Kapitel 6
D er Duft von frisch gebrühtem Kaffee und englisch gefärbtes Geplauder erfüllte den Costa Coffeeshop, in dem gedämpftes Licht und warme Braun- und Orangetöne eine gemütliche Atmosphäre schufen. Ich nippte an meinem Cappuccino und saugte alles in mich auf. Draußen waren es nur zehn Grad, und die meisten Leute, die vorbeigingen, trugen Jacken, manche aber auch nur Jeans und T-Shirt. Wie wahnsinnig waren die denn? Aber vermutlich konnten sich manche Menschen an alle Temperaturen gewöhnen. Drinnen war es allerdings sehr warm, und so lag meine Mütze neben meiner Kamera und einem unglaublichen Muffin mit doppelter Schokolade auf dem Tisch. Ich hatte den oberen Teil abgegessen, und nun quoll flüssige Schokolade aus seiner Mitte. Wenn das nicht der Himmel auf Erden war, wusste ich es auch nicht.
Ich genoss abwechselnd einen Bissen dekadenter Süße und einen Schluck Kaffee, bis nichts mehr übrig war. So gut. Ich leckte mir die Finger ab und lächelte. Ich liebte England. Okay, ich hatte bisher noch kaum etwas davon gesehen, aber ich hielt es für mein geistiges Zuhause – so wie manche ein Geist- oder Krafttier hatten. Das ergab für mich absolut Sinn.
Nun, wo ich meinen Kaffee getrunken hatte, war es an der Zeit, die Gegend zu erkunden, was sowohl erschreckend als auch aufregend war. Ich wollte das Städtchen unbedingt durch die Linse meiner Kamera einfangen, aber was, wenn ich noch mehr Menschen sehen würde, die bald tot sein sollten? Vorausgesetzt, dem war wirklich so. Solange ich das nicht genau wusste, konnte ich sie nicht vorwarnen. Und selbst wenn ich das tun konnte, wollte ich wirklich für verrückt gehalten werden? Denn was sollten die Leute sonst von mir denken?
Ich nahm die Kamera und fuhr mit dem Daumen über sie. Sie in den Händen zu halten, war für mich so natürlich wie das Atmen. Wenn ich sie nicht dabei hatte, hatte ich immer das Gefühl, als würde etwas fehlen. Und wenn ich ohne sie irgendwo hinging, litt ich unter der nagenden Verzweiflung, die die meisten Menschen erlebten, wenn sie ihr Handy vergessen hatten. Sie war tatsächlich mein verlängerter Arm. Ich liebte es, den Menschen eine andere Version der Welt zu zeigen– eine gefilterte Version, die irgendwie so viel mehr vermittelte, als wenn man die Dinge mit dem bloßen Auge betrachtete.
So sehr ich das Ganze auch aufschieben wollte, ich musste es herausfinden. Denn meine Kamera nie wieder zu benutzen, war keine Option. In diesem Moment kam mir der Gedanke, ob mein Handy möglicherweise die gleichen Ergebnisse liefern würde. Lag es an der Kamera selbst – was nach wie vor eine Möglichkeit war – oder lag es an mir, wenn ich sie benutzte? Konnte es in einer Kamera spuken? Ich lachte. Das ergab genauso viel Sinn wie alles andere, was ich seit dem Vortag erlebt hatte, also warum nicht.
Meine erste Sofortbildkamera hatte ich von meinen Eltern geschenkt bekommen. Ihnen galt mein Dank für das Geschenk, eine Leidenschaft zu haben, der ich folgen konnte. Zu meinem sechzehnten Geburtstag hatte James mir meine erste „richtige“ Kamera geschenkt. Es war eine gebrauchte Nikon D3000 gewesen, aber da sie kaum ein Jahr alt gewesen war, war sie fast neu. Sie war das beste Geschenk aller Zeiten. Inzwischen benutzte ich sie nicht mehr, aber sie lag noch immer zu Hause – ich würde sie niemals weggeben. Nun war es an der Zeit, mich bei ihm zu revanchieren. Ich musste mich meiner Angst stellen, dass er möglicherweise ermordet worden war. Ich würde jeden Gedanken, dass ihm etwas zugestoßen ist, aus meinem Gehirn verdrängen und ihm helfen. Den Rest würde ich nach und nach herausfinden. Es war an der Zeit, den Kopf zu heben, die Brust vorzuschieben und loszugehen.
Ich setzte meine schwarze Mütze auf, streifte mir den Kameragurt über den Kopf – ich war ziemlich ungeschickt und wollte auf keinen Fall mein Baby fallen lassen – und trat hinaus in die Kälte. Der wolkenverhangene Himmel war mehr weißer Flaum als schweres Grau, und eine milde Brise hatte eingesetzt, obwohl „mild“ die Kühle, für die sie sorgte, nicht treffend beschrieb. Brrr. Ich hätte meine Skijacke anziehen sollen.
Der Dorfanger lag zwar zu meiner Linken, aber ich bog nach rechts ab und ging in Richtung Stadtzentrum und der hübschen Tudor-Läden, die mir auf der Hinfahrt aufgefallen waren. Vielleicht sollte ich mit Architekturaufnahmen beginnen – wenigstens konnten Häuser nicht sterben. Im Gehen nahm ich den Objektivdeckel ab und steckte ihn in meine Jeanstasche. Ich schaltete die Kamera ein und wählte die gewünschte Einstellung – ich begann immer mit den automatischen Einstellungen und ging zur manuellen Einstellung über, sobald ich eine Idee vom gewünschten Effekt hatte. Den experimentellen Aspekt meiner Arbeit liebte ich am meisten. Ich konnte verschiedene Dinge ausprobieren, und wenn es nicht funktionierte, war das auch nicht schlimm. Manchmal hatte ich Glück mit den unglaublichsten Aufnahmen, obwohl James sagte, dass es kein Glück war. Ich verzog die Mundwinkel zu einem halben Lächeln. Ich würde ihn wiedersehen, und er würde am Leben und gesund sein.
Schließlich tauchten die Häuser auf der anderen Straßenseite auf. Der Gehweg war schmal, also würde ich ein paar Aufnahmen von dieser Straßenseite machen und später auf die andere Seite wechseln, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen. Ich würde mit einem größeren Winkel beginnen und den Fokus nach und nach ändern. Als erstes schoss ich ein Foto von einer Häuserfront mit zwei Geschäften, wobei ich einen Hauch von grauem Himmel über den Schornsteinen und den gepflasterten Gehweg mit ins Bild nahm. In ihrer Mitte befand sich eine große, glänzend schwarze Tür, über die die darüber liegenden Wohnungen zu erreichen waren. Jedes Geschäft hatte seine eigene Eingangstür, die jeweils auf einer Seite der großen Mitteltür abgeschrägt war. Rechts befand sich das Geschäft eines Innenausstatters. In seinem Schaufenster stand ein wunderschönes zweisitziges Sofa mit rehbraun-gestreiftem Stoff. Darüber und an den Seiten hingen verschiedene Kronleuchter, die einen einladenden gelben Lichtschein verströmten. In diesem Laden wollte ich leben. Wenn ich reich wäre, würde ich auf jeden Fall einen Innenarchitekten beauftragen. Meine Vorgabe wäre elegant und doch komfortabel, eine Mischung aus Antiquitäten und Hotel. Träum weiter, Lily.
Ein Schauer kribbelte in meinem Nacken. Ich drehte mich um. Nein, niemand beobachtete mich, zumindest nicht, soweit ich das sehen konnte. Kurz bevor ich Costas Coffeeshop erreicht hatte, hatte ich bereits das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden, das aber Millicents und Angelicas wiederholten Warnungen zugeschrieben. Sie hatten mich schlichtweg paranoid gemacht. Ich schüttelte den Kopf und drehte mich wieder um. Es war an der Zeit, sich mit meiner Kamera zu beschäftigen. Ich grinste. Hey, ich stand tatsächlich in einem malerischen englischen Städtchen und machte Fotos.
Ich hatte etwa fünf Aufnahmen gemacht, als ich eine Frau in der Dachgaube im zweiten Stock bemerkte. Es war eine große Gaube mit einer Reihe von fünf hohen, weiß gestrichenen Holzfenstern. Sie starrte mich an und war aus Fleisch und Blut. Aber sie trug ein Kleid mit Rundhalsausschnitt, Spitzenärmeln und einer spitz zulaufenden Taille, die in einen langen Rock überging. Falls nicht gerade jemand eine Kostümparty veranstaltete, war das ziemlich seltsam. Es sah aus wie ein Kleid aus dem vorletzten Jahrhundert. Ich drückte zweimal auf den Auslöser, dann verschwand sie.
Mein Herz raste. Sah ich die Vergangenheit oder einen Geist? Ich schaute weiter durch den Sucher, doch die Frau tauchte nicht mehr auf. Ich ließ die Kamera sinken und sah mir die Aufnahmen an. Tatsächlich, erst war sie da und dann verschwunden. Ich zoomte sie auf dem Bildschirm heran, um mehr erkennen zu können. Ja, sie trug ein altes Kleid. Okay, ich könnte meine Theorie überprüfen, indem ich den Ladenbesitzer fragte, ob gerade eine alte Szene nachgestellt wurde oder eine Kostümierung stattfand.
In beide Richtungen herrschte ziemlich viel Verkehr. Sobald sich eine Lücke auftat, rannte ich über die Straße zu dem Laden auf der linken Seite – ein Weinlokal. Meine Freundinnen würden es lieben. Der Holzboden knarrte und kündigte mein Eintreten an. Schummerig beleuchtet und mit den frei liegenden Holzbalken an der Decke verströmte er eine entspannte und altmodische Atmosphäre. Eine junge Frau in einer weißen Bluse stand hinter der Theke. „Guten Tag. Was darf es sein, meine Liebe?“ Ihr Akzent war nicht so raffiniert wie der von Angelica, aber immer noch total britisch und daher fantastisch.
„Ich bin eigentlich nicht hier, um etwas zu trinken. Ich hoffe, das ist in Ordnung. Ich wollte Sie nur etwas fragen.“
„Fragen Sie ruhig! Sind Sie Australierin?“
„Ja, das bin ich. Ich bin hier, um meinen Bruder zu besuchen.“
„Wunderbar. Ich habe eine Freundin in Brisbane. Sie heißt Patricia. Kennen Sie sie?“
Ich biss mir auf die Lippe. Wollte sie mich auf den Arm nehmen? Der erwartungsvolle Ausdruck auf ihrem Gesicht sagte mir etwas anderes. „Nein, tut mir leid. Ich komme aus Sydney, das viel weiter südlich liegt. Eigentlich kenne ich überhaupt keine Patricias.“
Sie machte ein langes Gesicht. „Oh, das macht nichts. Womit kann ich Ihnen denn helfen?“
„Gibt es hier heute eine Veranstaltung, bei der die Leute alte Kostüme tragen? Ich dachte, ich hätte eine Frau oben am Fenster stehen sehen, die ein wunderschönes Kleid trug.“
Ihre Brauen zogen sich zusammen, während sie nachdachte. „Nein, nicht das ich wüsste, meine Liebe. War das im ersten oder im zweiten Stock?“
„Im zweiten.“
„Die Mieter sind diese Woche nicht da. Sie kommen erst in ein paar Tagen zurück. Und sie haben mir nicht gesagt, dass sie jemanden haben, der auf die Wohnung aufpasst. Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben. Ich gehe später hoch und sehe nach dem Rechten.“
„Danke. Und Sie haben ein schönes Lokal. Ich muss unbedingt mal mit meinem Bruder hier vorbeikommen.“ Weil wir ihn finden werden.
„Machen Sie das, meine Liebe. Und genießen Sie Ihren Aufenthalt.“
„Danke.“ Ich lächelte und ging zurück auf die Straße. Das Ganze hatte mich nicht wirklich weitergebracht. Es konnte sein, dass da oben jemand war, oder auch nicht. Oh Mann, warum konnte es nicht mal einfach sein? Ich hob meine Kamera und betrachtete die Straße durch ihren Filter. Ich machte ein paar Nahaufnahmen von der Ladenfront und konzentrierte mich dabei auf den schwarzen Fensterrahmen und einen Teil der Auslage für die Inneneinrichtung. Dann ging ich die Straße hinauf, schaute wieder durch die Kamera und wartete darauf, dass noch mehr ungewöhnliche Dinge geschahen.
In dem Moment hörte ich, wie ein Auto hinter mir immer langsamer wurde, was merkwürdig war, weil am Straßenrand nicht genug Platz zum Parken war. Ich drehte mich um und sah, dass ein schwarzer Lieferwagen direkt hinter mir auf den Fußweg gefahren war. Noch bevor er stehen blieb, wurde die Beifahrertür aufgestoßen, ein Mann mit schwarzer Sturmhaube sprang heraus und rannte auf mich zu.
Vielleicht wollte er an mir vorbeirennen, aber es war niemand in meiner Nähe. Und warum sollte man überhaupt losrennen, wenn man bereits gefahren wurde? Außerdem sagte dieses Sturmhaubending irgendwie: „Ich bin ein Krimineller. Hab Angst vor mir.“ Mein Puls rauschte in meinen Ohren und ich sprintete los.
Ich zwang meine Beine, sich schneller an den Läden vorbeizubewegen, sog Luft in die Lungen und ignorierte das Brennen in den Oberschenkeln. Meine Schuhe trommelten auf das Ziegelsteinpflaster, während ich die Kamera an die Brust drückte, damit sie nicht herumhüpfte. Nach etwa zweihundert Metern ertönten hinter mir ein Grunzen und ein dumpfer Schlag. Ich riskierte einen Blick über meine Schulter.
Ein blonder Hüne – seine Arme waren riesig – lag auf dem Bösewicht und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Der Fahrer des schwarzen Transporters stieg aus. Oh nein ! Er pirschte sich an die Kämpfenden heran, die Fäuste geballt. Er hatte sich einen Strumpf über den Kopf gezogen, der ihm die Nase ins Gesicht drückte, aber seine Grimasse war deutlich zu erkennen.
Ich schnappte nach Luft. Wie konnte ich dem Mann helfen, der mir zu Hilfe gekommen war? Ich konnte nicht einfach hier herumstehen und darauf warten, dass ihm etwas Schlimmes zustieß.
Der Strumpfhosen-Typ hatte die beiden fast erreicht.
Mit rasendem Herzen ging ich auf die Männer zu und drückte dabei ständig auf den Auslöser. Wenigstens hätte ich Beweise für die Polizei, falls sie welche brauchten. Ich achtete darauf, dass der schwarze Lieferwagen ebenfalls auf den Aufnahmen war. Dann hörte ich auf, Fotos zu schießen. Auf der anderen Straßenseite waren Leute stehen geblieben und gafften, aber niemand eilte zu Hilfe. Feiglinge, obwohl ich fairerweise dazu sagen musste, dass die drei Männer ziemlich groß waren.
Das Strumpfgesicht packte den Blonden von hinten an Jacke und Hals, während er versuchte, ihn von dem anderen Kerl herunterzuziehen. Irgendjemand grunzte. Ich sah mich nach einer Waffe um, mit der ich Strumpfgesicht auf den Kopf schlagen konnte. Doch da war nichts. Das einzige harte Ding, das ich hatte, war meine Kamera, und die wollte ich auf keinen Fall benutzen.
Ach egal, ich würde sowieso dazwischengehen. Die Kampfsportarten, die Dad mich zwischen zehn und vierzehn Jahren lernen ließ, mussten doch für irgendetwas gut sein … wenn ich mich nur daran erinnern könnte.
Inzwischen hatte Strumpfgesicht es geschafft, Blondie von seinem Komplizen loszureißen, und ich zuckte zusammen. Bitte tu ihm nicht weh .
Ein zweites Auto tauchte hinter dem Lieferwagen auf. Das Strumpfgesicht schrie seinem Freund etwas zu, schlug dem Blonden ins Gesicht und rannte zu seinem Van. Mist, das muss doch wehgetan haben ! Der Typ mit der Sturmhaube stand einen Moment unbeholfen da, bevor er zum Van humpelte und einstieg.
Ich sprintete los und erreichte Blondie in dem Moment, als sie losfuhren. Der Lieferwagen raste auf uns zu. Ich zog meinen Retter zur Seite und drückte uns gegen die Wand. Mein Gott! Ich atmete schwer, als das Adrenalin durch meinen Körper schoss.
Die Idioten lenkten mit quietschenden Reifen zurück auf die Straße und rasten davon.
Eine tiefe Stimme sagte: „Kaum lasse ich dich fünf Minuten allein, passiert das.“
Ich drehte mich um. Ein anderer Mann, der Fahrer des anderen Wagens, wie ich annahm, legte die Hand auf die Schulter des Blonden und begutachtete das violette Auge, das bereits zugeschwollen war. Beide Männer überragten meine Einmeterdreiundsiebzig. Sie mussten mindestens einsneunzig sein. Der Mann, der gerade erst angekommen war, sah mich mit seinen blaugrauen Augen an. Sein strenger Blick erinnerte mich irgendwie an Angelica. „Sind Sie okay?“
Ich starrte ihn an. Meine Wangen glühten, und ich spürte ein Kribbeln, das vom Bauch in Richtung Brust ausstrahlte. Wenn mein Herz nicht schon wegen des Sprints gerast hätte, hätte es jetzt damit angefangen. Trotz meines Schocks und seines verschrobenen Auftretens ließ sich die Wirkung dieses Mannes auf mich nicht ignorieren. Jeder rationale Gedanke verschwand. Diese hellen Augen im Kontrast zu seinem dunklen Haar … und was war mit dem markanten Kiefer? Kein Mann sollte so gut aussehen. Vermutlich war er daran gewöhnt, dass ihm die Frauen zu Füßen lagen, und wünschte sich insgeheim, er müsste sich nicht mit mir herumschlagen.
Er starrte mich an und wartete auf eine Antwort. Oh, richtig. Ich nickte, denn die Gehirn-zu-Mund-Verbindung war noch nicht wiederhergestellt.
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“ Er wandte sich von mir ab und seinem Freund zu. „Sie wurde doch nicht getroffen, oder?“
„Nein, Mann. Sie war nicht in der Nähe des Kampfes. Sie ist ziemlich schnell. Der Typ konnte sie nicht einholen, nicht mal annähernd.“
„Cool.“ Dieser stürmische Blick war nun wieder auf mich gerichtet. Schluck. „Also, geht es Ihnen gut?“
Ich räusperte mich und versuchte, nicht so zu klingen, als hielte ich ihn für den attraktivsten Mann, den ich je gesehen hatte. Lässig, Lily. Du schaffst das. „Ja, mir geht's gut, danke.“ Ich sah zu dem blonden Kerl. „Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben. Ich habe keine Ahnung, was gerade passiert ist, aber ich glaube, der Typ war tatsächlich hinter mir her. Ich wusste nicht, dass es hier so gefährlich ist.“
Er starrte mich aus seinem unverletzten Auge an, das zufällig einen schönen haselnussbraunen Farbton hatte. Wie hoch standen die Chancen, zwei heiße Typen auf einmal zu treffen? Das wäre ein Grund, den Mädchen eine SMS zu schicken. „Normalerweise ist das nicht der Fall. Ich sah, wie sie anhielten. Ein Glück, dass ich hier war, was?“ Er versuchte zu grinsen, aber er zuckte zusammen, da die Bewegung in seinem Auge schmerzte.
„Es tut mir so leid, dass Sie verletzt wurden. Sie sind ein großes Risiko eingegangen. Wenn Sie nicht gewesen wären, wer weiß, was dann passiert wäre. Gott weiß, dass niemand sonst vorhatte, zu helfen.“ Ich schaute über die Straße zu den Leuten, die uns immer noch beobachteten. „Ein typisches Beispiel.“ Ich schüttelte den Kopf. „Sollten wir nicht die Polizei rufen? Ich habe ein paar Fotos gemacht, nur für den Fall, dass wir Beweise brauchen.“
Die Männer tauschten einen wissenden Blick aus, und Blondie sagte: „Tatsächlich sind wir Detectives. Wir waren gerade auf dem Weg zum Lunch. Deshalb habe ich geholfen. Ich wurde dazu ausgebildet. Wir können einen Bericht schreiben.“
„Sollte ich nicht eine Erklärung abgeben?“
Mr Groß, Dunkel und Grüblerisch sprang ein. „Das wird vorerst nicht nötig sein. Wir haben das unter Kontrolle. Ich muss diesen Kerl zurück aufs Revier bringen und Eis auf seine hässliche Visage legen. Sie können uns Ihre Nummer geben, und wenn wir etwas brauchen, rufen wir Sie an.“
„Okay, aber ich habe eine australische Nummer und muss das Roaming aktivieren. Spätestens morgen sollte es funktionieren.“
Grauauge zog sein Handy heraus. „Schießen Sie los.“
„Mein Name ist Lily Bianchi und meine Nummer ist +61416344988.“
Er gab die Informationen ein und nickte knapp. „Wohnen Sie hier in der Nähe?“
„Ja, gleich da unten.“ Ich zeigte in die entsprechende Richtung. Meine Straße war nicht so weit von dem Ort entfernt, an dem ich gelandet war.
Er sah mich an, als wäre er mein wütender Vater und nicht ein Typ, der kaum älter war als ich. „Vielleicht sollten Sie direkt nach Hause gehen. Nur für den Fall, dass sie zurückkommen.“ Ich war erschüttert und zugegebenermaßen besorgt, dass sie zurückkehren könnten, aber ich wollte nicht, dass mein Abenteuer vorbei war, und verdammt, ich wollte nicht, dass die Verbrecher gewannen, indem sie mich in ein Versteck scheuchten. Ich hatte schließlich noch etwas zu überprüfen.
Er musste den Ausdruck auf meinem Gesicht gesehen haben. „Versprechen Sie mir, dass Sie nach Hause gehen und dort bleiben. Nur für einen Nachmittag.“ Er kniff die Augen zusammen.
Ich atmete laut aus und rollte mit den Augen. Nicht gerade mein reifstes Verhalten, aber ich hatte etwas zu tun, und seine Rechthaberei brachte mich dazu, zu rebellieren. Ich hatte keine Zeit, mich den ganzen Nachmittag einzuschließen. Ich musste die Magie erforschen, damit ich hoffentlich meinen Bruder retten konnte. Er blinzelte weiter.
„Schon gut, schon gut, verrenken Sie sich nicht das Gesicht. Ich gehe ja nach Hause.“
Er grinste. „Gut. Und passen Sie auf sich auf, Lily.“
Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse und lächelte Blondie an. „Nochmals danke.“
Blondie schenkte mir ein vorsichtiges Lächeln. „Gerne wieder.“
Sie überquerten die Straße, stiegen in ihr Auto und fuhren los. Was zum Teufel war gerade passiert? Und wie groß waren die Chancen, dass ein Polizist genau in dem Moment vorbeikam, wenn man einen brauchte? Vielleicht gab es hier mehr von ihnen pro Kopf. Aber waren das wirklich Polizisten gewesen? Mein Gott, was, wenn ich meine Nummer ein paar verrückten Psychos gegeben hatte? Aber warum sollten sie mir helfen, wenn sie keine Detectives waren? Mein Kopf brummte.
Während ich die schmale, von Bäumen gesäumte Straße hinunterging, warf ich immer wieder einen Blick über die Schulter. Ich würde mich nicht noch einmal überrumpeln lassen. Was gerade passiert war, war verrückt. Stimmt, offensichtlich war mein ganzes Leben verrückt geworden. So etwas war mir in den vierundzwanzig Jahren in Sydney noch nie passiert. Ich war noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier. Und was sollte ich Millicent und Angelica sagen? Wenn sie davon erfuhren, würden sie mich nie wieder allein spazieren gehen lassen. Und ich genoss die Zeit allein. Aber wenn ich es ihnen nicht sagte und sie es später herausfanden, wäre die Hölle los. Selbst wenn es einen Zusammenhang zwischen der Entführung von James und dem, was gerade passiert war, gab, was ich nicht glauben wollte, musste ich die Person sein, die darüber entschied, wohin ich ging und was ich tat. Ich seufzte. Ich wollte mein Leben nicht in Angst leben.
Mit einem letzten Blick, um sicherzugehen, dass ich nicht verfolgt wurde, bog ich in unsere Einfahrt ein. Dann blieb ich kurz stehen, um tief durchzuatmen und einfach zu sein . In kurzer Zeit war so viel passiert, dass ich herausfinden musste, wo ich gerade stand. Ich schloss die Augen und genoss die kalte Luft, die Nase und Lungen füllte. Was konnte ich riechen? Feuchte Erde und Magnolienblüten. Was konnte ich hören? Autos in der Ferne, einen Jumbojet und einen bellenden Hund nebenan. Ich öffnete die Augen. Die Kiesauffahrt war genauso schön wie bei unserer Ankunft, mit blühenden Magnolienbäumen auf der einen Seite und einer niedrigen Buchsbaumhecke auf der anderen. Hinter den Magnolien befand sich eine mannshohe Ziegelsteinmauer, die unter den dunkelgrünen Blättern einer Jasminrebe hervorlugte. Sie blühte zwar nicht, aber sie war trotzdem schön.
Ich schaltete die Kamera ein und machte Aufnahmen vom Garten, auf denen die Umrisse der Bäume und der Mauer zu erkennen waren. Die Nahaufnahmen der Magnolienblüten füllten mein Objektiv mit betörenden Rosatönen, die weiß verblassten. Wow, ein Marienkäfer saß auf der Außenseite eines Blütenblattes. Klick, klick, klick . Ich ging weiter die Auffahrt hinauf und richtete meine Kamera auf das Haus, aber bevor ich ein Foto machen konnte, stürmte Millicent heraus.
„Lily, bist du okay?“
Sie konnte es nicht wissen, oder? Ich dachte, sie konnte nur die Gedanken von Tieren lesen. Außerdem sendete ich gerade nicht, oder? Ich sah schnell nach. Meine blaue Blase war noch da. „Ja, aber ich muss dir unbedingt etwas erzählen. Warum gehen wir nicht rein?“
Ihre Augen weiteten sich. „Ich wusste, dass etwas passiert ist. Ich konnte es spüren. Ich bin auf die Gefühle der Menschen um mich herum eingestimmt.“
Oh Gott, nicht noch eine geheime Kraft, auf die ich aufpassen müsste. „Du besitzt also so etwas wie Empathie, nur viel stärker?“
„Ja, genau so. Ich spürte großen Stress und Panik.“
„Nur fürs Protokoll, es gab keine Panik. Ich war die ganze Zeit ruhig. Zumindest glaube ich, dass ich es war.“ Wir hatten das Wohnzimmer erreicht, und ich setzte mich auf das Chesterfield-Sofa. „Als ich auf der Straße Häuser fotografierte, hat dieser Mann versucht, mich zu packen. Ich konnte ihm entkommen und dann kam ein anderer Typ und hat ihn verprügelt.“ Die Kurzversion musste genügen. Ich wollte nicht, dass die Sache zu sehr aufgebauscht wurde. „Was?!“, kreischte sie. Sie wurde noch blasser, falls das überhaupt möglich war.
Aber dann wurde mir klar, dass sie das alles schon einmal durchgemacht hatte. „Hey, mir geht's gut. Sorry. Ich will nicht, dass du meinetwegen ausflippst. Ehrlich, mir geht es gut. Ich war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort, okay?“
„Glaubst du wirklich, dass das ein Zufall war?“ Millicent sah so unschuldig aus und sprach normalerweise sehr leise, weshalb ihre scharfsinnige Einschätzung ziemlich unerwartet kam.
Sie brachte definitiv ein gutes Argument vor, eines, das ich zwar kurz in Betracht gezogen hatte, über das ich aber nicht nachdenken wollte. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Geschwister innerhalb einer Woche zufällig entführt wurden? Wahrscheinlich größer, als dass ein Polizist zur richtigen Zeit auftauchte?
So ein Mist. Jetzt konnte ich die kleine Stimme nicht länger ignorieren, die sagte, dass jemand auch hinter mir her sein könnte.
„Ich rufe Angelica an.“ Millicent ging zu einem altmodischen grünen Telefon, das auf einem halbrunden Tisch unter dem Fenster stand. Sie nahm den Hörer ab und wählte, indem sie ihren Zeigefinger nacheinander in die verschiedenen Kreise steckte und die Wählscheibe herumdrehte. Warum benutzte sie nicht einfach ein Handy? „Angelica, wir haben ein Problem.“ Sie starrte aus dem Fenster und lehnte sich vor, sodass ihr Gesicht fast gegen das Glas gepresst wurde. Sah sie sich nach bösen Jungs um? „Lily wurde fast entführt. Sie sagt, ein Polizist sei zufällig vorbeigekommen und habe sie gerettet … Ja. … Ja, ich weiß.“ Sie richtete sich auf, drehte sich um und sah mich an. „Okay, gut. Wir werden hier sein. Bis gleich.“ Sie legte auf.
Ich hasste es, Gegenstand eines Gesprächs zu sein, das ich nicht hören konnte. „Also, was ist los?“
„Angelica schickt den Wagen. Er sollte bald hier sein. Wir fahren zum Hauptquartier. Sie will dich nicht aus den Augen lassen.“
So ein Mist. Das Ganze war nicht einmal meine Schuld, und trotzdem fühlte es sich so an, als würde ich bestraft werden. Ja, sie wollte mich in Sicherheit bringen, aber ich konnte mich nicht wirklich darüber freuen. Das Hauptquartier war wahrscheinlich so ein Bunker, die man oft im Fernsehen zu sehen bekam. Aber ich wusste, dass es sinnlos war, zu streiten. Was soll‘s. Ich würde das Beste daraus machen und einige von Tracys Fotos bearbeiten, während ich dort war. „Ich hole nur schnell meinen Laptop. Bin gleich wieder da.“
„Okay“, antwortete sie leise und starrte mit hängenden Schultern wieder aus dem Fenster. Eigentlich sollte ich das mit dem Knuddeln hinter mir haben, aber sie sah so traurig aus, dass ich zu ihr ging und sie in den Arm nahm.
„Es wird alles gut. Wir werden James finden. Du wirst sehen.“
Sie schniefte und nickte. „Ich komme schon klar.“ Sie richtete sich auf. Ihre Augen waren glasig von nicht vergossenen Tränen. „Hol deine Sachen. Er wird bald hier sein.“
Ich verzog mich auf die Toilette, denn wer wusste schon, wie weit es bis zum Hauptquartier war. Dann schnappte ich mir meinen Laptop, und als ich nach unten zurückkehrte, stand der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, der einen dunklen Anzug und eine dunkle Mütze trug, bereits im Vorraum. Millicent ging auf dem Weg zur Eingangstür an mir vorbei. „Lass uns gehen.“
Ich folgte ihr, und der Fahrer schloss die Haustür hinter uns. Dann beeilte er sich, uns die hintere Autotür zu öffnen. Ich stieg zuerst ein, damit Millicent nicht über den Sitz klettern musste. Ich wusste zwar, dass sie stark war, aber an diesem Nachmittag wirkte sie sehr zerbrechlich, und ich wollte es ihr nicht noch schwerer machen. Nicht, dass das Klettern über einen Rücksitz ein olympisches Ereignis wäre, aber Sie wissen schon.
Wir fuhren etwa fünfundzwanzig Minuten lang in Richtung Westen, bevor wir in eine schmale Straße einbogen. Eine hohe, mit Stacheldraht gespickte Ziegelmauer verlief parallel zur Straße. Auf halbem Weg führte eine Einfahrt zu schmiedeeisernen Toren. Das Schild an der Wand verkündete Vision Industries Pty Ltd . Etwa dreißig Meter hinter den Toren stand ein kleines Häuschen mit einem Fenster und einer Kamera auf dem Dach. Security.
Unser Fahrer griff nach einem Zwei-Wege-Walkie-Talkie-Ding auf seinem Vordersitz und sprach hinein. „Ich bin‘s, Jones. Wir sind da.“
Es klickte, und die Tore öffneten sich langsam nach innen. Ein Wachmann kam aus dem Häuschen heraus und winkte uns zu, während wir vorbeifuhren. Jones winkte zurück. Er steuerte den Wagen auf ein massives zweistöckiges Gebäude aus weißem Beton und Glas zu, das an ein Forschungslabor erinnerte. Vision Industries musste eine Fassade sein, es sei denn, die PUB hatte sich bei ihnen eingemietet.
„Hier arbeiten James und du?“
Sie drehte sich zu mir um. „Ja, dort haben wir uns auch kennengelernt.“ Ihr kleines Lächeln war wie ein Sonnenstrahl an einem bewölkten Tag.
„Ich erinnere mich, dass er mich anrief, um mir zu erzählen, dass er die Liebe seines Lebens getroffen hat. Er sprach immer nur vage über die Arbeit, aber er konnte nicht aufhören, über dich zu reden.“ Die beiden passten so toll zusammen: Sie liebten Tiere, scharfes Essen, Wandern und ihre Jobs, und sie waren beide Hexen. Alles, was ich wusste, war, dass James im Großen und Ganzen unverschämt glücklich war, seit er Millicent kennengelernt hatte, und dass sie immer nur freundlich zu mir war, wenn auch nur aus der Ferne.
Jones öffnete Millicent die Autotür, während ich meine selbst öffnete. Geduld gehörte nicht zu meinen Tugenden. Millicent lief um den Wagen herum auf meine Seite, die in Richtung der breiten gläsernen Eingangstüren wies. Sicherheitspersonal bewachte die Türen – ein Muskelmann mit Maschinengewehr auf jeder Seite. Warum brauchen sie Waffen, wenn beide magische Kräfte hatten? Vielleicht mussten sie auf Leute schießen, die stärkere Zauberkräfte besaßen als sie. Ein interessanter Gedanke.
Millicents Schuhe klackerten auf dem polierten Betonboden, als sie sich auf den Weg zu einer Sicherheitskontrolle machte. Wir mussten alles Metallische auf einen Tisch legen und durch einen flughafenähnlichen Scanner laufen. Meine Schwägerin zog eine Handfeuerwaffe aus einem Holster unter ihrem Arm, bevor sie durchging. Wow, seit wann war sie bewaffnet? Ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen. Ich hatte nur meinen harmlosen Laptop, mein Handy und meine Kamera auf den Tisch zu legen. Ich hatte schon jetzt das Gefühl, nicht dazuzugehören, dabei hatten wir gerade erst die Sicherheitskontrolle passiert. Ich war die Beschützte, nicht die Beschützerin. Das passte mir nicht. Ich hasste es, mich auf andere verlassen zu müssen. Das beschwor das Gefühl von Schuld und Unzulänglichkeit herauf. Vielleicht sollte ich einen Therapeuten aufsuchen, wenn ich wieder zu Hause war.
Nachdem wir – mit Ausnahme von Jones – das Prozedere hinter uns gebracht hatten, wurden wir an einem strahlend weißen Schalter angemeldet. Alles glänzte alabasterfarben, bis auf die dunkel getönten Fenster an der Vorderseite des Gebäudes. Millicent und ich wurden schließlich an einen älteren Mann in einem schwarzen Anzug mit Krawatte übergeben. Er hatte zwar den Körper und die Statur eines jungen Mannes, sein graues Haar lichtete sich jedoch an den Schläfen, und tiefe Falten zierten seine Stirn. Er trug so einen Knopf im Ohr wie die Geheimdienstler im Fernsehen. Millicent stellte uns einander vor. „Hi, Gus. Das ist meine Schwägerin, Lily.“
Ich lächelte und streckte meine Hand aus. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Gus.“
Er schüttelte meine Hand. „Das Vergnügen ist ganz meinerseits. Ihr Bruder ist ein toller Kerl.“
„Dankeschön.“
„Ich bin Ihr Verbindungsmann, solange Sie hier sind. Wenn Sie etwas brauchen, fragen Sie einfach. Ich werde versuchen, mich so weit wie möglich im Hintergrund zu halten, aber ich bin nie zu weit weg.“
„Danke.“ Vermutlich, nein, ganz bestimmt war das ein Code für „Wir beobachten dich die ganze Zeit“.
Mithilfe seines Sicherheitsausweises brachte Gus uns durch eine Tür und einen Korridor zu einem Aufzug, mit dem wir in den ersten Stock fuhren, wo es durch eine weitere schwere Tür und einen Flur ging. Die Leute, an denen wir vorbeikamen, trugen entweder schwarze Anzüge, weiße Hemden und schwarze Krawatten – der Designer der Uniformen musste ein Riesenfan von Men in Black gewesen sein – oder Straßenkleidung, also Jeans, Pullover und T-Shirts. Ein paar winkten Gus zu oder sagten Hallo, und einige Leute folgten Gestalten, die wie Verbindungsleute aussahen.
Wir bogen einige Male um eine Ecke, bis ich keine Ahnung mehr hatte, wo Norden oder Süden war. Millicent und Gus unterhielten sich die ganze Zeit. Ich erfuhr, dass Gus' Frau gerade die Gallenblase entfernt worden war, es ihr aber gut ging, er in ihrer Abwesenheit erfolgreich einen Rindereintopf gekocht und sein Hund heute Morgen auf den Teppich gekotzt hatte. Igitt. Schließlich kamen wir zu einer Tür mit der Aufschrift M3 und blieben stehen. Gus fuhr mit der Magnetkarte darüber, und die Tür sprang auf.
Millicent drehte sich zu mir um. „Kannst du ein paar Minuten hier draußen mit Gus warten? Drinnen findet gerade eine Besprechung statt, und ich bin mir nicht sicher, wann Angelica möchte, dass du dazukommst.“
„Kein Problem.“
Gus hielt ihr die Tür auf und schloss sie, sobald sie eingetreten war. Ich hatte nicht viel gesehen, außer dass die Wände eher blassblau als weiß waren. Und was jetzt? Gus verschränkte die Arme und starrte abwechselnd den Korridor hinunter und auf seine Schuhe. Hier draußen gab es keine Stühle, keinen Fernseher und nichts zu tun, außer hilflos herumzustehen und zu bemerken, wie unbeholfen Gus jetzt war, da Millicent gegangen war und zwei scheinbar introvertierte Typen zurückgelassen hatte. Ich überlegte gerade, ob ich ein Gespräch beginnen sollte, stellte dann jedoch fest, dass ich ziemlich müde war. Und außerdem wollte ich nichts mehr über kotzende Hunde hören.
Wie spät war es? Ich sah auf mein Handy. 14:00 Uhr, also 23:00 Uhr zu Hause. Kurz vor meiner Schlafenszeit. Ich pfiff auf den Anstand und gähnte ausgiebig. Dann lehnte ich mich gegen die Wand und rutschte auf den Boden. Es war kalt am Rücken, aber das war mir egal. Ich wollte schon einen Blick auf mein Facebook-Profil werfen, als mir einfiel, dass ich das Roaming noch nicht eingerichtet hatte, weshalb mich das kurze Vergnügen ein Vermögen kosten würde. Grrr. Ich könnte mit der Bearbeitung der Hochzeitsfotos beginnen, aber was wäre, wenn man mich dann in die Besprechung rief? Dann müsste ich den Laptop schnell herunterfahren – es war nicht sicher, ihn zu tragen, während er eingeschaltet war. Die Festplatte könnte zerstört werden, und ich liebte meinen Laptop fast so sehr wie meine Kamera. Ich hing wirklich ziemlich an diesem Technikzeug.
Ich fragte mich, was sie da drinnen besprachen – ob es um allgemeine Dinge oder um James ging. Tränen schossen mir in die Augen. Was, wenn er tot war? Oder wenn er zwar am Leben, aber schwer verletzt war und gefoltert wurde? In Anbetracht seines Berufes war das durchaus möglich. Wie könnte ich helfen, ihn zu finden? Hoffnungslosigkeit überkam mich, genau wie damals, als ich vierzehn Jahre alt war. Ich ließ den Kopf hängen und schlang die Arme um die Knie. Meine Eltern waren verschwunden, während sie in diesem Land gewesen waren. Waren sie ins Fadenkreuz geraten, weil sie für die PUB gearbeitet hatten? Die Polizei hatte uns damals erzählt, dass sie einfach verschwunden seien, es aber keine verdächtigen Umstände gäbe – außer der Tatsache, dass sie tatsächlich unauffindbar waren. Hatte die PUB versucht, sie zu finden? Und wenn ja, hatten sie eine Akte angelegt, die ich einsehen konnte? Mein Herz schmerzte, wann immer ich an meine Eltern dachte. Nicht zu wissen, was passiert war, hinterließ eine klaffende Wunde in meinem Herzen. Waren sie tot oder lebten sie irgendwo als Gefangene? Ich konnte nicht glauben, dass sie meinen Bruder und mich freiwillig zurückgelassen hatten. Aber falls sie tot waren, wie waren sie dann gestorben? Waren ihre letzten Minuten von Schmerz und Schrecken erfüllt gewesen, oder war es schnell gegangen? Wo waren ihre Leichen? Ich dachte jeden Tag an sie, und ich wusste, dass sich das nie ändern würde. Seit es passiert war, hatten James und ich nicht wirklich einen Tag Ruhe gehabt. Und jetzt durchlebte ich diesen Albtraum noch einmal.
„Lily?“
Ich sprang auf. Mein Gott! Millicent hatte sich herangeschlichen und stand nun neben mir. Vielleicht hatte sie das aber auch nicht getan, und ich war sozusagen in meiner eigenen Welt gewesen.
„Sie möchten dich jetzt sehen.“
Ich stand auf und folgte ihr durch die Tür, neugierig darauf, wer „wir“ sein würde und warum sie mich treffen wollten. Ich wusste immer noch nicht, wie ich helfen konnte.
An einem ovalen Tisch mit acht Plätzen saßen Angelica, eine junge Frau in schicker schwarzer Anzugjacke und mintgrüner Bluse, die blonden Haare zu einer französischen Rolle hochgesteckt, die es schaffte, ihre Lesebrille sexy aussehen zu lassen, ein Mann Mitte vierzig mit dichtem, gewelltem dunklem Haar und ein dünner Mann Mitte fünfzig, dessen graues Haar zu einem tiefen Pferdeschwanz zurückgebunden war. Sein dicker grauer Bart war ordentlich gestutzt, und obwohl nur der obere Knopf seines weißen Hemdes offen stand, schaffte es seine Brustbehaarung, sich herauszuschleichen. Außerdem trug er ein silbernes Armband.
Sie starrten mich unverhohlen an und versuchten nicht einmal, ihre abschätzenden Blicke zu verbergen. Ich war mir sicher, dass Angelica ihr Urteil bereits gefällt hatte, bemerkte aber vermutlich, wie ich auf diese Situation reagierte. Angeblich wollten sie mich hier haben, damit ich bei der Suche nach James half, aber wo waren das sympathische Lächeln und die freundlichen Worte, um mich in England willkommen zu heißen? Wie wäre es mit ein wenig Mitgefühl und der Nachfrage, wie es mir ging, da mein Bruder vermisst wurde? Kaltblütige Hexen.
Der Typ mit der lilafarbenen Krawatte – der Dunkelhaarige – wirkte eingebildet selbstbewusst und saß am Kopf des Tisches. Also war er wahrscheinlich der Chef. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen und ließ mir bewusst meinen Unmut anmerken, während ich zu ihm ging. Als ich zu ihm hinunter schaute, begegnete ich seinem berechnenden Blick mit einem Du-kannst-dir-deine-Meinung-du-weißt-schon-wo-hinstecken-du-herzloser-Mistkerl-Blick. Ich schuldete diesen Leuten nichts, und bis jetzt hatten sie nichts getan, um meinem Bruder oder mir zu helfen. Er war immer noch verschwunden, und ich war fünfzehntausend Kilometer von meinem Zuhause entfernt und hatte niemanden, den das wirklich interessierte – außer Millicent natürlich, aber die hatte ihre eigenen Probleme. Erst jetzt bemerkte ich die Wut, die sich seit dem Vortag in mir angestaut hatte. Es brauchte eine Menge, um mich zu verärgern, und ich gab nur ungern zu, dass sie mich so weit gebracht hatten.
Er legte die Fingerspitzen aneinander. „Sie hat echt Mumm, Angelica. Was für ein Fund.“ Was zum Teufel? Was war ich? Ein Springpferd? Oder eine Antiquität? Ich schaute zu Angelica, die meinen Blick ungerührt erwiderte. Wie konnte sie mich so schnell hintergehen? War das hier nur ein Treffen von Leuten, die James' Schwester sezieren wollten? Wozu begutachteten sie mich? Ich glaubte nicht, dass ich das wirklich wissen wollte. Wenn es nicht um die Chance gegangen wäre, James zu finden, hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und nicht eher angehalten, bis ich in einem Flugzeug nach Hause gesessen hätte.
Die an ein Fotomodell erinnernde Frau stand auf, ging um den Tisch herum und hielt mir die rechte Hand hin. „Ich bin Snezana. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Lily.“ Ich zögerte, ihr die Hand zu schütteln, aber als sie lächelte, nahm ich sie aus reiner Höflichkeit an. „Warum setzen Sie sich nicht neben mich? Wir haben gerade eine neue Spur in dem Fall besprochen und hoffen, dass Sie uns helfen können.“
Ich ließ mich von ihr zu dem Platz neben ihrem führen. „Möchten Sie ein Glas Wasser oder einen Kaffee?“ Meine Güte, sie war ja wirklich nett. Böse Lily.
„Nein, aber trotzdem danke.“ Ich hasste es, anderen lästig zu sein. Millicent saß mir gegenüber, wich meinem Blick jedoch aus.
Ich konnte es ihr nicht verdenken. Wenn ich mit meinen Augen Laserstrahlen abschießen könnte, gäbe es schon zwei Tote. Ich sollte herausfinden, ob das eine brauchbare Hexenfähigkeit war.
Der Typ am Kopfende richtete seine ohnehin schon gerade Krawatte – hm, hatte ich ihn etwa ein wenig verunsichert? Wie schön. „Jetzt, wo Lily hier ist, können wir die Vorstellungsrunde fortsetzen.“ Sein Akzent war unglaublich vornehm. Er sprach gerade laut genug, um seinen Worten Ernsthaftigkeit zu verleihen, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass er sich zu sehr anstrengte. Ich musste mich sogar etwas nach vorne lehnen, um ihn zu verstehen– wie alle anderen auch. Dabei sahen wir furchtbar lächerlich aus, als würden wir darauf warten, dass er uns verrät, was passiert, wenn man stirbt, oder wie der Zauberspruch für den Lasertodesblick lautete. Ich hätte wetten können, dass er das mit Absicht tat. Idiot. „Wie Sie gerade erfahren haben, ist das Snezana. Sie ist James' Assistentin und die leitende Koordinatorin in diesem Fall. Angelica, unsere Einsatzleiterin, kennen Sie ja schon, ebenso Millicent, eine unserer besten Ermittlerinnen. Und dann ist da noch Timothy, der Leiter der IT-Abteilung, und James' direkter Untergebener.“ Timothy schenkte mir ein trauriges Lächeln, also gehörte er wahrscheinlich zu den Guten. Drei von fünf war eigentlich ein guter Schnitt. „Und ich bin hier der große Boss. Drake Pembleton der Dritte. Auch wenn es vielleicht nicht so scheint, wir sind sehr froh, Sie hier zu haben. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir alles tun, um Ihren Bruder zurückzubekommen. Dazu gehört auch, Sie um Hilfe zu bitten. Wir sind sehr stolz auf die Arbeit, die wir in der PUB leisten, und ich überlasse an dieser Stelle Snezana das Feld.“ Er lehnte sich zurück und faltete seine Hände über dem leichten Bauchansatz.
Ich drehte meinen Stuhl in Richtung Snezana, die mir ein beruhigendes Lächeln schenkte. „Sagen Sie mir Bescheid, wenn etwas ist, okay, Lily? Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, die Sie womöglich beunruhigen.“ Ich nickte. „Gut. Wie ich höre, wurden Sie heute von zwei Männern angegriffen. Können Sie uns sagen, was passiert ist? Und lassen Sie bitte nichts aus, ja? Wir müssen alles wissen, woran Sie sich erinnern.“
Wie hatten sie so schnell davon erfahren? Nicht von Millicent. Ihr hatte ich nur gesagt, dass ein Typ versucht hatte, mich zu packen. „Ich kam gerade aus dem Weinlokal in der Hauptstraße …“
Angelica hob die Brauen und schüttelte den Kopf. „Trinken Sie schon so früh Alkohol, Lily?“
„Was? Nein! Ich erkläre das später, das ist im Moment nicht wichtig. Ich kam also aus dem Weinlokal und bog rechts um die Ecke. Als ich weiter die Straße entlang ging, hörte ich, wie ein Fahrzeug hinter mir langsamer wurde. Ich wusste, dass nirgendwo ein Parkplatz war, also drehte ich mich um. Ein schwarzer Van fuhr auf dem Fußweg direkt hinter mir, bevor er schließlich anhielt und ein Typ heraussprang.“
„Wie hat er ausgesehen?“
„Er war groß, etwa ein Meter fünfundachtzig. Er hatte eine Sturmhaube über dem Gesicht und trug eine blaue Jeans und vielleicht einen Pullover. Ich kann mich nicht erinnern.“ Ich zog die Stirn in Falten. Welche Farbe hatte sein Oberteil? Ich konnte mich bestimmt daran erinnern – es war erst heute Nachmittag passiert. Komm schon, Gehirn, denk nach. „Welche Farbe auch immer sein Oberteil hatte, es hatte lange Ärmel und eine hellere Farbe, wie ein Hellbraun oder Rehbraun.“
„Das sind die gleichen Farben, Liebes.“ Warum hasste Angelica mich so sehr?
„Ja, richtig, dann muss es sich wohl um diese Farbe handeln.“ Snezana beugte sich vor und tätschelte meinen Arm. „Es ist okay. Das Gedächtnis ist nicht so zuverlässig, wie man denkt. Aber vielleicht gibt es etwas, an das Sie sich ganz genau erinnern und das uns zu einem Durchbruch verhilft.“ Sollte ich die Fotos erwähnen, die ich gemacht hatte? Nein, dann würden sie meine Kamera konfiszieren und möglicherweise etwas über meine besondere Fähigkeit herausfinden. Falls es die gab.
Ich beschrieb, woran ich mich noch erinnerte, und endete mit: „Dann kam ein anderer Typ mit dunklen glatten Haaren, Blondies Freund, und die bösen Jungs rannten zurück zu ihrem Van und fuhren davon. Die Typen, die mir geholfen haben, sagten, sie seien von der Polizei. Stimmt das?“
Auf meine Frage folgte kurzes Schweigen. Schließlich räusperte Snezana sich. „Das besprechen wir später. Erinnern Sie sich im Moment an irgendetwas an dem Mann, der Sie angreifen wollte? Hatte er irgendwelche Tattoos oder Narben?“
„Das konnte ich nicht erkennen. Seine Kleidung bedeckte ihn von Kopf bis Fuß. Ich kam nicht nah genug heran, um einen guten Blick auf seine Hände zu erhaschen. Entschuldigung.“
„Und sind Sie sich sicher, dass er hinter Ihnen her war? Oder wollte er vielleicht eines der Geschäfte ausrauben?“
„Ja, das könnte sein. Ich war mir nicht sicher, aber es sah so aus, als würde er auf mich zulaufen, aber er sagte nichts, und ich konnte seine Augen nicht sehen. Also, vielleicht, ja.“ Aber ich weiß, wie ich mich gefühlt hatte: als wäre ich das Ziel. Und das hatte mir Angst gemacht. Könnte ich die Situation falsch verstanden haben?
„Danke, Lily. Wir wissen Ihre Mühe sehr zu schätzen.“
Das war's also? Sie baten mich hierher, um meine Version der Ereignisse anzuzweifeln, damit sie sie zu den Akten legen und es auf eine Hexe zur falschen Zeit am falschen Ort schieben konnten? Ich seufzte. Wie auch immer. „Bevor ich gehe, Sie meinten, es gäbe einen Durchbruch im Fall meines Bruders. Was meinten Sie damit?“
Snezana schaute zum Big Boss, der fast unmerklich den Kopf schüttelte. Daraufhin schenkte mir James‘ Assistentin ihre Aufmerksamkeit. „Das können wir zu diesem Zeitpunkt leider nicht sagen. Wenn Sie andere Informationen über die Angreifer gehabt hätten, hätten wir etwas zu besprechen gehabt, aber jetzt können wir das nicht. Es tut mir wirklich leid.“ Sie schloss Millicent in ihre Entschuldigung ein.
Meine arme Schwägerin nickte und stand schnell auf. „Ihr müsst mich entschuldigen.“ Sie eilte aus dem Zimmer, wahrscheinlich, um ihre Tränen zu unterdrücken. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie vor Kollegen weinen wollte, schon gar nicht vor so Kaltherzigen wie diesen.
Snezana tauschte einen weiteren ernsten Blick mit Drake Pembleton dem Dritten, aber ich konnte nicht verstehen, worum es dabei ging. Was auch immer es war, es schien eine Art negativer Kommentar über Millicent zu sein. Mistkerle.
Ich stand auf. „Bitte entschuldigen Sie mich.“ Ich folgte ihr nach draußen. Ich war zwar gerade kolossal gescheitert, meinen Bruder zu finden, aber es gab immer noch jemanden, dem ich helfen konnte.
Ich holte Millicent ein, sagte aber nichts. Wir gingen nebeneinander, Gus schweigend hinterher, bis wir fast am Ende des Flurs vor einer geschlossenen Bürotür stehen blieben. Sie fuhr mit der Hand über die Türklinke und murmelte ein paar Worte. Das Schloss klickte, und die Tür sprang auf. Oh, Magie.
„Ich bleibe hier draußen“, sagte Gus.
„Danke, Gus.“ Millicent führte mich in ihr Büro und schloss die Tür hinter uns. Sie ging durch einen funktionalen Empfangsbereich mit einem derzeit unbesetzten Empfangstresen, einem großen Plastikfarn an der einen und zwei himmelblauen zweisitzigen Sofas an der anderen Wand. Ich folgte ihr in das angrenzende Zimmer, in dem sie um einen großen Mahagonitisch herumlief und sich in einen plüschigen, hochlehnigen Bürostuhl setzte. „Nimm Platz, Lily. Ich muss nur kurz meine Gedanken sammeln.“
„Ja, sicher.“ Ich setzte mich in einen der beiden von den Sechzigerjahren inspirierten schwarzen Stoffstühle und stellte meine Kamera und Laptoptasche auf ihren Tisch. Drei gerahmte Universitätsabschlüsse hingen an der Wand – eine kluge Frau. Ein Garderobenständer stand in der Ecke neben einem Minikühlschrank und einem schwarzen Aktenschrank. Auf ihrem unaufgeräumten Schreibtisch standen ein Bürotelefon, ein rosafarbener Stifthalter, ein dreistufiger Schreibtischorganizer und zwei gerahmte Fotos. Ich drehte sie um. Auf einem waren James' und ihre Hunde zu sehen – zwei entzückende Labradore, der eine hellbraun, der andere schwarz. Ich nahm das andere Foto in die Hand, um es mir genauer anzusehen.
James und Millicent, von den Schultern aufwärts, mit rosigen Wangen und vom Wind zerzausten Haaren, standen vor einer herrlichen Aussicht, die man gerade noch über ihre Schultern hinweg sehen konnte, was darauf hindeutete, dass sie irgendwo auf einer Kuppe standen. Ihr Lächeln war so breit, dass ich fast die Lücke zwischen James' oberen Backenzähnen sehen konnte. Er hatte beim Hockey einen Schläger ins Gesicht bekommen, als er dreizehn war. Was, wenn ich ihn nie wieder sah? Dumme Tränen brannten mir in den Augen. Ich blinzelte und biss mir auf die Zunge. Ich würde nicht weinen. Ich musste stark sein, für Millicent.
Ich stellte das Foto zurück auf den Tisch. „Was sollen wir tun, Mill?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber es muss bald etwas passieren, sonst bekommen wir ihn nie wieder zurück.“ Sie presste die Kiefer zusammen, und ihre Augen glitzerten von den Tränen, die sie zurückhalten wollte. Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. „Hast du vor dem Drama heute Nachmittag noch ein paar schöne Fotos machen können?“ Wir brauchten beide einen Themenwechsel.
„Ich denke schon. In Westerham gibt es die schönsten Tudorhäuser. Irgendwie bin ich stinksauer, dass mein Besuch abgekürzt wurde. Vor allem, weil ich offenbar überreagiert habe.“ Ich rollte mit den Augen. Das erinnerte mich an die Frau im Fenster. Hm. „Millicent, ich habe vielleicht eine Idee, aber ich möchte erst ein paar Fotos machen.“ Wenn ich hier jemandem vertrauen konnte, dann meiner Schwägerin. „Kann ich hier drin ein paar Aufnahmen machen?“
„Das sollte in Ordnung sein, solange du sie löschst, bevor du gehst. Das ist ein Hochsicherheitsgebäude. Ich bin überrascht, dass sie dich mit dieser Kamera überhaupt reingelassen haben.“
„Oh, okay.“ Ich war froh, dass sie nicht versucht hatten, sie zu beschlagnahmen.
Dann hätten sie mich vielleicht verhaften müssen.
Ich schnappte mir meine Nikon, nahm den Objektivdeckel ab und schaltete die Kamera ein. Dann ging ich hinaus in den Empfangsbereich und richtete sie auf den Schreibtisch der Empfangsdame. Nichts. Es sah alles aus wie vorher. Ich drehte mich langsam um und fing alles durch den Sucher ein. Nichts. Es sah so aus, als wäre meine Vermutung falsch gewesen, aber ich würde es in Millicents Büro versuchen, nur für den Fall.
Ich schaute immer wieder durch die Kamera, während ich Millicents Büro betrat. Millicent saß an der gleichen Stelle. Dort war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Ich stellte mich zu ihr hinter ihren Schreibtisch und richtete meine Kamera auf die Besucherstühle. Vielleicht musste ich mich mehr anstrengen? Ich atmete ein paar Mal tief durch und schaltete alles andere aus. Ich konzentrierte alle meine Gedanken darauf, die beste Aufnahme zu machen, und drückte auf den Auslöser. Klick. Klick. Klick. Da! Oh mein Gott! Ich schoss noch ein paar Bilder. Das war großartig! Ich war so aufgeregt und hätte am liebsten geschrien. Ich stampfte ein paar Mal mit den Füßen auf und vollführte einen kleinen Freudentanz.
„Igitt! Schau dir das an.“ Ich drückte die Wiedergabetaste, um die Bilder aufzurufen, die ich gerade aufgenommen hatte, und reichte die Kamera an Millicent weiter. „Schau dir das an.“
Ihr verwirrter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Verwunderung, und ihr blieb der Mund offen stehen, als sie auf den Bildschirm starrte. Dann wurde sie rot. Hinter den Stühlen, in einer anderen Zeit, standen James und Millicent und küssten sich leidenschaftlich. Ich kicherte. „Ihr zwei seid so ein süßes Paar.“
Sie biss sich auf die Unterlippe, und als sie mich ansah, lief ihr eine Träne die Wange hinunter. Zum ersten Mal, seit ich angekommen war, leuchtete Hoffnung in ihren Augen auf. Aber sie legte den Zeigefinger auf den Mund und gab mir ein Zeichen, nichts zu sagen. Ich sah mich um. Bestimmt war das Büro verwanzt, wahrscheinlich auf Hexenart. Zum Glück hatte ich meine Theorie nicht erklärt.
Sie stand auf. „Was hältst du davon, wenn wir einen Ausflug machen und einen Kaffee trinken? Hier zu sein, erinnert mich an James. Heute war kein guter Tag.“
„Ja, warum nicht. Du weißt, ich bin immer für einen Kaffee zu haben.“ Ich lächelte. Ich hoffte, Millicent würde mit mir zu dem Ort fahren, an dem James verschwunden war.
In dem Moment klopfte es an der Haupttür. Wir schauten beide dorthin und uns dann wieder an. Bitte, lass es nicht Angelica sein. Sie hatte sich in der Besprechung für keinen von uns eingesetzt. Was auch immer ihr Plan war, ich war mir sicher, dass er mir nicht gefallen würde.
Millicent ging zur Tür, öffnete sie und kehrte dann mit einem finsteren Gesichtsausdruck zurück, der sich schnell in eine neutrale Miene verwandelte. Seltsam. Snezana folgte ihr auf den Fuß. „Hallo, meine Damen. Ich wollte nur kurz vorbeikommen und sagen, dass es mir leid tut, was in der Besprechung passiert ist. Ich wünschte, ich hätte bessere Neuigkeiten gehabt. Ich hatte gehofft, dass ihr Lust auf einen Kaffee in der Cafeteria habt.“ Sehr verdächtig, oder war ich einfach nur wieder paranoid?
„Ähm …“ Ich schaute Millicent fragend an.
„Geht ihr zwei. Ich muss noch einige Berichte durchsehen. Wir können später mit Angelica nach Hause fahren, Lily.“
„Aber …“
Ihr breites Lächeln war gezwungen. „Nein, geh ruhig. Ich bin im Moment sowieso keine gute Gesellschaft.“
„Bist du sicher, dass du okay bist?“ Was war gerade passiert? Da lief definitiv etwas zwischen Millicent und Snezana.
„Ich habe die letzte Woche durchgestanden. Da werde ich auch diesen Nachmittag überstehen.“
Ich griff nach meinem Handy, mehr aus Gewohnheit als alles andere, aber vielleicht konnte ich später versuchen, ein paar Fotos damit zu machen. Und sehen, was passiert ist. „In Ordnung, aber es wird nicht lange dauern. Bye.“
„Bye, Millicent. Und arbeite nicht zu viel“, rief Snezana ihr über die Schulter zu. Es war subtil, und ich kannte die Frau nicht, also konnte ich nicht sicher sein, ob sie ein Miststück war oder nicht. Bei ihr musste ich vorsichtig sein. Aber da sie James' Sekretärin war, hatte sie vielleicht einige Informationen darüber, wer für das Verschwinden meines Bruders verantwortlich war, falls es mit der Arbeit zu tun hatte.
Die Frau plauderte den ganzen Weg den Korridor hinunter, in den Aufzug und einen weiteren Flur entlang, bis wir durch eine Doppeltür in eine große Cafeteria gelangten. Offenbar arbeitete sie seit etwa einem Jahr hier, hatte zwei ältere Brüder und eine Mutter, die alle ständig für ihre Schwester hielten, weil sie so jung aussah. Und in diesem Wortschwall bot sie mir gleich das Du an, dass ich zögerlich annahm.
Es waren nicht viele Leute dort, da es mitten am Nachmittag war. Aber trotzdem klirrten und hallten Messer, Gabeln und Tassen in der Betonkammer. Es war eine Selbstbedienungseinrichtung mit einer Reihe von warmen Speisen unter Glas und einer Kuchenvitrine. Das Essen sah ziemlich gut aus, und mein Magen grummelte beim Geruch von grünem Hühnercurry und Beef Stroganoff. Aber Käsekuchen und Schwarzwälder Kirschtorte sahen ebenfalls köstlich aus. Da ich nicht für alles Platz hatte, musste eine schwierige Entscheidung getroffen werden.
„Nimm, was du willst. Es ist kostenlos. Das gehört zu den Vorteilen, wenn man für die Regierung arbeitet.“
„Aber ich arbeite nicht hier. Bist du sicher, dass es dann auch noch kostenlos ist?“
„Du bist mein Gast.“ Sie lächelte. „Ich wollte schon immer James' kleine Schwester kennenlernen. Er redet ständig über dich und deine Arbeit als Fotografin. Das klingt so cool. Er erwähnte, dass du versuchst, ein paar Aufnahmen für eine Ausstellung zusammenzustellen.“ Sie führte uns zu einem Tisch und setzte sich.
„Das habe ich, aber die Arbeit war ein bisschen stressig, also habe ich eine Weile nichts gemacht. Ich würde gerne eine Ausstellung machen und meine kreativen Arbeiten verkaufen. Hochzeiten sind ja ganz in Ordnung, und ich weiß es zu schätzen, dass ich das, was ich liebe, beruflich machen kann, aber für den Inbegriff der Hochzeitsfotos opfere ich oft meine Kreativität. Und die Leute, mit denen man dabei zu tun hat, können so was von nervig sein. Du solltest mal versuchen, eine Braut, zehn Brautjungfern und zwei Blumenmädchen gleichzeitig in die Kamera schauen und lächeln zu lassen. Und irgendjemand blinzelt immer zur falschen Zeit. Ich schalte lieber meinen iPod ein und laufe allein herum. Nur ich, etwas gute Musik und meine Kamera.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hole mir einen Kaffee und ein Stück Kuchen. Möchtest du auch etwas?“
„Nein, danke. Ich habe erst vor drei Stunden zu Mittag gegessen.“ Drei Stunden waren in meiner Welt eine lange Zeit zwischen den Mahlzeiten. Aber ich nahm an, dass dünn zu sein bedeutete, nichts zu essen. Sollte sie doch ihrem Hunger frönen.
„Ich bin gleich wieder da.“ Ich holte mir einen Cappuccino und ein Stück Käsekuchen und kehrte dann zu Snezana zurück. Sie schaute mich mit einem gelassenen Lächeln an, das ein wenig unheimlich war. Um mein Unbehagen zu verbergen, konzentrierte ich mich darauf, mein Essen auf den Tisch zu stellen. „Wie ist es, für meinen Bruder zu arbeiten? Er war zu Hause immer so organisiert und herrisch. Meine Unordnung hat ihn immer verrückt gemacht.“ Ich sah auf, und ihr Gesichtsausdruck war wieder normal. Gott sei Dank.
„Ha, ja, er ist sehr ordentlich, aber das ist eine lobenswerte Eigenschaft bei einem Mann ... oder einer Frau, oder eigentlich bei jedem.“ Okaaay. „Es ist wirklich sehr angenehm, für ihn zu arbeiten. Er erwartet, dass die Dinge korrekt erledigt werden, aber er bleibt freundlich, wenn man einen Fehler macht. Ich könnte mir nicht vorstellen, für jemand anderen zu arbeiten. Wir verstehen uns auch so gut. Hat er mich jemals erwähnt?“
Das war eine seltsame Frage. „Nein, aber bis vor Kurzem wusste ich nicht einmal, dass er hier arbeitet, oder dass er ein Hexer ist, oder dass Hexen überhaupt existieren. Also würde ich es nicht persönlich nehmen. Hatte er irgendwelche Feinde bei der Arbeit? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wer ihm etwas antun will.“ Ich wusste, dass sie alle Informationen, die wichtig waren, an Leute weitergegeben hätte, die wussten, was sie taten, aber ich musste sie einfach fragen.
„Ein anderer Typ in seiner Abteilung, Anthony, ist sehr ehrgeizig. Er hasst es, dass James klüger ist als er und dass dein Bruder vor ihm befördert wurde, obwohl er jünger ist. Das habe ich auch Angelica gesagt – sie leitet diese Untersuchung. Ich habe keine Ahnung, ob sie dem nachgegangen ist.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und sah aus, als würde sie etwas überlegen, bevor sie weitersprach. „Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?“
Ich verschluckte mich an meinem Kaffee. „Sicher.“ „Millicent und du, steht ihr euch nahe?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ein wenig. Ich meine, ich mag sie und wir verstehen uns gut, aber wir verbringen nicht viel Zeit miteinander, da wir in verschiedenen Ländern leben. Aber wir skypen viel. Die Tatsache, dass James sie liebt, ist auch eine große Bestätigung für ihren Charakter.“ Ich lächelte.
Sie schaute auf mein Telefon. „Ist das das iPhone 8?“
„Ja. Ich habe meinen Mobilfunkvertrag vor ein paar Monaten geändert und das hier bekommen. Das X war ein bisschen zu teuer.“
„Darf ich mal sehen?“
„Sicher.“ Ich gab es ihr. „Ich liebe dieses Apple-Zeug.“
Sie grinste. „Ich auch.“ Sie drehte das Telefon um, wog es in ihrer Hand und drückte die Home-Taste. „Gute Größe. Ich war hin und her gerissen zwischen dieser und der größeren Version. Die hier ist viel einfacher zu handhaben.“ Sie murmelte irgendetwas vor sich hin und gab mir dann das Telefon zurück. „Danke. Ich denke, ich werde mir das Modell holen.“
Ich bekam einen leichten Stromschlag, als ich das Handy berührte. Diese blöde Hexenkraft. Hoffentlich hatte ich das Telefon nicht beschädigt. Ich drückte die Home-Taste und war erleichtert, als es immer noch funktionierte.
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. War sie nachdenklich oder besorgt?
„Nun, ich sollte nicht aus dem Nähkästchen plaudern, und bitte, erzähl das niemandem. Also, wenn ich dir verspreche, dir etwas zu erzählen, macht es dir etwas aus, wenn ich dich mit einem Zauber belege, damit du es nicht wiederholen kannst?“
„Das könntest du tun?“
„Ja, aber ich brauche deine Erlaubnis. Man kann niemanden ohne sein Einverständnis mit einem solchen Bann belegen. Das ist illegal. Es ist nichts weiter als eine Geheimhaltungsvereinbarung, nur im Hexenstil.“
Was, wenn das, was sie mir erzählte, etwas war, das ich dann doch erzählen müsste? Was, wenn sie mir sagte, wer meinen Bruder entführt hatte? Sicherlich konnte sie das nicht wissen. „Ich bin mir nicht sicher. Es geht doch nicht um denjenigen, der meinen Bruder entführt hat, oder?“
Snezana lachte. „Oh, meine Güte, Lily, du bist so witzig!“ Ihre Stimme wurde leiser und sie schaute auf ihren Schoß. „Wenn ich wüsste, wer deinen Bruder entführt hat, hätten wir ihn schon längst wieder.“ Sie klang wie jemand, der versagt hatte.
„Na gut. Ich muss das aber trotzdem fragen: Geht es um etwas Illegales? Denn wenn dem so ist, müsste ich es, je nachdem, was es war, der Polizei sagen, also könnte ich deinem Zauber nicht zustimmen.“
Sie lächelte und schüttelte den Kopf in einem Stimmungswechsel, der mich verwirrte. „Du bist echt zum Schießen.“ Ihr falsches Lachen ließ mich glauben, dass sie eigentlich sagen wollte: Du bist so eine Nervensäge. „Nein, das bin ich nicht. Hör mal, wenn du es nicht wissen willst, ist das in Ordnung. Es ist wahrscheinlich sowieso nichts, aber es könnte etwas mit dem Verschwinden deines Bruders zu tun haben.“
Konnte ich ihr vertrauen? Nicht wirklich, aber James vertraute ihr so weit, dass sie seine Assistentin war. Das bedeutete wiederum, dass sie eng mit ihm zusammenarbeitet und keine Arbeitsgeheimnisse ausplaudern würde. Und was, wenn sie mir etwas erzählte, das für niemanden außer mir einen Sinn ergab, etwas, das half, James zu finden? „Okay, aber du darfst mir nur eine Sache im Rahmen dieser Vereinbarung sagen, und es darf nicht um etwas Illegales gehen.“ Ich würde es ihr zutrauen, dass sie mich bei irgendetwas zur Komplizin machte. Sie hatte irgendetwas Beunruhigendes an sich. Sie war ziemlich nett zu mir gewesen – der Schwan in einem Raum voller Geier – aber vielleicht war sie nur so nett, weil ich James' Schwester war? Ich würde mir mein endgültiges Urteil für später vorbehalten.
„Hand drauf.“ Wir schüttelten die Hände. Ihre Hand war weich und warm, aber ihr Griff war hart – eine Erinnerung für mich, sie nicht zu unterschätzen. Obwohl, vielleicht wäre sie eine gute Verbündete, besonders wenn sie James zurückhaben wollte. Mann, ich war so verwirrt.
„Gib mir deine Hände.“ Wir legten beide unsere Arme auf den Tisch, und unsere Hände trafen sich in der Mitte. Diesmal war ihr Griff sanfter. Sie sah mir in die Augen und sagte: „Sprich mir nach. Ich, Lily Katerina Bianchi ...“
„Ich, Lily Katerina Bianchi ...“ Woher kannte sie meinen zweiten Vornamen?
„… werde die folgenden Informationen streng vertraulich behandeln.“
„… werde die folgenden Informationen streng vertraulich behandeln.“
„Ich werde keinen Teil dieses Gesprächs einer lebenden Seele gegenüber wiederholen ...“
„Ich werde keinen Teil dieses Gesprächs einer lebenden Seele gegenüber wiederholen ...“
„Und wenn ich das tue, werde ich ersticken.“
Was zur Hölle? „Und wenn ich das tue, werde ich ersticken.“ Ein elektrischer Schlag schoss meine Arme hinauf und setzte sich in meinem Nacken fest, bevor er nachließ. Worauf hatte ich mich gerade eingelassen? Ich war eindeutig verrückt.
Ihr Lächeln war selbstgefällig, als hätte sie mich da, wo sie mich haben wollte. Bitte, kann sie mir nur irgendein geheimes Keksrezept verraten oder etwas über Gus? Es wäre mir sogar egal, wenn es sich um Hundekotze handeln würde.
„Wir sind fertig.“ Sie ließ meine Hände los, lehnte sich weiter vor und senkte die Stimme. „Millicent und James hatten am Tag vor seinem Verschwinden einen Streit. Ich weiß das, weil sie ihn in seinem Büro vor meiner Nase hatten. Er drohte, sie zu verlassen, und sie sagte, dass sie das niemals zulassen würde. Und dass sie ihn dafür bezahlen lassen würde, wenn er es täte.“
Das war nicht gut. Ich war nicht Millicents beste Freundin, aber ich mochte sie, und ich konnte nicht glauben, dass sie jemals jemanden bedrohen würde, geschweige denn den Mann, den sie liebte. Aber andererseits hatte ich bisher auch nicht gewusst, dass sie eine waffenbesitzende Hexe war. „Warum willst du nicht, dass ich das jemandem sage? Du sagtest, du hättest es Angelica schon gesagt, richtig?“
„Ja, aber ich wollte nicht, dass du es Millicent erzählst. Wenn sie damit etwas zu tun hat, würdest du sie nur warnen. Wer weiß, vielleicht läuft sie weg und wir finden nie heraus, was mit James passiert ist ... vorausgesetzt, sie hat etwas damit zu tun. Er ist so ein gut aussehender Mann. Er hätte jede haben können. Ich habe keine Ahnung, warum er sich diese mausgraue Schlampe ausgesucht hat.“
Meine Augen weiteten sich. Snezanas Mund verzog sich zu einem O . Selbst sie merkte, dass sie zu weit gegangen war. „Ich habe das nicht so gemeint. Aber du hast keine Ahnung, was James mir alles erzählt. Er ist seit Monaten unglücklich. Egal, du kannst nichts davon weitersagen, weil du sonst sterben wirst.“
Ich konnte nicht glauben, dass ich dem zugestimmt hatte. „Kann ich ihr irgendwelche Fragen stellen, ohne ihr etwas zu sagen?“
„Nein, denn wenn sie vermutet, dass ich etwas gesagt habe, wird meine Magie es erfahren und du wirst sterben.“
So ein Mist. „Was ist, wenn ich von hier zurückkomme, nichts sage und sie sich fragt, ob du mir etwas erzählt hast?“
„Solange du nichts über unser Gespräch sagst, andeutest, schreibst oder erwähnst, sollte alles in Ordnung sein. Aber an diese Möglichkeit habe ich bisher noch nicht gedacht. Aber ja, du solltest es überleben.“ Sie sah nicht im Geringsten schuldbewusst aus. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen? Jetzt musste ich Millicent aus dem Weg gehen, und sie würde nicht wissen, warum. Und dabei wollten wir diesen Ausflug machen.
Ich trank meinen Kaffee leer, aber die zweite Hälfte meines Käsekuchens bekam ich nicht mehr herunter. Wer konnte essen, wenn er Angst hatte, zu ersticken? „Wie lange hält der Zauberspruch an?“
„Er gilt, solange ich lebe, es sei denn, ich mache ihn rückgängig.“
Ich hatte bisher noch nie daran gedacht, jemanden zu töten … Ha ha, nur ein Scherz. Oder doch nicht? Ich lachte. Der war gut, Lily . Snezana starrte mich an. Ihre großen Augen sahen ein wenig ängstlich aus, und ich fühlte mich fast schlecht. „Ich würde nie versuchen, dich zu töten. Das dachtest du, würde ich denken, nicht wahr?“ Oh, aber das hatte ich doch gedacht, oder nicht? Das war nicht mein Ernst gewesen. Ich hatte nur einen Scherz mit mir selbst gemacht. Töten war böse, egal aus welchem Grund. Jawohl.
„Natürlich habe ich das nicht gedacht. Außerdem bin ich eine starke Hexe. Es bräuchte schon eine Menge Zauberkraft, um mich zu töten, und du bist noch auf Stützrädern unterwegs. Du bist ziemlich harmlos. James sagte auch, dass du wirklich nett seist. Nach dem, was er sagt, bist du nicht der Typ, der tötet.“
„Nein, ich denke nicht.“ War es falsch, dass mich das enttäuschte? „Danke für das Gespräch. Ich sollte jetzt gehen. Ich habe keine Ahnung, wann Angelica gehen will, aber dank dir muss ich Millicent aus dem Weg gehen.“
„Mach dich nicht verrückt, Lily. Es ist nur ein Geschäft. Bitte nimm mir das nicht übel. Ich musste es dir sagen. Vielleicht kannst du einen Weg finden, sie zu entlarven, da sie zu deiner Familie gehört. Du könntest in ihr Haus gelangen.“
„Hat die Polizei nicht schon ihr Haus durchsucht? Und sie ist meine Schwägerin. Ich kann nicht glauben, dass sie so etwas tun würde.“
„Ja, aber ich frage mich, ob die Polizei einen guten Job gemacht hat, denn sie hat die Rolle der verzweifelten Ehefrau gut drauf, und sie arbeitet hier. Ich habe dich nicht für jemanden gehalten, der seinen Bruder im Stich lassen würde. Vergiss, dass sie mit dir durch Heirat verwandt ist. Du bist es deinem Bruder schuldig, das zu tun. Wenn du etwas findest, lass es mich wissen. Ich bin der Informationskoordinator in diesem Fall, vergiss das nicht. Es gibt nichts, was ich mehr will, als James zurückzubekommen. Du hast keine Ahnung, wie schwer es ist, ihn nicht hier zu haben. Wir sind ein so tolles Team. Wer weiß, vielleicht werden wir eines Tages Schwägerinnen. Wäre das nicht cool?“
Nein, das wäre es nicht. Wer sagt so etwas über einen verheirateten Mann, der möglicherweise tot sein könnte? Es war so viel falsch daran, dass ich nicht wusste, wie ich antworten und trotzdem höflich sein sollte. Ich schenkte ihr mein unbeholfenstes Lächeln, sprang auf und ging.
Auf dem Weg zum Aufzug stellte ich fest, dass ich keine Magnetkarte hatte, um irgendwo hinzukommen. Nicht nur das, ich musste allein sein und darüber nachdenken, wie ich mit der Tatsache umgehen würde, dass ich, wenn ich Snezana glaubte, Millicent nicht trauen konnte. Aber wenn ich meinen Instinkten vertraute, konnte ich Snezana nicht trauen. Oh, und ein falsches Wort, und ich würde sterben.
Ich drehte mich um, um meinen Schatten zu finden. „Hey, Gus. Gibt es einen Ort, an den ich gehen kann, um für eine Weile allein zu sein? Vorzugsweise irgendwo, wo es einen Stuhl gibt.“
„Natürlich, Miss Lily. Drinnen oder draußen?“
„Draußen wäre schön. Ich fühle mich ein bisschen eingeengt. Könnten Sie mir einen Gefallen tun?“
„Natürlich.“
„Können Sie jemanden beauftragen, mir meine Kamera und meinen Laptop aus Millicents Büro zu bringen. Ich habe im Moment keine Lust, dorthin zurück zu gehen, und ich muss etwas arbeiten.“
„Kein Problem.“ Gus legte seine Hand an sein Ohr und gab meine Anfrage an einen Typen namens Frank durch. Dann schob er uns in den Aufzug.
Zurück im Erdgeschoss trug ich mich aus, und Gus führte mich in einen Bereich rechts von den Eingangstüren. Es war ein kleiner Park mit ein paar alten Bäumen. Wie hatten sie so grünes, perfektes Gras bekommen? In Sydney war immer die Hälfte der Gräser tot – ein Opfer des trockenen Sommers und der sengenden Sonne. Ein Teil des perfekten Rasens fiel sanft zu einem Teich ab, in dem es Enten gab, und … oh mein Gott! „Eichhörnchen!“ Die kleinen pelzigen Zwerge hüpften um den Fuß des nächstgelegenen Baumes. Als ich mich näherte, rannten sie den Stamm hoch. Am liebsten wäre ich auf und ab gesprungen und hätte in die Hände geklatscht, aber ich hatte Angst, sie zu erschrecken. Wenn ich nur etwas zu essen hätte, um sie anzulocken.
Ich schaute hinauf in den Baum. „Hallo, Eichhörnchen. Wie geht es euch?“ Sie waren so bezaubernd mit ihren buschigen Schwänzen und den winzigen Pfoten. Oh, eines putzte sich gerade das Gesichtchen. „Ihr Jungs seid so süß!“
Gus schüttelte den Kopf und lachte. „Ihr Australier seid so witzig.“
„Finden Sie sie nicht niedlich?“
Er verzog das Gesicht. „Nein. Sie fressen Pogos Futter und bringen ihn zum Bellen. Sie sind lästiges Ungeziefer.“ Besser die Eichhörnchen fressen das Futter als der kotzende Hund. Ich sah das Problem nicht.
„Sie enttäuschen mich, Gus. Ich dachte, Sie wären einer von den Guten.“
Er grinste. Endlich jemand, der meinen Humor verstand. Vielleicht war er gar nicht so übel. „Das bin ich, Miss, nur nicht, wenn es um Eichhörnchen geht.“
„Ha!“ Ich lächelte.
„Da bist du ja.“ So ein Mist. Ich drehte mich um. Angelica stand da, mit meiner Laptoptasche und meiner Kamera in der Hand. „Ich habe gehört, dass du das hier brauchst.“
Ich nahm die Sachen. „Danke. Ich sitze da drüben auf der Bank und arbeite, falls mich jemand braucht.“
„Warte bitte einen Moment.“ Angelica wandte sich an Gus. „Würden Sie uns bitte einen Moment allein lassen?“
„Natürlich, Ma'am.“ Er drehte sich um und wanderte den Weg zurück, den wir gekommen waren, obwohl ich wusste, dass er nicht allzu weit gehen würde. Der liebe Gott wusste, was ich anstellen würde, wenn man mich hier losließe. Ich war eine richtige Gefahr für die Gesellschaft.
„Komm, setzen wir uns.“ Wir steuerten auf die Bank zu, die dem Teich am nächsten stand, und setzten uns. Ich beobachtete die Enten, die fröhlich durch das Wasser glitten. Waren das Hexenenten? Oh, Mist! Ich prüfte mein Gehirnschrankending. Puh, es war noch da. Wenn ich mein Gespräch mit Snezana verraten und Angelica meine Gedanken lesen würde, würde ich sterben. Warum hatte ich nicht schon früher daran gedacht? Oh Gott, habe ich mir die Beschwörungsformel überhaupt gemerkt? Diese Gedanken sind meine. Ich möchte sie nicht teilen. Beschütze sie gut, kleine Blase, etwas, etwas, etwas … Ich war so was von tot.
„Angelica, könnten Sie den Gedankenschutzzauber noch einmal wiederholen? Ich habe den letzten Teil vergessen.“
„Natürlich haben Sie das.“ Ihr Ton klang sehr verächtlich. „Er lautet: Diese Gedanken sind meine. Ich möchte sie nicht teilen. Schütze sie gut, kleine Blase, mit einer Barriere so unsichtbar wie Luft.
„Danke. Ich sollte ihn wirklich aufschreiben.“
„Ja, das sollten Sie.“
Wir starrten auf den Teich. Obwohl ich mir wünschte, sie würde einfach sagen, was sie zu sagen hatte, und mich dann in Ruhe lassen, würde ich nicht darum bitten. Soll sie doch zur Abwechslung mal die harte Arbeit leisten. Was das Schweigen anging, würde ich sie alle übertrumpfen. Schließlich war mein zweiter Vorname „Schwierig“.
„Ein kleiner Vogel hat mir gezwitschert, dass Sie jemand zum Kaffee eingeladen hat.“
„Ja. Der Kaffee da unten ist gar nicht so schlecht. Und der Käsekuchen ist auch gut.“ Solange ich das Gespräch von allem fernhielt, was mit James, Millicent oder Snezana zu tun hatte, sollte es mir gut gehen. Ich war der Herausforderung gewachsen.
„Haben Sie etwas erfahren, von dem Sie glauben, dass es helfen könnte?“
„Nö. Aber ich habe eine Frage. Gibt es einen Zauberspruch, der verhindert, dass andere uns hören? Also es gibt doch bestimmt einen Zauber, damit die Leute aus der Ferne hören können, was wir sagen. Also muss es doch auch einen Gegenzauber geben oder einen Zauber, der das von vornherein stoppen kann.“
„Da hat sich jemand Gedanken gemacht. Das wird auch höchste Zeit.“
„Ernsthaft? Ich wurde ohne Vorwarnung in diesen Mist hineingeworfen, ohne jede Erfahrung. Ganz zu schweigen davon, dass Sie sich mir gegenüber die ganze Zeit ziemlich feindselig verhalten. Ich denke, dafür schlag ich mich verdammt gut.“
„Schlage.“
„Was?“
„Es heißt schlage, nicht schlag. Nicht, dass ich versuche, schwierig zu sein ... nun, nicht immer. Ich habe einen Ruf zu wahren, meine Liebe.“ Sie lächelte … aufrichtig. Schnell, jemand errichte einen Schrein, zu dem die Leute kommen und beten können – ein Wunder ist geschehen. „Die Antwort auf Ihre Frage lautet ja.“
Sie bewegte ihre Lippen lautlos, wahrscheinlich, um nicht offensichtlich zu machen, dass sie diesen Zauberspruch sprach. Sie stand auf, ging um unsere Bank herum und setzte sich wieder. „Sie hören immer zu: Das hier ist schließlich die Behörde. Sie ist voller Polizei und Spione, die der Regierung unterstellt sind. Was wollten Sie sagen?“
„Ich muss den Ort besuchen, an dem James verschwunden ist. Können wir da jetzt hinfahren?“
„Wir könnten verfolgt werden. Es ist einfacher für mich, unsere Bewegungen zu tarnen, wenn wir von zu Hause aus starten. Können Sie bis morgen früh warten?“
„Okay.“
„Werden Sie mir sagen, warum Sie zu dem Feld fahren möchten, auf dem es passiert ist? Unsere Jungs haben es noch am gleichen Tag durchkämmt. Ich bezweifle, dass es dort noch irgendwelche Beweise gibt.“
„Ich habe eine Theorie, wie meine Magie funktioniert, aber ich weiß noch nicht genug, um es Ihnen zu sagen. Ich würde es hassen, jemandes Hoffnungen zu wecken.“ Ich würde bald noch jemandem außer Millicent vertrauen müssen, denn ich konnte sie nicht um Hilfe bitten – sie hatte genug um die Ohren – und Angelica war diejenige, die mich abholen würde. Warum sollte sie sich die Mühe machen, wenn sie James nicht helfen wollte?
„Sie haben einige Fortschritte gemacht, was ich bereits im Gefühl hatte. Gut für Sie.“
War das ein Hinweis darauf, dass sie es die ganze Zeit gewusst hatte? „Ich würde es begrüßen, wenn Sie die Neuigkeiten noch nicht mit jemandem teilen würden.“
Sie nickte. „Sie können mir vertrauen.“
Wenn ich nur James' Fähigkeiten hätte, Lügen zu erkennen.
„Geben Sie nicht auf, Lily. Wir werden James finden und die Verantwortlichen bestrafen. Sie haben mein Wort. In der Tat, ich gebe Ihnen mein Hexenversprechen. Halten Sie Ihre Handfläche gegen meine.“ Ich tat, was sie verlangte. „Ich, Angelica Constance DuPree, verspreche, mein Möglichstes zu tun, um die Verantwortlichen für die Entführung von James Mathew Bianchi zu fassen und zu bestrafen. Ich verspreche Ihnen, Lily Katerina Bianchi, in dieser Angelegenheit eine vertrauenswürdige Verbündete zu sein. Das erkläre ich bei Mutter Erde und meiner Hexenkraft.“
Das Vogelgezwitscher hatte aufgehört. Das Licht wurde eine Nuance dunkler und die Atmosphäre dichter. Energie schoss durch meine Handfläche den Arm hinauf und stoppte vor meinem Herzen.
„Es ist vollbracht.“ Sie zog ihre Hand zurück und stand auf. „Genießen Sie Ihre Zeit der Einkehr. Ich hole Sie in dreißig Minuten ab, dann können wir nach Hause gehen.“
„Okay, und danke. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie das tun. Werden Sie wirklich all Ihre Kräfte verlieren, wenn Sie Ihr Wort zurücknehmen?“
„Ja. Eine Hexe macht solche Versprechungen nicht leichtfertig, aber die Not ist groß.“ Sie drehte sich um und ging zu dem weißen Monolithen von Gebäude und ließ mich allein, genau wie ich es verlangt hatte. Nun ja, außer Gus, der in der Nähe einer Eiche herumlungerte.
Ich spürte ein Kribbeln im Bauch und war mir nicht sicher, wie ich damit umgehen würde, an dem Ort zu sein, an dem mein Bruder entführt oder zumindest verprügelt worden war. Wenn ich mich in Bezug auf die Fotos irrte, standen wir wieder am Anfang. Und wenn ich Recht hatte …? Was würde ich entdecken? Bitte keine Beweise gegen Millicent. Aber wenn sie es gewesen war, würde sie dann nicht alles tun, um zu verhindern, dass ich morgen dorthin ging? Sie kannte mein Geheimnis. So ein Mist.
Also musste ich nur den heutigen Abend überleben. Das könnte ich doch schaffen, oder? Ja, das könnte ich.