scheiterte heute Morgen am Leben, also musste ich mir irgendwo anders einen Kaffee besorgen. Das Café unten an der Straße brachte schließlich auch ein anständiges Gebräu zustande, und vielleicht würde ich nach dem Kaffee einen Spaziergang am Strand machen. Das klang nach einem guten Plan.
Ich fand eine schwarze Sporthose und ein rotes T-Shirt in meinem Wäschekorb – ich hasste es, Kleidung wegzuräumen; das war so zeitaufwändig und langweilig. Dann kramte ich meine Turnschuhe unter dem Bett hervor, schnappte mir Geldbörse, Schlüssel und Handy und öffnete die Tür … vor der eine schlanke Frau Mitte fünfzig in einem grauen Anzug stand, die Hand zum Klopfen erhoben. Huch?
„Kann ich Ihnen helfen?“ Ich konnte keine Broschüren sehen, also stand mir wahrscheinlich keine religiöse Belehrung bevor – nicht, dass ich Religion hasste. Ich war Agnostikerin und glaubte an mein Recht, mit meiner Entscheidung friedlich und ohne Ärger leben zu können. Genauso wie andere meiner Meinung nach ein Recht auf ihren Glauben hatten, ohne dass ich sie verurteilte und verlangte, dass sie wie ich zu Zaungästen wurden.
Mit strengem Blick taxierte sie mich von Kopf bis Fuß und schaute mich dann wieder direkt an. War mein Aussehen der Grund für ihr Stirnrunzeln – mein T-Shirt war tatsächlich ein wenig zerknittert – oder lag es an ihrem superstraffen Dutt? Aber eigentlich wollte ich das gar nicht herausfinden.
„Hören Sie, ich bin gerade auf dem Sprung, Ms …“
„Angelica Constance DuPree, aber für Sie Ma'am.“ Okaaay . Sie war nicht nur herrisch, sondern hatte auch einen feinen englischen Akzent, der ihren Worten noch mehr Ernsthaftigkeit verlieh. Sie neigte den Kopf ein wenig nach hinten, sodass ihre Nase nach oben zeigte. Umso besser konnte sie auf mich herabschauen. „Und Sie sind Lily Katerina Bianchi. Sie sind ungefähr so, wie ich es erwartet habe.“
Was sollte das bedeuten? Ich blinzelte. Mein Gehirn war leer. Kaffee. Ich brauchte Kaffee. Und woher kannte sie meinen Namen? Ich nahm an, dass sie ihn im Internet gefunden hatte. War sie eine Stalkerin? Sie könnte ein Messer oder etwas anderes hinter ihrem Rücken versteckt haben.
„Ma'am, möchten Sie sich unterhalten, während wir ein paar Schritte gehen? Ich muss … irgendwo hingehen.“ Kaffee klang nicht wichtig genug als Grund, um das Haus zu verlassen, aber glauben Sie mir, es ging fast um Leben und Tod. Ich bekam schon mittags Migräne, wenn ich meinen täglichen Schuss Koffein verpasste. Ich schob mich an ihr vorbei und schloss die Wohnungstür, wobei der Riegel automatisch einrastete. Es wäre wahrscheinlich sicherer, mit ihr in der Öffentlichkeit zu sprechen. Um ehrlich zu sein, wirkte sie leicht verschroben und ein bisschen unheimlich. Oh, und sie kannte meinen Namen. Das sollten wir nicht vergessen.
„Nun gut. Sobald Sie Ihren Kaffee haben, können wir hierher zurückkommen und reden. Das ist eine Angelegenheit, die unter vier Augen besprochen werden sollte.“
Wie bitte? Woher wusste sie, dass ich mir einen Kaffee besorgen wollte? Sah ich aus wie ein Kaffee-Junkie auf Entzug? Nee, jemand, der unter Kaffeeentzug litt, sah nach nichts aus, zumindest nicht, bis ich meine Autotür öffnete, mich hinauslehnte und wegen eines Migräneanfalls übergab. Ja, das war schon vorgekommen. Mehr als einmal. Bitte verurteilen Sie mich nicht, Ma'ams missbilligender Blick war alles, was ich im Moment ertragen konnte. Oh, sie sah auch selbstgefällig aus, als hätte sie mich überlistet. Ich nehme an, wenn man Gedanken lesen kann, fühlt man sich auch so. Ich wollte das auch können, verdammt! Aber ich glaubte doch nicht wirklich, dass sie das konnte, oder?
Oh je, ich brauchte wirklich dringend einen Kaffee, aber das war verrückt. Ich kannte diese Frau nicht. Ich wollte nicht, dass sie mitkam, aber wie sollte ich ihr das sagen? Normalerweise war ich nicht jemand, der seine Meinung sagte und „schwierig“ war. Was vermutlich die meisten Frauen in Situationen brachte, die sie lieber vermieden hätten. Vielleicht war es an der Zeit, zu lernen, die Leute zu verärgern und sich keine Sorgen darüber zu machen.
„Hören Sie, Ma'am, ich kenne Sie nicht, und ich habe keine Ahnung, warum Sie vor meiner Haustür stehen oder woher Sie meinen Namen kennen. Ich schlage vor, Sie sagen mir jetzt, was Sie wollen und bringen es hinter sich. Ehrlich gesagt habe ich heute nicht die Energie für Verrücktheiten.“
Sie kniff die Augen zusammen. Wahrscheinlich schätzte sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass ich weglaufen würde, bevor sie mich abstechen konnte. Ich schob mich zur Treppe vor und machte mich bereit, eine Etage tiefer in die Freiheit zu sprinten.
Ma'am rollte mit den Augen und seufzte. „Ehrlich gesagt, Lily, weiß ich nicht, was wir mit Ihnen machen sollen. Ich bin nicht hier, um Sie zu verletzen; ich bin hier, um Sie zu beschützen und zu führen.“
Und dabei klang sie überhaupt nicht verrückt. Ach, was soll's! Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang ich die Treppe hinunter durch die Tür und auf den Gehweg. In die Öffentlichkeit. In Sicherheit.
Die Sonne schien an diesem kühlen Morgen, und es sah so aus, als würde der Tag wunderschön werden – zumindest wettertechnisch. Es mag unhöflich von mir gewesen sein, einfach so zu gehen, aber ich war lieber in Sicherheit als tot. Und das ist keine Übertreibung. Hör auf dein Bauchgefühl war einer der Sprüche, nach denen ich lebte. Wenn ich mich in Ma'am geirrt hatte, konnte ich mich später immer noch entschuldigen, und wir würden darüber lachen. Genau … oder sie würde nicht lachen und es mir ewig vorhalten.
Ich eilte den Gehweg entlang, vorbei an einer Reihe von Wohnblöcken, von zweistöckigen Häusern mit roten Ziegelsteinen bis zu zwölfstöckigen Bauten mit verputzten Ziegelsteinen. Der Montagmorgen brachte eine Mischung aus Joggern, Surfern und Menschen in Arbeitskleidung hervor. Ich überquerte an der Ampel die Straße und erreichte schließlich Surfer's Brew. Der köstliche Duft von frischem Kaffee umwehte mich. Ich atmete ihn tief ein und seufzte. Ah, das war schon besser.
Kurz bevor ich eintrat, schaute ich zurück. Keine Spur von meiner seltsamen Besucherin. Vielleicht wurde mein Morgen ja langsam besser. Lächelnd trat ich an den Tresen. „Morgen, Frances. Machst du mir einen Cappuccino mit Magermilch?“ Ich holte mir hier nicht jeden Tag einen Kaffee – ich hatte ja meine Kaffeemaschine, oder besser gesagt hatte sie, wie deprimierend –, aber ich kam regelmäßig genug, dass man mich hier kannte. Manchmal wollte ich etwas Schaumiges mit Schokolade obendrauf und war zu faul, mir das zu Hause zu machen.
Frances war Mitte dreißig, hatte wunderschönes glattes blondes Haar, das sie zu einem eleganten Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und ein ansteckendes Lächeln. „Hey, Süße. Kommt sofort. Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du gestern Geburtstag hattest. Alles Gute nachträglich!“ Sie knallte den gebrauchten Kaffeesatz aus dem Dingsbums in den Mülleimer und füllte frisches Pulver ein.
„Oh, danke. Hast du gestern Abend die Mädchen getroffen?“ Die Mädchen sind meine besten Freundinnen, Sophie und Michelle.
„Ja. Wie kommt es, dass du nicht dabei warst? Sie sagten mir, du hättest gekniffen.“ Sie schraubte das Dingsbums in die Maschine und drückte den Knopf. Und wer hätte das gedacht, sie funktionierte. Ich wünschte, meine Maschine würde noch funktionieren.
„Ich musste auf einer Hochzeit fotografieren. Ein Drink und ich wäre eingeschlafen“, erklärte ich lachend. Das war gar nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt. Wen interessierte es, dass ich den Teil ausließ, bei dem ich eine Mitleidsparty veranstaltete, weil mein Bruder sich nicht gemeldet hatte. Ich würde später versuchen, ihn anzurufen. Er hatte bestimmt einen guten Grund, meinen Geburtstag zu verpassen. Daran würde ich mich immer wieder erinnern, bis ich es mit Sicherheit wusste.
Frances schäumte die Milch auf und goss sie in den Kaffee, bevor sie viel Schokolade darüber streute. Das machte sie extra für mich, weil es mein liebster Teil an diesem Getränk war. Dann zauberte sie mit einem Löffel ein süßes kleines Herz auf die Schaumkrone. „Bitteschön.“ Sie lächelte, und ich schob vier Dollar über die Theke – Kaffeegewohnheiten waren nicht billig.
„Danke, du bist meine Lebensretterin. Bis dann.“ Ich winkte ihr zu. Sie winkte zurück. Das Übliche. Ich blieb vor dem Laden stehen, öffnete den Deckel und leckte die schokoladige Köstlichkeit ab, bevor ich einen Schluck trank. Himmlisch. Die einfachen Dinge waren wirklich die besten. Ich setzte den Deckel wieder auf und ging die Straße hinunter, während ich darüber nachdachte, ob ich in meine Wohnung zurückkehren und möglicherweise Ma'am treffen oder diesen Spaziergang machen sollte. Es ging nichts über einen Spaziergang am Strand, um meine Gedanken zu ordnen. Die sanfte Brandung wirkte immer beruhigend. Im Sommer ging ich zum Bodysurfen, aber das Wasser war jetzt etwas kühl, und ich war die Erste, die zugab, ein Weichei zu sein.
Hm, wenn ich jetzt zurückgehen und mich mit Miss Durchgeknallt herumschlagen müsste, könnte ich meinen Kaffee nicht richtig genießen. Das war eine einfache Entscheidung: Ein Spaziergang war angesagt!
Aber seit wann war das Leben einfach?
Ich erreichte das Ende des Gehweges und den Anfang des Sandstrandes. Salzige Gischt trübte die Luft, Möwen kreisten über meinem Kopf, und die Sonne wärmte mein Gesicht. Surfer dümpelten im Wasser und warteten auf die nächste Welle, und eine junge Mutter schaute ihren beiden Kindern beim Sandburgbauen zu. Bevor ich die Ruhe dieses Ortes richtig aufnehmen konnte, bemerkte ich etwas oder vielmehr jemanden, der fehl am Platz war: eine Frau in einem langweiligen, aber gut geschnittenen Hosenanzug und flachen Schuhen, mit vor der Brust verschränkten Armen und einem selbstzufriedenen Lächeln. Es schien, als hätte sie nur zwei Gesichtsausdrücke: stinksauer und selbstgefällig. Ich atmete tief ein, und beim Ausatmen ging mit der Luft meine Gelassenheit flöten. Sollte es nicht andersherum funktionieren?
„Sie können weglaufen, aber Sie können sich nicht verstecken.“ Toll, jetzt schüchterte sie mich schon mit Floskeln ein.
„Auf einer Skala von eins bis zehn ist Ihr Gruselfaktor etwa eine Acht. Meinen Sie, Sie könnten ihn ein wenig runterfahren?“
Sie lächelte. Diesmal könnte es sogar echt gewesen sein. „Wenigstens haben Sie Mumm. Den werden Sie auch brauchen, Missy.“ Eine Spur von Traurigkeit erschien auf ihrem Gesicht, verschwand aber schnell wieder.
Ich nippte an meinem Kaffee. Ich hatte das Gefühl, dass ich alles an Koffeinunterstützung brauchen würde, die ich bekommen konnte, bevor sie mit mir fertig war.
Angelica nickte. „Da haben Sie leider recht.“
Nicht schon wieder diese Sache mit dem Gedankenlesen. Wie machte sie das? „Können Sie mir bitte sagen, was Sie von mir wollen?“
„Hören Sie, wir haben keine Zeit zu verlieren. Sie scheinen zumindest robust zu sein, und es gibt keine Möglichkeit, das nett zu verpacken, also werde ich es einfach sagen. Ihr Bruder, James, wird vermisst. Er ist vor sieben Tagen verschwunden.“
Keine Menge an Kaffee hätte mich darauf vorbereiten können. Mein Magen zog sich zusammen, und mein Becher fiel zu Boden. Dabei war er noch halb voll gewesen, verdammt. Der Deckel löste sich und braune Flüssigkeit spritzte auf meine Schuhe und Schienbeine. Wie die Sense des Sensenmannes schlug ein Schauer die Sonnenwärme von meinen Armen und hinterließ eine Gänsehaut. Ich zitterte.
Ich wurde zu dem Tag zurückversetzt, an dem die beste Freundin meiner Mutter sich mit James und mir hingesetzt und erklärt hatte, dass unsere Eltern nicht mehr nach Hause kommen würden. Nie wieder. Ich erinnerte mich daran, wie James meine Hand ergriffen und ganz fest gedrückt hatte. Seitdem hatten wir aneinander festgehalten, bis er nach England gegangen war. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich wollte auf den Boden fallen und mich zu einer Kugel zusammenrollen, aber eine Szene zu machen, würde nicht helfen. Hatte James‘ Verschwinden irgendetwas mit dem meiner Eltern zu tun? War ich die Nächste? Nein, sei nicht dumm, Lily. Es gibt Zufälle. Das ist alles, was es ist .
Ma'am trat näher und legte mir eine steife Hand auf die Schulter. Sie tätschelte mich unbeholfen und ließ dann die Hand fallen. Ich wusste diese Geste zu schätzen: Ich war auch kein großer Freund von Umarmungen. Mein persönlicher Freiraum war mir genauso wichtig wie das Recht, an nichts zu glauben.
„Sie sehen ein bisschen blass aus, meine Liebe. Sicherlich haben Sie viele Fragen. Lassen Sie uns in Ihre Wohnung zurückkehren und Ihre Sachen holen. Wir müssen das Flugzeug erwischen.“
Was? „Wohin?“
„Wohin? Nach London natürlich. Dann fahren wir nach Westerham. Sie werden uns helfen, Ihren Bruder zu finden. Hoffentlich lebt er noch.“
Hoffentlich ? Mir wurde übel, und meine Kehle war wie zugeschnürt. Es gab nichts, was ich tun konnte. Nichts. Und wer war „wir“? Der gesunde Menschenverstand schlich sich in meinen Kopf, oder war es Verdrängung? Das passierte doch jetzt nicht wirklich, oder? Ich schüttelte langsam den Kopf und versuchte, mich an etwas Normales, Sicheres zu klammern. „Ich muss arbeiten, Fotos bearbeiten. Ich kann nicht einfach weggehen.“ Nicht, dass ich meinen Bruder nicht finden wollte, aber das hier war mehr als verrückt. War er wirklich verschwunden oder war das eine Farce, um mich zu entführen? Obwohl ich nicht wirklich für eine Entführung taugte – es gab niemanden, der reich war und ein Lösegeld zahlen würde, um mich zurückzubekommen. Obwohl, meine Eltern waren auch nicht entführungswürdig gewesen, und sie waren trotzdem verschwunden. Und mein Bruder? Tief durchatmen, Lily.
Ich bückte mich und sammelte den Becher und den Deckel ein. Egal, wie verrückt das Ganze hier war, ich war keine Umweltverschmutzerin.
„Sie können die Fotos auf Ihrem Laptop im Flugzeug bearbeiten oder wenn wir in England sind. Ich könnte Ihnen sogar Ihren Desktop liefern lassen, wenn Sie möchten. Ich weiß, das ist schwer zu glauben. Haben Sie einfach etwas Geduld. Ich werde Ihnen alles erklären, während Sie packen. Kommen Sie jetzt.“ Sie setzte sich in Richtung meines Wohnblocks in Bewegung.
Ich schlurfte neben ihr her. Meine Beine waren so schwer, als trüge ich Bleistiefel. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass sie die Wahrheit sagte, also konzentrierte ich mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht wieder zu weinen. Jetzt war nicht die Zeit, um zusammenzubrechen. Mein Bruder brauchte mich.
Und ich ließ die, die ich liebte, niemals im Stich. Niemals.