N
achdem ich den Alarm ausgelöst hatte, legten Beren und William mir Handschellen an und teleportierten uns alle direkt ins Gefängnis.
Zum Glück wurde niemand erschossen, und mit niemand meine ich mich. Nachdem ich erneut erkennungsdienstlich behandelt worden war, landete ich in der gleichen Zelle wie beim letzten Mal. Ich sollte bald ein paar wohnliche Akzente setzen und vielleicht etwas gegen den Geruch tun. Schließlich verbrachte ich inzwischen hier fast so viel Zeit wie in Angelicas Haus.
Ich saß auf dem Bett und weigerte mich, darüber nachzudenken, dass ich möglicherweise auf unbestimmte Zeit hierbleiben würde. Es war sinnlos, sich schon über etwas Sorgen zu machen, bevor es passierte.
Es dauerte eine Stunde, bis Beren und William endlich zurückkehrten. Sie hatten warten müssen, bis Drake nach Hause gegangen war. Snezana war zum Glück schon weg. William schloss die Tür auf und betrat die Zelle. Was wir im Begriff waren zu tun, taten wir einzig für die Sicherheitskameras. „Ma'am möchte Sie befragen. Drehen Sie sich bitte um und nehmen Sie die Hände hinter den Rücken.“
Ich drehte mich um und ließ mich von ihm in Handschellen legen. Das wurde langsam zu einer schlechten Angewohnheit.
Die Jungs führten mich aus der Zelle und in Angelicas Büro in der obersten Etage. Sie saß an ihrem Schreibtisch, hatte die Brille aufgesetzt und las etwas, das wie ein interner Bericht aussah. Sie legte ihn auf den Tisch. „Bitte setzen Sie sich.“
Ich setzte mich, und dann nickte sie. „Sie können jetzt aufstehen. Die Überwachungskameras werden gerade ‚repariert‘, und wir haben fünfzehn Minuten Zeit. Wir haben intern Hilfe bekommen, aber je weniger Sie wissen, desto besser.“ Ich stand auf, und William nahm mir die Handschellen ab. Angelica reichte mir eine blonde, halblange Perücke. Ich zog sie an. Dann reichte sie mir meine Kamera. Wir waren bereit.
Wir eilten zurück in den ersten Stock und einen weiteren langen Korridor hinunter zu einer grauen Tür, auf der Labor
stand. Angelica benutzte ihre Magnetkarte, und wir traten ein. Entlang eines weiteren Flurs gab es vier Räume: Labor 1, Labor 2, Labor 3. Ich nahm an, dass auf der nächsten Tür Labor 4 stand, aber so weit kamen wir nicht, sondern betraten Labor 3. Angelica klatschte zweimal in die Hände, und das Licht ging an. „Hier führen wir forensische Bodenuntersuchungen durch. Wenn wir hier nichts finden, versuchen wir es in den anderen Labore, aber ich denke, dass hier unsere Chancen am besten stehen.“
Ich nahm den Deckel des Objektivs ab, schaltete die Kamera ein und machte mich an die Arbeit. Zuerst dachte ich an nichts. Vielleicht hielt das Universum es für angebracht, mir zu zeigen, was ich wissen musste. Aber nichts geschah. Natürlich nicht. Also konzentrierte ich meine Gedanken auf das Fließen der Kraft und auf Millicents Halskette. „Zeig mir die Halskette in dem Moment, in dem sie hierher kam.“ Ich sprang fast auf, als ein Mann vor mir auftauchte. Er war etwa so groß wie ich und trug einen weißen Laborkittel. Sein mausbraunes, schulterlanges Haar war im Nacken mit einem Gummiband zusammengebunden. Er stand neben einem Tisch,
auf dem ein schwarzer Müllsack lag. Er trug Gummihandschuhe, und auf seiner Handfläche, die so sauber war wie alles andere, befand sich etwas, von dem ich annahm, dass es Millicents Halskette war. Aber da ich sie noch nie gesehen hatte, konnte ich mir nicht wirklich sicher sein. Ich schoss ein paar Fotos mit meinem Weitwinkelobjektiv und bemerkte, dass die große weiße Uhr an der Wand im Hintergrund die Uhrzeit und das Datum anzeigte. Bingo!
Ich zoomte die Halskette heran, um sicherzugehen, dass ich alles erwischte. Dann ging ich um den Mann herum, während ich immer wieder auf den Auslöser drückte. Ich machte Fotos von dem Edelstahltisch, dem Boden und der Tüte. Angelica, William und Beren schauten mir schweigend zu. Als ich fertig war, ging ich zu Angelica und zeigte ihr die Fotos auf dem Kamerabildschirm, damit sie sie durchblättern konnte. „Sagen Sie mir, wenn Sie noch etwas brauchen.“
Während sie sich jedes Foto genau ansahen, schüttelte Angelica den Kopf. „Brillante Arbeit, Lily. Absolut brillant.“
William zeigte auf ein Bild. „Das ist die Tüte mit den Bodenproben, aber die Halskette ist sauber. Sie steckt inzwischen in einem Asservatenbeutel und ist immer noch voller Dreck. Verdammt!“ Er sah zu mir auf. „Das ist also Ihr supergeheimes Talent. Sehr schön.“
Oh, ein Kompliment von Mr Griesgram höchstpersönlich. Wunder gibt es immer wieder. Und er schien tatsächlich beeindruckt. Der Tag war gerettet.
Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass die falschen Leute mein Geheimnis erfahren würden, aber ich war mir zu diesem Zeitpunkt ziemlich sicher, dass ich Beren und William vertrauen konnte: Angelica tat es, und inzwischen vertraute ich ihr.
„Gibt es sonst noch etwas, von dem Sie gerne Fotos hätten?“
„Jetzt, wo ich weiß, was Ihr Talent ist, fallen mir eine
Million Dinge ein. Es wird Ihnen noch leidtun, dass Sie uns in Ihr Geheimnis eingeweiht haben“, meinte William lächelnd.
Angelica hielt noch immer meine Kamera in der Hand. „Ich werde diese Fotos auf meinen Laptop laden, aber wir können mit diesen Beweisen immer noch nicht zu Drake gehen. Und wir müssen Lily wieder aus dem Gefängnis holen. Ich hoffe, sie kaufen uns den Vorwand ab. Und dann haben wir da noch dieses klitzekleine Problem, Lily irgendwie zum Tatort zu bringen.“
Beren klopfte mir auf die Schulter. „Tolle Arbeit, Lily. Zumindest wissen wir jetzt, wo wir anfangen müssen. Der Laborfritze heißt Michael. Es ist an der Zeit, ein bisschen im Dreck zu graben. Und das kann ich zufälligerweise am besten.“
Sie brachten mich zurück in die Zelle. Uns blieben nur noch fünf Minuten, bevor die Kameras wieder online gehen würden. Sobald ich eingeschlossen war, legte ich mich ins Bett. In dieser Nacht würde nichts passieren, vielleicht nicht einmal am nächsten Tag. Ich ging davon aus, dass Angelica einen Plan hatte, mich in naher Zukunft hier herauszuholen, aber wir hatten auf dem Rückweg keine Zeit gehabt, darüber zu sprechen. Ja, es stimmte, ich war impulsiv. Aber es gab Schlimmeres, zum Beispiel eine Möchtegern-Ehemann-stehlende, psychopathische Kidnapperin.
Bevor meine Gedanken weiter abdrifteten, ging ich im Geiste durch, was ich im Labor gesehen hatte. Warum sollte Michael Snezana helfen? Hatte sie etwas gegen ihn in der Hand? Waren sie gute Freunde oder sogar mehr als das? Falls ja, wäre es von ihrer Seite aus nur gespielt, da sie in meinen Bruder verliebt war. Aber da sie eine Meisterin der Manipulation war, war das durchaus möglich. Vielleicht war er aber auch nur ein verknallter Trottel. Und für schlechten Geschmack konnte man ja nichts.
Ich gähnte. Der Tag war anstrengend gewesen. Zeit, mein
Gehirn abzuschalten und ein paar Stunden zu schlafen. „Gute Nacht, James“, flüsterte ich. „Wir kommen, Kumpel. Halte durch.“